Ferdinand von Saar
Ferdinand von Saar
Ferdinand von Saar

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Ferdinand von Saar

Vae victis!

(1883)

In der Wohnung des Generals Ludwig Baron Brandenberg war die Dienerschaft mit vollem Eifer tätig, den Salon und die anstoßenden Gemächer zum Empfang einer großen Gesellschaft, welche sich heute abends hier versammeln sollte, instand zu setzen. Inmitten dieser Vorbereitungen bewegte sich die Hausfrau, eine junge Dame von auffallender Schönheit, das dichte, hellblonde Haar mit einem weißen Morgenhäubchen leicht bedeckt, lenkend und anordnend hin und her, und die kurzen Weisungen, die sie mit lauter Stimme erteilte, zeigten, daß sie des Befehlens gewohnt war. In der Tat sprach sich in ihren etwas scharf geschnittenen Zügen ein fester, unbeugsamer Wille aus, und in der Lippenbildung des rosigen Mundes lag eine gewisse Härte, während die dunklen Augen ebenso bereit erschienen, in eisiger Verachtung zu blicken wie rasche Zornblitze zu schleudern. Es waren, das fühlte man, vernichtende Augen für alle diejenigen, welche von ihnen nicht gerne gesehen wurden, wenn sie vielleicht auch sonst das süßeste Feuer leidenschaftlicher Zärtlichkeit auszustrahlen vermochten.

Endlich hatten die Leute ihr Werk vollbracht. Alles war aufs zweckmäßigste geordnet, aufs schönste und geschmackvollste entfaltet; nichts fehlte als die Dunkelheit, um die Lichter anzünden zu können. Als Zierde des Ganzen jedoch erschien ein kleiner, reizender Wintergarten, den man hinter dem Speisezimmer improvisiert hatte und in welchem jetzt die schöne Frau mit ihren schmalen Händen noch hier und dort ein Blatt zurechtbog oder geschädigte Blüten entfernte. Sichtlich befriedigt durchschritt sie hierauf die übrigen Räume, trat im Salon an ein Fenster und lehnte die weiße glatte Stirn gegen die Scheiben.

Das Haus, dessen zweites Stockwerk sie mit ihrem Gatten bewohnte, lag am Rande des ehemaligen Josefstädter Glacis und ging mit seiner Vorderseite auf jene geräumige Fläche hinaus, woselbst sich nunmehr, inmitten wohlgepflegter Anlagen, die bedeutendsten öffentlichen Gebäude Neu-Wiens erheben. Damals jedoch gewahrte man dort bloß eine steppenartige, von vielfachen Fußpfaden durchkreuzte Wiese, auf welcher vormittags die Truppen der Garnison ihre Übungen vornahmen, nachmittags aber bis in den späten Abend hinein ein Heer von Kindern sein fröhliches Wesen trieb. Dahinter erhoben sich mit einem Bruchstücke der alten Bastei die düsteren Häusermassen und ragenden Turmspitzen der Stadt; nach rechts hin zeigten bereits zahlreiche Baugerüste die werdende Ringstraße an, und links kamen, über die ersten Anfänge der Votivkirche und die Dächer der Alservorstadt hinweg, die anmutigen Höhenzüge des Wienerwaldes zum Vorschein.

Es war in der zweiten Hälfte des März, und der Tag hatte sich herrlich angelassen. Die Menschen waren am Morgen von funkelnden Sonnenstrahlen geweckt und, als sie aus den Häusern traten, von lauen, nach Veilchen duftenden Lüften geküßt worden; nun aber hatte sich plötzlich ein rauher Nordwind erhoben und trieb schweres, düsteres Gewölk vor sich hin, aus dem alsbald dichter Schneeregen auf die Stadt niederwirbelte. Die junge Frau am Fenster schien es jedoch nicht zu bemerken; sie blickte vielmehr in das unfreundliche Gestöber mit stillem Lächeln und leuchtenden Augen wie in eine goldige Zukunftswolke hinein.

Von der ziemlich stillen Straße herauf wurde jetzt der Hufschlag von Pferden vernehmbar; ein Zeichen, daß der General, welcher mit seiner Brigade schon früh am Tage zu einem außergewöhnlichen Feldmanöver aufgebrochen war, in Begleitung seines Adjutanten nach Hause zurückkehre. Seine Gemahlin jedoch schien ihn nicht allzu sehnsüchtig erwartet zu haben. Denn diese trat jetzt, indem sich ihr Antlitz verfinsterte, rasch vom Fenster zurück und begab sich nach ihrem Zimmer, wo sie sich in einen Fauteuil warf und ein Buch zur Hand nahm.

Inzwischen hatte sich der General unten am Tore von dem jungen Offizier verabschiedet, der hierauf sein Pferd in einen raschen Trab setzte, während der Chef langsam in den Hof ritt, wo er abstieg, die Zügel dem nachfolgenden Reitknechte zuwarf und dann, die zerrinnenden Schneeflocken von sich schüttelnd, nachdenklich die Treppe hinanschritt. Er mochte in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre stehen. Seine Haare waren bereits leicht ergraut; aber sein hoher, schlanker Wuchs hatte noch etwas Jugendliches, und das schmale, längliche Gesicht schimmerte edel unter dem betreßten, vom grünen Federbusch umwallten Hute hervor.

In der Wohnung angelangt, blieb er im Eintrittszimmer, das nach links die Flucht der festlichen Gemächer eröffnete, stehen und ließ, wie um seine Ankunft kundzugeben, den Säbel leicht an die Sporen klingen. Da alles still blieb, wandte er sich nach rechts, durchschritt ein kleineres Zimmer und stand nun vor jenem seiner Frau. Er horchte eine Zeitlang, wobei sich in seinen Zügen ängstliche Spannung ausdrückte; dann klopfte er an die Tür. Drinnen regte sich nichts. Unschlüssig bewegte er sich hin und her, und schon war es, als wolle er sich nach einem Kampfe mit sich selbst wieder zurückziehen, als er ein scharfes »Nun?« vernahm. So wenig freundlich und einladend auch dieses Nun erklang: für den General mußte es ein erlösendes Wort gewesen sein. Denn aufatmend trat er mit raschen Schritten und vorgestreckter Rechten in das Zimmer.

»Guten Morgen, Corona«, sagte er herzlich – »oder guten Tag, wie du willst. Ich habe heute schon so zeitig das Haus verlassen, daß ich dich noch gar nicht begrüßen konnte.« Und dabei wollte er den Arm sanft um ihre Schultern legen und seine Lippen dem blassen Gold ihrer Haare nähern.

Sie sprang auf, und hätte er den Arm nicht sogleich wieder sinken lassen, sie würde ihn, das sah man, von sich gestoßen haben. »Laß mich – ich bitte dich«, sagte sie mit zornfunkelnden Augen. »Du weißt, daß ich derlei Zärtlichkeiten nicht liebe.«

Er war erbleichend einen Schritt zurückgetreten. »Zärtlichkeiten« – wiederholte er tonlos. »Darf ich dich nicht einmal mehr auf die Stirn küssen?«

Sie erwiderte nichts; aber ihre Oberlippe zog sich verächtlich empor, so daß die schimmernden Zähne zum Vorschein kamen. »Sprechen wir nicht davon«, sagte sie endlich, und in einen gewöhnlichen Ton übergehend, setzte sie hinzu: »Wir werden heute früher als sonst zu Tisch gehen, damit die Leute freie Hand bekommen.«

Er hatte sich gewaltsam gefaßt. »Natürlich; sie haben ja heute wieder vollauf zu tun. Aber mir kann es recht sein«, fuhr er mit erzwungener Gleichgültigkeit fort, »ich habe acht Stunden im Sattel zugebracht und bin hungrig geworden.«

Draußen im Vorzimmer ertönte die Klingel; gleich darauf erschien eine Zofe mit der Meldung, die Modistin sei gekommen.

