Johannes Scherr
Die Tochter der Luft
Johannes Scherr

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Erstes Buch.

Ort, Zeit und Personen der Handlung.

Servus Ostiarius: Guten Morgen Herr! Wünsche, wohl geruht zu haben, Herr! Und da draußen, Herr, steht ein Schock Personen, Herren und aufwarten möchten.

Dominus Publicus: Nur herein mit ihnen! Vielleicht sind Leute darunter, die das Zeug dazu haben, mir für ein Stündchen die Langeweile zu vertreiben.

Verschollenes Stück.

1. »O, wie ist es schön und lieblich, wenn Brüder einträchtiglich mitsammen wohnen!«

»Gottlob! es gibt auf deutscher Erde noch Berghalden, welche nicht von dem eintönigen Gerassel der Lokomotive widerhallen. Es gibt noch Talgelände, in welchen geldgierige Spekulation der Natur nicht auf Schritt und Tritt Gewalt antut. Es gibt noch heimliche Waldgründe, wo die alten Eichen rauschen und die Rehmutter ihr Junges äsen lehrt. Herrgott, wie schnürt es die Brust zusammen, wenn einem da drunten im Flachland bei jeder Ecke, um die man biegt, eine Dampfmaschine in die Ohren keucht. Mechanik und nichts als Mechanik! Die menschliche Gesellschaft auf dem Weg, ein kolossaler Automat zu werden, ein Automat, der sich von den in Wachsfigurenkabinetten gezeigten nur dadurch unterscheidet, daß er ißt und verdaut. Und dieser Pöbel von Fabriksklaven, die Signatur des Hungers, der Knechtschaft und der sittlichen Versunkenheit auf der Stirne; diese Haufen skrophulöser Kinder, welchen man ansieht, daß ihre Eltern von Jugend auf keine andere Luft als die verpestete der Baumwollspinnereien eingeatmet. O, wie bin ich sie satt, eure gerühmte moderne Zivilisation, eure heuchlerische Barbarei, eure uniformierte Langeweile! Da oben spürt man doch einmal wieder, daß man ein mit Gefühl, Vernunft und Willen begabtes Wesen ist und nicht bloß ein mehr oder weniger miserables Stiftchen oder Rädchen in der großen dummen Maschine, welche sie die Gesellschaft nennen. Tu auf deine Hallen, grüner Wald, damit ich in dir gesunde Luft atme und unter Buchenschatten all den Jammer der Zeit vergesse. Empfangt mich freundlich, wie in den Tagen der Jugend, all ihr Berge und Täler mit euren malerisch geschwungenen Linien, euren Felsgruppen, euren klaren Erlenbächen, worin es hoffentlich noch immer so köstliche Forellen gibt wie früher. O sieh, wie prächtig die Morgensonne über dunkeln Waldkuppen heraufkommt und dort unten im Tal den Fluß aufblitzen macht! Wie ist das alles so schön, so keusch, so morgenfrisch und waldeinsamlich! Sei mir gegrüßt, mein geliebter Schwarzwald, viel tausendmal gegrüßt, und Gruß auch dir, Romantik!

Ja, dir, Verstoßne durch Verblendung –
Wie bist du reich trotz Zeit und Zorn!
Du leerst in göttlicher Verschwendung
Tagtäglich noch dein Wunderhorn.
Ich grüße dich mit frommem Sinne,
Wie ist dein Reich so grün und weit,
Du Fürstin vielgetreuer Minne,
Sei tausendmal gebenedeit!«

Der so sprach, ritt auf einem guten Rosse dem Morgenwind eines Frühjahrstages von 1854 entgegen und war selbstverständlich ein noch junger Mann, denn wie hätte er sonst so romantisch sich äußern können? Allein so ganz jung war er doch wohl nicht mehr, denn die kritische Reflexion schlug ihm sogleich in den Nacken.

Auf den Enthusiasmus folgte die Abkühlung der Selbstpersiflage.

»Bei allen Göttern,« rief der Reiter laut auflachend aus, »ich bilde mir ein, noch der Fuchs zu sein, welcher mit einem Band von des Knaben Wunderhorn in der Tasche und der schwarzrotgoldenen Schleife an der Uhr durch diese Berge und Wälder strich. Tut mir's der alte Schwarzwald an oder war ich wirklich im Grunde meines Herzens immer ein Romantiker? Fast möcht' ich's glauben, denn wenn mir die alten romantischen Weisen durch den Kopf summen, wandeln mich stets die alten Schnurren von Tieckscher Waldeinsamkeit und Kernerschem Heimweh und all dergleichen Zeug an, welches ein anständiger Mensch meines Alters doch langst verwunden haben sollte. 's ist auch eitel Phantasie und Einbildung! Die bewußte Romantik ist lächerlich, unendlich lächerlich, und zur naiven, ach, zur naiven gehört die blanke, blöde Jugendeselei, welche, ausgerüstet mit einer himmelblaubebänderten Gitarre, dem nächsten besten Backfisch ein schüchternes Ständchen bringt, einem Backfisch, welcher inzwischen mit Abfassung eines Liebesbriefes an den nächsten besten Leutnant beschäftigt ist. Schäme dich, Ottmar Horst, Dr. j. u. und ziemlich beschäftigter Rechtskonsulent, schäme dich gründlich! Du hast zwar nicht die gehörige Anlage zu dem, was ein leidlicher Mensch heutzutage von Rechts und Staats wegen sein soll, zu einem Philister nämlich, aber die romantischen Hörner könntest du dir meines Erachtens füglich allgemach abgelaufen haben. Dein Stubennachbar auf der Festung, der gute Wate im Bart, pflegte zwar zu sagen, er kalkuliere, du würdest ein Narr bleiben dein Leben lang, allein es ist weltbekannt, daß der alte Wate ein Mensch ohne psychologischen Blick und ein pessimistischer Brummbär war, ist und sein wird. Bei alledem jedoch ist etwas an den alten romantischen Schnurren. Könnt' ich nur herauskriegen, was! Wate meinte zwar, die Romantik sei nichts als verhockte und verstockte Säfte, aber er hatte gar kein Organ für Poesie. Im übrigen möcht' ich wissen, wo der gute Junge hingekommen. Vielleicht ist er irgendwo hier herum untergekrochen: er ist ja auch ein Schwarzwälder Kind, freilich keins aus Auerbachs Dorfgeschichten. Es war meiner Treu ein erhabener Moment, als er am Tage vor unserer Entlassung aus der verhenkerten Festung mit Pathos unter uns trat, sprechend: ›Hört, liebe Jungen und Festungskollegen, ich will euch zum Abschied eine große Wahrheit sagen und die lautet so: Der Dümmste von euch allen war ich, denn ihr andern ranntet in hellem Unverstand in euer Unglück, ich aber wußte mit mathematischer Gewißheit, daß die ganze Komödie so jämmerlich enden würde, und dennoch hab' ich sie mitgemacht, woraus ihr die Moral ziehen könnt, daß eine Gesellschaft von Narren auch einen Klugen zum Toren macht.‹ Doch fort mit all den Erinnerungen an jenen nichtswürdigen Ort, wo zahllose Freischaren von Wanzen dem Prinzip der Ruhe und Ordnung Hohn sprachen! Fort damit, die Welt ist so schön, und den Frühling kann doch niemand verbieten oder konfiszieren!«

Der junge Mann – sofern das Wort jung in unserer Zeit noch auf eine Person paßt, die dem dreißigsten Jahr nahe stand oder gar dasselbe schon hinter sich hatte – der junge Mann, dessen Selbstgespräch wir belauschten, war mit Tagesanbruch von Trausig, wo er übernachtet hatte, weggeritten und hatte, statt der ins Forgtal hinüberführenden Straße zu folgen, den über die Höhen des Pfaffenwaldes ziehenden Fußweg eingeschlagen, auf welchem, wie er aus früherer Zeit her wußte, auch ein Reiter ziemlich leidlich fortkommen konnte. Der stattliche Braune, auf dem er leicht und sicher saß, hatte tüchtig ausgegriffen und trug jetzt seinen Reiter rasch über das Plateau hin, welches, gegen Norden und Westen von Hochwaldkuppen überbaut, von Osten gegen Süden zu in einen scharfen Winkel ausläuft. Dieser fällt mit jähem Absturz in die Tiefe, und da, wo sein granitener Fuß die Talsohle berührt, mündet der Trausigbach in die stolzrauschende Forg, welche sodann, einen gewaltigen Bogen beschreibend, südwestwärts in ein krausverschlungenes Talgewinde hineintritt, um von dort ihren Lauf hinauszurichten in das Flachland, dem alten Rhein zu.

Steht man auf der Höhe des Absturzes unter den drei uralten kolossalen Rüstern, welche dieselbe krönen, so genießt man nach drei Seiten hin einer prächtigen Aussicht. Geradeaus schweift der Blick über die mählich in die Niederung sich verlierenden Hügelketten weg, welche die südwestliche Vormauer des Waldgebirges bilden, und verliert sich in der in weiter Ferne blauenden Ebene des Elsasses, aus welcher die Nadel des Straßburger Münsterturms hervorragt. Rechter Hand in der Tiefe drunten stürzt der Trausigbach mit allem Ungestüm eines Hochwaldwassers aus einem engen Tal hervor, und unweit der Stelle, wo er in der stillen und breiter dahergleitenden Forg verschwindet, liegen an seinem rechten Ufer die weithin zerstreuten Häusergruppen des großen Dorfes Moosbrunn, mit seiner altertümlichen Kirche und dem stattlichen Pfarrhaus. Linker Hand weitet sich das Forgtal ostwärts hinauf, durchschritten von dem Fluß, dessen Lauf die menschliche Betriebsamkeit um der Holzflößung willen einigermaßen geregelt hat. Weiter aufwärts sind seine Wasser auch den Hochöfen und Hüttenwerken dienstbar, deren schwarze Schlote da und dort sich erheben. Etwa eine Wegstunde von Moosbrunn entfernt liegt am linken Ufer der Forg das Dorf Forgau, von dessen Gassen eine bedachte Holzbrücke nach der andern Seite des Flusses hinüberführt. Von der Straße, welche dort am Wasser hinausläuft, biegt ein Fahrweg in die Einfahrt eines stattlichen Gehöftes aus, welches, von einem Obstbaumwald im Rücken und auf den Seiten eingefaßt, wohlig auf die Berghalde hingebettet ist. Der Ort heißt »Im Buhl« und das Haus ist das Wirtshaus »Zur Goldforelle«, im ganzen Gebirge wohlbekannt und wohlberufen. Verfolgt von da das Auge die Straße flußaufwärts, so wird es durch eine lange Allee von Pappeln zu einem mächtigen, betürmten Bauwerk geleitet, dessen ganze Erscheinung noch jetzt es berechtigt, eine Burg zu heißen, die sich hinter einem von der Forg gespeisten Graben mittelalterlich finster und drohend genug erhebt. Es ist Bernwartshall, der Sitz des alten Geschlechts der Grafen von Bernwart. Einen starken Kontrast mit diesem düsteren Feudalhaus bildet ein im kokettesten Zopfstil erbautes Schloß, welches auf der andern Seite der Forg, Bernwartshall fast in gerader Linie gegenüber und nur einen Kanonenschuß davon entfernt, inmitten eines weiten Parkes steht, Eigentum des freiherrlichen Geschlechtes derer von Moosbrunn. Lenkt man den Blick endlich von diesem Herrenhaus ab und den Bergen zu, welche hinter dem Park schroff ansteigen, so bemerkt man auf einer der vorspringenden Felsklippen des Bärenkopfs in schwindelnder Höhe das sogenannte Bärenschlößchen, das mehr als zur Hälfte in Trümmern liegt, aber noch vor kurzem von einem Förster der Grafen von Bernwart bewohnt war.

Im ganzen und großen trägt die Gegend einen alpenhaften Charakter. Zwar das eigentliche Hochgebirge, die Schnee- und Eiskolosse, die ungeheuren Basaltpyramiden und Gletscher der Schweiz und Tirols fehlen ihr, aber zu etwelchem Ersatz für diese Größe und Majestät hat sie etwas außerordentlich Malerisches, Anmutiges, Deutschheimeliges. Die weit auseinander liegenden Häusergruppen der Dörfer und die Bauart der überall an den Berghängen zerstreuten Höfe und Hütten erinnern stark an die Idyllik der schweizerischen Bergkantone.

Ottmar Horst hatte sein Pferd der Franzosenschanze zugelenkt. So hieß die Stelle unter den drei Rüstern, denn es hatten hier in den Revolutionskriegen die Franzosen eine Schanze aufgeworfen, deren Umrisse noch jetzt deutlich zu sehen sind. Der junge Mann stieg ab, band sein Pferd fest und schaute lange und unverwandt hinaus und hinab auf Berg und Tal.

Es war gar schön da draußen und da drunten. Die Frühlingssonne lag golden auf den Bergkuppen, im jungen Grün der Wälder spielend, die Wasser rauschten klingend von den Hohen und die Täler entlang spannten Tausende von Obstbäumen eine ungeheure Blütengirlande.

Hingerissen von dem Zauber der Stunde, brach Ottmar in die Worte aus, womit der arme Hölderlin dereinst seine Rückkehr in die Heimat gefeiert hatte:

»Ihr milden Lüfte, Boten Italiens,
Und du mit deinen Pappeln, geliebter Strom!
Ihr wogenden Gebirg', o all ihr
Sonnigen Gipfel, so seid ihr's wieder.«

Das Heimatgefühl überkam ihn, ein aus Freude und Wehmut seltsam gemischtes Gefühl. Er hatte den Ort lange nicht mehr gesehen, der seine Heimat war und doch auch wieder nicht war, weil außer den Banden der Erinnerung keine andern mehr ihn mit demselben verknüpften. Er hatte hier nichts mehr zu suchen, es führte ihn auch nicht etwa ein sentimentaler Zug her, sondern er kam auf dem Geschäftsweg und in recht prosaisch advokatischen Absichten. Und doch pochte ihm jetzt laut das Herz beim Anblick der Fluren, wo er als Knabe gespielt und als Jüngling geschwärmt. Er wähnte einen Augenblick um mindestens zehn Jahre jünger geworden zu sein und vergessen zu können, daß er als Fremdling die Heimat wiedersah.

Die Phantasie, des Menschen beste Freundin, wird nie müde, ihn mit Selbsttäuschungen zu umweben, allein die Wirklichkeit ist rasch genug bei der Hand, das bunte Gewebe wieder zu zerreißen.

Ottmar hatte sich auf einen Steinbock niedergelassen, welcher am Fuße der verfallenen Schanze lag. Er heftete seine Blicke auf den Moosbrunner Friedhof, dessen schwarze Kreuze im Morgensonnenschein deutlich wahrnehmbar waren. Eine Wolke der Trauer überflog die männliche, scharfmarkierte und intelligente Physiognomie des jungen Mannes. Dort unter den niedrigen Grabhügeln waren auch die seiner Eltern. Dort in der Kirche hatte sein Vater gepredigt, der milde, liebreiche Pfarrherr von Moosbrunn, welcher den Verlust der trefflichen Gattin nicht lange zu überleben vermocht.

»Es war eine schwere Stunde, als wir sie begruben,« sagte Ottmar leise vor sich hin. »Ich hab', es dem Vater wohl angesehen, daß er diesen Schlag nicht verwinden würde. O, wie war sie gut und klug und vollkommen! Gewiß, es ist nur kindliche Pietät, wenn ich glaube, daß es eine zweite Frau und Mutter, wie sie war, nicht mehr gibt. Der Vater mußte ihr nachsterben, denn er hatte sie geliebt, wie sie es verdiente. Meinte doch auch ich verzweifeln zu müssen, als die Gute nun so starr und stumm vor mir dalag. Und doch war es gut, daß sie starb, bevor ich ihr so großen Kummer verursachte. Was hätte die fromme Frau leiden müssen, wenn sie erfahren, daß ihr Ottmar mit Steckbriefen verfolgt und verwundet von einem unglückseligen Schlachtfeld weg in den Kerker gebracht wurde, um als ein Verbrecher verurteilt und eingetürmt zu werden, weil er – doch gleichviel. Ihr hätte es das Herz gebrochen, und das blieb ihr erspart, wie mir der qualvolle Vorwurf, sie bis zum Tode betrübt zu haben. Ja, es ist gut so, wie es ist. Seltsam nur, daß mir beim Anblick der altbekannten Stätten zumute wird, als müßte ich dieselben nie mehr verlassen, als müßte ich in der Heimat, die mir schon halb und halb eine verschollene war, eine neue Heimat suchen und finden, um da zu leben und zu sterben. Wie doch der Frühling die Menschen wunderlich stimmt und aufregt! Wahre dich vor Phantasmen, mein guter Ottmar Horst. Es wird, meine ich, rätlich sein, daß du das Geschäft, welches dich herführt, möglichst rasch abtuest, maßen du sonst leicht Gefahr laufen könntest, in Ahnungen, Sentimentalitäten und anderen dergleichen romantischen Schnickschnack zurückzufallen, aus welchem dich herauszuarbeiten du dir erklecklichste Mühe gegeben hast.«

So weit war Ottmar in seinem Monolog gekommen, als seine Aufmerksamkeit durch eine Erscheinung im Tale drunten in Anspruch genommen wurde. Aus der erwähnten Pappelallee hervor kam ein Reiterzug, an dessen Spitze eine Dame ritt, und sprengte am Ufer der Forg herab, unten am Bühl vorbei, auf die Forgauer Brücke zu. Über diese reitend, verschwand er für einige Augenblicke hinter den Holzhäusern von Forgau, brach dann wieder aus den Gassen des Dorfes hervor, kreuzte das Blachfeld auf dem rechten Ufer des Flusses und bog in eine der Schluchten ein, in welche das Plateau des Pfaffenwaldes talwärts ausläuft.

Die Sonne schien so hell durch die klare Luft, daß der junge Mann von der Franzosenschanze aus die Bewegungen des Reiterzuges deutlich wahrnehmen konnte. Indem er aber den Bewegungen desselben mit dem Interesse der Neugierde folgte und zu diesem Zwecke mehr an den Rand des Absturzes vortrat, fielen seine Blicke seitwärts auf einen schwarzgekleideten Mann, welcher langsam auf die Schanze zukam, oft stehen blieb und mit einem vor die Augen gehaltenen Fernglas angelegentlich in das Tal hinunterspähte. Er verfolgte augenscheinlich gleichfalls die Richtung der Kavalkade, denn als diese in der Schlucht am Fuße des Plateaus verschwunden war, schob er sein Fernglas zusammen, steckte es in die Tasche und ging auf den Platz unter den drei Rüstern zu, in tiefen Gedanken, wie es schien, denn er bemerkte die Anwesenheit Ottmars erst, als das Pferd desselben bei Annäherung des Fremden eine rasche Bewegung machte.

Jetzt stand er still, warf den Kopf zurück und zeigte Ottmar das wohlgenährte, blühende Gesicht eines Mannes, welcher etwa zehn Jahre älter sein mochte als er selber. Es war eine Physiognomie, welcher man das Prädikat priesterlicher Klugheit, um nicht zu sagen, priesterlicher Schlauheit zu geben versucht war. Dieses Gesicht mit seinen hinter einer Brille versteckten wasserblauen Augen, dem sinnlichen Mund und der etwas zurückspringenden Stirne deutete, zusammengehalten mit einem gewissen theologischen Habitus der ganzen Gestalt, auf einen Charakter, der sich, je nach den Umständen, in Welt und Menschen zu schicken wußte oder aber beide seinen Leidenschaften dienstbar zu machen willens war.

Ein halbunterdrückter Ausruf kam über die Lippen Ottmars, und er machte eine Bewegung, als wollte er sich rasch in den Sattel werfen, um der Begegnung mit dem Schwarzgekleideten zu entgehen. Allein er führte diese Absicht, wenn er sie hegte, nicht aus, sondern blieb stehen und erwartete den Herankommenden mit einer Miene, als wollte er sagen, derselbe sei ihm zwar eine bekannte, aber auch gleichgültige Person.

Der Schwarzgekleidete seinerseits litt offenbar an Kurzsichtigkeit, denn er langte, als er des Reisenden gewahr wurde, mit indifferenter Höflichkeit an den Hut und sagte in zeremoniösem Tone:

»Guten Morgen, mein Herr.«

»Danke, danke, lieber Jeremias,« lautete die Antwort Ottmars, ebenfalls mit kühlster, fast spöttischer Betonung gegeben.

Der Ankömmling schob die Brille fester vor die Augen, fixierte den jungen Mann und prallte einen halben Schritt zurück, als vor etwas ganz Unerwartetem. Augenblicklich jedoch kehrte seine Fassung wieder und er machte eine Gebärde, als wollte er Ottmar die Hand bieten.

