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Friedrich Rochlitz

Amtsbericht des Pfarrers zu Eichengrün

Vor mehreren Jahren, erzählte mir ein Freund, reisete ich durch Thüringen. Ein Ungewitter, das mich eines Abends überfiel, machte es mir unmöglich, das Städtchen zu erreichen, wo ich zu übernachten gedachte. Ich kam in das kleine Dorf Eichengrün. Der Gasthof war so unsauber, daß ich darin nicht bleiben konnte. Ich fragte nach dem Besitzer des Dorfs; er war abwesend. Ich ging ins Pfarrhaus. Ein etwa fünfzigjähriger Mann trat mir, blaß und kränklich, aber mit Wohlwollen und Freundlichkeit, entgegen. Ich klagte ihm meine Verlegenheit, und er nahm mich sogleich mit ins Zimmer, wo ich seine dreiundsiebenzigjährige Mutter am Spinnrocken fand.

Wir wurden bald näher bekannt. Kaum jemals haben Menschen so schnell mein Zutraun erweckt. Es wäre mir ein süßer Genuß gewesen, ihnen mein ganzes Innere vorzulegen, hätt' ich nur gewußt, was sie anfangen sollten. Sie hatten die Bedenklichkeit nicht und befanden sich darum nur desto besser. Abends vor dem Schlafengehen wußte ich schon ihre ganze Lebensgeschichte. Aus dieser ist es genug hier zu erwähnen, daß auf den guten Pfarrer die Achtung und Liebe der Gemeinde so wie dies Pfarramt nun schon ins dritte Glied fortgeerbt war. Mutter und Sohn lebten in der vollkommenen Traulichkeit, Gemütsruhe und Genüglichkeit, die man sonst nur hin und wieder an alten Eheleuten des gemeinen Bürgerstandes findet, die, einst durch Liebe früh und froh verbunden, viele Jahre lang Freud und Leid gemeinschaftlich getragen haben, darüber alt und grau geworden und nun wie zusammengewachsen sind.

Als ich abreisete, waren wir alle drei so bewegt, als wenn vieljährige Freunde scheiden, und die Alte nannte mich mehr als einmal ihren zweiten Sohn. Ich blickte noch lange aus dem Wagen über die üppig grünende Gegend hin nach dem alten, dürftigen Pfarrhause, und mir war, als würde meinem Leben etwas fehlen, wenn ich diese guten Menschen nicht wiedersähe.

Sieben Jahre waren verflossen. Ich hatte aus dem Pfarrhause nichts gesehen, nichts gehört. Da riet mir mein Arzt nach schwerer Krankheit, eine Zeitlang mich aller gewohnten Geschäfte und Verhältnisse zu entledigen, in angenehmer Gegend ganz der Natur und meiner Stärkung zu leben. Wohin nun? fragte ich mich. Nach Eichengrün! Ja, ja, nach Eichengrün! Ich schrieb dem Pastor. – »Wir erwarten Sie mit Freuden!« – Ein Rückfall in meine Krankheit hielt mich jedoch noch geraume Zeit auf. Endlich konnte ich mich aufmachen.

Je näher ich dem lieben Dörfchen kam, je drängender ward meine Sehnsucht; und als ich nun das rotgedeckte Haus zwischen den wohlbekannten Linden hindurchblicken sah, da wußt ich mich vor Freude kaum zu lassen. So fuhr ich in den Pfarrhof: Niemand kam mir entgegen. Ich klopfte an die Wohnstube: Niemand hieß mich eintreten. Ich öffnete – da saß die alte Mutter im düstersten Winkel des Zimmers, ganz allein, schwarz bekleidet, wachend in tiefe Träume versenkt. »Sie haben ihn begraben! Vorgestern haben sie ihn begraben!« Das war alles, was ich eine lange Weile von ihr vernahm. Sie wankte wie ein Schatten umher, Körper und Geist hatten gleichviel gelitten; sie war fast immer, wie wenn man eben einschlummern will.