»Ah – das ist wichtig!« rief der General, indem er vor dem Mädchen eine scherzhafte Miene annahm. »Da darf ich nicht stören. Auf Wiedersehen bei Tisch!« Und mit einer Gebärde, die leichtfertig erscheinen sollte, verließ er das Gemach. Kaum aber hatte er dieses hinter sich, als ein unsäglich schmerzlicher Zug in seinem Antlitz zum Vorschein kam, und mit gesenktem Haupte schritt er durch eine Tapetentür und einen schmalen Korridor nach seinem Zimmer, das sich am anderen Ende der Wohnung befand. Dort legte er Hut und Säbel ab und starrte wie gedankenlos in die weißen Flocken hinein, die noch immer an den Scheiben vorüberwirbelten.

Die Tritte eines Dieners, der ihn zu Tisch rief, weckten ihn aus seiner Betäubung. Es war heute in einem kleinen entlegenen Zimmer gedeckt worden, das man in der Regel wenig benützte; daher nahm sich alles ungewohnt und wenig behaglich aus. Das erste Gericht stand schon bereit; Corona jedoch war nicht zugegen.

Endlich erschien sie. Ihre rechte Wange war bis in die Schläfe hinein, nach welcher die junge Frau unwillkürlich mit der Hand griff, von einer flammenden Röte überzogen.

Der Gatte mochte aus Erfahrung wissen, was das zu bedeuten habe, denn er fragte mit gedämpfter Stimme teilnehmend: »Ist etwas vorgefallen?«

Ihr Auge blitzte ihn wild an; man wußte nicht, geschah es aus Zorn über die Frage, oder wirkte noch eine frühere Gemütsbewegung in ihr nach. »Ach, es ist um krank zu werden vor Ärger!« rief sie jetzt, indem sie sich am Tische niederließ. »Schon zweimal habe ich mein Kleid für heute abends zur Umänderung zurückgegeben, und noch immer taugt es nicht. Ich werde zu einem bereits getragenen meine Zuflucht nehmen müssen.«

»Nun, das tut nichts«, erwiderte er mit einem innigen Blick, »du wirst unter allen Umständen schön sein.«

Corona warf den Kopf zurück, und ihr feines weißes Gebiß zeigte sich wieder. Sie gehörte zu den stolzen Frauen, die es nicht ertragen, daß man ihre Eigenschaften preist. Tadel verachten sie; aber jedes Lob halten sie sofort für beabsichtigte Schmeichelei, die sie als Zumutung weiblicher Schwäche im tiefsten empört. »Gib dir keine Mühe«, sagte sie geringschätzend, »es nützt dir nichts.«

Das Antlitz Brandenbergs verfinsterte sich, und seine hellblauen Augen schossen nun auch einen dunklen, zornigen Blick. »Das ist unwürdig, Corona«, versetzte er mit harter Stimme. »Sosehr du überzeugt sein kannst, daß ich alles anwenden möchte, deine Zuneigung zu erringen: eine solche Jämmerlichkeit mir zuzumuten, habe ich dir niemals Veranlassung gegeben. Ich war seit jeher gewohnt, zu reden, wie es mir ums Herz ist, und diesem Zuge meines Wesens folgend, habe ich gesagt, was alle Welt sagt, und wiederhole jetzt, daß du schön bist, ganz unbekümmert darum, ob es dir recht ist oder nicht. Verhehle ich doch ebensowenig, wie unerfreulich mir heute wieder die große Gesellschaft ist, die bei uns stattfindet.«

Corona schwieg einen Augenblick; sie mochte fühlen, daß sie zu weit gegangen sei. Aber es war auch nur die Empfindung, sich eine Blöße gegeben zu haben, und keineswegs eingeschüchtert, griff sie jetzt um so eifriger nach der Gelegenheit, den Kampf fortzusetzen.

»Und warum ist dir die Gesellschaft unerfreulich?« begann sie. »Ich habe auf dich die möglichste Rücksicht genommen, habe alle deine Freunde und Waffengefährten geladen. Daß die meisten absagen ließen, ist nicht meine Schuld.«

»Aber es war vorauszusehen.«

»Natürlich. Sie hassen und fliehen alles, was ihnen an Geist und Bildung überlegen ist.«

»Das ist nicht wahr«, entgegnete er, ruhiger geworden, in ernstem und festem Tone. »Schnödes Junkertum war in der Armee stets nur als seltenster Ausnahmefall anzutreffen. Und wenn man bis jetzt, nur zum eigenen Nachteile, geistige Bestrebungen und wissenschaftliche Verdienste nicht hoch genug anschlug, so geschah es doch nur, weil man dafür andere Vorzüge in die Waagschale zu werfen hatte. Was übrigens meine Freunde betrifft, so würden sie alle schon im Hinblick auf mich erscheinen, wenn sie nicht die Gewißheit hätten, in meinem Hause mit einem Manne zusammenzutreffen –« Er hielt inne.

»Nun? Nun? Sprich es doch aus!« drängte sie mit weit geöffneten Augen.

»In meinem Hause mit einem Manne zusammenzutreffen, der unlängst so rücksichtslos den Stand bloßgestellt, dem sie, gleich mir, seit ihrer Jugend angehören.«

Sie lachte laut auf. »Rücksichtslos! Ihr wollt immer gehätschelt sein und fürchtet die Hand, die an die Krebsschäden eures Standes greift.«

»Wir fürchten sie nicht«, sagte er, indem er das Haupt erhob. »Aber es muß eine kundige, nicht bloß verletzende Hand sein. Wir selbst sind die ersten, die fühlen, daß Reformen not tun; allein diese müssen von innen heraus vorgenommen werden. Was uns fehlt, sind Männer wie Scharnhorst und Gneisenau – und dein vielbewunderter Parlamentsredner ist noch lange kein Freiherr von Stein. Mit bloßen Budgetabstrichen ist hier nichts getan.«

»Sie sind aber das wirksamste Mittel, euch vorläufig zur Besinnung zu bringen. Zudem ist in der Geldfrage jede andere enthalten.«

»In der Tat, du sprichst wie ein Leitartikel.«

»Die du in der Regel überschlägst. Ich aber lese sie und folge mit Bewunderung dem kühnen Vorgehen des Mannes, vor dessen Genius ihr zittert. Und je mehr ihr bemüht seid, ihn herabzuziehen, desto erhabener erscheint er in meinen Augen. Ganz abgesehen von seiner geistigen Begabung, besitzt er auch jene Eigenschaften des Charakters, welche allein den Mann machen: Entschlossenheit und Ausdauer. Seine Arbeitskraft ist unermüdlich; keine Stunde erscheint ihm zu früh, keine zu spät, wenn es seine Tätigkeit gilt. Ihr alle seid, mit ihm verglichen, Weichlinge. Hätte er sich dem Militär gewidmet, er wäre ein bedeutender Feldherr geworden und würde Österreich vor der Schmach von Magenta und Solferino bewahrt haben. Indes, sein Beruf ist ein anderer, und er geht einer großen Zukunft entgegen. Ihr aber habt samt und sonders keine mehr.«

Der General hatte seine Frau mehrmals in dem leidenschaftlichen Flusse ihrer Rede unterbrechen wollen; jetzt aber zuckte er erbleichend zusammen. Das Wort erstarb auf seinen Lippen, und seine Augen senkten sich unwillkürlich.

Corona fühlte, daß sie ihn tödlich getroffen. Sie schwieg jetzt gleichfalls und blickte ihn mit unverhohlener Grausamkeit triumphierend von der Seite an. Ja, sie ging sogar mit einem gewissen Behagen daran, etwas zu sich zu nehmen, was sie früher, während der Diener ab und zu ging und stellenweise das Gespräch unterbrach, kaum versucht hatte. Als der Kaffee gebracht wurde, rückte sie geräuschvoll ihren Stuhl und sagte, indem sie wieder an die Schläfe griff: »Ich habe Migräne und muß mich auf eine Stunde zur Ruhe begeben.«

Damit ging sie. Ihr Gatte aber blieb noch eine Weile regungslos am Tische sitzen. Dann begab er sich, mechanisch eine Zigarre anbrennend, in sein Zimmer, wo er, wie im Innersten gebrochen, auf das Sofa sank und stumm dem Rauche nachsah, der sich leise gegen das Fenster hinzog. Draußen war es inzwischen wieder hell und freundlich geworden. Rötliche Wolken standen am blauen Himmel; die Turmknäufe blitzten und funkelten im Strahl der Nachmittagssonne; auf den Fenstersims kamen zwei Sperlinge geflogen und hüpften dort lustig zwitschernd auf und nieder.