Dies wirkte auf den letzteren sympathisch, und auch er streckte halb und halb die Hand zum Gruß aus. Allein diese Hände, bereit, sich zu drücken, fanden sich nicht. Der Schwarzgekleidete schob die seinige in seinen auf der Brust zugeknöpften Rock, und Ottmar legte die Arme auf den Rücken, indem er sich bemühte, noch gleichgültiger auszusehen, als er wirklich war.

»Das ist ein unerwartetes Zusammentreffen, Herr Bruder,« sagte er.

»In der Tat ein unerwartetes,« gab der andere zurück und setzte nach einer kleinen Pause mit einem forschenden Blick hinzu: »Ich glaubte dich im fernen Westen von Amerika, beschäftigt, mit dem Gelde des Onkels demokratisch-sozialistische Träume zu verwirklichen.«

»Ah, die Erbschaft vom Onkel! Wie spricht der Herr? ›Sorget euch nicht um Schätze, welche der Rost und die Motten fressen!‹ Der gute Onkel kannte deinen geistlichen und meinen weltlichen Sinn; daher fand er es passend, mir sein Geld und dir seine theologische Bibliothek zu vermachen. Er war, wie im Leben, so auch im Tode noch ein gerechter Mann. Außerdem motivierte er, wie du weißt, in seinem Testamente seinen Entschluß damit, daß er sagte: ›Mein Neffe Jeremias ist durch seine Frömmigkeit der paradiesischen und durch das Vermögen seiner Frau der irdischen Freuden ohnehin gewiß: in Anbetracht dessen vermache ich meinem Neffen Ottmar mein sämtliches Besitztum, mit Ausnahme meiner theologischen Bücher, welche der fromme Jeremias hinnehmen mag, um sich mittels derselben immer mehr der Schlacken des Weltlebens zu entäußern.‹«

»Der alte, gottesleugnerische Spötter! Er hat zugunsten von einem testiert, der ihm nachzuspotten weiß.«

»Spotten? Fällt mir nicht ein. ›Heil dem Manne, der da nicht sitzet, wo Spötter sitzen.‹ Psalm 1, Vers 1. Du siehst, ich erinnere mich noch der Zeit, wo ich hebräisch lernen mußte.«

»Ich sehe, du bist der alte Ottmar geblieben.«

»Der alte gutmütige, leichtsinnige, uneigennützige Knabe, willst du sagen? Aber da irrst du gewaltig, mein bester Jeremias. Wäre ich noch so ganz der Alte, so wäre ich, als man mir, nach Erstehung meiner Festungsstrafe, die Erbschaft des Onkels einhändigte, sentimental genug gewesen, mit dir zu teilen. Ich tat es nicht.«

»Nein, du gingst lieber nach Amerika, um dich mit Weitling und Komp. zu assoziieren.«

»Fehlgeschossen. Erstens habe ich den kommunistischen Schwindel überhaupt nie mitgemacht, zweitens bin ich nicht nach Amerika gegangen, weil mir auf der Fahrt dahin in England Bekannte, die aus Amerika zurückgekehrt waren, sagten, die Yankees seien zehnfach potenzierte Engländer. Schon diese aber flößten mir den gehörigen Horror ein und mochte ich es also mit jenen gar nicht probieren.«

»Und jetzt reitest du wohl als Emissär des Londoner Revolutionskomitee durchs Land, damit das Geld des Onkels grundsätzliche Verwendung finde?«

»Es scheint, die Frömmigkeit habe deinem Scharfsinn im Kombinieren bedeutenden Eintrag getan. Sehe ich aus wie ein Emissär der Propaganda? Hätte der beständige Blick nach dem Himmel nicht deine Augen geschwächt, so müßtest du in mir einen Advokaten aus der Residenz erkennen, welchen bloß der juristische Geschäftsweg in die Provinz herausgeführt hat.«

»Du hast dich wieder als Rechtskonsulent in die Residenz gesetzt?«

»So ist es, und ich glaube jetzt die Anlage in mir zu verspüren, ein so trefflicher Philister zu werden wie alle die andern. Noch mehr, zuweilen wandelt mich das Gefühl an, als sei ich zu einem jener Edlen bestimmt, welche man in den Familien als Onkel Sparhäfen adoriert.«

»Ein Geschäft, sagst du, führe dich in den Schwarzwald herauf?«

»Freilich. Der Graf Bernwart hat mich zu seinem Anwalt gewählt in einer sehr verwickelten Rechtssache. Es handelt sich darum, das Familienarchiv zu durchstöbern und streitige Lokalitäten an Ort und Stelle zu studieren.«

»Das geht wahrscheinlich den Prozeß an, welchen der Graf mit seinem Halbbruder, dem Freiherrn von Moosbrunn, führt?«

»Allerdings. Es gibt viel brüderliche Liebe in der Welt.«

»Und wirst du dich herablassen, während deines Aufenthaltes im Forgtal das Pfarrhaus von Moosbrunn zu deiner Herberge zu machen?«

»Das Pfarrhaus von – Moosbrunn?«

»Nun ja, es ist seit etwa einem halben Jahre mein Pfarrhaus.«

Dein Pfarrhaus? Du predigst jetzt auf der Kanzel, von welcher herab unser trefflicher Vater Aufklärung und Humanität verkündete? Deine Kinder bevölkern jetzt die Räume, wo wir als Knaben gelärmt und uns gezankt?«

»Hast du denn meine durch besondere Gnade des Monarchen mir gewährte Versetzung hierher nicht in der Zeitung gelesen?«

»Nein. Ich blicke seit längerer Zeit in die Zeitungen nur noch, wenn ich gerade muß.«

»Wirklich? Also ist die politische Mode abgetan und du bist vom morbus democraticus kuriert? Die Kasematten und die Festungshaft haben ihre Heilkraft bewährt, scheint es.«

»Recht brüderlich gesprochen und ganz christlich obendrein,« versetzte Ottmar und fügte, mehr für sich als zu dem Bruder gewendet, die Worte Shakespeares hinzu:

»Es ist das Unglück Prüfstein der Gemüter –
Gemeine Not trägt ein gemeiner Mensch.
Es fährt auf stiller See mit gleicher Kunst
Ein jedes Boot; doch tiefe Herzenswunden,
Die Glück in guter Sache schlägt, verlangen
Den höchsten Sinn.«

»Du bist, wie ich sehe, noch immer stark in Zitaten,« sagte der Pfarrer, ein klein wenig verlegen, aber auch nur ein klein wenig.«

»Ich kann das Kompliment zurückgeben, lieber Jeremias, obgleich du von deiner unter den Stillen im Lande berühmten Fertigkeit, Bibelsprüche zu zitieren, heute noch keinen Gebrauch gemacht. Wenn nicht in die Erbschaft des Onkels, haben wir uns doch in die Literatur brüderlich geteilt. Du liebst es, biblische, ich liebe es, profane Verse zu zitieren. Mit ersteren kommt man entschieden weiter im Himmel und – auf Erden. Du kannst dich also über die Teilung nicht beklagen.«

»Lassen wir das. Wenn zwei Brüder nach langer Zeit sich wiedersehen, sollten sie etwas anderes als Bitterkeit auf den Lippen haben.«

»Gewiß, aber besser so, als wenn es hieße: Mel in ore, fraus in corde

Der Pfarrer tat, als beachte er diese Worte gar nicht, und sagte:

»Ich wiederhole meine Frage: Willst du im Hause unserer Eltern mein Gast sein?«

»Ah, sieh da, du kriegst Respekt vor dem angehenden Onkel Sparhafen?«

»Hältst du mich für einen Elenden?«

»Ich halte dich für den, der du bist. – Wart einmal –

Laß dir erzählen einen guten Schwank,
Da 's jetzt die Zeit ist, Schwänke zu erzählen.

Es waren mal zwei Brüder. Der ältere war sehr fromm, der andere sehr ›jugendlich töricht schwärmerisch‹, wie die klugen Leute sagten. Seine Schwärmerei für Deutschlands Einheit und Größe und andere dergleichen obsolete Dinge brachte ihn in arge Schwulitäten. Er lag verwundet und krank im Gefängnis, von allen Mitteln entblößt, denn sein reicher Onkel, der ihn sonst liebte, hatte sich damals besagter Schwärmerei halber mit ihm entzweit. In dieser Not schrieb er an seinen Bruder, nicht um Hilfe, sondern nur um Teilnahme. Der Mensch hat nun einmal in solchen Lagen das Bedürfnis, zu erfahren, ob sich denn auch in weiter Welt noch jemand um ihn bekümmere. Der fromme Bruder gab gar keine Antwort. Des Bruders Frau aber, dessen ältestes Mädchen der Gefangene über die Taufe gehalten, hielt es in ihrer Herzensmilde für Pflicht, dem Schwager, der ihr und ihren Kindern immer ein freundlicher und treuer Verwandter gewesen, in dieser Not beizuspringen. Sie wollte mit ihrem ältesten Töchterlein, welches dem lustigen Onkel lebhaft zugetan war, nach der Stadt hinunterreisen, wo der Kranke damals gefangen lag, wollte ihn besuchen, ihn pflegen, so es nötig wäre. Aber ihr Mann, der fromme Pfarrer, der Prediger der christlichen Liebe, verbot es ihr ausdrücklich, verwehrte es der Guten in Ausdrücken, wie solche bei solcher Gelegenheit eben nur ein Frommer gebrauchen kann. ›Der sündhafte ungläubige Rebell mag seine Frevel büßen!‹ sagte der fromme Bruder. ›Wenn der Herr die Rute seines Zornes erhoben hat, will es sich nicht ziemen, ihm in den Arm fallen zu wollen.‹ Die Nutzanwendung von dieser Geschichte, mein bester Jeremias, magst du selber suchen.«

»Die Nutzanwendung?« entgegnete der Pfarrer, ohne einen Augenblick zu stocken. »Da hast du sie: Jeder folgt seiner Überzeugung. Du, der Prinzipienmensch, wirst dagegen nichts einwenden wollen.«

»Überzeugung?« versetzte Ottmar mit unverhohlener Verachtung. »Bah! Du hattest dein Leben lang von etwas, was einer Überzeugung nur entfernt ähnlich sah, nie die geringste Ahnung, außer vielleicht von der Überzeugung deiner – doch ich will mich bescheiden, statt deiner die Nutzanwendung meines kläglichen Schwankes zu ziehen. Verflucht sei mein Fuß, wenn ich ihn je auf die Schwelle eines Menschen setze, der an seinem Bruder in solcher Lage so handeln konnte. Selbst wenn ich an dir gefrevelt, hättest du zu jener Stunde dich erinnern müssen, daß einer Mutter Leib uns getragen. Ich wenigstens, beim Himmel, ich hätte an deiner Stelle dessen mich erinnert! Nein, ich kann und mag dein Gast nicht sein! Den Gräbern der Eltern meine Ehrfurcht zu bezeugen, werde ich wohl Gelegenheit finden; aber nimmer gemeinsam mit einem, der in schnöder Herzlosigkeit die Bande der Natur zerriß. Mache nur keine Versuche, dieselben wieder aneinander zu knüpfen. Ich sage dir, Jeremias, ich bin nicht mehr so ganz der gutmütige Junge, welchen du vordem an dem Gängelband deiner Heuchelei führtest. Wir sind getrennt für immer, und es ist wohl am besten so,« »Quel bruit pour une omelette!« sagte der Pfarrer mit vollendeter Selbstbeherrschung. »Du scheinst, lieber Ottmar, die Zeit noch nicht ganz verwunden zu haben, wo du in Klubs und bei Volksversammlungen schwarzrotgoldig oder wohl auch etwas dunkelrötlich donnertest. Vielleicht auch beherrscht dich gerade jetzt wieder deine Zitatensucht, denn mir ist, als schmeckten deine Tiraden von vorhin sehr stark nach des verschollenen Klinger Zwillingen. Dergleichen kraftgeniale Tollheiten sollten aber, denke ich, billig in der Mumiensammlung der Literarhistorie ruhen bleiben, um so mehr, da du im Forgtal schwerlich einen zur Etablierung eines Liebhabertheaters geeigneten Platz und die geeigneten Personen finden dürftest.«

Ein scharfer Zornblick fuhr aus dem Auge des jungen Mannes auf die Züge des Bruders, um dessen Mundwinkel ein frostiger Hohn spielte. Gerade diese höhnische Ruhe des Pfarrers gab auch Ottmar seine Fassung und sogar seinen Humor wieder.

Er lachte laut auf und sagte:

»Beim Zeus, du hast recht. Es dürfte nicht sehr vergnüglich sein, wenn wir mitsammen ein Leisewitz-Klingersches Schauspiel, betitelt: Die feindlichen Brüder, aufführten. Es ist auch gar nicht nötig, daß wir uns lächerlich machen und den Leuten etwas zu klatschen geben. Bemühen wir uns daher, eine leidliche Vereinbarung zustande zu bringen. 's ist ja jetzt ohnehin Mode, das Widerhaarigste zu vereinbaren, weil es der Welt an Mut gebricht, die Gegensätze walten zu lassen.«

»Gut, vereinbaren wir uns.«

»Meiner Treu, du weißt dich in die Umstände zu schicken, und wenn ich mir nochmals einen Eingriff in dein literarisches Gebiet erlauben wollte, würde ich das bekannte Wort von der Schlangenklugheit zitieren; doch zur Sache. Dein Gast werde ich nicht sein, aber wenn wir uns während meines Aufenthaltes im Forgtal begegnen sollten, so wollen wir uns gegenseitig als Gentlemen benehmen. Ich bilde mir ein, es müßte unserer Mutter im Grabe wehtun, wenn die Leute über die Uneinigkeit ihrer Söhne Glossen machten.«

»Wohl, es sei, wie du willst. Ich zweifle auch gar nicht, daß die zwischen uns obwaltenden Differenzen in Bälde sich werden schlichten lassen; ich zweifle um so weniger daran, als ich sehe, daß du dir die heroischen Hörner abgelaufen hast und von einem in dir schlummernden diplomatischen Talent Gebrauch zu machen anfängst.«

»Ei, wohl gar! Ich sage dir ganz unverblümt, daß es bei einer äußerlichen Vereinbarung sein Bewenden haben wird und muß.«

»Lassen wir das jetzt! Wird dein Aufenthalt in diesen Bergen lange währen?

»Je nachdem. Es ist eine verwickelte Geschichte, zu deren Schlichtung ich beitragen soll, ein Prozeß, der sich schon durch mehrere Generationen hindurchgeschleppt hat.« »Wahrscheinlich handelt es sich um den Streit, welchen Graf Bernwart mit seinem Halbbruder um den Forgforst führt?«

»Ja. Ich erinnere mich ans meinen Knabenjahren, daß der Prozeß schon damals und schon lange zuvor zwischen dem gräflichen und dem freiherrlichen Hause im Gange war. Ich meine aber auch einmal gehört zu haben, die Streitsache sei bei Gelegenheit der zweiten Heirat der Gräfin Bernwart mit dem Freiherrn vertragen worden.«

»Es war nur ein Waffenstillstand. Aber sag mir, da du nun einmal so eigensinnig bist, meine Einladung zu verschmähen, wo wirst du denn dein Quartier aufschlagen?«

»Hm, das weiß ich selbst noch nicht. Eigentlich konnte und sollte ich in Bernwartshall Herberge nehmen, da ich hierzu von meinem Klienten, dem Grafen, in verbindlichster Weise eingeladen worden bin. Aber ich mag weder geniert sein, noch genieren, und deshalb gedenke ich meinen Braunen und mich selbst im ersten besten Wirtshaus unterzubringen, wo es mir hinlänglich gefällt.«

Der Pfarrer schwieg eine Weile und fragte dann leichthin:

»Du kennst die Gräfin?«

»Nein. Der Graf ist also verheiratet?«

»Ja.«

»Seit wann?«

Seit etwa zwei Jahren. Die Heirat erfolgte bald nach der Rückkehr des Grafen von seinen, wie man sagt, abenteuerlichen Reisen.«

»So?« versetzte Ottmar gleichmütig. »Ich bin doch recht fremd in meiner Heimat geworden, seit mich nach dem Tode des Vaters der Onkel zu sich ins Unterland nahm. – Woher ist denn die Frau meines gräflichen Klienten?« »Aus nächster Nähe. Erinnerst du dich nicht mehr des alten Sonderlings von Förster, welcher da drüben auf dem Bärenschlößchen hauste?«

»Doch. Der Alte war ein finsterer Griesgram. Er hätte mich fast einmal über die Felsen hineingeworfen, auf welchen das schon damals halbzerfallene Nest liegt. Er wollte demselben niemand nahe kommen lassen, weshalb man sich die wunderlichsten Dinge von dem Bärenschlößchen erzählte. Ich aber war, als er mich damals so schnell hinausspedierte, in ganz guter Absicht gekommen, indem ich nur die verirrte Enkeltochter des Alten heimgeleitet hatte, als ich das kleine, nur ein paar Spannen hohe Ding im wildesten Walde gefunden. Ich erinnere mich, daß es mich mit seinen merkwürdig großen schwarzen Augen seltsam anguckte und dann wie ein scheues Reh vor mir davonlaufen wollte, bis ihm mein freundliches Zureden Vertrauen einflößte.«

»Eine romantische Erinnerung! Das kleine Ding ist jetzt Gräfin Bernwart,«

»Was?«

»Gräfin Bernwart, sagte ich.«

»Nun, beim Zeus, da sieht man, daß der alte Schwarzwald noch immer seine romantischen Mucken hat.«

»Ja, diese Heiratsgeschichte war ziemlich romantisch, um so mehr, da sich beim Tode des alten Försters herausgestellt haben soll, derselbe sei eigentlich ein Edelmann von hoher Abstammung gewesen, ein spanischer Grande, durch tragische Geschicke aus seiner Heimat vertrieben. Dort hätte er in früherer Zeit den alten Grafen kennen gelernt, und dieser habe ihm dann das Bärenschlößchen als Asyl angewiesen.«

»Das ist ja ein ganzer Roman.«

»Es sieht so aus. – Doch die Sonne ist höher gestiegen und mahnt mich zur Heimkehr, da ich vor Tische noch eine Kopulation und andere pfarramtliche Geschäfte vornehmen muß. – Du willst mich also nicht begleiten?« »Nein, mein Bester. Vergiß mir aber nicht, meine Schwägerin und die Kinder herzlichst zu grüßen. Im übrigen sage ich mit Schiller:

»Geh du rechtswärts, laß mich linkswärts gehn.«

»Du bist unverbesserlich, Ottmar. Aber ich tröste mich mit der Hoffnung, daß auch die divergierendsten Wege die Menschen dennoch am Ende oft zusammenführen. Auf Wiedersehen also und vergiß unserer Vereinbarung nicht!«

Mit diesen Worten entfernte sich der ältere Bruder und ging in pfarrherrlich gravitätischer Weise ein halbhundert Schritte weit auf dem Fußpfad fort, welcher von der Franzosenschanze rechtshin am Rand es Absturzes mählich bergab führt.

Ottmar wandte sich zu seinem Pferde und hatte schon den Fuß im Bügel, als er den Bruder umkehren und ihm zuwinken sah.

Er wartete des Herankommenden, und dieser sagte: »Höre, Ottmar. Meine Worte sind dir zwar Wind, aber dennoch fühle ich mich verpflichtet, dir auf der Schwelle unserer Heimat eine Warnung zukommen zu lassen, für welche du mir möglicherweise später dankbar sein könntest.«

»Eine Warnung! Wovor?«

»Vor der Gräfin Eva von Bernwart.«

»Vor der Gräfin? Das ist spaßhaft.«

»Kinder finden es auch spaßhaft, mit dem Feuer zu spielen, bis sie sich tüchtig damit verbrannt und das Haus in Brand gesteckt haben.«

»Ich bin kein Kind.«

»Aber ein heißblütiger Romantiker bist du.« »Bah!«

»Ein Romantiker, ja, deinem Unglauben und deinem Demokratismus zum Trotz.«

»Und wenn?«

»Die Gräfin ist eine Vollblut-Romantikerin und gleich und gleich –«

»Gesellt sich gern, meinst du? Aber sei ganz ruhig, lieber Jeremias. Wenn auch deine Warnung imstande wäre, meine Eitelkeit zu kitzeln, so kann ich dir zum Troste oder zum Possen sagen, daß ich weder für schreibende noch für nichtschreibende Romantikerinnen die geringste Passion habe.«

»Und trotzdem wiederhole ich: Nimm dich vor der Gräfin in acht!« sagte der Pfarrer fast mit Heftigkeit.