Was tust du? sagte ich zu mir selbst, als ich allein war. Ich glaubte bemerkt zu haben, daß der guten Alten wirklich noch etwas von dem vormaligen Vertrauen zu mir geblieben wäre. Willst doch hierbleiben! entschloß ich mich. Der Gutsbesitzer nahm mich auf.

Die benachbarten Geistlichen meldeten sich nun, die Amtsgeschäfte zu verrichten. Ich fand eines Tages, daß meine Alte das Studierstübchen des Verstorbenen für sie in Ordnung bringen wollte. Hätte sie dies Geschäft allein zustande bringen müssen – wahrhaftig, sie wäre darüber gestorben. Bei jeder Kleinigkeit, die sie aus der vieljährigen Ordnung rücken sollte, überfiel sie der Schmerz mit neuer Macht. Über jedem beschriebenen Blatte verlor sie sich in düsteres Sinnen; jedes Kleidungsstück küßte sie und könnte es vor Zittern kaum wegtragen. Ich bat sie, mir das Ausräumen zu überlassen, und sie ließ es endlich geschehen.

Besonders war noch der Schreibschrank einzurichten, in welchem sich Briefe und andere Papiere fanden. Ich packte, die gute Mutter zu schonen, alle Zettelchen sorgfältig zusammen; ich legte sie wie Heiligtümer sorgsam in den Korb, den sie sich zu Füßen gestellt hatte. Schon glaubte ich, damit zustande zu sein, als ich ein verborgenes Schubkästchen entdeckte und, da ich es aufzog, zwei versiegelte Pakete gewahr ward. Das eine war überschrieben: »Mein Testament, im Fall ich meine gute Mutter überleben sollte.« Ich legte dies, als nunmehr unnütz und nur neue Schmerzen erregend, unbemerkt unter die andern Papiere. Das zweite hatte die Aufschrift: »Wichtiger Amtsbrief an Seine Hochwürden, den Herrn Superintendenten, in Copia, zu eröffnen im Fall, daß zum Besten etwaniger Anverwandten der Maria Müllerin etwas getan werden könnte.« Die Schrift schien nicht von derselben Hand.

Dies Paket befremdete mich. Ich steckte es zu mir, um in günstiger Zeit die gute Alte darum zu befragen. Dies geschah den Abend. Sie wußte nichts davon, besann sich auch auf keine Maria Müllerin. Jetzt hielt sie die Aufschrift noch einmal und näher ans Licht: »Ach, meines seligen Herrn Hand!« rief sie nun. Sie meinte ihren Mann. Wir öffneten, wir fanden – was ich hier, fast mit diplomatischer Treue, abdrucken lasse. Auf der Rückseite des Umschlags stand noch: »Geschrieben und versiegelt am St. Gebhardtstage, dem zwölften Februar 1761.«

Hochwürdiger, hochgelahrter, insbesonders hochzuehrender Herr Superintendent!

Der Gott aller Gnaden hat an mir, seinem unwürdigen Knecht, viel Wohltat bewiesen. Euer Hochwohlgeboren erinnern sich, daß er mich vor geraumer Zeit sogar mein Amtsjubelfest hat begehen lassen. Hätte es seiner Güte und Weisheit gefallen, mich an diesem schönen Tage abzurufen – ich hätte mit Freuden meinem triumphierenden Erlöser nachgesprochen: Es ist vollbracht! und wäre zugleich dem schwersten aller meiner erlebten Amtsfälle entgangen, als worüber ich mich für verbunden erachte, Ihnen treuen Bericht zu erstatten und mir Ihren christfreundlichen Rat und amtlichen Beistand zu erbitten.