»Sie hat recht«, sagte er endlich tonlos, »ich habe keine Zukunft mehr – – –«

Brandenberg hatte seit jeher zu den beliebtesten und hervorragendsten Offizieren der Armee gehört, und sein Dasein konnte bis vor nicht allzulanger Zeit ein äußerst glückliches genannt werden; denn schon vom Anbeginn fügte sich alles derart, daß er rasch und leicht der hohen Stellung entgegengeführt wurde, die er, verhältnismäßig noch jung an Jahren, einnahm. Als Sohn eines Hauptmanns, der in den Kriegen gegen Napoleon invalid geworden und ursprünglich Brandtner hieß, später aber das Adelsprädikat »von Brandenberg« annahm, hatte er seine Ausbildung in einer Militärakademie erhalten. Nachdem er diese als vorzüglicher Schüler verlassen, wurde er sogleich als Offizier in die Linie eingeteilt – und schon im Jahre achtundvierzig kämpfte er als Hauptmann unter den Fahnen Radetzkys in Italien, woselbst er sich durch eine glänzende und entscheidende Waffentat derart verdient machte, daß er mit der höchsten kriegerischen Auszeichnung, dem Theresienkreuze, belohnt wurde, das seinen Besitzer in den Freiherrnstand erhebt. Nunmehr drängte ihn das Glück rastlos vorwärts. Sobald er von der schweren Verwundung, die er zur selben Zeit erlitten, wiederhergestellt war, sah er sich als Major dem Generalstabe des Marschalls eingeteilt, fand dort noch mehrfach Gelegenheit, sich hervorzutun, und verließ ihn erst beim Eintritt völlig friedlicher Verhältnisse, um, mittlerweile zum Obersten vorgerückt, in Wien das Kommando eines Regiments zu übernehmen.

Es war damals eine Zeit, wo der Militärstand sich des höchsten Ansehens erfreute. Alles übrige konnte sich nur bedingt und nebenher geltend machen; selbst die Bureaukratie, einst so mächtig im Staate, war dem Schwerte untergeordnet. Kein Wunder also, daß der Oberst Baron Brandenberg zu jenen Persönlichkeiten der Residenz gehörte, die am meisten ins Auge fielen.

Um diese Zeit war es auch, daß ihm ein höherer Staatsbeamter ganz unumwunden den Antrag stellte, er möge seine Tochter zur Frau nehmen. Der Vater erklärte ohne Rückhalt, daß er für die junge Dame, die von mütterlicher Seite ein namhaftes Vermögen ererbt und ein nicht minder bedeutendes von einer dermalen in Paris lebenden Tante noch zu erwarten habe, nur deshalb eine passende Partie suche, weil er, als Witwer, sich selbst neuerdings zu verehelichen gedenke und in dieser Hinsicht bei dem sehr ausgeprägten und etwas hochfahrenden Charakter seiner Tochter häusliche Mißhelligkeiten befürchte. Niemand aber könne ihm als Eidam willkommener sein als der ritterliche Oberst, der in der Blüte seiner Jahre stehe und somit noch eine fast unbegrenzte Laufbahn vor sich habe. Brandenberg, der bereits selbst hin und wieder daran gedacht hatte, eine standesgemäße Ehe zu schließen, ergriff die sich darbietende Gelegenheit um so freudiger, als er beim ersten Anblick der schönen Corona geradezu bezaubert war und auch diese nach kurzer Bedenkzeit erklärte, sie sei bereit, ihm ihre Hand zu reichen. So fand denn die Verlobung und bald darauf die Trauung statt. Die Augustinerkirche bot fast nicht Raum genug, um die Scharen der Geladenen und Neugierigen in sich aufzunehmen, und man wurde nicht müde, das entzückende Aussehen der Braut, die vornehme Erscheinung des Bräutigams zu bewundern; ja selbst der Neid, obgleich er den bestehenden Altersunterschied keineswegs übersah, konnte nicht umhin, dem ausgezeichneten Paare eine glückliche Zukunft zu weissagen.

Dessenungeachtet ließ sich diese Ehe, die in der Folge kinderlos blieb, schon in der ersten Zeit nicht allzu erfreulich an. Es war, als könne sich die junge Frau in dem neuen Leben und den ungewohnten Verhältnissen nicht zurechtfinden. Das soldatische Wesen, das damals für die meisten ihrer Altersgenossinnen so viel Anziehendes hatte, schien sie in nächster Berührung mehr und mehr abzustoßen, so zwar, daß sie zuletzt immer schwerer zu bewegen war, Offiziere des Regiments, das Brandenberg befehligte, bei sich zu empfangen. Sie nannte die älteren, die sich gern als behagliche Lebemänner zeigten, roh und ungebildet, die jüngeren eitel und geckenhaft; wie sie denn überhaupt eine entschiedene Abneigung gegen alle Männer kundgab, die auf ihre äußere Erscheinung einiges Gewicht zu legen schienen. Dabei traten auch sonst immer schärfere Kanten und Ecken ihrer Natur zutage, besonders aber ein starrer, mit schroffem Widerspruchsgeiste gepaarter Eigenwille und nebenher eine stets zunehmende, nachgerade verletzende Kälte gegen ihren Gatten, welch letztere diesen um so mehr befremden und verstimmen mußte, als er seit jeher gewohnt war, von den Frauen besonders ausgezeichnet zu werden. Dabei aber verliebte er sich, wie dies unter solchen Umständen der Fall zu sein pflegt, immer leidenschaftlicher in Corona, ohne es jedoch zu zeigen, ja sogar, ohne es sich selbst eingestehen zu wollen.

So lebte das Paar unfroh und in wenig behaglicher Häuslichkeit dahin, als im Frühling des Jahres neunundfünfzig die Kriegserklärung an Piemont erfolgte. Brandenberg erhielt unter gleichzeitiger Beförderung zum General das Kommando einer Brigade und rückte nach Italien ab, während Corona auf die Dauer des Feldzuges in das väterliche Haus zurückkehrte, nachdem man sie nur mit Mühe hatte überzeugen können, daß es in diesem Augenblicke, wo Frankreich dem Feinde Österreichs zur Seite stand, für sie sehr unpassend sei, sich nach Paris zu begeben, was ihre ursprüngliche Absicht gewesen war.

Der Ausbruch des Krieges, welcher bei der Bevölkerung ahnungsvolle Besorgnis wachrief, wurde von der Armee nach einem zehnjährigen Frieden mit Jubel begrüßt. Indem man sich an den früheren Erfolgen auf den italienischen Schlachtfeldern entzündete, gab man sich den ungemessensten Siegeshoffnungen hin, und leichten Mutes, als ginge es zu einem Übungsmanöver, zog man über die Alpen. Auch Brandenberg wurde von diesem allgemeinen Taumel mit fortgerissen, obgleich er eigentlich von Natur überlegend und bedachtsam war und überdies von den Fähigkeiten des Mannes, den man zum obersten Feldherrn ernannt hatte, keine allzu hohe Meinung hegte. Um so eindringlicher machte sich bei ihm die Enttäuschung geltend, die nun folgte, und nur das Bewußtsein, inmitten ratloser Operationen mit seinen Truppen das möglichste geleistet zu haben, ließ ihn die rasche und gänzliche Niederlage mit einiger Standhaftigkeit ertragen. Dennoch fühlte er, daß nach dem Friedensschlusse von Villafranca etwas in seinem Inneren gebrochen und vernichtet war, wie er denn auch in diesen Tagen die ersten grauen Haare an sich wahrnahm; und mit jener Gedrücktheit, welche ein wohlangelegtes Gemüt stets bei einer allgemeinen Verschuldung empfindet, kehrte er, nachdem er inzwischen an verschiedenen Orten kantoniert hatte, im Spätherbste nach Wien zurück, nicht ohne ein Gefühl von Beschämung, seiner Frau unter solchen Umständen vor Augen treten zu müssen. Denn Corona hatte gleich anfangs in ihrer gewohnten absprechenden Art die stolzen Siegeshoffnungen sehr in Zweifel gezogen, wie sie denn auch später in einem Briefe von Ischl aus, wo sie den Sommer zubrachte, von der eingetretenen Katastrophe wie von einer Tatsache sprach, die sich notwendigerweise habe vollziehen müssen. So war es ihm jetzt in gewissem Sinne nur erwünscht, daß sie das Vorgefallene mit geringschätzigem Schweigen überging; aber die Anstalten, die sie dabei in dem erneuten Hauswesen traf, zeigten ihm, wie sehr sich die Kluft, welche stets zwischen ihnen gelegen, während seiner Abwesenheit erweitert hatte.