»Ei, beim Jeus,« entgegnete Ottmar, indem er sich lachend in den Sattel schwang, »das muß ja ein furchtbares Weib sein, welches die brüderliche Besorgnis meines frommen Bruders so sehr aufregt. Aber beruhige dich, lieber Jeremias. Ist die Gräfin wirklich ein so gefährliches Feuer, wie du andeuten zu wollen scheinst, so sag' ich dir, daß ich schon mehr als einem Feuer gegenüber bewiesen, ich sei nicht von Stroh. Und damit Gott befohlen!«

2. Mit wehendem Schleier.

Nachdem die »vereinbarten Brüder« bei der Franzosenschanze sich getrennt hatten, lenkte der jüngere sein Pferd wieder einen Büchsenschuß weit rückwärts auf das Plateau und wandte sich dann zur rechten Hand, einen scharfen Trab anschlagend.

Während ihn der Braune leicht über das junge Heidekraut hintrug, verarbeitete Ottmar in sich die Eindrücke, welche ihm das Zusammentreffen mit seinem Bruder hinterlassen.

»Daß mir gerade der Jeremias auf der Schwelle der Heimat begegnen mußte!« brummte er mißmutig vor sich hin. »Soll ich es für ein böses Omen nehmen? Oder kann ich es für ein anderes nehmen? Er war immer ein Schleicher – und jedenfalls wäre es besser gewesen, wenn ich dieses Gesicht mit seiner stereotypen Gottseligkeit nie mehr gesehen hätte. Was könnten wir noch miteinander gemein haben? Ein paar Jugenderinnerungen vielleicht. Aber die sind durch neuere Erfahrungen so vergällt und vergiftet, daß ich sie lieber allesamt über Bord werfe. – Was doch alles die Poeten über den Zauber der Bande des Blutes faseln! Die natürliche Sympathie tritt weit zurück vor der Antipathie des Bewußtseins. Um wieviel kostbarer ist ein Bruder im Geiste als ein Bruder im Fleische! Aber freilich, die Brüder im Geiste sind Raritäten. Wo sind denn meine Pyladesse und Pythiasse aus der Universitätszeit? So ziemlich alle, glaub' ich, unter das sitzende, kniende und stehende Heer gegangen, Philister geworden jeder Zoll. 's ist ein Graus, wie schnell die Leute heutzutage alt werden! Auch das geht mit Dampf, wie alles andere. Wie alles? Bah, ich denke, man hat sich in Deutschland, in Europa überhaupt in bezug auf viele Dinge eben nicht sehr über Dampfgeschwindigkeit zu beklagen, und mir will scheinen, daß in eben dem Maße, in welchem die Maschinen vorwärts stürzen, die Menschen zurückgehen. – Was aber nur in aller Welt meinen wohlehrwürdigen Bruder bewog, mich vor der Gräfin zu warnen? Daß Jeremias schon als Knabe nie etwas ohne bestimmte Absicht, ohne Berechnung tat, ist ein historisches Faktum. Welcher Kalkul also mag seiner merkwürdig eifrigen Brüderlichkeit in diesem Falle zugrunde liegen? Die Gräfin interessiert ihn, soviel ist sicher. Steht er in geistlichen Relationen zu ihr und besorgt er vielleicht, ich möchte seine circulos theologicos stören? Oder, oder, hm, beim Zeus, in jedem dieser Pietisten steckt ein gut Stück Mucker – das ist eine alte Geschichte. Es wäre doch, bei Baal und Astarte, es wäre sublim, wenn der alte Duckmäuser einen verliebten Rappel hätte. Arme Margaret, arme Schwägerin, das könntest du noch brauchen. Ich weiß, du hast an der Seite des frommen Wohlehrwürdigen ohnehin keine sehr rosenfarbigen Tage verlebt. – Ja, ja, am Ende ist's so: die Eifersucht, die dümmste, grundloseste, verrückteste Eifersucht sprach aus dem edlen Jeremias. Wäre die Margaret nicht, so müßte mich diese lächerliche Idee höchlich gaudieren. – Und aber, die Worte meines cher frère gestatten die Vermutung, daß die Gräfin Bernwart eine nicht gewöhnliche Person sein müsse. Wer hätte das gedacht, daß ich die Enkeltochter des fremden bärbeißigen Alten droben im Bärenschlößchen dereinst in solcher Situation wiederfinden sollte? Ich erinnere mich des kleinen Dinges noch recht gut; es hatte abenteuerlich schöne große schwarze Augen. Und jetzt Frau Gräfin, vor welcher man kratzfüßeln und katzenbuckeln soll? Ei, das Leben ist doch 'ne Komödie, trotz alledem, und es fehlt ihm nicht an buntem Wechsel und hübschen Überraschungen.«

Der junge Mann sollte auf der Stelle eine Bestätigung dieser Ansicht vom Leben erhalten.

Eine Überraschung wurde ihm zuteil, welche jedenfalls eine hübsche genannt werden durfte.

Er hatte die Hochebene des Pfaffenwaldes hinter sich und war im Begriffe, den Braunen einem Hohlweg zuzulenken, welcher, wie er von alten Zeiten her wußte, den waldigen Abhang hinab ins Forgtal führte.

Da zog er plötzlich überrascht die Zügel an, denn aus dem Dunkel des Hohlweges heraus tönte fröhliches Sprechen und Lachen, eine glockenhelle und glockentonrunde Frauenstimme rief: »Ah, da sind wir endlich oben!« und im selben Moment tauchte die Sprecherin, auf einem prächtigen Schimmel reitend, aus dem Hohlweg auf, versetzte, den Oberkörper vorbeugend, ihrem Pferde einen Schlag mit der Reitgerte, daß es mit einem plötzlichen Ruck und kühnen Satz das Plateau gewann und dann, da ihm seine Reiterin die Zügel schießen ließ, in gestrecktem Galopp über die Fläche hinsauste.

Die Dame saß mit vollendeter Sicherheit und Anmut im Sattel. Ihre schlanke Gestalt, deren tadellos schöne Formen der enganliegende grausamtene Spenzer des Reitkleides hervortreten ließ, folgte zwanglos den Bewegungen des Pferdes. Der Morgenwind hatte ihre feingeschnittenen Züge rosig angehaucht, ihre großen schwarzen Augen blickten unter kühngeschwungenen dunklen Brauen voll Feuer und Leben in die Welt hinein, und wie sie so dahinflog mit wehendem Schleier und ihr die unter dem Reithut üppig hervorquellenden schwarzen Locken im Nacken tanzten und schaukelten, und sie, voll erregten Lebensbewußtseins, einen hellen Ruf der Freude von den Lippen springen ließ, da gewährte sie einen wahrhaft phantastisch-romantischen Anblick, welcher an den Aufzug der Romanze in Tiecks Kaiser Oktavianus erinnern könnte.

Diese Erinnerung regte sich auch in Ottmar. Sein Bruder hatte doch wohl nicht so ganz unrecht gehabt, wenn er ihn einen Romantiker nannte.

Die stille, grüne, waldumschlossene Heide und darauf die feenhaft schöne Erscheinung der kühnen Reiterin, es war eine in Wirklichkeit übersetzte Reminiszenz aus Tagen, wo Ottmar, während des Gesenius berühmtes hebräisches Lesebuch auf der Schulbank lag, unter derselben in Fouqués »Zauberring« und »Sängerliebe« schwelgte.

Er hatte auch keine Zeit, diese Reminiszenz von einem Schatten moderner Skepsis überstiegen zu lassen.

In dem Augenblick, wo der Schimmel mit seiner schönen Last an dem jungen Mann vorüberschießen wollte, erblickte ihn die Reiterin, und sogleich zügelte sie mit außerordentlicher Gewandtheit ihr Pferd.

»Guten Morgen, Herr Doktor Horst, und willkommen im Schwarzwald!« sagte die Dame mit schalkhaftem Lächeln.

Ottmar glaubte zu träumen. Er meinte dieses Antlitz mit der gebietenden Stirne und den wunderbaren Augen schon einmal gesehen zu haben; es hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht – und doch, wo war es nur, daß er es gesehen? Er wußte sich diese Frage nicht zu beantworten: das machte ihn verlegen, und er kam sich recht tölpelhaft vor.

»Mein Fräulein –« stotterte er endlich.

»Fräulein?« versetzte die Dame mit sonderbarer Betonung, während eine Wolke ihre strahlenden Züge überflog. Aber nur für einen Moment, denn im nächsten hatten sie ihren, wie es schien, gewöhnlichen Ausdruck sorglos heiterer Entschiedenheit, um nicht zu sagen Kühnheit, wieder angenommen.

Lachend sagte sie:

»Was doch die Männer für ein kurzes Gedächtnis haben! Vor einigen Monaten unterhielt mich in der Fremdenloge des Theaters der Residenz in den Zwischenakten vom Nathan ein gewisser junger Rechtskonsulent recht artig über Lessing, über die Idee des Humanismus und andere hübsche Sachen –«

»Ach ja, meine Gnädige,« rief Ottmar eifrig aus. »Aber schreiben Sie mir nicht ein zu kurzes Gedächtnis zu. Nur das romantisch Plötzliche, die überwältigende Macht Ihrer Erscheinung auf dieser Heide –«

»Hat Sie so geblendet, mein Herr Doktor, daß Sie Ihr Gedächtnis einbüßten?«

Es klang herber Spott aus diesen Worten der Dame, und ihr tiefes Auge ruhte mit strengem Forschen auf Ottmars Zügen, als sie hinzufügte:

»Haben auch Sie die Fibel der Phraseologie auswendig gelernt? Damals im Theater glaubte ich fast, Sie bildeten eine Ausnahme von der Männerrasse, welche die fixe Idee hat, einer Frau gegenüber stets und unter allen Umständen adulatorische Abgeschmacktheiten auskramen zu müssen.«

Ottmar blickte der Sprecherin fest in die Augen, aus denen ihm jetzt plötzlich eine Erinnerung aufstieg, welche viel weiter zurückging als zu dem Theaterabend in der Residenz, wo die blendende Erscheinung der fremden Dame einen gewaltigen, wenn auch vorübergehenden Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er hatte jetzt seine gute Laune völlig wiedergewonnen und sagte nun seinerseits lachend:

»Sie sind, gnädige Frau – entschuldigen Sie – die erste Person, von welcher Ottmar Horst der Schmeichelei sich bezichtigen hörte, und wenn ich vielleicht an dem berühmten Phrasengeschäft, welches vor etlichen Jahren in Deutschland so schwunghaft betrieben wurde, etwelchen bescheidenen Anteil hatte, so habe ich auch die Ehre, zu denen zu gehören, welchen man auf ziemlich rücksichtslose Weise die fernere Beteiligung an besagtem Geschäft verleidete. Im übrigen –«

»Im übrigen?« fragte die Reiterin mit einem aufmunternden Blick.

»Im übrigen möchte ich mir erlauben, Ihnen zu beweisen, daß meine Gedächtnisschwäche keineswegs so groß ist, als Sie annehmen zu müssen glauben.«

»Wie wollen Sie mir das Gegenteil beweisen?«

»Es war einmal ein kleines Mädchen mit großen schwarzen Augen. Das hatte sich im wilden Walde verirrt und –«

»Da kam ein schon ziemlich großer Junge daher –«

»Vor dem das kleine Mädchen zuerst wie ein scheues Reh davonlief –«

»Genug, Herr Doktor. Ich lasse Ihren Beweis gelten. Aber warum haben Sie mich im Theater nicht wiedererkannt? Doch davon ein andermal. Jetzt eine Frage: Wußten Sie, bevor Sie hierher kamen, daß das kleine Mädchen von damals jetzt Gräfin Bernwart ist?«

»Nein, gnädige Frau, das erfuhr ich erst vor einer halben Stunde dort drüben bei der Franzosenschanze.«

»Von wem?«

»Von einem frommen Mann, welcher Pastor in Moosbrunn und nebenbei der Bruder Ihres gehorsamen Dieners ist.«

»Ah, so? Ihr Bruder ist ein Heiliger, wie ich glaube,« versetzte die Gräfin, und ein spöttisches Lächeln kräuselte ihre etwas vorspringende Oberlippe, auf welcher der Schatten eines Anhauchs von dunklem Flaum lag, ein reizendes Merkmal ihrer südlichen Abkunft.

Dann sagte sie noch, mit der Gerte rückwärts nach dem Hohlweg weisend:

»Da kommt mein Gefolge. Ich darf mich von meinen Rittern nicht einholen lassen, es gilt eine Wette. Lassen Sie sich bald in Bernwartswall sehen. Ihre Zimmer sind in Bereitschaft. Der Graf erwartet Wunder von Ihrem Scharfsinn, und Wunder, deucht mich, müßten in der Tat geschehen, wenn dieser leidige Prozeß einmal von der Stelle rücken sollte. Adios! Adios!«

Sie winkte anmutig mit der Hand, beugte sich, leicht mit der Zunge schnalzend, auf den Hals ihres ungeduldig stampfenden Renners vor, und windschnell stob das edle Tier mit ihr davon.

Ottmar blickte ihr mit einem lebhaften Gefühl der Bewunderung nach. Es kümmerte ihn wenig, daß das »Gefolge« der Dame, vier aus dem Hohlwege hervorbrechende Reiter, scharf austrabend auf ihn zukam.

Die Herren hatten aber das Zusammensein der Dame mit einem Fremden bemerkt, und Neugierde ließ, wie es schien, den vordersten der Reiter den raschen Gang seines Pferdes hemmen.

Er war ein hochgewachsener, ungewöhnlich schöner junger Mann von unverkennbar soldatischer Turnüre. Der volle, seidenweiche braune Schnurrbart stand seinem Gesicht sehr gut, und dieses würde durchaus einnehmend gewesen sein, wenn es nicht durch einen Ausdruck von Hochmut und Selbstgefälligkeit beeinträchtigt worden wäre.

Der eine seiner Begleiter war ein mild aussehendes Herrchen, nicht mehr in der ersten Jugend stehend, sinnige Schwärmerei im Blick, mit modischem Bärtchen und einer gewissen nachlässigen Eleganz oder eleganter Nachlässigkeit herausgeputzt. Der dritte Reiter fiel durch seinen Anzug sehr in die Augen. Er war ein junger Mann, dessen blondes Haar in wohlgepflegten Locken auf den breiten Hemdkragen herabfiel, welcher über den schmalen Kragen seines altdeutschen Rockes zurückgeschlagen war. Im Knopfloche trug er eine Passionsblume und auf dem Lockenhaupt ein schwarzes Sammetbarett, an dessen Vorderseite ein massiv goldenes Kreuz angeheftet war.

Ottmar schenkte indessen den drei andeutend geschilderten Reitern nur eine ganz oberflächliche Beachtung, denn der vierte nahm sein Interesse vollständig in Anspruch.

Dieser vierte, welcher zuletzt aus dem Hohlwege hervorgekommen, war ein riesengliedriger, vierschrötiger Mann, dessen ganze Erscheinung in keiner Weise zu der seiner Begleiter paßte.

Unser Freund hatte ihn kaum erblickt, als er mit freudiger Überraschung ausrief:

»Der grimme Wate, beim Zeus!«

Der Gemeinte, welcher damit beschäftigt gewesen, seinen Steigbügelriemen kürzer zu schnallen, schaute auf und kehrte Ottmar ein Gesicht zu –

Mit bohrenden Augen, mit ellenbreitem Bart – wie es im Gudrunlied von dem gewaltigen Kämpen heißt, welcher mit Horand und Frute nach Irland und mit den Hegelingen nach der Normandie fuhr. In der Tat war der Cerevisname Wate, welchen der Mann von der Universität her führte, ein gerechtfertigter. So ungefähr mußte jener Held ausgesehen haben, jener »Grimme«, der im Grunde ein ganz gutmütiger Bursche war. Man sah von dem unter einem grauen Filzhut mit mächtig breiter Krempe hervorlugenden Gesicht nur die scharfen grauen Augen, die weit vorspringende Adlernase, ein Stück gebräunter Stirne und zwei schmale Streifen gebräunter Wangen, alles übrige verschwand hinter einem braunroten Bartwald, welcher bis über die Mitte der Brust herabfiel und der Enaksgestalt recht wohl anstand.

Die dargebotene Hand Ottmars schüttelnd, tat der grimmige Wate den Mund auf und sagte phlegmatisch:

»Ah, bist du endlich da, lieber Junge? Freut mich und so weiter.«

»Die Herren scheinen sich zu kennen,« bemerkte der Reiter mit soldatischer Haltung. »Und wie!« erwiderte Wate, um dessen Mund, wenn bei längerem Sprechen der Bartvorhang sich zurückschob, ein sarkastischer Zug sichtbar wurde. »Ich will beweisen, daß ich ein Mann von Lebensart bin, indem ich die Herren einander förmlich vorstelle, respektive vorreite. Der Fremdling hier, welcher sich unserer wilden Jagd in den Weg gestellt, ist Herr Ottmar Horst, seines Handwerks ein Dr. juris utriusque und Rechtskonsulent – im übrigen ein anständiger und ziemlich leidlicher Mensch und Gentleman, falls ihm nicht gerade eine seiner romantischen Schnurren durch den Kopf fährt. Was dich angeht, mein lieber Junge, so siehst du hier vor dir Nr. 1 den hochgeborenen Freiherrn Adalbert von Moosbrunn; Nr. 2 den Herrn oder vielmehr Don Rodrigo, weltberühmten urwalddeutschen Lyriker; Nr. 3 den Herrn Walter von dem Schmelz, weltberühmtesten Lyrisch-Epiker unserer Zeit. Maßen dir nun als deutschem Mann der pflichtschuldige Respekt vor dem Adel innewohnen muß, maßen du ferner als ein Stück poetischen Gemütes die gehörige Ehrfurcht vor den Lieblingen der Musen hast, so lebe ich der Hoffnung, du werdest mir, deinem Vorsteller, bei diesen Herren alle Ehre machen.«

Ottmar verbeugte sich und blickte mit einiger Neugier auf den Freiherrn, gegen welchen er einen verwickelten Prozeß zu führen berufen war, mit noch größerer jedoch auf die zwei poetischen Berühmtheiten, welche indessen von der Vorstellungsmanier Wates wenig erbaut zu sein schienen.

Don Rodrigo versuchte zu lächeln, und zwar zu lächeln mit der Miene eines erhabenen Geistes. Herr Walter zupfte mit männlicher Würde an einer seiner Schmachtlocken.

Der Freiherr zog zuerst die Stirne kraus, ließ sich aber dann zu einigen der banalen Redensarten herbei, welche Leuten, die in der großen Welt gelebt haben, bei solchen Gelegenheiten geläufig sind, dann setzte er, augenscheinlich ungeduldig, vom Flecke zu kommen, hinzu:

»Wenn, wie ich hoffe, Herr Doktor Horst einige Zeit in unseren Bergen zubringen wird, soll er mir in meinem Hause willkommen sein, und werden meine Freunde und ich uns freuen, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Jetzt aber, meine Herren, müssen wir die Sporen einsetzen. Die Frau Gräfin hat, wie Sie sehen, einen bedeutenden Vorsprung, und längeres Zögern müßte uns die Wette unfehlbar verlieren machen. Allons donc!«

Mit diesem Wort sprengte er ohne weiteres davon, und die beiden poetischen Berühmtheiten beeilten sich, ihm zu folgen.

Wate blieb bei seinem Freunde zurück.