Unser Dörfchen gehörte dem Herrn Rittmeister Edlen von U. Er war ein stattlicher Soldat, wohlangesehen bei Vornehmen und Geringen; ja, selbst unser durchlauchtigster Landesvater soll ihm seine Gnade zugewendet haben. Unser Dörfchen hatte er seit seinen Jugendtagen nicht gesehen. Verwichenen Frühling kam er hieher, und wir empfingen ihn freudig mit allerlei kleinen Festlichkeiten, nach unserm Vermögen. Ich sah ihn hier zum ersten Male als Mann. Er hatte ein noch fast jugendliches Aussehn, war aber schon eilf Jahre verheiratet. Kinder hatte er nicht. Aus letzterm erklärte ich mir, daß er gegen seine Gemahlin so kaltgesinnet schien, und ich bedauerte beide in meinem Herzen, als es sich zeigte, wie sie gar nicht glücklich miteinander lebten. Die gnädige Frau kam nämlich etwa sechs Wochen später hier an. Sie stand mit ihrem Gemahl fast in gleichen Jahren, war aber annoch eine sehr schöne Dame. Vornehmlich trug sie einen Ausdruck von stiller Wehmut im Gesicht, der jedes Herz ihr zuneigte, wobei aber eins höchst sonderbar war. Ich meine, wenn man sich ihr mehr näherte, so entdeckte man einen gewissen, mir unerklärlichen und (daß ich so sage) fast furchtbaren Zug über ihren Augen, so daß man sich wie mit unsichtbarer Hand gewaltsam von ihr weggedrängt fühlte, wenn sich auch noch so sehr das Herz vorher ihr zugeneigt hatte. So wurde sie denn, bei aller Gütigkeit gegen jedermann, von allen still gemieden, so dies nur mit Schonung und einem gewissen Anstande geschehen konnte. Es wußte wohl niemand, warum er sie eigentlich mied.

Zu Anfang der zweiten Woche ihres Hierseins trug man sich im Dorf mit einer seltsamen Geschichte, die, wenn ich alles weglasse, was (wie es zu geschehen pflegt) von den Erzählern hinzugefabelt worden, sich auf folgende Facta zurückführen ließ:

Die gnädige Frau war mit der Kammerjungfer ins Feld spazierengegangen und müde geworden. Der Weg führte sie eben an der Kirchhofmauer hin. »Komm, wir wollen da ausruhen!« sagte sie zur Jungfer. Sie traten ein, und es fiel ihnen der große, schöne Apfelbaum zur Linken am Eingange ins Auge. Die Dame setzte sich auf das kleine, grüne Grab hart an der Mauer unter diesen Baum, und die Jungfer tritt umher und lieset aus Langerweile Grabinschriften. Endlich fällt der gnädigen Frau der weiße Stein auf, der in der Mauer befestiget ist und dem sie bisher den Rücken zugewendet hatte. Er gehört nämlich zu dem Grabe, worauf sie sich niedergelassen. Sie lieset, daß allhier in Gott ruhet das unglückliche Knäblein, dem seine eigene Mutter, Maria Müllerin, den Tod gegeben hatte. Euer Hochwürden werden sich um so mehr der schrecklichen Geschichte sowie des an dieser Maria vollzogenen Bluturteils entsinnen, da beides bei Ihrem Amtsantritt noch in jedermanns Munde gewesen sein muß.

Sowie die Dame den Namen und die Todesart des Knäbleins lieset, schreiet sie laut auf und will zu Boden sinken. Die Jungfer ist aber kaum herbeigeeilt, als sie sich wieder zusammenrafft und über zu lebhafte Phantasie, zu reizbare Nerven und eine traurige Schreckhaftigkeit klagt. »Du wirst dir das nicht denken können«, sagte sie; »aber wenn ich von etwas Schauerlichem überrascht werde, wär's auch nur in einer Erzählung, so steht es vor mir in all seiner furchtbaren Lebendigkeit, und ich rede und tue dann oftmals törichte Dinge, weil mein Bewußtsein auf eine Weile dahin ist.«

Sie forschte nun, ob sie nicht auch jetzt seltsam gesprochen oder befremdlich sich benommen hätte, und als ihr von der Jungfer mehrmals versichert worden, das sei nicht geschehen, so scherzte sie über sich selbst und nannte sich eine gefeiete Gespensterseherin und dergleichen. »Mein Mann«, fuhr sie dann fort, »kann das nicht leiden; er schilt es Verwöhnung und Ziererei. Sage drum niemand von dem, was mir hier begegnet ist, damit er's nicht erfahre. Und daß dir selbst die Versuchung zu plaudern erspart werde, so erwähne den Kirchhof überhaupt nicht, auch gegen mich niemals. Wir haben genug von Lebenden zu sprechen – was bedürfen wir der Toten!«