Corona war nämlich in Ischl mit einigen jener reichen jüdischen Familien bekannt geworden, welche, im Laufe der Zeit zu immer größerem Ansehen gelangend, in ihren glänzenden Wiener Salons alles um sich zu versammeln pflegten, was in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben Geltung besaß oder anstrebte. Auf das zuvorkommendste empfangen, berauscht von der Atmosphäre vornehmster Bildung, die ihr hier zum ersten Male entgegenwehte, fühlte Corona, wie sich ihr in dem reizend gelegenen Alpenbade ein ganz neuer Gesichtskreis erschloß, der sie um so mehr entzückte, als der in jenen Kreisen herrschende, zu geistvoll ätzendem Spotte verfeinerte Ton des Widerspruchs ihrem kalten, zu scharfer Kritik geneigten Verstande besonders zusagte. Bei diesem anregenden, durch neu hinzutretende Erscheinungen immer belebteren Verkehr schwanden der jungen Frau die Wochen und Monde wie ein schöner Traum dahin, und als endlich die Rückkehr nach der Hauptstadt bevorstand, war sie entschlossen, diese neuen Beziehungen nicht bloß festzuhalten, sondern auch, indem sie ihr Haus gleichfalls zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkte umzuschaffen gedachte, nach Möglichkeit zu erweitern.

Sie hatte daher in dieser Hinsicht das Eintreffen ihres Gatten mit einiger Ungeduld abgewartet und schritt nun sogleich ans Werk, natürlich ohne ihn um seine Zustimmung zu fragen, die er, nachgiebig, wie er bereits geworden war, um so weniger würde verweigert haben, als er weltmännische Eigenschaften genug besaß, um auch seinerseits an einem solchen Verkehre Gefallen zu finden. Da er aber bald zu bemerken glaubte, daß er fast von allen, die jetzt seine Schwelle betraten, mit einer Art geringschätzenden Wohlwollens bloß als Mann seiner Frau betrachtet wurde, von dessen Bedeutung man schon von vorneherein keine allzu große Meinung zu hegen brauchte, so kehrte er – was sonst nicht in seinem Wesen lag – ziemlich unklug dem geistigen Hochmut den Hochmut seines Standes entgegen und blieb, wenn seine Gegenwart nicht zu einer unumgänglichen gesellschaftlichen Pflicht wurde, auf seinem Zimmer oder ging ins Kasino, wobei ihn jedoch mehr und mehr ein bitteres Gefühl der Vereinsamung beschlich.

Trotzdem konnte die Ehe noch immer keine geradezu unglückliche genannt werden. Denn obwohl Corona ihr kaltes und zurückhaltendes Benehmen aufrecht erhielt, so gab sie ihrem Gatten doch keinen Grund zu wirklicher Eifersucht. Es wurde ihr zwar von vielen Seiten entschieden gehuldigt; aber sie war von den selbstgeschaffenen neuen Verhältnissen derart befriedigt, daß sie es gar nicht zu bemerken schien, und ihre Liebenswürdigkeit – sie konnte, wenn sie wollte, sehr liebenswürdig sein – blieb eine allgemeine, dergestalt, daß sich niemand besonderer Auszeichnung, geschweige denn eines Entgegenkommens hätte rühmen können.

Diese für Brandenberg ziemlich beruhigende Sachlage schlug aber mit einemmal in ihr Gegenteil um, als sich im Laufe des nächsten Jahres der Gesellschaftskreis seiner Frau um einen Mann bereicherte, der zu den hervorragendsten Erscheinungen jener Tage gehörte. Die mittlerweile ins Leben getretene Verfassung hatte nämlich die allgemeine Aufmerksamkeit den beiden Häusern des Reichsrates, namentlich aber dem Hause der Abgeordneten zugelenkt. Unter den Stimmführern, die sich in letzterem besonders bemerkbar machten, war auch ein Doktor der Rechte, der sich, nachdem er schon als ganz junger Mann im Jahre achtundvierzig eine gewisse Rolle gespielt, als Advokat niedergelassen hatte, wobei er jedoch hinter seinen Prozeßakten den Gang der Ereignisse mit leidenschaftlicher Spannung verfolgte und ungeduldig den Augenblick vorausberechnete, der einen Umschlag herbeiführen und ihm vergönnen würde, in ein neues Staatswesen tätig mit einzugreifen. Dies war nun geschehen, und mit unerbittlicher, sarkastischer Logik legte er die Schäden des früheren Systems bloß, das er bis auf die letzten Spuren vernichtet wissen wollte. Daher waren auch die Galerien überfüllt, sobald man erfuhr, daß der berühmte Doktor, der so scharf ins Zeug ging, heute sprechen werde. Und in der Tat war es von hinreißender Wirkung, wenn sich der breitschulterige Mann mit dem mächtigen Haupte von seinem Sitz erhob und mit weithin tönender Stimme hastig seine Auseinandersetzungen begann, bis endlich, während seine großen, etwas hervorstehenden Augen wundersam zu leuchten begannen, die Rede in einen wahren Sturmwind überging, der alle Einwürfe der Minister wie Spreu aufwirbelte und mit sich fortriß.

In einem solchen Moment hatte ihn Corona, die mit einigen befreundeten Damen das Haus besuchte, zum ersten Male gesehen. Der Eindruck war ein so mächtiger gewesen, wie sie noch keinen im Leben empfangen, und sogleich stand in ihr der Vorsatz fest, mit diesem Manne näher bekannt zu werden. Das aber schien mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Denn auf ihre Nachfrage erhielt sie die Mitteilung, daß der Vielbeschäftigte nur sehr ungern neue gesellige Beziehungen anknüpfte. Indes fügte es der Zufall, daß sie mit ihm bald darauf an einem dritten Orte zusammentraf, und der Doktor, der unverehelicht war, schien von den begeisterten Huldigungen, die sie ihm darbrachte, derart bezaubert zu werden, daß er nicht bloß ihre Einladung annahm, sondern auch mit der schönen Frau, an der er ein so lebhaftes Interesse für öffentliche Angelegenheiten wahrnahm, in regen Verkehr trat. Er ergriff mit freudigem Stolz die Gelegenheit, ihr geistiger Führer und Lenker zu sein, versorgte sie mit einschlägigen Büchern und brachte bald fast jede Stunde des Tages, die er sich abringen konnte, bei ihr zu, ignorierte aber ihren Gatten, mit welchem er allerdings selten genug zusammentraf, fast gänzlich. Ein gleiches Verhalten beobachtete Brandenberg aus Stolz ihm gegenüber, obwohl er seit einer öffentlichen Debatte über den Militäretat, bei der der Doktor nicht bloß die Verwaltung der Armee, sondern auch diese selbst in ihren höheren Vertretern auf das schneidendste angegriffen hatte, seiner nicht mehr ganz mächtig war und um so mehr unter den Qualen gewaltsam verhehlter Eifersucht litt, als Corona jetzt kaum mehr gestatten wollte, daß er auch nur ihre Hand berühre.