»Da reiten sie hin,« sagte er, »einem – Irrwisch nach.«

»Einem Irrwisch?« entgegnete Ottmar lebhaft. »Diese Frau ist bezaubernd schön!«

»Dies Bildnis ist bezaubernd schön!« sang Wate parodierend und seinen tiefen Baß zu einem schnakischen Triller zwingend. Hierauf lachte er herzlich und sagte:

»Sollte mich nicht im geringsten wundern, wenn die Hexe es dem guten Jungen während dieses Rendezvous von ein paar Sekunden angetan hätte.«

»Wie sprichst du nun wieder, alter Wate?«

»Wie ich denke, liebes Jüngelchen, ganz, wie ich denke.«

»Bah!«

»Hat sich was zu bahen! Übrigens brauchst du gar nicht so vornehm oder vielmehr so zierpuppig zu tun. Es geht dir nur, wie's andern auch gegangen, darauf kannst du Gift nehmen. Sie hat uns alle verrückt gemacht, den einen mehr, den andern weniger.«

»Was für alle?«

»Je nun, den Baron, die beiden Versedrechsler, die allerdings schon vorher passabel verrückt waren; fernerhin deinen gottseligen Bruder –«

»Was, zum Teufel, den frommen Jeremias?«

»Eben den.«

»Das ist kolossal!«

»Endlich mich, deinen treuergebenen Sozius Wate, genannt der Alte oder der Grimme, ci-devant Mediziner, jetzt Ex-Demagog, Glashüttebesitzer und so weiter.«

»Pyramidalisch!«

»Meinetwegen pyramidalisch oder obeliskisch, wie du willst: aber's ist so, beim Barte des Propheten!«

»Kerl, du willst mich blau anlaufen lassen.«

»Ich? O, sei ganz ruhig, was das Anlaufenlassen betrifft, so wird das eine andere Person besorgen. Sie wird dich in allen Farben des Regenbogens anlaufen lassen, wenn es ihr Spaß macht. Du hast ganz das Zeug dazu, Gott straf' mich! Und das ist der Humor davon, wie Shakespeares Bardolph zu sagen pflegt.«

»Sei unbesorgt, ich bin kein achtzehnjähriges Küchlein mehr.«

»Einerlei. Sie betört die Alten und die Jungen. Sieh doch einmal mich an. Seh' ich aus wie ein flaumbärtiger Springinsfeld?«

»Keineswegs, aber ich kann auch nicht glauben, daß du wirklich verliebt bist. Das ginge ja über die Hutschnur, wäre gegen allen Komment.«

»Ja freilich,« entgegnete Wate mit einem komischen Seufzer, »'s ist gegen allen Komment. Aber wie heißt doch der Dings da, der pfiffige Autor, welcher die Liebe definierte als die größte aller Narrheiten, maßen sie den Menschen mehr an eine andere als an seine eigene Person denken mache? Siehst du, akkurat in diesem Kasus befinde ich mich; ich bin verliebt bis zum Blödsinn, verschossen, geentert, fertig – que diable m'emporte! – Jedennoch wirst du, vermut' ich, nicht hier auf des Pfaffenwaldes romantischer Höhe stehen bleiben wollen, sondern talwärts streben. Wollen also hinab, müssen aber absteigen, Liebster. Der verdammte Hohlweg macht einem schon beim Heraufreiten genug zu schaffen – müssen die Pferde führen. Gib acht auf deinen Gaul, daß er auf den Füßen bleibt. – Hast da einen stolzen Braunen, Gott straf' mich! Weißt, scheint es, das Geld des seligen Onkels unter die Leute zu bringen. Eine edle Sorte von Menschen, derartige selige Onkels. Vivant, sie sollen leben und die seligen Basen daneben!«

»Vasen?« erwiderte Ottmar, dem vorangehenden Freunde, welchen das Zusammentreffen mit ihm sehr gesprächig gemacht hatte, in den Hohlweg folgend.

»Nun ja, Basen,« versetzte der Grimme. »Wie sollte denn ich, nachdem mich die Festungsmisere den letzten Kreuzer meiner Habe gekostet, müßig im Schwarzwalde herumlungern können, gäbe es nicht alte Basen in der Welt, welche zur gelegensten Zeit gen Himmel fahren? Du verstehst die edle Kunst zu erben nicht allein.«

»Aha. daher kommt es, daß du dich vorhin Glashüttebesitzer betiteln konntest?«

»Erraten. Als ich nach unserer Trennung am Fuße des unliebsamen Hügels arm wie Diogenes in den alten Schwarzwald heraufkam, um in nomine diaboli wieder das Medizinern anzufangen, hatte der Himmel das Einsehen gehabt, meine Basen in Gnaden aus diesem Jammertal abzurufen. Der alte Drache – denn du mußt wissen, daß in meiner seligen Base das mythische Geschlecht der berühmten Schwarzwalddrachen fortlebte – hatte zum Glück nicht mehr Zeit gehabt, ein Testament zu machen. Sonst wär' ich sicherlich leer ausgegangen. So aber bin ich jetzt im Besitz der notablen Glashütte drüben im Trausigtal.«

»Ich erinnere mich des Ortes. Dort also wohnst du?«

»O nein, mein Lieber. Ich habe zwar, wie männiglich bekannt, von jeher ein großes Geschick gehabt, mit Gläsern umzugehen, aber nur als Trinker, und merkte bald, daß das Glasmachen nicht meine Sache sei. So überließ ich die Besorgung des ganzen Trödels dem alten Werkführer, der, wie ich ausrechnete, mich jährlich just nur um so viel beschummelt, daß das Geschäft noch immer genug abwirft, um sowohl ihn als mich anständig leben zu lassen. Nachdem die Sache der Art zu unserer beiderseitigen Zufriedenheit eingerichtet war, gürtete ich meine Lenden und machte mich auf, zu ziehen herüber ins Forgtal, allwo die Anstalten, die da genannt werden Wirtshäuser, besser sind als drüben. Und siehe, ich hielt an meines Rosses Zügel an einem gesegneten Orte, der da heißt Im Bühl, und ich klopfte an die Türe an, und es ward mir aufgetan, und ich nahm Herberge in der Goldforelle, allwo Küche und Keller so beschaffen, wie ein Junggesell von Geist und Gemüt es wünschen muß. Sela.«

»In der Goldforelle also hausest du?«

»Du hast es gesagt. Es ist ein heimeliger Ort, weißt du? Natürlich wirst du auch dort logieren.«

»Ich bin ins Schloß eingeladen, und die Frau Gräfin hat vorhin die Einladung wiederholt.«

»Laß dich nicht vom Satan blenden, Junge.«

»Es steht dir wohl an, zu moralisieren, beim Zeus?«

»Allerdings, denn mir bemoostem, abgewettertem Haupte können die Satanasse aller Mythologien zusammen im Grunde doch verteufelt wenig anhaben. Folg meinem Rat, du weißt, ich hatte immer ein Faible für dich und meine es gut. Du würdest dich in Bernwartshall ohnehin nicht heimisch fühlen; der Graf ist ein unheimlicher Kerl und so weiter.«

»Aber es wäre eine Ungeschliffenheit von mir –«

»Ei, daß dich! Ich übernehme alle Verantwortung. Zudem habe ich, als ich vorgestern zufällig deinen Koffer im Forgauer Posthaus antraf, denselben nach der Goldforelle spediert und ein Zimmer für dich bestellt. Es geht auf die Galerie hinaus, weißt du? Dort läßt sich an schönen Nachmittagen allerliebst sitzen, um den Rauch der Zigarre zu blauen Ringen zu drehen und über die Eitelkeit des Irdischen zu philosophieren.«

»Du hast dich also mit Passion dem Nichtstun ergeben?«

»Warum sollt' ich nicht? Die Ideale sind zerronnen, sagt Schiller. Ach, lieber Junge, wie haben wir uns vor zeiten über den Gourmand Friedrich Schlegel skandalisiert, welcher die göttliche Faulheit in luzindeischen Dithyramben pries. Der Mann war gescheiter als wir. Übrigens bin ich nicht so ganz müßig, wie du glauben magst. Ich spintisiere über einem literarischen Opus, das ohne Zweifel Epoche machen wird.«

»Du ein Autor? Das fehlte noch!«

»Nur nicht so geringschätzig, wenn ich bitten darf. Der Idealismus hat vollständig Bankrott gemacht, und unsere Zeit ist der inkarnierte Materialismus – das ist eine brutale Tatsache. Wie nun, wenn ich es unternähme, das Evangelium des Materialismus zu verkündigen?«

»Ein sehr überflüssiges Unternehmen, denke ich. Besagtes Evangelium wird ja längst von allen Dächern gepredigt.«

»Ja, aber wie? Das ist die Frage. Ich gehe von dem Prinzip aus: Eine wirkliche Reform der Gesellschaft hat die Reform der Küche zur Voraussetzung.«

»Du bist also ein Küchenphilosoph oder ein Küchensozialist?«

»Spotte immerhin, später wirst du mir wohl Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich habe über mein Thema die tiefsinnigsten Spekulationen angestellt und bin zu Findungen gelangt, von welchen sich weder Hegel noch Hengstenberg, weder Feuerbach noch Stahl, weder Radowitz noch der Schneider Weitling etwas träumen ließen. Sage mir, was und wie du issest, und ich will dir sagen, wer du bist – das ist mein Fundamentalsatz, auf welchem ich ein Lehrgebäude aufführen werde aere perennius und so weiter. Ich sage dir, die berühmte Gastrosophie des Baron Vaerst wird wahrer Schund sein gegenüber meinem Werk, wenn ich mal damit hervortrete. Willst du mein Mitarbeiter an dem großen reformatorischen Unternehmen werden?«

»Danke. Ich bin in die gastrosophischen Mysterien nicht sehr eingeweiht und will mich einstweilen aufs Prozesseführen beschränken.«

»Prozesseführen? Ein schändliches Geschäft! Und du hast's ja nicht einmal nötig, um gentlemantike leben zu können.«

»Möglich, aber man muß in meinen Jahren doch etwas tun, sonst kriegt man den Spleen. – Doch, um auf die Gräfin zurückzukommen –«

»So läßt dir die schon keine Ruhe? Sie ist, die grüßte Kokette, soweit der Himmel blaut oder graut.«

»Und wer ist denn der Begünstigte?«

»Der Begünstigte? Seht mir mal! Sprecht nicht so frivol, Herr Advokat, von der Dame meines Herzens. – Der Begünstigte? Ja, wer das wüßte! Ich weiß nur, daß ich es nicht bin. Sie treibt ihren Jux mit mir, so viel ist sicher. Sie treibt ihn auch mit deinem frommen Bruder Jeremias, ferner mit den beiden poetischen Zeitblasen, welche du da oben gesehen und die bei dem Baron zu Gaste sind.«

»Und Mit dem Baron?«

»Das ist eine kitzliche Frage, Gott straf' mich! Zuweilen darf man glauben, der Baron habe in diesem Spiele die Matadore in der Hand, dann wieder umgekehrt, oder auch, es sei da mehr als Spiel im Spiele, nämlich eine veritable Leidenschaft. Aber wer kann sich über diese Eva aller Even, über diese Evissima ein festes Urteil bilden? Der nächste Tag stößt es immer wieder um. O, sie ist beweglich, veränderlich und launisch, wie das Element, nach welchem sie ihren Charakternamen führt. Immer anders und doch immer dieselbe. Mit Fug und Recht heißt sie die Tochter der Luft.«

»Die Tochter der Luft?«

»Ja. Nicht wahr, das klingt romantisch?«

»Sehr.«

»Es war einer der letzten Mohikaner der Schlegel-Tieckschen Schule, welcher vor einiger Zeit nach alten Liedern und Sagen im Schwarzwald herumschnoberte und bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft der Gräfin machte. Das schöne Spanisch, welches sie spricht, entzückte den alten Knaben. Er las mit ihr im Calderon und hatte dabei den Einfall, die Gräfin sei das leibhaftige Konterfei der Heldin des berühmten Dramas: Die Tochter der Luft. Daher trägt sie den Namen Hija del ayre, und sie hört ihn, deucht mich, gar nicht ungern. Was mich betrifft; so gestehe ich, daß mich, ungeachtet ich verliebt bin wie ein Maikäfer, die Gräfin zuweilen an das gebackene Eis der Chinesen erinnert, welches einem den Mund verbrennt und den Magen verkältet.«

»Ein gastrosophisches Bild!« sagte Ottmar lachend. »Ja, was willst du, daß ein Gastrosoph für andere Bilder gebrauche? Zudem paßt es auf seinen Gegenstand. Dieses Weib ist, Gott straf' mich, aus Glut und Eis zusammengesetzt.«

»So etwas sagt, wenn mir recht ist, auch Calderon von seiner Heldin.«

»O, du echter Deutscher, du! Kann man denn keinen Gedanken äußern, ohne daß einem so ein Literaturkerl sagt: Da und da steht er gedruckt? – Übrigens, da wir gerade von Literatur sprechen, du hast natürlich seinerzeit den ›Salon‹ von Heine gelesen? Gut. Erinnerst du dich der hübschen Sachen, welche er über die Willis beigebracht hat?«

»Ich glaube.«

»Wohl, siehst du, so eine Willi, so ein heimlich-unheimliches Wesen ist Eva Bernwart – so ein bezauberndes Ding,

... das Stein erweichen,
Menschen rasend machen kann.

Ich sage dir, Ottmar Horst, hab' acht auf den kuriosen Muskel, welchen man Herz nennt, oder ich werde es binnen acht Tagen erleben, daß du ein Narr wirst wie alle wir anderen. Doch da sind wir endlich auf der Talebene. Wir wollen aufsitzen und machen, daß wir zur Goldforelle kommen, bevor es Mittag läutet.«

3. Goldforellenwirts Goldforelle.

In der Tat, das Gehöft Im Bühl war, wie der gute Wate gesagt, ein heimeliger Ort.

Auf einer natürlichen Terrasse lag die Goldforelle in behaglicher Breite unter ihre alten Obstbäume hingebettet. Wie alle rechten Schwarzwaldhäuser war auch dieses aus Holz erbaut, aber solid, stramm, mit einer wahren Verschwendung von Eichen- und Nußbaumholz und nicht ohne architektonische Zierlichkeit. Der breite Giebel schaute gegen die Straße hinab und wies drei Reihen von Fenstern übereinander, deren helle Scheiben in den beiden oberen Gestocken hinter einem üppigen Flor von Nelken, Levkojen und anderen ländlichen Zierpflanzen fast verschwanden. Zu der in die Mitte der Hausfronte eingelassenen Haupttüre führte und führt noch jetzt eine breite steinerne Treppe mit eisernem Geländer empor, von deren oberster Stufe man zunächst in eine Vorlaube tritt, auf welche die Vorderfenster des eigentlichen Wirts- und Schenkzimmers heraussehen. Diese Vorlaube verlängert sich links und rechts von der Haustüre in eine Galerie, welche um das ganze Haus herläuft. Solche Galerien, deren Brustwehren zierliches Schnitzwerk bildet, haben auch die beiden oberen Stockwerke. Die unterste ist an beiden Seiten des Hauses durch ein Spalier von Reben und Jerichorosen mit der mittleren verbunden. Die Zimmer und Kammern der beiden oberen Stockwerke öffnen sich auf die Galerien, welche ihrerseits durch Treppen miteinander verbunden und allesamt durch das weit vorspringende Dach vor dem Unwetter geschützt sind. Zu der großen Treppe gelangt man von der Straße her über einen breiten Kiesplatz, von welchem aus links und rechts ein Weg an den Seitenfronten des Hauses hin zu den Hintergebäuden führt, zu den Ställen und »Gaden«, wo der Goldforellenwirt seine Ochsen mästet und seinen reichen Korn- und Futtervorrat verwahrt.

Noch sind aber drei besondere Zierden dieses schönen Schwarzwaldheimwesens zu erwähnen. Da ist erstens ein klarer Bach, der rechter Hand von dem Haus in jähen Sprüngen von den Bergen herab durch das grüne Mattengelände dem Fluß im Tale drunten zueilt, in seinem tiefen, tannenbekränzten Granitbett brausend und hier und da eine hübsche Kaskade bildend. Da ist zweitens an der linken Hausecke ein Brunnen, der aus drei Röhren eine Fülle frischesten Bergquellwassers ergießt. Da ist endlich drittens diesseits des erwähnten Kiesplatzes, wo die Terrasse gegen die Straße zu abfällt, ein Rasenfleck, in welchem der gewaltige Stamm einer uralten Linde wurzelt, deren Geäst den ganzen Raum vor dem Hause beschattet.

Unter der Linde ist ein Tisch aufgeschlagen, und der war jetzt gedeckt. Daran saßen die beiden Freunde, welche soeben ihr Mittagessen beendigt hatten. Wate saß behaglich mit übereinandergelegten Beinen in seinen Stuhl zurückgelehnt, schlürfte seinen Wein und blies den Rauch seiner Zigarre in das grüne Gezweig empor, durch welches die Mittagssonne goldene Lichter streute. Auch Ottmar war seiner Aufregung von heute morgen wieder völlig Meister geworden und teilte das Behagen des Freundes, teilte es um so mehr, da er sich von der ganzen Umgebung angeheimelt fühlte. Er war als Knabe und noch als Jüngling viel im Bühl gewesen; zwischen seiner Mutter und der verstorbenen Goldforellenwirtin hatte eine vertraute Freundschaft gewaltet. Er nahm daher auch gegenüber der schmucken Tochter des Hauses, welche ab und zu ging und kam, das Recht alter Bekanntschaft in Anspruch. Freilich, des Goldforellenwirts einzig Kind, das Aivli,Alemannisches Verkleinerungswort für Eva. war seither aus einem kleinen Mädchen zu einem recht stattlichen »Meidli« herangewachsen, und so wollte sich zwischen ihr und dem Pfarrerssohn anfangs der trauliche Ton von ehemals nicht recht wiederfinden.

Aber das Aivli hatte »des Pfarrers selig von Moosbrunn seinen Ottmar« doch fast auf den ersten Blick wiedererkannt, obgleich das Mädchen noch sehr tief in den Kinderschuhen gesteckt zur Zeit, wo der junge Mann als angehender Student zum letztenmal in ihrem väterlichen Haus gewesen war. Das hatte dem Ottmar mächtig wohlgetan.

Seine Blicke folgten mit unverkennbarer Teilnahme dem schönen Kinde, wenn es, die Gäste bedienend, zwischen dem Haus und der Linde hin und her ging, so frank und frei, mit jener zwanglosen Anmut, wie sie, die Idyllendichter mögen sagen, was sie wollen, die Natur nur selten ländliche Schönen lehrt. Es war etwas Zierliches in allen Bewegungen des Aivli, dabei etwas Frisches, Flinkes, Anstelliges, was sich auch jetzt nicht verleugnete, als sie droben in der Vorlaube das Kaffeegeschirr zurüstete.

Ottmar schaute dem Mädchen mit Vergnügen zu und summte endlich halbsingend vor sich hin:

»Gott grüß' dich, Schenkentöchterlein!
Auf deinen holden Wangen
Sind in dem hellsten Purpurschein
Die Rosen aufgegangen.

Wie Lerchenlied aus hoher Luft
Klingt's lieblich aus deinem Munde,
Die Locken hauchen süßen Duft,
Wie Veilchen im Waldesgrunde.

Und aus den schönen Augen sprühn
So helle, heiße Funken,
Als wär' die Sonn' im Mittagsglühn
In sie hinabgesunken.«

»Sagst du was, lieber Junge?« fragte Wate, aus jenem Zustande auffahrend, welchen er unter dem Namen Verdauungsdämmerung in einem eigenen Kapitel seiner »Philosophie des Magens« abhandeln wollte, – »Ah so,« fuhr er fort, mit den Augen der Richtung von Ottmars Blicken folgend. »Du erlustierst dich, scheint es, immer noch gern mit Zitaten, und, Gott straf mich, dein Thema kann einen schon dazu bringen, Verse zu rezitieren. Wart mal, wo Hab' ich nur die da her?

Wie von Wellen getragen geht sie, einem Schwan gleich,
Und ihr Blick ist so süß wie ein Taubenblick,
Ihre Stimme so rein wie Nachtigallsang;
Es glühen ihre Wangen, rot angehaucht,
Wie die Morgenröte am Gotteshimmel;
In goldenen Flechten wallt das lange Haar,
Mit hellen Bändern schmuck zusammengeknüpft,
Um den Nacken schlängelt's, um die Schultern her,
Küßt die weiße Brust, die hochschwellende –«

»Seht mal, der grimme Wate wird poetisch!« sagte Ottmar mit Lachen.

»Warum sollt' ich nicht? Ist die Poesie etwa ein Monopol für euch Gelbschnäbel? Ich sag' dir, ich war von jeher ein Stück Poet, wenngleich nur ein geheimer, sozusagen, ein Privatlicher. Im übrigen wirst du zugeben, daß die von mir mit Geist und Gefühl zitierten Verse auf ihren Gegenstand passen. Passen sie nicht?«

»O ja, vollkommen. Ich beneide dich ordentlich um das Zitat, beim Zeus! Aber sag mir, wie konnte dein gefühlvolles Herz so lange mit diesem schönen Kind unter einem Dache weilen, ohne gerührt zu werden? Du bist, wie du mir sagtest, durch des letzten Schwarzwalddrachens Hingang Glashüttebesitzer geworden, id est ein Mann von unabhängiger Stellung, und in deinen Jahren sollte man, vermut' ich, allmählich ans Heiraten denken.«

»Heiraten?« versetzte Wate, mit komischem Entsetzen die Zigarre auf den Tisch legend und mit beiden Händen in seinen Bart greifend. »Ans Heiraten denken!

Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort –

Ich und heiraten? Du bist, Gott straf mich, nicht recht gescheit oder willst mich uzen.Foppen. Habe ich nicht dem Banner der Junggesellenschaft mich zugeschworen auf ewig? Darf und kann ein Gesellschaftsreformator in spe, ein künftiger Heiland der Küche ans Heiraten denken? Besinne dich, Mann. Um mich auf mein ungeheures Werk vorzubereiten, muß ich gut essen. Wer ißt am besten, Ehemänner oder Junggesellen? Letztere ohne Zweifel. Warum? Weil sie erstens den Kosttisch nach Belieben wechseln können, und weil zweitens alle Köchinnen der Welt sich weit mehr Mühe geben, wenn sie wissen, daß sie für einen ledigen Mann kochen. Ich werde diesen Erfahrungssatz seinerzeit und seines Ortes spekulierend begründen. Alles zusammengefaßt, muß ich meiner erhabenen Mission zuliebe Junggesell bleiben – quod erat desmonstrandum

»Vor solcher Logik streich' ich eiligst die Segel.« »Das ist das Klügste, was du tun kannst. Im übrigen muß ich sagen, das Aivli ist ein herzig Kind. – Sieh nur,« fuhr der Grimme fort, zur Vorlaube hinaufblinzelnd, »was das Mädchen für 'ne prächtige Stirne hat! Und es ist was drunter, sag' ich dir, viel Mutterwitz, viel schalkhafter Humor. Und die dunkelblauen Augen unter und die weichen braunen Haare über dieser Stirne sind auch nicht von Stroh, sollt' ich meinen. Und wie weiß das Aivli unsere gute alte Landestracht zu tragen! Sieh mal, wie die kurze, gefältelte schwarze Jüppe und der rote Brustlatz und das schneeweiße Goller und die roten Zwickelstrümpfe und das neckische Schäppli, unter welchem hervor das gloriose Zöpfepaar fast bis zur Erde hinabfällt, der schlanken und leichten und dabei doch runden Gestalt so prächtig stehen! Summa Summarum: 's Aivli ist ein gescheites, emsiges, seelengutes Aivli, ein dundersnettes Meidli, wie der selige Hebel sagen würde, und der Goldforellenwirt hat, Gott straf' mich! recht, wenn er das Kind seine Goldforelle nennt.«

In Wahrheit, der Lobgesang des Grimmen auf das Aivli war ein gerechtfertigter. Ottmar mußte sich das gestehen, als jetzt das Mädchen mit dem Kaffeebrett die Treppe herab und auf den Tisch unter den Linden zukam. Es drang sich ihm auch unwillkürlich eine Vergleichung des Mädchens mit der Frau auf, deren Erscheinung auf dem Pfaffenwald ihn so sehr überrascht hatte. Da war freilich nicht das Pikante, bewußt Graziöse, fast dämonisch Fesselnde, welches der kühnen Reiterin eigen; aber dafür war über das Schwarzwaldmädchen die reizendste Taufrische ausgegossen.

Dem jungen Mann kam es wunderlich vor, daß er sich der Wirtstochter gegenüber viel befangener fühlte, als er es gegenüber der Gräfin gewesen, und diese seine Befangenheit schien sich auch dem Mädchen mitgeteilt zu haben, welches die Tassen stillschweigend auf dem Tisch ordnete und den braunen Trank einschenkte. Als sie Ottmar die Tasse darreichte, hielt er ihre Hand fest und sagte:

»Sie erinnern sich also meiner noch von alten Zeiten her, Jungfer Baldung?«

»O, freilich, Herr, aber ich weiß nicht recht, mit was für einem Titel ich Sie anreden muß.«

»Mit dem eines alten Bekannten, eines Freundes, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen. Nennen Sie mich kurzweg Ottmar.«

»Gut, also Herr Ottmar,« sagte sie beistimmend, einen Moment lang dem jungen Mann mit ihren guten Augen voll und freundlich ins Gesicht sehend. »Aber dann,« setzte sie hinzu, ihm ihre Hand entziehend, um auch den Bartmann mit Kaffee zu versorgen, »dann müssen Sie mich kurzweg Aivli heißen, wie mich jedermann heißt.«

»Stellt euch doch nicht so hölzern an, Mordsapperment!« mischte sich Wate ein, »Ihr seid alte Bekannte, und jetzt geht ihr umeinander herum wie die Katze um den heißen Brei. 's Aivli hat mir schon hundertmal die Ohren vollgeschwatzt, wie des Moosbrunner Pfarrers sein Ottmar früher mit ihr im Bühl herumgesprungen. Macht doch keine so städtischen Grimassen, und maßen ihr, vermut' ich, schier zu groß geworden, euch zu duzen, so laßt wenigstens das Sie aus dem Spiel und sagt Ihr zueinander, wie alle rechten Schwarzwälder tun. Was meint Ihr, Aivli?«

»Ich mein', mit Verlaub, Ihr habt recht, Herr Doktor.«

»Ja, freilich hat er recht, Aivli,« sagte Ottmar. »Kommt, setzt Euch ein bißle zu uns. Wir wollen von alten Zeiten schwatzen.«

»Hm, lieber Junge,« bemerkte Wate, »ich glaube fast, eine Erinnerung von neuerem Datum dürfte dir wohlgefälliger sein. Darf ich unserm Freund da mitteilen, liebes Aivli, wie Ihr weintet, als ich Euch mal erzählte, wie ein gewisser armer Teufel von Reichsverfassungskämpfer krank und elend in den Kasematten lag?«

Ottmars Auge suchte das des Mädchens, aber Aivli hielt die ihrigen zu Boden gesenkt, und Purpurröte überzog ihre Wangen.

»Ich dank' Euch, Aivli,« sagte der junge Mann tiefbewegt. »Ich dank' Euch von Herzen. Also hatte ich unrecht, damals zu glauben, ich sei von aller Welt vergessen und verlassen?«

»O, Herr Ottmar,« versetzte das Mädchen, treuherzig aufblickend, »das hättet Ihr nicht glauben sollen. Alle rechten Leute im Forgtal haben Euch aufrichtig beklagt, als man hörte, daß Ihr bei Waghäusel verwundet und in die Kasematten geschleppt worden wäret. Der Vater hat da gleich gesagt: Aivli, ich muß nach dem Ottmar lugen. Sein Vater und seine Mutter selig waren die bravsten Leut' im Schwarzwald und er selbst –«

»Er selbst?« fragte Ottmar, als das Mädchen stockte.

Sie blickte zur Seite und fuhr fort:

»Er selbst, sagte der Vater, hat sich – mit Verlaub, der Vater sagte so – hat sich wie ein rechter Kerl benommen. Aber der Vater konnte nicht nach Euch lugen, wie er doch wollte, Herr Ottmar, denn er wurde noch am selbigen Tag ebenfalls eingezogen und hatte eine lange Untersuchung auszustehen. Ja, zur selben Zeit war es hier recht traurig im Bühl und –«

»Aivli!« rief eine Männerstimme im Hause.

»Ach, da ist der Vater,« sagte das Mädchen, dem Hause zueilend.

Gleich darauf hörte man sie droben in der Hausflur sagen:

»Vater, des Pfarrers selig von Moosbrunn sein Ottmar ist wieder da. Er ist draußen unter der Linde.«

»Was, der?« erwiderte die Männerstimme von vorhin. »Das freut mich, Meidli, bi Gott!«

So sprechend, trat der Forellenwirt unter die Haustüre und kam die Treppe herab, seinen neuen Gast zu begrüßen.

Er war eine stramme Schwarzwälder »Mannengestalt«, der Goldforellenwirt Im Bühl. Obgleich nicht mehr jung, denn er hatte spät geheiratet, zeugte sein ganzes Auftreten von Rüstigkeit und Behäbigkeit. Er trug auf den grauen Haaren einen schwarzen Strohhut, dessen Krempe sein gesund rötliches Wirtsgesicht beschattete. Mit über die linke Schulter geworfenem Wams ging er in Hemdärmeln und offener Manchesterweste, welche den breitbändrigen, landesüblichen Hosenträger sehen ließ. An die schwarzmanchesterne Kniehose schlossen sich weiße Strümpfe an, welche eine respektable Wadenrundung zeigten und in derben Schuhen mit silbernen Schnallen endigten. In den Zügen des Mannes lag viel Bonhommie, aber auch etwas Dezidiertes, etwas, was sagte, er lasse nicht mit sich spaßen. Vielleicht konnte einer, der viel mit Bauern verkehrt hatte, beim Anblick dieser Physiognomie noch mehr sagen, nämlich das: dem Teig, woraus der Goldforellenwirt geknetet war, sei eine gute Portion Bauernstolz beigemischt, und es wäre diese Aussage keineswegs eine grundlose gewesen, vorausgesetzt, daß man das Wort Bauernstolz nicht, wie gewöhnlich geschieht, im schlechten, sondern im besten Sinne genommen hätte. Ja, der Goldforellenwirt hielt was auf sich, und das durfte er, denn er war als ein Mann von hellem Verstand und großer Willenskraft im ganzen Gebirge bekannt und geachtet, dessen Interessen er geschickt und uneigennützig in früherer Zeit zweimal auf dem Landtage vertreten hatte. Zu jener Zeit hatte eine damals große und einflußreiche Partei den schlichten Schwarzwälder mit Stolz zu den Ihrigen gezählt. Er aber war auch später, in ernsteren Prüfungen, der guten alten Sache treu geblieben, während die meisten seiner Kollegen auf den Oppositionsbänken diese Prüfungen schlecht genug bestanden hatten. Auf dieses Kapitel durfte man ihn nicht bringen, sonst wurde er wild. Übrigens war der Goldforellenwirt Baldung weder ein Politiker von Fach, noch ein politischer Kannegießer, sondern ein Landmann und Landwirt. Beides recht zu sein, darein setzte er seine Ehre. Einen tüchtigen Heustock im Gaden, gute Milchkühe und fette Ochsen im Stalle, reine Pfannen in der Küche, reine Weine im Keller und ordentliches Gesinde im Haus, das hält einen Mann oben, pflegte er zu sagen.

»Gesegnete Mahlzeit, ihr Herren,« sagte er, zu den Freunden herantretend, »und grüß' Gott, Herr Ottmar! Freut mich, daß Ihr den Weg zum Bühl noch nicht vergessen habt, und freut mich doppelt, daß Ihr nicht nacher Amerika gangen seid, wie der Doktor da und wir alle gemeint haben. 's ist, bi Gott, ein Unglück fürs Ländle, daß die bravsten Leut' jetzt drauf versessen sind, über den großen Bach 'nüberz'gehen. Wird wohl, denk' mir, auch wieder mal 'ne Zeit kommen, wo man sie daheim brauchen könnt'.«

Ottmar war aufgestanden, um die herzliche Begrüßung des Forellenwirts zu erwidern.

»Wie hätte ich,« sagte er, »den Weg zu einem Hause vergessen sollen, in dessen Räumen ich so viele glückliche Stunden meiner Knaben- und Jünglingsjahre verlebte? Es hat mir auch herzlich wohlgetan, Herr Waldung, daß Eure Tochter mich gleich wiedererkannte, obgleich es lange her ist, daß ich nicht mehr hier gewesen und sie bei meinem Scheiden noch recht klein war.«

»Aber sie hat sich gestreckt, nicht wahr?« versetzte der glückliche Vater. »Und ein recht's Meidli ist's, das darf ich wohl sagen, 's hat Grütz im Kopf, Herr Ottmar, bi Gott! He, Äivli,« rief er ins Haus hinein, »bring mir mein Imbißessen da heraus! Die Herren werden's, denk' mir, wohl leiden, daß ich mich ein bißle zu ihnen setze. Bin mächtig hungrig und durstig, 's macht heut sölliSehr, ungewöhnlich. heiß, und ich war weit droben im Tal in meiner SageSägemühle. beim Wolfsloch.«

»'s ist ein seltsamer Mann, der Goldforellenwirt, lieber Junge,« sagte Wate zu Ottmar. »Schafft und rackert sich noch immer ab, als hätt' er's nötig und wär' er nicht der, der er ist. Du kannst nicht glauben, wie große Mühe ich mir schon gegeben, ihm das Erhabene der Philosophie des süßen Nichtstuns begreiflich zu machen, aber alles umsonst.«

»Ei, so schlag!« entgegnete der Wirt. »Bleibt mir mit Eurem Schnickschnack vom Leibe, Doktor. 's wär', nichts für ungut, auch besser, Ihr säßet drüben auf Eurer Glaserei im Trausigtal, statt da im Forgtal herumzuduseln, bis Euch vor lauter Faulheit der Bart so lang wächst, daß Ihr am End' drüber stolpert und den Hals brecht.«

Ottmar lachte, und der Grimme stimmte herzlich mit ein.

»Ja, siehst du,« sagte er zu seinem Freunde, »wir leben in beständiger Fehde, my landlord und ich. Dessenungeachtet sind wir dicke Freunde, namentlich seit ich ihm unwiderlegbar bewiesen, daß es zwei Hauptarten von menschlichen Organismen gebe, wovon die eine Art zum Arbeiten, die andere zum Genießen organisiert und folglich auch prädenestiert sei.«

»Bewiesen, Doktor? Ihr habt mir, bi Gott! nichts bewiesen als das, daß Ihr eines Tages doch wieder zum Pulsgreifen und Rezepteschreiben werdet langen müssen, wenn Ihr Eurem pfiffigen Werkführer nicht besser auf d' Finger lueget.«

Aivli machte dem freundschaftlichen Streite zwischen Wirt und Gast, wie er sich in der Goldforelle oft erneuerte, dadurch ein Ende, daß sie dem Vater das Mittagessen auftrug. Der Goldforellenwirt richtete mehrere Fragen über wirtschaftliche Vorkommnisse und Arbeiten an die Tochter und machte sich dann, durch ihre runden und klaren Antworten befriedigt, an sein Essen.

»Ja, daß ich's nicht vergess', Vater,« sagte das Mädchen. »Der Herr Graf hat auch wieder hergeschickt, diesen Morgen, Ihr wart kaum fort. Ihr möchtet, ließ er sagen, doch so gut sein –«

»Was?« fragte Herr Baldung ziemlich unwirsch.

»Und ihn heut' noch oder morgen mit einem Besuche beehren.«

»Lirumlarum. Was hast du zur Antwort gegeben?«

»Nichts. Was konnt' ich sagen?«

»Was du sagen konntest? Ei, so schlag! Du weißt ja wohl, daß ich mit dem Schloß nichts mehr zu tun haben will, gar nichts. Die Wirtschaft wird nimmer lang' währen. 's muß bald einen tüchtigen Klapf absetzen. Aber ich will mich über das Zeug nicht ärgern. – Geh, Aivli, und hol im hinteren Keller ein paar Flaschen von den gelbgesiegelten. Ich möcht' mit dem Herrn Ottmar Prosit trinken. – Aber wer kommt denn da?«

»'s ist ein Stadtherr, der heut' vormittag sein G'fährt da einstellte.«

»So, so. Mach, daß der Wein kommt. – Der ist sölli dick,« fuhr er fort, auf den Mann blickend, welcher von der Straße zur Goldforelle heraufkam.

»Ja, dick und schwer,« sagte Wate, »und er schnauft wie ein' Lokomotiv.«

4. Herr Gleichsam.

Das rotglühende Vollmondgesicht mit einem rotseidenen Taschentuch abwechselnd anwehend und abtrocknend, die dicken Backen aufblasend, schnaufend und pustend trat der neue Ankömmling, ein kleiner kugelrunder Mann, angetan mit einem sehr langschößigen Rock, einer dicken weißen Halsbinde und einem übermäßig hohen Hutzylinder, an die Gesellschaft unter der Linde heran.

»Schönen, guten Tag, ihr Herren,« sagte er. »Exkiese – puh, puh! Scheniere doch nicht – puh – will nicht hoffen! Sehr heiß heut', übertrieben für einen Maitag gleichsam.«

»Nehmt Platz, Herr,« sagte der Wirt, und das mit dem geforderten Wein zurückgekehrte Aivli schob dem Erhitzten einen Stuhl an den Tisch.

Der kleine Dicke ließ sich auf den Stuhl fallen, augenscheinlich fast aufgelöst von Hitze, Aufregung und Erschöpfung. Er keuchte ordentlich, und der Schweiß perlte ihm auf den Wangen.

»Ei, so schlag, Herr,« sagte der Goldforellenwirt, seine gastronomische Beschäftigung einen Augenblick unterbrechend. »Ihr müßt, bi Gott, einen weiten und schweren Weg gemacht haben, um däwegSo, also. aus dem Häusli z'kommen.«

»Aus dem Häusli?« versetzte der Dicke mit einem stöhnenden Seufzer und noch immer sich Luft zufächelnd! »Nein, ich komm' mitnichten aus dem Häusli, sondern vielmehr aus des Teufels Rachen, direktement gleichsam – puh!«

Der Mann sagte das so drollig ernsthaft, daß Ottmar lächelte, Wate aber, welcher dem Dicken gegenüber saß, diesem unverhohlen ins Gesicht lachte.

»Ja, ihr Herren, ihr habt gut lachen – Exkiese! Mir aber ist's nicht ums Lachen zu tun, Wohl aber ums Weinen gleichsam. – O, lieb's Jüngferli, sei'n Sie doch von der Gütigkeit, mir 'ne Portion Essen zu b'sorgen, 'ne recht tüchtige Portion gleichsam. – Hätt' ich doch was zu mir genommen, ehe ich in das verwunschene Schloß ging. Ein nüchterner Mann hat kein Glück. – Geschah mir recht gleichsam.«

»Entschuldigen Sie, Herr Gleichsam,« sagte Wate, dessen Humor durch das Gebaren des Dicken gereizt wurde.

»Exkiese,« unterbrach ihn der Angeredete mit einem unbehaglichen Blick auf den furchtbaren Bart Wates, »Exkiese, Herr–r–rr. Ich heiße Tauberich, Valentin Tauberich, einer löblichen Kaufmannsgilde der guten Stadt ****burg Mitglied, Detail- und Großhändler gleichsam, auch Stadtrat und Kirchenältester obendrein. Und Sie, um Vergebung – darf ich gehorsamst fragen – steht der Herr wohl mit dem schrecklichen Schloß da droben am Fluß oder im Fluß gleichsam in Beziehung, Verbindung oder sonst welchem Verhältnis gleichsam?«

»Habet nicht Gemeinschaft mit den Gottlosen, spricht der Herr!« entgegnete Wate näselnd und die Augen möglichst verdrehend. »Herr Valentin Tauberich, Detail- und Großhändler gleichsam, auch Stadtrat und Kirchenältester, ich bin nur ein unwürdiges Mitglied des Bundes der Heiligen, welche da genennet werden Mormonen, und welche da hausen weit hinten am großen Salzsee, und ich bin getrieben vom Geist und ausgesandt, zu bekehren die Völker im allgemeinen und die Detail- und Großhändler, Stadträte und Kirchenältesten der guten Stadt ****burg im Speziellen gleichsam.«

Der Herr Tauberich fuhr zurück und sah dem Bartmann eine Weile mit hellem Schrecken ins Gesicht. Dann näherte er sein Gesicht dem des Wirtes und flüsterte ihm ins Ohr:

»Läßt man denn solche Kerle frei herumlaufen? Das ist ja wieder ein Stück Revolution und gegen alle Kleiderordnung gleichsam.«

Ottmar sagte inzwischen leise zu Wate:

»Ich bitte dich, mach's nicht zu arg. Wir müssen doch erfahren, was dem Philister im Schlosse passierte.«

Wate nickte und sagte:

»Sie brauchen sich, lieber Bruder Tauberich, vor mir keineswegs zu entsetzen. Ich bin ein Mann des Friedens, Gott straf mich! und wenn mich der Geist demnächst nach der Stadt führt, werden wir, hoff' ich, die besten Freunde von der Welt werden.«

Das Mißtrauen des dicken Mannes war jedoch augenscheinlich nicht so leicht zu beschwichtigen, allein Ottmar ließ ihm nicht Zeit zu einer weiteren Äußerung desselben.