Wie es aber zu geschehen pflegt: die Jungfer hatte dennoch geplaudert, und so war die Erzählung fast vor jedermann gekommen, nur nicht vor den gnädigen Herrn. –

Den Tag nach jenem Vorfall (von welchem ich aber noch nichts wußte) kam ich zufällig aufs Schloß, als der Herr Rittmeister in einem Wortwechsel mit seiner Gemahlin ihr vorwarf, sie wolle nur aus Laune schon wieder in die Stadt. Zwar solle sie von ihm nicht abgehalten werden, aber ebensowenig werden ihr Eigensinn ihn zur Änderung seines Entschlusses bewegen, bis zum Spätherbst hier zu verweilen. Sie entgegnete nichts. Da ich den Herrn nicht wenig unmutig, wohl gar (wenn ich so sagen darf) entrüstet sähe, so redete ich ihr beiseite noch mehr zu, ihm nachzugeben und zu bleiben. Sie versprach es.

Nach zweien Tagen überraschte mich früh die Nachricht, unsere gnädige Frau sei plötzlich erkranket. Ich eilte hinüber und fand sie bleich, entstellt und finster schweigend, an Körper und Geist merkwürdig angegriffen. Niemand wußte, was ihr begegnet sei. Nur das hatte man bemerkt, daß sie den Abend zwar sehr still gewesen, sich aber gesund schlafen gelegt, jedoch plötzlich Glock zwölf Uhr aufs heftigste in die Klingel gerissen habe. Die Jungfer, die herzugeeilet, hatte sie verstört auf dem Boden des Zimmers gefunden. Dennoch hatte sie sich sogleich gefaßt. »Ich habe furchtbar geträumt«, hatte sie gesagt. »Ich wollte mich von meinen Phantasien ermuntern und aufstehen, da hat mich's überfallen, wahrscheinlich von der Erkältung. Jetzt ist's vorüber; aber bleib bei mir!«

Die Jungfer hatte nun immerfort sprechen oder lesen müssen, die Kranke aber das Ansehn einer Person behalten, der vor etwas immerfort unüberwindlich grauset. Sie hatte sich am Morgen gegen jedermann über ihr Vermögen stark gestellet, bis sie, bei dem Versuche, in Gesellschaft ihres Gemahls auszugehen, auf der Treppe ohnmächtig darniedergesunken war. Man hatte sie zu Bett gebracht; sie hatte immer noch mit Gewalt ruhig und stark scheinen wollen, es war ihr aber nicht mehr möglich gewesen.

So fand ich sie nun. Der Arzt war eben da und schien bedenklich. Sie sprach diesen Tag wenig, bezeigte aber viel Liebe zu ihrem Gemahl, der denn auch nicht ohne Teilnahme um sie beschäftigt war. Mit dem Abend traten jene Schauder, trat jenes Grauen mit neuer Gewalt wieder ein. Sie bezwang sich jedoch und ließ nicht ab, bis ihr Gemahl sich niederzulegen versprochen und entfernet hatte. Nun setzte sie sich im Bette aufrecht, ließ viele Lichter anbrennen, vier Personen bei sich wachen und immerfort lesen oder sprechen. Einige Male wollte sie der Schlaf überfallen – da hielt denn der Lesende inne; aber sie ermunterte sich gewaltsam, befahl fortzufahren und trieb das so, bis es am Morgen laut wurde auf dem Hofe und durch das Dorf. »Nun laßt mich schlafen«, sagte sie; »und nur eins bleibe hier!«

Sie legte sich zurecht und schlief einige Stunden. Aber ihre Kräfte hatten, im Verhältnis zum gestrigen Tage, so schnell abgenommen, daß der Arzt seine Verlegenheit nicht mehr verbergen konnte. Sie erriet ihn. »Ich soll sterben«, sagte sie. »Ich bin vierunddreißig Jahr; ich hätte wohl gern länger gelebt, doch – ich widerstrebe nicht!«