Dennoch würde er sich vielleicht in irgendeiner Weise aus diesem unwürdigen und aufreibenden Zustande befreit haben, wenn nicht auch nach anderer Seite hin der Boden unter seinen Füßen schwankend geworden wäre. Es hatte sich nämlich bereits in der Armee selbst ein hastiger, unruhiger Drang, zu verbessern und umzugestalten, bemerkbar gemacht, und einige Ehrsüchtige nahmen die Gelegenheit wahr, sich mit Neuerungsvorschlägen in Gunst und Ansehen zu bringen, wobei sie alles zu entfernen trachteten, was ihren Bestrebungen im Wege stand oder möglicherweise zu stehen schien. So war es gekommen, daß in letzter Zeit viele höhere und durch namhafte Verdienste ausgezeichnete Offiziere über Nacht in den Ruhestand versetzt wurden, nur weil man annahm, daß sie sich in der neuen Ordnung der Dinge nicht mehr würden zurechtfinden können. Brandenberg, der infolge seines menschenfreundlichen Wesens bei Untergebenen sehr beliebt war und auch nach obenhin nur wenige Feinde besaß, war bis jetzt von diesen gewaltsamen Eingriffen verschont geblieben. Aber er konnte doch allmählich gewahr werden, daß sich um ihn her eine Veränderung vollziehe. Mancher von den Emporstrebenden fing an, ihn mit scheelem Auge zu betrachten, und da auch hin und wieder solche, die mit ihm näher befreundet waren, ein gleiches Schicksal fürchtend, sich leise von ihm zurückzogen, so konnte er daraus schließen, daß sein Ansehen in Abnahme begriffen und auch er maßgebenden Ortes nachgerade zu einer persona ingrata geworden war. Hatte doch heute beim Manöver der Höchstkommandierende selbst die Dispositionen des Brigadiers nicht entsprechend gefunden und seiner Unzufriedenheit in sehr scharfen, fast beleidigenden Worten des Tadels Ausdruck verliehen – –

Das war es, was Brandenberg in voller Tragweite vor die Seele trat, als er tonlos vor sich hin sprach: »Sie hat recht, ich habe keine Zukunft mehr.«

Die Zigarre war erloschen. Eine tiefe, unsägliche Müdigkeit überkam ihn, der er wider Willen nachgab. Seine Augen schlossen sich – und bald hatte der Schlaf mit sanftem Nahen die drückende Gedankenlast von ihm genommen.

Als er erwachte, war es bereits dunkel geworden. Er machte Licht und sah nach der Uhr; die Stunde, um welche man die Geladenen erwarten konnte, rückte heran. Mit einem schweren Seufzer erhob er sich und begann, während ihn wieder das Vollbewußtsein seiner Lage überfiel, sich langsam umzukleiden. Ein bitteres Lächeln umzuckte seine Lippen, als ihm der herbeigerufene Diener die glänzende Uniform hinreichte, deren linke Brustseite eine Reihe von Orden aufwies. Welch ein Kontrast zwischen den trostlosen Empfindungen, die er im Inneren barg – und diesen prunkenden äußeren Ehrenzeichen! Mit rascher Hand löste er sie alle ab, bis auf das kleine weiße Kreuz an rotem Bande, das er mit seinem Blut erkauft hatte. Oh, warum hatte die Kugel, die ihm damals die Schulter zerschmetterte, nicht sein Herz durchbohrt! Ihm wäre jetzt wohl! Gestorben wäre er den ehrlichen Soldatentod, läge tief und still gebettet an den Ufern des Po – und wüßte von nichts – – –

Endlich begab er sich durch den dunkelnden Gang in den Salon, der bereits erwartungsvoll im Lichterglanz strahlte. Unwillkürlich nahm jetzt der General die gewohnte militärische Haltung an, und wer ihn so würde gesehen haben, wie er mit seiner hohen Gestalt, den feinen Schnurrbart leicht nach aufwärts gestrichen, über das glatte Parkett schritt, der hätte nimmermehr den Bruch seiner Seele geahnt und ihn vielmehr für einen Glücklichen auf den Gipfeln des Daseins gehalten. Er selbst erschrak, als er zufällig in einen Spiegel blickte, vor seinem eigenen Bilde wie vor etwas Fremdem.

Hinter ihm rauschte es. Er wandte sich um und gewahrte seine Frau, die in einem Kleide von rotem Sammet wundervoll aussah. Mit ihren dunklen Augen und den lichten, schimmernden Haaren, die sie heute nahezu gelöst trug, glich sie jenen entzückenden Gestalten, welche einst der ältere Palma gemalt. Und diese blendende Fülle von Reizen, dieser wonnige Leib, nach dem er verschmachtete, war sein – sein vor Gott und der Welt – und doch ihm verwehrt, verwehrt für immer! Es war ein Bewußtsein, um lautlos darüber zu sterben – oder auszubrechen in ein Gelächter des Wahnsinns – – –

Aber er bezwang sich, und so gingen die beiden Gatten schweigend in verschiedenen Richtungen auf und nieder, wobei Corona lange weiße Handschuhe an den herrlichen Armen hinaufzog und dann zuweilen, wie in nervöser Ungeduld, ihr funkelndes Geschmeide zurechtschob.

Jetzt klirrte es im Vorzimmer von Säbeln, und eine kleine Schar junger Offiziere trat ein, fast durchweg schlanke, wohlgebildete Erscheinungen, mit einem angenehmen Zug von Offenheit und Herzensgüte im Antlitz. Sie gehörten auch zu denjenigen, die Corona aus Rücksicht für ihren Gatten geladen hatte, und verbeugten sich, indem sie die Fersen aneinanderschlugen, wie auf Kommando vor dem General, der sie mit freundlichem Lächeln und einigen herzlichen Worten empfing, während sich seine Gemahlin mit einem stolzen Kopfnicken begnügte. Sie zogen sich auch alsbald in eine Ecke des Salons zurück, wo sie eine erwartungsvolle Gruppe bildeten, nicht ohne selbstzufriedene Blicke nach rechts und links in die Spiegel zu werfen. Denn vermöge ihrer noch geringen Welterfahrung hielten sie dafür, daß sorgfältig gescheiteltes Haar und zierliche Lackstiefel untrügliche Mittel seien, jedes Frauenherz zu gewinnen. Die Glücklichen! Sie ahnten noch nicht die Abgrundtiefe weiblicher Empfindung, nicht den furchtbaren Ernst jener dunklen Naturgewalt, die im Leben unter so unfaßbaren Widersprüchen zutage tritt und von den Menschen Liebe genannt wird – – –

Nach und nach fanden sich nun auch die übrigen Geladenen ein: Gelehrte und Professoren mit ihren Frauen und Töchtern, jüngere Doktoren aller Fakultäten, Künstler und Schriftsteller. Dazwischen, zahlreiche Orden vor der Brust, einige hohe Militärs, Diplomaten und Staatsbeamte – unter den letzteren auch der Vater Coronas, ein hagerer, vertrockneter Herr mit mühsam verkämmter Glatze; und endlich, ziemlich zahlreich, hervorragende Vertreter der Geldaristokratie mit ihren Familien. Die Söhne, ernst und klug blickende junge Männer von feinem, zurückhaltendem Wesen, denen man ansah, daß sie zum größten Teil bereits dem Gotte Merkur abgeschworen und sich der helläugigen Athene geweiht hatten; die Frauen und Mädchen in kostbarer Kleiderpracht, strahlend von Diamanten und Perlen. Einige mit scharf geschwungenen Nasen, tiefdunklen Haaren und Augen, echt biblische Schönheiten, während sich bei anderen die Rassemerkmale schon ziemlich verwischt hatten und erst bei näherer Betrachtung in reizenden Spielarten von braun und blond zutage traten.

So entwickelte sich denn allgemach, indem sich die Anwesenden nach allen Seiten hin in sitzende und stehende Gruppen verteilten, jene eigentümliche, duftig schwüle und von verworrenem Stimmengeräusch durchzogene Atmosphäre, die etwas Aufregendes und Abspannendes zugleich hat; so zwar, daß man sich oft mitten im Gespräch nicht erwehren kann, durch die Nasenflügel zu gähnen.