»Sie würden mir einen Gefallen tun, Herr Tauberich,« sagte er, »wenn Sie mir etwas Näheres über das gräfliche Schloß mitteilen wollten. Ich bin mit den Verhältnissen desselben ganz unbekannt, und doch habe ich ein nicht unwichtiges Geschäft dort abzumachen. Aber Sie sprachen zuerst von einem Teufelsrachen. Darf ich fragen, wie der mit dem Schlosse zusammenhängt?«

Der Gefragte fixierte einen Augenblick den Frager, und da ihm das Gesicht desselben Vertrauen einflößte, so platzte er alsbald mit der Antwort heraus:

»Das Schloß, ja, das ist eben der Teufelsrachen gleichsam, welchem entronnen zu sein ich froh bin. Doch Herr – Exkiese, darf ich so frei sein, um Ihren werten Namen zu bitten? Man weiß doch gleichsam gern, mit wem man die Ehre hat. Nichts für ungut.«

»Ich heiße Horst und bin Rechtskonsulent in der Residenz.«

»Ah so! Freut mich gleichsam, Ihre werte Bekanntschaft zu machen, Herr Horst.«

»Sehr verbunden, Herr Tauberich. Sie sind ein Geschäftsmann, ich bin es auch, und Geschäftsleute sollten sich unterstützen, wie Sie wissen.«

»Da haben Sie recht gleichsam; aber, Exkiese, mit Respekt zu melden, beschlägt Ihr Geschäft in dem höllischen Schloß auch eine Geldforderung? Nicht daß ich wunderfitzig wäre, behüte, allein: Schlägst du meinen Juden, schlag' ich deinen Juden, heißt's im Sprichwort gleichsam, und so –«

»Möchten Sie wissen, was ich im Schlosse will?«

»Ja, gleichsam.«

»Wir wollen, lieber Bruder Gleichsam,« näselte wieder Wate salbungsvoll, »ja, mein gottseliger Freund da und ich, wir wollen den Teufel austreiben, welchen Sie, wie es scheint, in Bernwartshall gesehen haben. Ego te obsecro, diabole! Vade retro, satanas!«

Ottmar trat seinem Freund auf den Fuß, denn Herr Tauberich wurde augenscheinlich wieder stutzig und murmelte etwas in seine weitvorstehende Halsbinde, was etwa heißen mochte: »In welche verhenkerte Gesellschaft bin ich denn da geraten?«

»Was wird's weiter sein?« bemerkte der Goldforellenwirt, welcher inzwischen mit seiner Mahlzeit zustande gekommen war und jetzt die gelbgesiegelten Flaschen entkorkte. »Der Herr da hat, schätz' ich, Geld an den Grafen zu fordern –«

Herr Tauberich nickte.

»Und ging ins Schloß,« fuhr der Wirt fort, »um sein Geld zu heischen –«

Herr Tauberich nickte abermals.

»Und da haben sie ihn auf eine artliche Art hinausspediert.«

Tauberich nickte nicht, sondern schrie, den Mund halb voll von der Suppe, welche ihm das Aivli aufgestellt, und heftig mit den Armen wedelnd:

»Artlich? Auf eine artliche Art? Gott steh' mir bei! Auf eine höllische, heidnische, kommunistische Art ist man mit mir umgegangen gleichsam. Und sagen tu' ich, soweit und solange es Stadträte und Kirchenälteste gibt, ist nie einem so mitgespielt worden. Es ist Revoluzerei und Kirchenschändung gleichsam. Aber es gibt noch Obrigkeiten im Lande und Gerichte –«

»Gleichsam,« sagte Wate mit Gravität.

»Gleichsam hin, gleichsam her, Herr. Wir wollen doch sehen, ob so ein Lumpazi gleichsam von Graf einen ehrsamen Bürger –«

»Und Stadtrat,« fiel der unverbesserliche Wate ein, »Aber werden Sie nicht anzüglich, Herr Tauberich. Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht.«

Herr Tauberich warf dem Bartmann einen wütenden Blick zu und schob einen großen Brocken gebackenen Fisches in den Mund.

»Nehmen Sie sich in acht, lieber Herr,« sagte Wate teilnahmevoll, »die Fische haben Gräten gleichsam.«

»Herr–r–rr,« fuhr Tauberich auf.

»Ei, so schlag!« legte sich der Wirt ins Mittel. »Wer wird auch so hitzig sein? Erzählt uns doch Eure absonderliche Geschichte, und kommt, vorher wollen wir ein Glas von dem Noten da trinken. Der spült die Gräten und den Ärger hinunter.«

Man stieß an, und der Dicke ließ es hingehen, daß Wate dabei sagte: »Auf Ihr Wohl gleichsam, Herr Tauberich.«

Wate ergötzte sich offenbar unbändig. Der Bart wackelte ihm vor innerlichem Lachen, und er sagte verstohlen zu seinem Freunde: »'s ist ein Prachtkerl, der Herr Tauberich.«

Ottmar ließ den »Geschäftsmann« seinen Appetit stillen, was er mit Vehemenz tat, und sagte dann:

»Aber Ihre Geschichte, Herr Stadtrat? Sie werden mir meine Neugier zugute halten: so etwas interessiert uns Advokaten.«

»Glaub's wohl, Herr Horst, 's wird auch eine Geschichte für Advokaten geben, oder ich heiße nicht Valentin Tauberich.«

»Nun, so fackelt nicht so lange, Mann,« sagte der Wirt. »Heraus damit! Wie war's denn?«

»Ja, wie war's? Schändlich war's!« versetzte der Dicke, welcher froh war, seine Geschichte endlich an den Mann bringen zu können. »Schändlich war's und meuchelmörderisch gleichsam, und das sag' ich!«

»Das ist, was man in der Rhetorik eine Präambel nennt,« bemerkte Wate.

»Brambel, Herr? Geht mit Euren Brambeln! Ich bin heute schon genug gebrambelt worden gleichsam.«

Der Grimme barst in ein helles Gelächter aus.

»Mein Freund wollte sagen,« bemerkte Ottmar begütigend, »daß Sie Ihre Erzählung mit einer Einleitung begonnen hätten.«

»Ja so, das ist was anderes. Exkiese! Aber man soll gutes Deutsch reden, wenn man einen vernünftigen Sukkursch führen will.«

»Da habt Ihr recht gleichsam, edler Bürger und Stadtrat,« sagte Wate ernsthaft. »Wir wollen also jetzt einen vernünftigen Diskurs führen oder, wie Ihr Euch poetisch auszudrücken geruht, einen Sukkursch. Also erzählt frisch darauf los, werter Gönner und Freund.«

Der deutsche Philister ist bekanntlich neben dem Schaf und dem Kaninchen das geduldigste aller Geschöpfe. Wir erinnern an dieses historische Faktum, weil sonst dem Leser das Benehmen des guten Herrn Tauberich unnatürlich oder unmotiviert erscheinen könnte. Der gute Mann war keineswegs einfältig genug, um nicht zu merken, daß Wate mit ihm »das Michele spiele«; allein seine Entrüstung darüber verhielt sich zu seiner deutschen Schafsgeduld wie eins zu hundert.

Herr Tauberich begnügte sich daher, dem Bartungeheuer, wie er Wate innerlichst nannte, einen Blick souveräner Verachtung zu gönnen, und hob seine Geschichte folgendermaßen an:

»Die Herren sind ohne Zweifel in der guten Stadt *****burg hekannt, will sagen, Sie haben Konnessantze von der Stadt gleichsam. Nun wohl, verstehen Sie? Wenn Sie über den Marktplatz gehen, von unten herauf und dann links um die Ecke, dann wieder rechter Hand an dem großen Brunnen vorbei gleichsam, was sehen Sie dann links schräg über der Straße? Ein grün angemaltes dreistöckiges Haus, das ich ein recht anständiges Haus nennen muß, obgleich es nur meiner Wenigkeit gehört.«

»Bescheidenheit das schönste Kleid, sagt Christoph Schmid,« bemerkte Wate.

»Also das Haus gehört mir,« fuhr Tauberich fort, ohne sich an die Einschaltung des »Bartungeheuers« zu kehren, »und im untern Stockwerk rechts von der Haustüre befindet sich mein Geschäftslokal, perspektive ein –«

»Une boutique, respektive ein Laden gleichsam.«

»Behalten Sie Ihre verdammte Butike für sich, Herr–r–rr Soundso! Ich habe nichts mit Butiken zu schaffen und verbitt' es mir gleichsam, daß Sie mich bebutiken. Exkiese! Ich bin ein ruhiger Bürger –-«

»Und Stadtrat, sowie Kirchenältester gleichsam –«

»Butik! Ei, jawohl! Selbst Butike meinetwegen.«

»Tun Sie doch nicht so rabiat, liebwertester Herr Tauberich, oder ich lasse Sie auf meine Pfeife malen, und zwar in Lebensgröße.«

Herr Tauberich wandte sich mit unbeschreiblicher Verachtung von seinem Peiniger ab und adressierte die Fortsetzung seiner Erzählung ausschließlich an Ottmar, welcher eine löbliche Ernsthaftigkeit zu behaupten wußte.

»Ja, sehen Sie, Herr Horst, da stehe ich, wie gleichsam schon gesagt, es mag jetzt zirka ein halbes Jahr her sein oder was drüber, eines schönen Tages, das heißt im Oktober vorigen Jahres, in meinem Kombdor und schreibe meine Briefe, da raten Sie mal, was geschah? Draußen vor dem Geschäftslokal – ich nenne es ein Geschäftslokal, denn es ist keine Butike – fährt eine prächtige Eckibasche an, und aus der steigt ein Herr von recht fürnehmem Aussehen gleichsam. Was tu' ich nun? Ich gehe an die Türe, den Herrn zu empfangen. Höflichkeit steht einem Geschäftsmanne wohl an, wissen Sie? Wohl und gut, der Herr grüßt mich und, sagt er: ›Herr Tauberich, man hat mich berichtet, Sie seien der Mann, welcher das bestassertierte Lager von Tabaken in der ganzen Stadt habe.‹ – ›Da hat man Sie mit Wahrheit berichtet, Herr,‹ sagt' ich, ›ohne mir zu schmeicheln gleichsam. Womit kann ich dienen, Herr?‹ – ›Haben Sie einen erklecklichen Vorrat von Louisiana und Varinas Nr. so und so?‹ fragt er. – ›Freilich, freilich,‹ sag' ich, ›gerade von diesen Sorten hab' ich einen Vorrat bester Gwalität gleichsam.‹ – ›Wollen Sie mich davon Einsicht nehmen lassen?‹ fragt er. Ich, per se, sage ja und führe den Herrn ins Magazin und an die Fässer, damit er die Ware prüfen kann, an der Quelle gleichsam. Er, nicht faul, prüft sie, und wie er den Tabak durch die Finger laufen läßt und dran riecht und auch mit der Zunge probiert, denk' ich bei mir, der tut den Tabak verstehen. – ›Hören Sie,‹ sagt der Herr, ›ich brauche von dem Varinas da hundert Pfund und von dem Louisiana ebenfalls hundert Pfund.‹ – ›Sehr verbunden,‹ sag' ich. – ›Wohl,‹ sagt er, ›packen Sie mir die Ware sorgfältig und schicken Sie dieselbe mit der nächsten Fuhre ins Forgtal hinauf. Die Rechnung legen Sie bei. Ich bin der Graf Hippolyt von Bernwart zu Bernwartshall‹ – ›Eine Ehre für mich, Herr Graf‹ sag' ich, ›werde Ihrem gütigen Auftrag pflichtschuldigst nachkommen.‹ Ein Geschäftsmann, Herr Horst, wissen Sie? muß immer höflich sein gleichsam. Wohl, wie gesagt, ich packe den Tabak, das heißt, ich lasse ihn packen – denn, wissen Sie, ich habe, Gott sei Dank, nicht nötig, selber den Packknecht zu machen gleichsam – und expediere die Ware mit beigelegter Rechnung nach Awihs.«

»Und das war die ganze Geschichte?« fragte Ottmar.

»Ach nein,« versetzte Tauberich wehmütig, »nicht die ganze leider gleichsam.«

»Ihr kriegtet das Geld für Euren Tabak nicht, nicht wahr?« sagte der Goldforellenwirt, dem grimmen Wate zublickend.

»Bis dato hab' ich keinen Kreuzer davon gesehen,« erwiderte der Dicke seufzend, »Aber das ist noch nicht das Ärgste.«

»Bitte, fahren Sie fort, Herr Tauberich,« sagte Wate. »Das ist, Gott straf mich! die interessanteste Tabaksgeschichte gleichsam, die mir je vorgekommen. Wie ging's denn weiter, liebster Freund?«

»Ja, wie ging's?« entgegnete der Geschäftsmann, sogleich bereit, seinen Groll gegen den Frager zu vergessen, wenn ihn derselbe nur in Ruhe ließ, »Niederträchtig ging's, und das sag' ich!«

Der entrüstete Tabakshändler nahm einen großen Schluck Wein zu sich und fuhr dann zu erzählen fort:

»Sehen Sie, meine Herrschaften, wie gleichsam schon gesagt, ich kriegte kein Geld. Nun hat aber Handel und Wandel, wie mein in Gott ruhender Vater zu sagen pflegte, zwei Seiten: Ausgeben und Einnehmen oder, geschäftsmäßig gesprochen, Soll und Haben. Gut, aus alledem folgt sogleich, daß ich das Geld für den gelieferten Tabak erwartete, aber nicht empfing.«

»Sie sind ein Logiker erster Größe, Herr Tauberich, Spaß beiseite gleichsam. Aber weiter.«

»Nun wohl, es vergingen einer, es vergingen zwei, drei, sechs Monate, ohne daß die Bezahlung mehrbesagter Rechnung einging. Da wurde mir die Sache doch schier zu bunt gleichsam und wurde ich ganz brummig darüber. Meine Eheliebste, die meine Art und Weise kennt gleichsam, sagte zu mir: ›Vale,‹ sagte sie, ›dir geht was im Kopf rum.‹ – ›Ja,‹ sagt' ich, ›der Herr Graf von Bernwart mitsamt dem Varinas und dem Louisiana, weißt du? gehen mir im Kopf rum. 's ist zwar, weißt du? Pflicht und Schuldigkeit eines ehrsamen Bürgers gleichsam, eines hohen Adels Kundschaft zu sonderbarer Ehre sich anzurechnen, jedennoch Handel und Wandel –«

»Haben zwei Seiten, Herr Tauberich, das wissen wir bereits gleichsam.«

»Also, wie schon gesagt, meine Eheliebste, die, wie ich wohl sagen darf, ein sonderbarlich gescheites Frauenzimmer ist gleichsam, tat sagen: ›Vale, wie wär's, wenn du den Schimmel einspannen ließest und mal ins Forgtal naufkutschiertest?‹ – ›Potz Blitz,‹ sagt' ich, ›Ammreili, du hast recht gleichsam; gleich morgen will ich ins Forgtal und sehen, was aus meinen zweihundert Pfunden Tabak geworden ist.‹ Wohl, ließ also den Schimmel anspannen und war schon bei guter Zeit im Tal oben. Stellte mein G'fährt hier in der Goldforelle ein und ließ mir von dem hübschen Jüngferle sagen, daß der Weg ins Schloß geradaus durch die Pappelalle ginge. So macht' ich mich denn guten Muts auf, um mein Geschäft abzutun gleichsam. Gefiel mir freilich das Ding nicht so ganz recht, als ich bei dem Schlosse ankam. Sieht grauselig aus gleichsam, das Schloß, wie so 'ne alte Räuberburg, allwo es nicht geheuer. Wäre ums Haar wieder umgekehrt, denn wissen Sie, meine Herrschaften, ich bin ein friedlicher Bürger gleichsam. Faßte mir aber doch ein Herz – hätt' ich's nur ungefaßt gelassen! Nachdem ich mir aber das finstere Bauwesen gründlich angeguckt, marschiert' ich drauf los und kam zunächst unter ein kurioses Dings da, das wie der Eingang zu 'ner Kirche aussieht, so etwas, was die Arschigdegden gleichsam eine Halle oder einen Triumphbogen oder so was nennen. Wie schon gesagt, es sieht wie ein Tor aus, und alldieweilen Tore zum Durchgang da sind, ging ich so in meinen Gedanken gleichsam durch das Ding; aber Mordsapperment! da wär' ich schier schön angekommen! Besagtes Tor ist eigentlich nur ein Vexiertor, maßen gleich dahinter ein Wassergraben liegt, in welchen ehrliche Menschen ohne Awihs hinunterplumpen gleichsam. Plumpte auch fast gar hinab, was schändlich ist, und das sag' ich!«

»War denn die Zugbrücke aufgezogen, Mann?« fragte Wate.

»Ja freilich war sie aufgezogen gleichsam. Und ich frage, gehören derartige Institutionen in unserer Zeit an ein ehrliches Haus? Was? Was? Als ich noch ein dummer Junge war, da las ich mal in einer Rittergeschicht' von Zugbrücken und Fallgattern und Verliesen und anderen solchen schauerlichen Institutionen, aber mein Vater selig schlug mir das Buch um den Grind, sagend, das seien lauter verfluchte Phantastigkeiten, die keinen Kreuzer einbrächten. Jedennoch sagte mein Vater selig auch jezuweilen: ›Vale, schick' dich in die Umstände, wenn du was vor dich bringen willst.‹ – Gut, was tu' ich also in dieser meiner Alterizion? Ich schicke mich in die Umstände gleichsam. Da war unter dem Bogen des Vexiertores ein Klingelgriff angebracht. Daran zog ich, anfangs hübsch sachte und düsemang gleichsam, wie's 'nem Menschen von Lebensart ansteht, dann ein bißle stärker, bis es drüben läutete, und nun, was geschah? In dem Türmchen neben der Zugbrücke – eigentlich sind zwei solche Türmchen da, rechts eins und links eins – geht ein Fensterchen auf, und ein beliebiger Kerl steckt den Kopf heraus gleichsam und schreit: ›Was wollt Ihr?‹ Sah der Kerl schier so unhöflich aus, wie er redete, aber ich mußte mich wohl oder übel in die Umstände schicken. ›Hinüber will ich gleichsam,‹ sagt' ich, ›maßen ich ein Geschäft mit Seiner Gnaden dem Herrn Grafen abzumachen habe.‹ – ›Ein Geschäft?‹ schreit der Kerl wieder. ›Was für ein Geschäft?‹ – ›Ein Tabaksgeschäft gleichsam,‹ schrei' ich hinüber. ›So, so!‹ brummt der Kerl und ging vom Fenster weg und nach 'ner Weile fiel die Zugbrücke rutsch ratsch nieder, und da konnt' ich endlich in das verwunschene Schloß hinein oder auch nicht, denn ich kam eigentlich nur in den Hof vorerst, wo mich 'ne ganze Rotte höllischer, infamer Bestien von Hunden von allen Ecken und Enden her anknurrte und anboll, daß mir Hören und Sehen verging gleichsam. Insonderheit sah 'ne Bestie, groß wie ein Kalb und mit polizeiwidrig langen Zähnen versehen, ganz lebensgefährlich aus. Zum Glück lag das Untier an der Kette, sonst wär' ich jetzt in hunderttausend Fetzen verrissen. Du meine Güte, dacht' ich, wenn ich nur schon wieder über dem verhexten Graben drüben wäre, 's war auch in dem Hofe ganz unheimelig, ganz duster und sahen die hohen schwarzen Wände gar nicht einladend aus gleichsam. Wie ich nun so simulierte, ob ich vorwärts oder rückwärts sollte, kam der Kerl, welcher mich über den Graben hinüber angeschrien hatte, auf mich zu, sagend, der gnädige Herr arbeite in seinem Labertorio, und er wolle mich hinführen. Ein Graf arbeitet in einem Labertorio – das klang schon verdächtig, meine Herrschaften, klang es nicht? Was, was? – Jedennoch, wie schon gesagt gleichsam, ich folge dem Kerl, welcher seiner ganzen Fisiknummerie nach ein Jäger oder so was zu sein schien, und so kam ich vom Hof aus durch einen langen dunkeln Gang in ein Gemach, will sagen in ein Dings da, was halb und halb wie 'ne Apothek', andererseits aber mehr als halb wie 'ne Schmiede- oder Schlosserwerkstatt aussah. Eigentlich sah ich da drinnen zuerst gar nichts als ein dunkles dickbäuchiges Ding und an diesem Ding zwei runde, feuerrote Dinger, Augen gleichsam, und das Ding oder Tier, was es war, machte eine Gepuste und Geschnaube, höchst gruselig. Auch war eine Athemmoosfähre da drinnen, dick zum Schneiden und von einem Geruch, von einem Geruch – na, zehn Käsladen zusammen riechen dagegen balsamisch gleichsam.