Corona bewegte sich als Hausfrau in liebenswürdigster Weise bald hierhin, bald dorthin. Aber man konnte bemerken, wie sie dabei stets nach der Tür blickte, um den Mann eintreten zu sehen, den sie vor allen anderen herbeigewünscht hatte. Indes war es nur selbstverständlich, daß der so sehr in Anspruch Genommene auf sich warten ließ. War doch heute abends, das wußte Corona, wieder Klubsitzung; der Vorlagen und Einläufe gar nicht zu gedenken, die sich, wie er sagte, auf seinem Schreibtische täglich zu kleinen Bergen aufsammelten und welche alle erledigt sein wollten. Endlich – endlich trat er ein. Man sah, daß er unmittelbar von der Arbeit weg in den Frack geschlüpft sein mußte. Sein Haar war verworren, seine Wäsche zerknittert, und die Beschuhung wies den Staub des Tages auf. Aber man beachtete dies alles gar nicht, als er jetzt in seiner imposanten Männlichkeit auf Corona zuschritt, ihr kräftig die Hand schüttelte und dann, mit raschen Blicken die Versammelten überfliegend, an ihrer Seite durch den Salon ging, um sich mit seiner Begleiterin in einem Kreise von Herren und Damen niederzulassen.

Auch Brandenberg hatte dem Erscheinen des Doktors in unruhiger Spannung entgegengesehen und sich darauf vorzubereiten gesucht. Dennoch konnte er, eben im Gespräch mit einigen Stabsoffizieren begriffen, an welchen er heute eine eigentümlich verlegene Zurückhaltung zu bemerken glaubte, kaum seine äußere Fassung bewahren. Er fühlte, wie er sich entfärbt hatte, als auch er dem Eintretenden anstandshalber ein paar Schritte entgegengetan.

In diesem Augenblicke näherte sich ihm eine ältere Dame, die ein unmodisches violettes Seidenkleid und einen turbanähnlichen Kopfputz von gleicher Farbe trug.

Diese Dame, die Gattin eines Hofrates, stand in dem Ruf großer Gelehrsamkeit, obgleich sie es im allgemeinen liebte, vor der Welt eine gewisse hausmütterliche Einfalt zur Schau zu tragen und ihr Licht mehr auf Umwegen, dann aber um so überraschender und eindringlicher aufleuchten zu lassen. Ein solches Verfahren beobachtete sie auch Brandenberg gegenüber, den sie in besondere Affektion genommen zu haben schien; sei es nun, daß sie ihn für die geringe Aufmerksamkeit, die ihm von den übrigen zuteil wurde, zu entschädigen gedachte oder weil sie ihn ihre Überlegenheit sozusagen hinterrücks wollte fühlen lassen. So hatte sie schon mehrmals die Gespräche, in welche sie ihn zog, auf historisch denkwürdige Kriegsereignisse gelenkt und ihn hierüber, indem sie die Miene weiblicher Verständnislosigkeit in solchen Dingen vornahm, um Aufklärung gebeten, wobei sich jedoch am Schlusse stets herausstellte, daß sie in der Kriegsgeschichte, von Alexander bis auf Napoleon, eigentlich besser bewandert sei als er selbst.

Heute nun trat sie, gewissermaßen ängstlich zurückhaltend, mit der Frage an ihn heran, was denn eigentlich unter der sogenannten »Stoßtaktik« zu verstehen sei, die nunmehr, wie sie in den Zeitungen gelesen, bei der Armee eingeführt werden sollte. Brandenberg, den jetzt begreiflicherweise ganz andere Dinge beschäftigten, versuchte gleichwohl eine Erklärung; die Dame jedoch hörte nur mit halbem Ohre zu und sprach sich alsbald dahin aus, wie lehrreich es sei, den Wechsel zu verfolgen, der sich in der Art der Kriegsführung und Bewaffnung im Laufe der Jahrhunderte vollzogen. Und indem sie von der Phalanx der alten Griechen, von den Ballisten und Katapulten der Römer ausging, gelangte sie mit einer ebenso kühnen wie prachtvollen Wendung auf die Schlacht von Valmy, welche bekanntlich nur in einer unausgesetzten, von dem großen Goethe in ihren Wirkungen selbst beobachteten Kanonade bestanden habe. Und da sie, nun einmal im Zuge, den Namen Goethe genannt hatte, so erging sie sich über Werther und Faust, über Egmont und Tasso – und verweilte endlich bei den Wahlverwandtschaften, welche der General, wie sie etwas zweifelhaft betonte, wohl werde gelesen haben. Und als Brandenberg, einigermaßen betroffen, dies bejahte, so fragte sie ihn, indem sie die Augen niederschlug, ob denn auch er diesen Roman für so unsittlich halte, wie er im allgemeinen gelte. Was nun ihre Person beträfe, so habe sie ihn wohl in früheren Jahren nicht ohne leises Mißbehagen und geheimen Widerspruch ihres Herzens zu lesen vermocht; seit sie aber älter geworden und – sie seufzte dabei – tiefere Blicke ins Leben getan, sei ihr leider klargeworden, daß in einer Ehe, die nicht auf so vollkommen harmonischer Übereinstimmung beruhe wie diejenige, in der sie selbst mit ihrem Gatten lebe, derlei Wandlungen und Konflikte recht wohl Platz greifen könnten. Diese Bemerkung, die möglicherweise ganz ohne Hintergedanken ausgesprochen wurde, traf Brandenberg ins Innerste. Sie erschien ihm wie eine versteckte und boshafte Anspielung auf seine eigenen Eheverhältnisse, und was er jetzt erwiderte, mochte wohl derart gewesen sein, daß die Frau Hofrätin einigen Grund hatte, ihn erstaunt anzusehen.

Zum Glück entstand jetzt eine Bewegung im Salon. Ein junger, fremdländischer Tonkünstler, dessen späterer Ruhm damals eben im ersten Aufgange stand, war an den Flügel getreten, ein Zeichen, daß er die Absicht habe, einiges vorzutragen. Während des allgemeinen Stuhlrückens, Platzwechselns und -suchens, das nun erfolgte, gelang es Brandenberg, sich von der Dame zu trennen und unbemerkt in das anstoßende Zimmer zu entkommen, wo einige ältere Herren beim Whist saßen. Er sah ein paar Augenblicke mit geheuchelter Teilnahme dem Spiele zu; dann begab er sich durch das Speisezimmer, wo man bereits für das Souper gedeckt hatte, in den Wintergarten. Dort war es still und einsam; dort konnte er, indem er sich in ein künstliches Gebüsch von hochstämmigen Kamelien und Azaleen zurückzog, ungestört in die Qual seiner Empfindungen versinken.

Inzwischen hatte der Virtuose mit einer Sonate Beethovens begonnen, die er mit solcher Meisterschaft vortrug, daß am Schlusse stürmischer Beifall losbrach. Dieser Lärm weckte Brandenberg, an dem das herrliche Tonstück ungehört vorübergerauscht war, aus seiner Erstarrung, und schon wollte er in den Salon zurückkehren, als plötzlich wieder erwartungsvolle Stille eintrat. Selbst die Herren, welche bei den Karten saßen, erhoben sich leise und schritten auf den Fußspitzen in den Salon, um den Spielenden von Angesicht sehen zu können, der sich nun selbst als Komponist zu zeigen gedachte. Er begann mit Variationen eines russischen Volksliedes, dem er einst in seiner Heimat gelauscht haben mochte, und von den Klängen, die jetzt herüberquollen, fühlte sich Brandenberg mit einem Male gefesselt. Sie huben eintönig an, tief klagend, zum Sterben traurig. Dann zuckten wilde Blitze des Schmerzes auf, zuerst vereinzelt, doch immer rascher, immer heftiger, bis sie endlich gleichsam in sich selbst erstickten und die Melodie nach dumpfem Grollen wieder in öde Trauer zurücksank.

Ein tiefer Seufzer entrang sich ihm. Ja, so sah es in seiner eigenen Brust aus! So empfand, litt, stritt und verzweifelte er seit Wochen und Monden! Wehmütig lauschend saß er da, regungslos wie die fremdartige Blütenpracht des Wintergartens, die ihn geheimnisvoll umschwieg.

Plötzlich vernahm er gedämpfte Tritte, geflüsterte Worte, und erkannte die allmählich lauter werdende Stimme seiner Frau.