›Gnädiger Herr!‹ schrie der Kerl in die Finsternis hinein, ›da ist jemand, der ein Geschäft mit Ihnen hat.‹ Auf dies hin kam 'ne Figur hinter dem dicken, schnaubenden, feueraugigen Ding hervor, und zugleich schlug ein abscheulich grünblaues Licht auf, und ich sah einen Mann mit berußtem Gesicht und berußten Händen in einem Schurzfell und einer Lederjacke, deren Kapuze er über den Kopf gezogen hatte, vor mir stehen. ›Was wünschen Sie, mein Herr?‹ sagte das Gespenst zu mir. ›Ach Herr Jeses,‹ sagt' ich, ,›um Vergebung, ich wollte dem Herrn Grafen meine Aufwartung machen gleichsam.‹ – ›Der Graf bin ich,‹ sagt' er; ›was wollen Sie?‹ – ›Bitte tausendmal um Entschuldigung, Euer Gnaden,‹ sagt' ich nun, ›ich wollte nur gehorsamst nachsehen, wie Euer Gnaden mein Louisiana und Varinas geschmeckt haben, zugleich allbereits zu neuen Aufträgen untertänigst mich empfehlen und nebenbei meinen kleineu Saldo einkassieren gleichsam.' Drauf sagt der Herr in der Lederjacke: ›Ich verstehe Sie nicht recht. Wer sind Sie denn eigentlich?‹ – ›Eigentlich,‹ sag' ich, ›bin ich der Kaufmann Valentin Tauberich aus ****burg.‹ – ›Tauberich, Tauberich?‹ sagt er. ›Habe nicht die Ehre.‹ – ›Um Vergebung, Euer Gnaden,‹ sagt' ich, ›die Tabakslieferung, welche Ihnen zu machen ich die Ehre hatte gleichsam.‹ – ›Mein lieber Herr Tauberich,‹ sagt er, ›mit solchen trivialen Geschäftssachen geb' ich mich persönlich nicht ab. Sie werden das begreifen.‹ – ›Gnädiger Herr,‹ sag' ich, ›ich begreife gleichsam, aber –‹ – ›Aber,‹ sagt er, ›da wir von Tabaken reden, Sie sind ohne Zweifel ein Kenner?‹ – ›Ich unterstehe mich, zu sagen, daß ich was von Tabaken verstehe.‹ – ›Gut, kommen Sie mal hierher, Herr Tauberich. Ich bin dermalen mit einem wichtigen Tabaksexperiment beschäftigt. Können Sie wohl des genauesten die Qualitäten von dem Tabakextrakt angeben, welcher da kocht?‹ So sprechend führte er mich zu einem Kessel oder so 'nem Dings da und lupfte mit 'ner Zange den Deckel, und da kam ein Qualm raus, der mich schier umschlug. Er aber, der Graf gleichsam, fuhr mit 'nem Löffel in das brodelnde Zeug hinein und hielt mir 'ne Brühe unter die Nase, die roch und dampfte wie die Hölle gleichsam. Und das und die ganze Geschichte und das pustende Ding mit den roten Augen und die phantastigkeitischen Instrumenter und die Kessel und Flaschen ringsum und die Schwärze und die Hitze und der Dunst und alles machte mich perplex und letz im Kopf und wirbelig gleichsam, und ich sprang zurück und schrie, als ob ich am Spieße stäke. Da schrie der Graf auch. ›Herr Tauberich,‹ schrie er, ›nicht dorthin, Mordelement, nicht dorthin! Sie treten meinem gezähmten Menschenfresser auf die Füße, und der versteht keinen Spaß.‹ Da hört' ich einen Schrei hinter mir, einen Schrei, der mir den Angstschweiß austrieb, und wie ich mich umsah, was kriegt' ich da zu sehen? Ach, Herr Jemine, hat ein Christenmensch so was erlebt? Der lebendige Teufel stand hinter mir, feuerrot, mit weit aufgerissenem Rachen. Daß ich da nicht in Ohnmacht fiel, ist ein blitzblaues Wunder, meine Herrschaften. Aber ich glaubte, mein letztes Stündlein sei gekommen. Denn obgleich der Graf in einer heidnischen Sprache an das rote Ungetüm hinwelschte, so fuhr dieses doch zu brüllen fort und wollte nach mir schnappen. Ich war schon tot gleichsam –«

Erschöpft hielt der Erzähler einen Augenblick inne, und Wate flüsterte seinem Freunde ins Ohr:

»Der Schafskopf hat den Indianer, welchen der Graf aus Amerika mitbrachte, für den Teufel angesehen.«

Zu Tauberich gewendet, fragte er:

»Aber wie sind Sie denn diesem unerhörten Abenteuer entronnen, edler Freund und Gönner?«

»Wie ich der Mordhöhle entronnen bin? Ja, wer das wüßte! Ich weiß nur noch so viel gleichsam, daß mir der Graf zuschrie, ich sollte machen, daß ich fortkäme, sonst könnte er für nichts stehen. Da dreht' ich mich um und raffte alle meine Kräfte zusammen, und da zum Glück die Türe der Hölle offen stand, fuhr ich hinaus wie 'ne Kugel aus dem Rohr, und das rote Ungeheuer brüllte hinter mir drein, und draußen krakeelten mich die Hunde an, und der infame Kerl, der mich dem Menschenfresser in den Rachen geführt, stand da mit noch ein paar anderen Kerlen, und sie lachten, als ich an ihnen vorbeiraste – Gott verdamme sie! – und hetzten die Köter, daß ich auf und davon flog, als hätt' ich Flügel an den Füßen gleichsam. All mein Lebtag bin ich nicht so gelaufen, und ich hörte nicht auf, bis ich die Pappelallee und alles hinter mir hatte.«

Wate stand gähnend auf und sagte:

»Der langen Geschichte kurzer Sinn ist also der, Herr Tauberich, daß Sie das Schloß als Brummer betraten und dasselbe als Heuler verließen? Aber wissen Sie was? Sie sollten von dem Grafen Satisfaktion heischen und ihn auf Lokomotive fordern. Das ist die neueste Manier, wie sich Gentlemen pauken. Im übrigen empfangen Sie unseren gerührtesten Dank für Ihre wundersame Erzählung. – Komm, Ottmar, ich will dir auspacken und deine Stube in Ordnung bringen helfen.«

Als die Freunde ins Haus gegangen, schien sich dem guten Stadtrat ein leises Gefühl aufzudrängen, daß er eine lächerliche Rolle gespielt habe. Allein der Schrecken lag ihm doch noch zu tief in den Gliedern, als daß er zu irgend klarer Einsicht in die wahre Natur seines Abenteuers hätte gelangen können.

»Hören Sie, Herr Goldforellenwirt,« sagte er, »wer sind denn die beiden Herren eigentlich?«

Baldung, der nicht ohne eine humoristische Ader war, erwiderte:

»Es sind Gehilfen des Grafen, der ein großer Chemiker ist und wahrscheinlich bald das Goldmachen erfinden wird. Vorderhand hat er ein Mittel entdeckt, wie man Mohren weißwaschen kann, und dazu, schätz' ich, braucht er so grüsli viel Tabaksbrühe.«

Tauberich rutschte unbehaglich auf seinem Stuhle hin und her.

»Hm,« sagte er, »da oben im Schwarzwald ist's doch eine sonderbarliche Gegend gleichsam. Hören Sie, Herr Wirt, sei'n Sie doch von der Gütigkeit, mein G'fährt einspannen zu lassen. 's ist die höchste Zeit gleichsam, daß ich mich auf den Heimweg mache.«

5. Eine milde Kritikerin und ein scharfer Kritiker.

Die Sonne war eben erst über die östlichen Bergkuppen heraufgekommen, als Ottmar, gewohnt, früh aufzustehen, aus seinem Zimmer im zweiten Stockwerke der Goldforelle auf den Söller hinaustrat. An der Hinterseite des Gehöftes war es schon laut und rührig. Dort stand auf dem Hofe der Hausherr, die kurze Maserpfeife im Munde, und erteilte den Knechten seinen Tagesbefehl. Blankgehaltenes Vieh wurde zur Tränke geführt, Pferde wurden angeschirrt zu mannigfacher Feldarbeit, ein Wagen mit Frischfutter kam schon von den Kleeäckern im Tale herauf, ein anderer fuhr ab, um den bei der Sägmühle am Wolfsloch aufgehäuften Brettervorrat zu der »Floßlände« unterhalb Forgau herabzuschaffen. Baldung kommandierte seine Leute ohne Geschrei, ohne Hast, wie ein Mann, der seiner Autorität sicher ist, und die ganze Szene zeigte unserem Freunde, daß die Haus- und Feldwirtschaft im Bühl nach bestem Stil eingerichtet war, das heißt, so ziemlich nach altväterisch solidem. Ottmar freute sich auch, daß er unter den ab- und zugehenden Knechten und Mägden mehrere Gesichter fand, deren er sich von früher her erinnerte, und gar der alte BrosiAmbros. dort, der Großknecht, mit seinen schneeweißen Haaren und roten Backen und nicht allzu roter Nase, war ein Inventarstück, welches seit undenklicher Zeit zur Goldforelle gehörte und sich augenscheinlich bedeutender Privilegien erfreute, denn er bat jetzt eben seinen »Meister« ganz ungeniert, ihm aus besagtem Maserkopf Feuer in seine Pfeife zu schütten, was sich keiner der übrigen Knechte hätte erlauben dürfen. Es wäre auch keinem, außer dem alten Brosi, zu raten gewesen, auf dem Hof und in der Nähe der Stallungen eine Pfeife sehen zu lassen. Der alte Brosi aber rauchte, was das Zeug hielt, und es war weltbekannt, daß ihm 's Aivli seinen Tabaksbeutel regelmäßig aus dem Tabakshafen des Vaters füllte. Die Leute im Tale sagten auch, der Brosi sei eigentlich schon lange weder ein großer noch ein kleiner Knecht mehr, maßen er genug damit zu tun hätte, um die Mundspitze seiner Pfeife alle Tage jenen großen Knäuel Garn zu wickeln, welcher die Bestimmung hatte, besagter Spitze in dem zahnlosen Mund des Alten einen Anhaltspunkt zu verschaffen. Wie dem auch sein mag, soviel ist gewiß, daß der alte Brosi noch immer Luchsaugen hatte für die Hafertruhe und für Vieh und Futter und alles zusammen, was den Vorteil seines Herrn anging, und daß er »fuchsteufelswild« geworden wäre, wenn der Forellenwirt in Haus und Hof irgend etwas von Wichtigkeit vorgenommen hätte, ohne ihn vorher um seinen Rat zu fragen. Das kam aber nie vor, der Forellenwirt wußte, was er an seinem Brosi hatte.

Ottmar fühlte sich durch den Einblick in diese ländliche Tätigkeit einer wohlgeordneten und – wie die »alten bekannten Gesichter« zeigten – zufriedenen Hausgenossenschaft ganz eigen angemutet. »Es liegt doch eine unzerstörbare Gesundheit in den Werken des Landbaus,« dachte er. »Es ist, als ob die Muttererde denen, welche ihr nahe stehen und bleiben, liebender gesinnt sei als solchen, welche der Allnährerin selbst dann kaum noch flüchtig gedenken, wenn die besten Gaben derselben ihre stumpfe Erinnerung wachrufen. Was ist all der Scharlatanismus aller vier Fakultäten gegen diese »ohne Rast, aber ohne Hast« im Gange erhaltene wirtliche und bäuerliche Tätigkeit? Eben nichts als Scharlatanismus. Am Ende waren unsere alten Idylliker doch nicht so ganz ohne Grund so enthusiastisch für das Landleben gestimmt, und wenn ich den behaglichen Frieden dieses Gehöftes ansehe, wenn ich den würzigen Morgenduft atme, der aus den Hochwäldern kommt, begreife ich, was der gute Hölty meinte, als er ausrief:

Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!

Unser Freund rechtfertigte die aristotelische Definition vom Menschen: er war ein geselliges Wesen. Daher wollte er mit Wate über seine idyllische Anwandlung sprechen und begab sich zu diesem Zweck an das entgegengesetzte Ende des Söllers, wo die Stube des »Grimmen« lag. Er hatte aber die Türe derselben noch nicht erreicht, als er seinen Vorsatz änderte und schnell die Treppe hinabging. Das machte, er hatte drüben am Bach, wo der Obstgarten lag, das Aivli erblickt, welches in der Morgenfrühe mit Zurüstung einiger Beete beschäftigt war.

»Wie morgenfrisch das Kind aussieht, und wie anmutig, es den Rechen handhabt!« sagte er zu sich, indem er die Einfriedigung betrat.

»Guten Morgen, Aivli!« rief er dem emsigen Mädchen zu.

Sie kehrte sich um und sagte freundlich:

»Schön Dank, Herr Ottmar. Was, Ihr seid schon auf?«

»Warum nicht? Meint Ihr, Ihr hättet allein das Recht, früh auf zu sein?«

»O, das nicht. Aber wir sind das besser gewohnt als die Stadtleute, und der Vater sagt: Je früher am Tag man anfängt, desto früher kann man aufhören. Aber habt Ihr gut geschlafen, Herr Ottmar?«

»Vortrefflich und wohl noch länger, wenn mich nicht ein schnurriger Traum geweckt hätte.«

»Ein Traum? Aber wißt Ihr auch, daß das wahr wird, was man träumt, wenn man 's erstemal in einem Hause schläft?«

»Das wäre! Aber denkt Euch nur, Aivli, Ihr habt in meinem Traum eine wichtige Rolle gespielt.«

»Ich?« versetzte sie, indem sie sich halb abwandte und sich hastig mit ihrem Rechen zu schaffen machte, um ihr Erröten und ihre Verlegenheit zu verbergen.

Ottmar bemerkte beides, deutete es aber falsch.

Und er tat dem Aivli Unrecht, wenn er ihre Bewegung für eine Art ländlicher Koketterie nahm. Aivli wußte nichts von Koketterie, weder von angeborener – und es gibt eine angeborene, liebe Leserin – noch von angelernter.

Die Wahrheit war, auch Aivli hatte ihrerseits diese Nacht wunderlich geträumt, und in ihrem Traum hatte ein junger Mann namens Ottmar eine ebenfalls wichtige Rolle gespielt.

Wie das zuging, daß diese beiden jungen Leute in einer und derselben Nacht voneinander träumten, weiß der Erzähler dieser wahrhaftigen Geschichte nicht zu erklären und muß er daher Wißbegierige auf Schubert und andere Symboliker des Traums verweisen. Das aber weiß er, daß Aivli auch ihren Teil von der Neugierde besaß, welche man ihrem Geschlechte zuzuschreiben pflegt. Wir vermuten auch, daß das Mädchen gleichfalls etwas von der Klugheit ihres Geschlechtes besaß, denn sie steuerte nicht ungeschickt darauf los etwas Näheres von dem Traume Ottmars zu erfahren.

»Als ich bei der Base in der Stadt mich aufhielt,« sagte sie, emsig ihren Rechen handhabend, um die Schollen des Beetes zu glätten, »las ich mal in einem Buch, welches von Träumen handelte –«

»Ihr habt Euch mal in der Stadt aufgehalten, Aivli?« unterbrach Ottmar die Sprecherin.

»Ach ja, Herr Ottmar, aber ich konnt's nicht sölli lang aushalten. Nach dem Tode meiner Mutter selig – Gott tröste sie! – meinte die Bas', der Vater sollte mich zu ihr in die Stadt geben, von wegen dessen, damit ich den rechten Schick kriegte, wie die Bas' sagte. Der Vater gab der Bas' nach, und so nahm sie mich mit in die Stadt, und da sollt' ich Klavierspielen und Französisch und was weiß ich sonst noch alles lernen, aber es ging halt nicht. Ich mußt' immer an unsre Berg' denken und wie's da oben so frisch und frei, und der Stadtgeruch machte mich krank, und ich kriegte schweres Heimweh. Ich hätt's gern dem Vater g'schrieben, aber das mocht' ich doch nicht, weil er's nun mal haben wollt', daß ich noch was lernte. Da kam eines Tags der alt' Brosi in die Stadt und sprach bei der Bas' vor und bracht' mir Schwarzwälder Huzzelbrot. Und wie ich das anschneiden tu', fang ich an zu flannen,Weinen. und da merkt' der Brosi, wie d' Sach' steht, und ›Meidli,‹ sagt' er, ›du siehst ja aus, daß man dich nimmer kennen tut, und ich leid's nicht, daß du da unter den Stadtleuten verhockest und versochest.‹Versiechen. Und weiter sagt er zu der Bas': ›'s Aivli geht mit mir heim ins Forgtal; 's ist numme kein' Luft da unten für so 'ne Meidli.‹ Und d' Bas konnt' nichts machen, denn sie kannte den Brosi wohl und wußt', daß er recht wild werden kann, wenn ihm was schief geht. Und der Brosi nahm mich also gleich mit heim, und ich war ganz närrig vor Freud', als ich d' Forg und unsre Berg' und den Bühl wiedersah. Der Vater machte z'erst große Augen, als er mich so mir nichts dir nichts daherkommen sah, aber der Brosi sagte: ›Der Donner schieß'! Meister, was würd' d' Meisterin selig sagen, wenn sie sehen könnt', wie mager 's Aivli worden?‹ Und da war's gut.«

Ottmar hörte dem herzigen Geplauder des Mädchens mit Vergnügen zu, und wie sie so plauderte, bat er ihr heimlich ab, daß er ihr vorhin einen Augenblick in seinem Herzen Unrecht getan.

»Ihr seid ein rechtes Schwarzwälder Kind, Aivli,« sagte er, »und laßt Euch sagen, seit ich gestern das Forgtal wiedergesehen, ist mir's, da müßt' auch meine Heimat sein und sonst nirgends.«

»O, nicht wahr,« versetzte sie, helle Freude im Blick, »'s ist schön bei uns, und d' Leut' sind gut und brav?«

»Wenn sie alle wären wie du, dann freilich –« wollte Ottmar sagen, aber er dachte es nur, denn er scheute sich innerlichst, dieser lauteren Natur gegenüber etwas zu äußern, was einem konventionellen Kompliment ähnlich sah. So sagte er denn:

»Ihr habt mich ja noch gar nicht nach meinem Traum gefragt, Aivli? Seid Ihr denn nicht neugierig?«

»O doch, Herr Ottmar,« entgegnete sie, und ihre Augen erbaten eine Mitteilung, die er gerne machte.