»Es bleibt dabei«, sagte Corona, indem sie mit dem Doktor hereintrat; »ich reise für einige Zeit nach Paris. So wird jedes Aufsehen vermieden. Auch ist es mir nicht länger möglich, mit ihm unter einem Dache zu leben.«

»Und wenn er Einwendungen erhebt?« fragte der Doktor leichthin.

»Er wird es nicht, denn er besitzt den Stolz der Schwäche. Hat er es doch sogar bis jetzt verschmäht, meinen Vater ins Vertrauen zu ziehen. Und ich wüßte nicht, wer mich zwingen könnte, an seiner Seite zu verbleiben.«

»Allerdings. Aber die gerichtliche Scheidung, auf die es doch eigentlich ankommt, könnte durch Ihre Abwesenheit erschwert und verzögert werden. Übrigens bin ich in der Lage, Ihnen mitteilen zu können, daß er schon in den nächsten Tagen außer Dienst gesetzt werden wird. Ich habe es heute zufälligerweise im Kriegsministerium erfahren.«

»Das ist gut; ich habe nur darauf gewartet. Nun ist es aus mit ihm, und er soll sehen, wie er sich zurechtfindet.«

»Er kann es auch leicht. Sein Ruhegehalt sichert ihm ein behagliches Dasein. Wenn es nach meinem Sinn ginge, so müßten derlei Leute, die es durch glückliche Zufälle zu hohen Stellungen gebracht haben, ohne denselben gewachsen zu sein, Wolle spinnen, statt sich aus dem Staatssäckel reichlich füttern zu lassen. Aber das soll und wird sich jedenfalls ändern mit vielem anderen, teuerste Corona – auch mit den Ehegesetzen. Freilich nicht so rasch, wie es in unseren Wünschen liegt.«

»Je nun, wir lieben uns; das Weitere wird sich finden. Und was auch geschehen möge, Sie wissen, daß ich die Ihre bin – die Ihre für ewig!« Sie schlang die weißen Arme leidenschaftlich um seinen breiten Nacken und küßte ihn. »Aber jetzt kommen Sie«, fuhr sie fort, da drinnen wieder Applaus ertönte, »man könnte uns sonst vermissen.«

Während dieses Gespräches war Brandenberg mit stockendem Atem in seiner früheren Regungslosigkeit verblieben. Mehr als einmal zwar hatte er aufspringen und den beiden entgegentreten wollen. Aber die entsetzliche Unmittelbarkeit der Verachtung, mit der sie sich über ihn ausließen, brachte, wie das Haupt der Gorgo, eine versteinernde Wirkung hervor; zudem fühlte er instinktmäßig, daß sein Erscheinen einen Eklat hervorrufen müßte, der ihn nur noch mehr bloßstellen würde. Mit dem Trieb der Selbsterhaltung suchte er daher für jetzt das Gehörte in sich zu übertäuben, indem er sich zwang, in den Salon zurückzukehren und dort eine stolze, unbeirrte Haltung anzunehmen. Aber die ungeheure Schmach fraß an seinem Innern fort und raubte ihm fast das Bewußtsein. Wie hinter Schleiern bewegten sich die Gestalten um ihn her, und er sah und hörte es kaum, daß jetzt ein junges Mädchen, schön wie Esther, an das Klavier trat und mit entzückender Stimme Lieder von Schubert und Mendelssohn sang. Dem Nachtwandler gleich, der mit verschlossenen Sinnen Handlungen des wachen Zustandes verrichtet, gab er, als man zum Souper ging, einer Dame, die er als Hausherr voranführen mußte, den Arm und hatte keine Empfindung von dem, was er tat oder sprach, als er an ihrer Seite den Wirt machte, während in der Runde Schüsseln und Teller klirrten und der durchsichtige Wein in den Gläsern perlte. Und als sich hierauf ein Teil der Gesellschaft, fröhlich angeregt, in den Wintergarten begab, da schien ihm der aufrechte, schlanke Mann in Generalsuniform, der den Herren Zigarren anbot und später die nach und nach sich entfernenden Gäste zur Tür geleitete, sein Doppelgänger zu sein – bis er sich endlich, wie aus einem Traume erwachend, ganz allein in dem stillen, dunklen, verödeten Salon sitzen fand.

Ein Diener, der die letzte Lampe forttrug, sah ihn fragend an. Er folgte ihm und ließ sich auf sein Zimmer leuchten. Dort sagte er, daß er nichts weiter benötige und sich allein auskleiden werde.

Nachdem er eine Zeitlang auf und nieder gegangen war, trat er vor ein Kästchen aus Ebenholz hin, das auf seinem Schreibtische stand. Er schlug den Deckel zurück und ließ den Blick nachdenklich auf zwei zierlich gearbeiteten Pistolen ruhen, die in dem Kästchen lagen und welche er schon seit vielen Jahren besaß. Dann nahm er eine davon heraus, untersuchte die Ladung und legte die kleine Waffe auf den Tisch.

Schon mehrmals in der letzten Zeit waren Selbstmordgedanken an ihn herangeschlichen. Immer wieder jedoch hatte er sie mit der dem Menschen natürlichen Scheu vor diesem letzten Mittel zurückgewiesen. Nun war die Überzeugung da, daß er dieses Mittel anwenden müsse. Es war ja, wie Corona gesagt hatte: »aus mit ihm«. Und in der Tat: wer das erlebt hatte, was ihm heute widerfahren, der konnte, der durfte nicht länger atmen – durfte das Licht des neuen Tages nicht mehr schauen!

Und doch – warum nicht!? Mußte gerade er von hinnen gehen und denjenigen, die ihn so unsäglich elend gemacht, noch die Pfade ebnen? Konnte er denn nicht – wie es jeder andere an seiner Stelle täte – den Doktor zur Rechenschaft ziehen und ihn zum Zweikampfe fordern auf Leben und Tod? – Nein, dieser Gedanke war töricht, knabenhaft, nur gut für das Schlußkapitel eines seichten Romans. Er sah es ja im Geiste voraus, wie der Mann, der ihn so geringschätzte, eigentümlich lächeln und die Herausforderung, als mit seinen Anschauungen nicht im Einklange stehend, ablehnen würde – oder wenn er sie annahm, so streckte er auch – das stand fest – den Gegner beim ersten Schusse mit verächtlicher Gebärde in den Sand! Warum also dem verhaßten Feinde noch das Gefühl der Überlegenheit verdoppeln? Nur eines gäbe es – eines! Ihn ohne jede Erklärung wortlos niederzuschießen. Aber was dann? Die kurzsichtige, flach urteilende Welt würde den General als feigen Mörder verdammen – und das Andenken des Doktors mit der Aureole des Martyriums umgeben – – –

Immer tiefer empfand Brandenberg das vernichtende Bewußtsein seiner Ohnmacht. Ja, es war aus mit ihm – ganz aus! Nichts blieb ihm übrig, als zu sterben – und das sogleich, ehe noch jemand eine Ahnung hatte, warum!

Rasch ging er daran, seine Papiere zu vernichten, die nur für ihn selbst einigen Wert hatten und die er nicht gleichgültiger Einsicht oder entweihender Verachtung zurücklassen wollte. Nachdem er zu diesem Behufe die Fächer des Schreibtisches, eines nach dem andern, entleert und den Inhalt vor sich aufgehäuft hatte, stand er vor dem letzten, geräumigsten unwillkürlich still. Es enthielt ältere, zum Teil bedeutsame Schriftstücke, wie sie fast jeder sein Leben lang mit sich zu führen pflegt, obgleich das Auge nur selten, oft gar nicht mehr zu ihnen zurückkehrt. Auch Brandenberg hatte diese Blätter, die jetzt vor ihm lagen, schon lange nicht mehr entfaltet. Ein stechendes Weh durchfuhr seine Brust, als er so manches stolze, so manches rührende Merkzeichen seiner Vergangenheit ans Licht zog und mit widerstrebendem Auge betrachtete.

Ja, wie reich, wie schön, wie glücklich war sein Leben gewesen – und jetzt! – –

Je tiefer er griff, desto vergilbter wurden die Blätter, desto verblaßter die Schriftzüge. Er stieß auf das Offizierspatent, das ihm einst seine Zukunft erschlossen und ihn damals in einen Freudentaumel versetzt hatte; auf die Fortschrittszeugnisse, die er in der Militärakademie erhalten; auf Anerkennungs- und Belobungsschreiben aus seinen ersten Dienstjahren – auf Briefe, die mit farbigen Bändern in Päckchen gebunden waren und noch jetzt einen leisen Duft von sich gaben, wie die vertrockneten Blumen, welche dazwischen zum Vorschein kamen. Auch Briefe seiner längst verstorbenen Eltern fanden sich vor; häusliche Aufzeichnungen seiner Mutter und eine Reihe von Familienpapieren, denen sein eigener Taufschein beigelegt war. Ganz unten aber kamen verschiedene vom Alter gebräunte Dokumente mit brüchigen Bügen und seltsam verschnörkelten Schriftzügen in Sicht, die immer weiter in den Lauf der Zeiten zurückführten und Zeugnis gaben von dem rüstigen, unentwegten Lebensgange seiner Vorvorderen. Ja, alle diese Menschen, deren letzte Daseinsspuren er nun, eigentümlich durchschauert, in den Händen hielt, sie waren, trotz mancher harten Kämpfe und Schicksale, geehrt und von den Ihren geliebt worden bis an ihr seliges Ende. Er aber, der Nachgeborene, hatte sich selbst überlebt und stand nun da, einsam, ungeliebt, verachtet – und sollte eigentlich von Rechts wegen Wolle spinnen!

Hastig raffte er so viele Papiere, als er mit einem Male konnte, zusammen und schob sie in den Ofen, in dem noch von der letzten Feuerung einige Glutstückchen unter der Asche glimmten. Aber sie hatten nicht mehr die Kraft, den dichtgedrängten Wust zu entzünden, und Brandenberg mußte ein Reibholz zu Hilfe nehmen. Dennoch dauerte es lange, bis das Feuer um sich greifen wollte. Endlich schlug die Flamme gewaltsam empor, wobei zäher, weißlicher Rauch herausdrang und sich im Zimmer verbreitete. Brandenberg trat an ein Fenster und öffnete. Draußen war alles still und regungslos; nur eine scharfe Luft strich über das Glacis hin, und die Morgendämmerung durchwob schon geheimnisvoll die Nacht.

Brandenberg schauderte leicht zusammen. Er schloß das Fenster, nahm den Rest der Papiere auf, stieß ihn ins Feuer und harrte, indem er ab und zu von dem Schüreisen Gebrauch machte, bis der letzte Funke verglostet war – – –

Bald darauf erschütterte ein kurzer, scharfer Knall das Zimmer, der aber im Hause, wo alles im tiefen Schlafe lag, nicht vernommen wurde. Als der Diener am Morgen hereintrat, fand er seinen Herrn leblos auf dem Sofa sitzen, das Haupt zur Brust herabgesunken. Er hatte sich mit geübter, sicherer Hand eine Kugel ins Herz geschossen.

Ein Jahr später fand die Vermählung der verwitweten Freifrau von Brandenberg mit dem Manne statt, den sie liebte. Dieser hatte inzwischen wieder bedeutende Schritte nach vorwärts getan, und sein Ansehen wuchs auch ferner von Jahr zu Jahr. Nicht allein, daß er im Parlament immer mehr Boden gewann, auch alle volkswirtschaftlichen Vereine und Institute, die um jene Zeit so rasch und zahlreich ins Leben traten, stritten sich um den Vorzug, den gefeierten und umsichtigen Mann als Beirat oder geistigen Lenker zu gewinnen, so zwar, daß sein Einfluß, nach jeder Richtung hin, geradezu ins Unermeßliche stieg. Und als die Zeitereignisse neuerdings einen Umschlag herbeiführten, da saß er auf der Ministerbank, gegen welche er stets so stürmische Philippiken losgelassen. Doch seltsam, als er jetzt die berechtigten Hoffnungen, die man auf ihn setzte, erfüllen sollte, da schien der Geist des Gelingens, der ihn bis nun so unaufhaltsam emporgetragen, plötzlich von ihm gewichen zu sein. Nicht etwa, daß bei ihm, nachdem er das höchste seiner Ziele erreicht hatte, eine Abspannung eingetreten wäre oder daß er, wie mancher seiner Vorgänger, den vielgestaltigen Versuchungen, denen auch er in seiner jetzigen Stellung gewiß ausgesetzt war, erlegen und, ohne es eigentlich zu wollen, seinen Überzeugungen untreu geworden wäre. Er hielt vielmehr mit herbem Trotz und einer brüsken Entschiedenheit daran fest; da aber seine Entwürfe zum größten Teil fehlschlugen oder doch wenigstens im Sande verliefen, so verletzte er nach oben, während er nach unten enttäuschte, und sah sich eines Tages mit bitterer Erkenntnis von der Wandelbarkeit des Glückes ganz geräuschlos in das Privatleben zurückversetzt.

Nebenher jedoch war er ein reicher Mann geworden. Er hatte palastähnliche Häuser in allen neuen Stadtteilen bauen lassen; er besaß Fabriken, Landgüter und Villen; auch war ihm eine kleine Schar von Anhängern geblieben, die nach wie vor auf ihn schworen und behaupteten, seine eigentliche Zeit müsse erst kommen. Aber dies alles konnte die Wunden nicht heilen, die sein Ehrgeiz davongetragen, und als man ihm, mit sehr zweideutigen Nebenbemerkungen, auch noch die erworbenen Millionen zum Vorwurf gemacht hatte, war er von einer grimmigen Erbitterung erfüllt worden, die an seinem Marke zehrte und sich auch in seinem Äußeren erkennen ließ. Es erweckte eigentümliche Gedanken und Empfindungen, wenn man dem zwar noch immer aufrechten, aber doch sichtlich im Inneren geschädigten Manne während der letzten Jahre im Straßengewühl begegnete. Auffallend sorglos gekleidet, ging er meistens allein, blickte mit seinen scharfen Augen unruhig umher und stieß dabei mit einem starken Rohre gegen das Pflaster, als wollte er neue Verhältnisse aus dem Boden stampfen, die ihn wieder ans Ruder bringen könnten.

Corona ist noch lange eine schöne Frau geblieben, wenn auch die Jahre vorzeitige Fältchen in ihr Antlitz gekerbt hatten und um ihren Mund, wenn sie sich selbst überlassen war, ein schmerzlicher Zug zum Vorschein kam. Das konnte nicht anders sein. Hatte sie doch alle diese Wandlungen mit durchlebt und den glanzlosen Fall ihres Gatten, dem sie mit der ganzen Kraft ihrer unerschütterlichen Seele zugetan blieb, um so schmerzlicher nachempfunden, als sie fühlte und erkannte, wie wenig Ersatz gerade einem solchen Manne die Hand der Liebe zu bieten vermochte. Vielleicht waren ihr auch dunkle, vorwurfsvolle Stunden beschieden, wo ihr das edle, milde Antlitz des Generals wie strafend entgegenblickte. Aber auch nur vielleicht, denn starke Naturen haben in der Regel kein Gewissen. Jedenfalls hielt sie der Welt gegenüber eine stolze, ungebrochene Haltung aufrecht, und niemand hat auch nur den Hauch einer Klage über ihre Lippen kommen hören. Sie widmete sich ganz den beiden Kindern, die ihrer zweiten Ehe entsprossen waren und mittlerweile in fröhlicher Unbefangenheit herangewachsen sind. Der Sohn hat das schöne, scharfgeschnittene Antlitz, die dunklen Augen der Mutter, die Tochter, ein Jahr jünger, die kräftigen, etwas verquollenen Züge, den hellen, einst so leuchtenden Blick des Vaters. Die inneren Eigenschaften der Eltern aber haben sich auf beide gemeinsam vererbt, und so darf man nicht fürchten, daß sie zu jenen gehören, die da zu kurz kommen im Kampfe ums Dasein.