»Ja seht, Aivli, es war ein recht kurioser Traum. Wißt Ihr, droben beim Wolfsloch, nicht weit von Eures Vaters Sägmühle, bildet die Forg ein weites Becken –«

»Ja, und wißt Ihr noch, Herr Ottmar? Da habt Ihr mal vorzeiten Eure Mutter selig und die meinige und mich in des Vaters Kahn herumgerudert.«

»Was Ihr für ein Gedächtnis habt, Aivli! Ja, im Traum von heut' nacht war ich auch wieder dort auf dem Fluß in einem Kahn und ruderte eifrig einem andern nach, und in dem befand sich die Gräfin Bernwart.«

»Die Gräfin? Kennt Ihr sie?«

»Ich kann kaum sagen, daß ich sie kenne, denn ich habe sie nur zweimal flüchtig gesehen: das eine Mal vor kurzem in der Residenz, das andere Mal gestern morgen auf der Höhe des Pfaffenwaldes. Also ich ruderte der Gräfin nach aus Leibeskräften, während sie mich mit allerlei neckischen Schwenkungen ihres Bootes im Kreise herumlockte. Endlich konnte sie, wie ich glaubte, mir nicht mehr ausweichen, und ich ließ mein Fahrzeug mit verdoppelter Ruderkraft auf das ihrige losschießen. Aber wutsch! hatte die Gräfin den Schnabel ihres Kahns wieder zur Seite gedreht, und im nächsten Augenblick flog das leichte Boot an mir vorüber und geradeaus auf den Strudel zu, in welchem die Forg unterhalb des Beckens ihre Wasser an den wilden Felsenriffen, die dort ihr Bett einengen, zu Schaum schlägt. Ich sah zwar wohl die Gefahr, sah, daß es auf Leib und Leben ging, aber dennoch trieb ich mein Fahrzeug dem Absturz entgegen. Der Kahn der Gräfin schoß hinab und verschwand in dem Wogenschwall und Gebrause, und schon war auch ich dem Absturz auf Armeslänge nahe, als sich plötzlich von dem Felsblock, welcher dort in der Mitte des Flusses liegt, eine Hand ausstreckte, mich kräftig am Arm faßte und mich auf die rettende Felsplatte zog. Ratet mal, Aivli, wessen die Hand war, die mich rettete?«

»Wie könnt' ich das erraten, Herr Ottmar?« »Nun, wenn Ihr es nicht erraten könnt, will ich es sagen. Ihr, Aivli, waret meine Retterin.«

»Ich? – Ja, das ist ein recht artlicher Traum, Herr Ottmar.«

»Nicht wahr? Aber sagt, seid Ihr mit der Gräfin bekannt?«

»Wie käm' ich dazu? Unsereins hat keine so fürnehmen Leute zu Bekannten.«

»Ei, Aivli, ich meine, es sollte niemand zu fürnehm sein, Eure Bekanntschaft zu suchen.«

»Ach, geht mir doch! Jetzt spaßt Ihr, Herr Ottmar.«

»Keineswegs. Aber laßt Euch sagen: Ihr kennt doch die Gräfin?«

»So vom Sehen.«

»Und was haltet Ihr von ihr?«

»Was ich von ihr halte?« entgegnete das Mädchen zurückhaltend und wieder eifrig rechend. Dann sagte sie:

»Ich hab' mein Lebtag kein schöneres Weibsbild gesehen, als die Frau Gräfin ist, und seelengut ist sie auch.«

»Aber wie ist ihr Ruf? Was sagen die Leute von ihr? Mein Freund, der Wate im Bart, hat gestern wunderliches Zeug über sie an mich hingeschwatzt.«

»O, der Doktor! Ja, der hängt gern jedermann einen SchlötterligMakel, üble Nachrede. an, wenn's ihm gerade Spaß macht. Aber er meint's nicht so bös. 's kommt nur drauf an, was er grad' für 'nen Tag hat.«

»Ei, Aivli, versteht mich nicht falsch. Der Wate hat mir nicht gerade etwas Nachteiliges, das heißt, sozusagen, etwas Schlechtes von der Gräfin gesagt. Es wäre sonst auch nicht zu begreifen, wie er –« Hier unterbrach sich Ottmar, denn er hielt sich nicht für befugt, die Herzensgeheimnisse seines Freundes auszuplaudern. Aivli drehte den Kopf halb über die Schulter, schaute dem jungen Mann schelmisch ins Gesicht und sagte lächelnd:

»Ich versteh' Euch wohl, Herr Ottmar.«

»Und ich Euch, Aivli.«

Nun lachten beide, und Ottmar sagte:

»Der gute Wate hat Euch also seinen Schmerz auch anvertraut?«

»Seinen Schmerz? O, mit dem ist's nicht weit her. Er bild't sich halt d' Sach' nur ein vor Langweile.«

»Woraus schließt Ihr das?«

»Als er mir kaum gesagt, er sei in die Frau Gräfin verliebt bis in die äußersten Spitzen seines Bartes, welches ein sölli garstiger Bart ist, da fing er gleich drauf ein groß Lamento drüber an – es war beim Mittagessen – daß unsre Köchin wieder mal das Ochsenfleisch viel zu weich gesotten und zu viel Mehl ins Sauerkraut getan hätte.«

»Beim Zeus!« sagte Ottmar lachend. »Das stand allerdings einem Verliebten schlecht an.«

»O,« meinte das Aivli, in die Fröhlichkeit des jungen Mannes einstimmend, »ich glaub' wohl, daß der Herr Doktor auch recht verliebt sein kann.«

»Wirklich? In wen denn?«

»In Rehschlägel, wenn sie gut gebraten, in Forellen, wenn sie gut gebacken sind, nicht minder auch in meines Vaters rotgesiegelten Markgräfler und gelbgesiegelten Affentaler.«

»Aivli, Ihr seid ein Schalk. Aber um noch einmal auf die Gräfin zurückzukommen, was spricht man denn in der Gegend von ihr?«

»Die Leut' schwätzen viel, wenn der Tag lang ist. Aber ich glaub's halt nicht. Die Frau Gräfin läßt die Leut' schwätzen und bekümmert sich gar nicht drum. Das macht die Klatschblasen nur noch giftiger, obgleich die Frau Gräfin niemand nichts zuleide tut. 'ne aparte Dam' ist sie, jawohl, und tut, was sie mag. Aber dessentwegen sollt' man ihr, schätz' ich, nicht Übles nachsagen.«

»Allein das Verhältnis, in welchenm sie zu ihrem Nachbar, dem Freiherrn von Moosbrunn, stehen soll?«

»Zu dem? Wie könnt' das sein? Er ist ja ihr Schwager, ihres Mannes leiblicher Bruder! O geht, das ist recht boshaftig, wer so was sagt!«

Diese Äußerung sittlicher Entrüstung zeigte unserem Freunde, daß das Aivli lange nicht genug »soziale Routine« besitze, das heißt, daß sie viel zu unverdorben war, als daß von ihr Aufschlüsse über die Liaisons einer vornehmen Dame erwartet werden dürften.

Aivli ihrerseits fand das Gespräch zu verfänglich und brach es daher mit der Bemerkung ab, ihre Arbeit im Garten sei getan, und Herr Ottmar werde wohl finden, daß es Zeit zum Frühstücken wäre.

In der Tat hatte Ottmar nichts dagegen, sich vom Aivli seinen Kaffee und seine Butterschnitten aufstellen zu lassen. Er lud das Mädchen ein, sein Frühstück zu teilen, aber Aivli hatte schon längst gefrühstückt. Nun meinte er, es ziemte sich, daß er auf Wate wartete, allein der inzwischen in die Stube getretene Forellenwirt sagte lachend, da könnte Ottmar lange warten, denn wenn nicht gerade was Apartes den Doktor aus den Federn jage, verlasse er dieselben erst gegen Mittag zu.

»Ihr müßt den Doktor ein bißle aufrappeln, Herr Ottmar,« sagte Baldung, als das Aivli weggegangen war, seinen Hausgeschäften nach. »Er wird sonst mistfaul und setzt sich aus Langeweile allerlei Schnurrigkeiten in den Kopf.«

»Wie zum Beispiel eine ungeheure Verliebtheit, deren Gegenstand die Frau Gräfin Bernwart ist,« versetzte Ottmar. »Ja, das ist so eine von seinen Schnurren, wovon er dem Aivli vorschwätzt, wenn's Regenwetter ist und er nicht hinauskann. Jezuweilen scheint's fast, es sei ihm ernst mit der Sach', wenn man den dicken Bartmann wie verrückt dem tollen Weibsbild über Stock und Stein nachjagen sieht, daß sein braver Gaul zu Schaden geht und er selbst am Ende noch den Hals bricht.«

»Ihr wißt, Herr Baldung, daß mich ein wichtiges Geschäft ins Schloß führt, und so werdet Ihr begreifen, daß mir daran liegt, den Boden ein wenig kennen zu lernen, auf welchen ich treten soll. Was ich bisher von der Wirtschaft in Bernwartshall gehört, hat mich stutzig gemacht, das mehr lächerliche als furchtbare Abenteuer des Herrn Tauberich gar nicht in Anschlag gebracht.«

»Die Ohren des besagten Tauberich sind bedeutend viel länger als sein Verstand, das ist sicher. Indessen ist an der Wahrheit seiner Geschichte nicht zu zweifeln. Der Graf hat die absonderlichsten Manieren, seine Gläubiger von sich abzuwehren. Er bracht' es auch glücklich dahin, daß sie ihn fürchten. Sonst hätten ihn wohl sein Wassergraben, seine Zugbrücke und seine übrigen Vorrichtungen längst nicht mehr davor geschützt, aus dem Schlosse seiner Vorfahren ausgetrieben zu werden.«

»Er steckt also in Schulden?«

»Bis über die Ohren, ja womöglich noch tiefer.«

»Also soweit ist das stolze Grafenhaus herabgekommen?«

»Freilich, und wie könnt' es auch anders sein? Die Bernwarte waren wunderliche Kerle jederzeit, Verschwender von uralters her, und jeder von ihnen hatte irgend eine kostspielige Liebhaberei. So schmolz das reiche Besitztum von Geschlecht zu Geschlecht mehr zusammen, und ein schönes Gut nach dem andern ging aus den Händen der Grafen in die ihrer Nachbarn, der Freiherren von Moosbrunn, über, deren Betriebsamkeit stets die nötigen Summen vorrätig hatte, um den ewigen Verlegenheiten der verschwenderischen und sorglosen Nachbarn abzuhelfen, für einen Augenblick wieder. So wurde die Freiherrschaft Moosbrunn in eben dem Maße größer und immer größer, in welchem die Grafschaft Bernwart kleiner und immer kleiner wurde. Den Verfall des alten Geschlechtes zu vermehren, kam dann noch die unglückliche Geschichte mit der Mutter des jetzigen Grafen hinzu. Doch die kennt Ihr ja.«

»Ich erinnere mich derselben nur in ganz dämmernden Umrissen. Wenn mir recht ist, ließ sich die Gräfin wenige Jahre nach der Geburt ihres Sohnes Hippolyt von ihrem Manne scheiden, um kurz darauf den Freiherrn von Moosbrunn zu heiraten, durch welchen sie Mutter des jetzigen Trägers dieses Namens wurde.«

»So ist's, und man konnte der Frau ihren Schritt kaum verübeln, in Betracht, daß der alte Graf der wunderlichste aller Bernwarte war, was bei Gott! viel sagen will. Er hatte geradezu Anfälle von Verrücktheit, und dann war seine Frau ihres Lebens nicht sicher. Ihr wißt, daß der Graf nach der Trennung von seiner Frau mit seinem kleinen Sohn auf und davon ging.«

»Ja, aber weiter weiß ich von dieser trübseligen Familiengeschichte nichts mehr.«

»Man erfuhr auch viele Jahre lang nichts mehr von dem Grafen, und inzwischen starben Freiherr und Freifrau von Moosbrunn, mit Hinterlassung ihres einzigen Kindes Adalbert. Aber ich hatte unrecht, zu sagen, man hätte von dem Grafen seit seinem Verschwinden gar kein Lebenszeichen mehr erhalten, denn der alte Kastellan im Schlosse blieb fortwährend in einiger Verbindung mit seinem Herrn und bekam unter anderen Aufträgen eines Tages auch den, einem Fremden, der im Schloß anlangte, das halbverfallene Bärenschlößchen zur Wohnung einzuräumen. Dort sollte derselbe den Dienst eines Försters versehen und den Unterhalt eines solchen erhalten. Das war aber nur eine Form sozusagen. Der Fremde tat in Wirklichkeit keinen Dienst, hauste aber bis zu seinem Tode in der Ruine droben. Das war auch eine aparte Geschichte. Der Fremde war schon ein alter Mann, als er ankam, und trat mit keiner Seele in Berührung, litt auch nicht, daß jemand ihm oder seiner Einsiedelei zu nahe kam. Man munkelte allerlei. Der Fremde sei ein vornehmer Spanier gewesen, durch Blutschuld aus seinem Vaterlande getrieben, sagt man unter anderem. Gewiß ist, daß er deutsch verstand und sprechen konnte, wenn er wollte. Er hatte ein kleines Mädchen mitgebracht, fast noch ein Wickelkind.«

»Welches jetzt Gräfin Bernwart ist?«

»Ja, und auch das ist absonderlich genug, schätz' ich.«

»Wie machte sich denn diese Heirat?«

»Ganz einfach, mein' ich. Es mag jetzt etwa fünf Jahre her sein, da erschien plötzlich der Graf Hippolyt im Schloß und legitimierte sich als solchen. Er kam aus den Urwaldnissen Amerikas, wo sein Vater, wie es heißt, einen blutigen Ausgang genommen im Kampfe mit einer Indianerhorde. Graf Hippolyt, der in Eurem Alter steht, Herr Ottmar, machte tägliche Besuche im Bärenschlößchen, während er sonst mit niemand Umgang suchte, und das Ende vom Liede war, daß er die Eva, die inzwischen herangewachsene Enkelin des Fremden, als seine Frau heimführte, sozusagen, vom Sterbelager ihres Großvaters weg, wenigstens fand die Heirat wenige Tage nach dem statt, an welchem die Leiche des Einsiedlers seinem letzten, dem Grafen eröffneten Willen gemäß unweit des Bärenschlößchens im Waldesdickicht bestattet worden war.«

»Und Graf Hippolyt, Herr Baldung, ist er auch ein Bernwart?«

»Ein Vollblut-Bernwart und durchaus nicht aus der Art geschlagen.«

»Auch ein Sonderling also?«

»Gewiß, vielleicht noch Schlimmeres.«

»Was denn?«

»Ein Halbwilder.«

»Ihr spaßt, Herr Baldung.«

»Ei, so schlag'! Warum sollt' ich spaßen? Der Graf ist als Knab' und Jüngling mit seinem halbtollen Vater unter den Wilden der amerikanischen Wälder umhergezogen, und da ist er selber halbwild geworden.«

»Ist er denn von rohem, ungebildetem Betragen?«

»Das nicht gerade. Er kann im Gegenteil sehr fein sein, wenn er will, sehr fein, ja, bi Gott! Ich weiß was davon zu erzählen, ich, denn er hat mich nicht schlecht drangekriegt.«

»Drangekriegt?«

»Das will ich meinen. Seht Ihr, der alte Kastellan, – er ist jetzt tot, die treue Haut – hatte die gräfliche Sach' während der Abwesenheit des Grafen wieder passabel in Ordnung gebracht, das heißt, soweit sich ein zerrüttetes Vermögen überhaupt noch in Ordnung bringen läßt. Bei verständiger Wirtschaft hätte auch der Graf nach seiner Heimkehr auf ganz anständigem Fuße leben, was vor sich bringen und an allmähliche Abtragung der Schulden denken können, welche auf dem ihm noch gebliebenen Grundbesitz hafteten. In der ersten Zeit nach seiner Heirat ließ sich auch die Sach' ganz ordentlich an. Das junge Ehepaar lebte still und eingezogen, und der Graf benutzte die mit heimgebrachten Kenntnisse – wo er sie aufgeschnappt, weiß der Himmel – um mit Eifer an eine rationelle Verbesserung seiner Güter zu gehen. Aber mit einmal änderte sich alles. Eine innere Zerrüttung des Haushaltes gab demselben auch äußerlich die verderblichste Richtung. Der Teufel weiß, was eigentlich dran schuld war. Die Klatschbasen, welche der Schloßdienerschaft nachschnattern, wollen wissen, die Gräfin sei dahinter gekommen, daß ihr Mann es mit dem kupferbraunen Meidli halte, mit der Tochter des indianischen Wilden, welchen er übers Meer mit heimgebracht. Geht mich nichts an. Ich weiß nur, daß jetzt 'ne tolle Wirtschaft im Schloß losging. Der Graf tat, was er mochte, die Gräfin, was sie wollte, und beide wetteiferten in verrückter Verschwendung. Das Schloß füllte sich mit Lakaien, Pferden und Hunden; es war da ein beständiges Ab- und Zuströmen von Gästen, Jagden und allerlei sonstige kostspielige Zeitvertreibe wurden veranstaltet. Es ging halt recht in Saus und Braus. Natürlich mußten zur Bestreitung eines solchen Lebens neue Schulden gemacht werden, Schulden über Schulden, Schulden von jeder Sorte, bis auf Tabaksschulden herab, wie Ihr gestern selber erfahren konntet.«

»Aha, und da mußtet auch Ihr dran glauben, Herr Baldung?«

»Freilich, freilich, und Ihr mögt mich auslachen; es geschieht mir nur nach dem Recht. Wir Schwarzwälder, wißt Ihr, sind keine Kapitalisten. Bringt einer was vor sich, so steckt er es in Ländereien oder in den Holzhandel, die Flößerei, die Uhrmacherei oder Glaserei. Nun wohl, ich hatt' 'ne hübsche Summe von meiner Seligen ihrer Schwester geerbt, die vor ein paar Jahren kinderlos in der Stadt gestorben, das heißt, eigentlich gehörte die Erbschaft dem Aivli. Weiß der Henker, wie der Graf erlickert hatte, daß ich das Geld im Kasten liegen hatt', ohne im Augenblick zu wissen, was damit anfangen. Genug, er packt mich in einer schwachen Stund' und kriegt mich rum, daß ich ihm das Geld leihen tu' auf 'ne Sicherheit hin, die soviel wie keine ist. Ich merkt's bald genug, aber doch viel zu spät.«

»Und fließen die Mittel, will sagen die Resultate des Schuldenmachens noch immer reichlich genug, um dem gräflichen Paare die Fortsetzung der lustigen Wirtschaft, wie Ihr sie angedeutet, möglich zu machen?«

»Nein, es lauft jetzt kuonig, wie wir Wirte zu sagen pflegen, wenn ein Faß ganz auf der Neige ist. Drum ist es jetzt seit einiger Zeit wieder stiller geworden im Schloß, und wenn noch Festivitäten veranstaltet werden, so gibt der Freiherr Adalbert die Lokalität dazu her und trägt die Kosten. Er wird wohl wissen, warum.«

»Ihr meint –«

»Ich meine, die Frau Gräfin habe ihrem Herrn Gemahl nichts mehr vorzuwerfen; das ist alles.«

»Die Umstände des Grafen sind also allem nach verzweifelte gleichsam, wie Herr Tauberich zu sagen pflegt.«

»Exkiese, wie derselbe Herr Tauberich zu sagen pflegt, nicht nur gleichsam verzweifelte. Er hat gewirtschaftet wie ein Narr und wird wie ein Lump endigen, wenn nicht als was Schlimmeres noch. Jetzt hat er sich, hör' ich, auf die Chemie geworfen und schafft Tag und Nacht in dem Laboratorium, welches von seinem Großvater eingerichtet worden. Der wollte Gold machen, sein Enkel wird das aber so wenig zustand' bringen wie er. Die einzige reelle Hoffnung, die, schätz' ich, der Graf noch hegen kann, wäre die, daß er den verzwickten Prozeß von wegen des Forgforstes gewänne, welchen der Freiherr Adalbert anspricht und welchen die Gläubiger des Grafen einstweilen unter Sequester gelegt haben. Auch ich bin bei dieser Streitsache interessiert, maßen ich nur dann Aussicht habe, wieder zu meinem Gelde zu kommen, wenn der Forgforst dem Grafen zugesprochen wird. – Aber sagt, Herr Ottmar, was haltet Ihr von dieser Streitsache?«

»Da bin ich überfragt. Ich habe noch nichts von den Akten gesehen und weiß nur, daß die Sache eine verwickelte ist.«

»Ei, so schlag'! Aber wie seid Ihr denn zu dem Prozeß gekommen?«

»Er kam zu mir, sozusagen, das heißt, ein Schreiben des Grafen lud mich nach Bernwartshall ein, um die Führung eines wichtigen Prozesses für ihn zu übernehmen.«

»Eines wichtigen – ja wohl. 's ist ein prächtiger Wald und ein mächtiger, bi Gott! So seine vier- bis fünfmalhunderttausend Gulden unter Brüdern wert, bei den jetzigen Holzpreisen, und übervoll von schlagbaren Stämmen, weil während der ganzen ewigen Dauer des Prozesses die Eifersucht der beiden Familien das Holzschlagen verhinderte. – Aber sagt, wie ist denn der Graf gerade an Euch geraten?«

»Das weiß ich selber nicht. Der Antrag kam mir ganz unerwartet.«

»Das gräfliche Paar war vor kurzem in der Residenz. Wurdet Ihr vielleicht bei dieser Gelegenheit mit den Leuten bekannt?«

»Keineswegs. Den Grafen sah ich gar nicht, wohl aber die Gräfin im Theater. Ich wußte aber nicht, wer die Dame war, und erst gestern Morgen, als ich derselben wieder auf dem Pfaffenwald begegnete, erfuhr ich, daß meine flüchtige Bekanntschaft vom Schauspielhause den Namen einer Gräfin Bernwart trage und eine und dieselbe Person mit dem Enkelkinde des Einsiedlers vom Bärenschlößchen sei, welches ich vorzeiten einmal im Waldesdickicht getroffen, seither aber total vergessen hatte.«

Der Goldforellenwirt schwieg auf diese Auskunft hin eine Weile und ging mit auf den Rücken gelegten Händen nachdenklich in der Stube auf und ab. Dann kam er wieder zu dem jungen Mann heran und äußerte:

»Die Sach' kommt mir fölli kurios vor, bi Gott! Sagt mir, habt Ihr die Einladung hierher erhalten, bevor Ihr mit der Gräfin im Theater zusammengetroffen?«

»Nachher, ganz kurz darauf.«

Das Gesicht Baldungs wurde sehr ernst. Er sah dem jungen Mann mit einer Art wohlwollender Strenge ins Gesicht, ergriff seine Hand und sagte nachdrücklich:

»Herr Ottmar, ich bin Euch gut, schon um Eurer braven Eltern willen, und dann, weil Ihr Euch in der traurigen Geschicht' von Anno damals, wißt Ihr? wie ein Mann gehalten. Nun wohl, Ihr werdet dem Grafen seinen Prozeß führen und zwar tüchtig führen, schätz' ich, aber – aber – hört, was ich Euch wohlmeinend sage: Führt Euch in der ganzen Sach', die, schätz ich, nicht nur jurist'sche, sondern auch noch andere Häkchen und Haken hat, so auf, wie es Eures Vaters Sohn soll.«

»Das glaub ich Euch versprechen zu dürfen!« entgegnete Ottmar bewegt und schlug seine Rechte in die des wackeren Wirtes.


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