Sie bat, man möchte die Gefahr vor ihrem Gemahl verbergen, aber mich rufen. Ich kam. Sie begann, als wir allein waren, eine sehr schöne Betrachtung über die Wirkung des heiligen Abendmahls. »Der Mensch hat Stunden«, sagte sie, »wo er nicht nur wissen, sondern innigst empfinden – ja, ich möchte sagen, sinnlich ergreifen und festhalten will, daß der Herr die Missetat nicht zurechnet. Ich kann mir's denken, daß Menschen in solchen Stunden Blut – ich meine Opferblut – fließen sehen mußten!«

Ich gestehe Euer Hochwürden, daß mich dieser letzte Gedanke eben aus dem Munde einer jugendlichen weltgebildeten Dame sehr befremdete. Ehe ich aber etwas erwidern konnte, setzte sie mit steigender Heftigkeit hinzu: »Guter, alter Vater, war's nicht in solchen Stunden, daß Menschen selbst sich bis zu Tode marterten oder, wie dort stehet, die Kinder, die lieben, schuldlosen Kinder, dem glühenden Ungeheuer in die Arme legten? O das ist sehr natürlich und gar nicht zu verwundern!« Und indem sie dies hastig aussprach, trat jener furchtbare Zug über ihrem Auge sehr stark hervor, so daß ein geheimes Grauen mich anwandelte und durch mein ganzes Wesen bebte. Ich fassete mich aber, nahm ihre Hand und erwiderte beruhigend: »Nun, so empfangen Sie das heilige Sakrament, dies christliche Zeichen des Bundes, des ewig fließenden Opferbluts, bei welchem der Herr ›die Missetat bedecket‹, wenn nur ›in dem Geiste kein Falsch ist‹, wie die Schrift sagt. Indem Sie es empfangen, so empfinden Sie, daß er es tut, und lobpreisen ihn, den Erbarmenden, nicht nur, weil er's tut, sondern weil er auch im Sohne veranstaltet hat, menschliche Schwäche und menschliche Sehnsucht davon zu überführen.«

Nach langem Stillschweigen sagte sie sehr wehmütig: »Es sind ...«

Sie schien die genaue Zahl angeben zu wollen, unterbrach sich aber und wiederholte dann unbestimmter: »Es sind, leider, mehrere Jahre, daß ich nicht teilgenommen.«

»Sie haben sich dann selbst eine große Wohltat entzogen«, versetzte ich. »Nun, vielleicht haben Sie deren damals weniger bedurft als jetzt; sonst hätte das Herz das Seinige dringender gefordert. Jetzt aber macht es diese Anforderungen: So wollen Sie ihm denn nicht vorenthalten, was es beruhigen und erquicken kann!«

Ihre Miene schien sich ein wenig aufzuheitern, und sie wünschte zu kommunizieren, doch ganz allein, ohne alle anwesende Zeugen. Ich veranstaltete die heilige Handlung. Indem ich den Tisch bekleidet, die Gefäße geordnet und die Anwesenden entfernt hatte, wurde sie wieder unruhiger. »Guter Vater«, sagte sie, »haben Sie wohl gehört, daß Menschen von schwachen Nerven und allzu reizbarer Phantasie in Stunden der erhöheten Empfindung das Bewußtsein ihrer Person verlieren; ich meine, sich für andere halten, sich in ganz fremden Verhältnissen glauben können und nun wie solch andere sprechen und handeln? Daß sie sogar behaupten können, sie wären immer in solchen Verhältnissen gewesen? Vielleicht in sehr traurigen, wohl gar schrecklichen Verhältnissen?«

Ich gestehe, mir ward sehr seltsam bei diesen Worten. »Wenn ich auch nicht davon gehört habe«, sagte ich, »so kann ich mir das doch recht gut denken.«

»Es gehört unter meine Schwachheiten«, fuhr sie fort, »daß ich mich immer vor einem solchen Zustande fürchte. Selbst diese heilige Handlung könnte mein Inneres so aufregen, so spannen und verwirren. – Sehen Sie, guter Vater, ich könnte in dieser Geistesverwirrung Einbildungen haben, könnte Dinge aussagen – Dinge, die Sie erschrecken müßten, die wohl gar seltsame Gedanken bei Ihnen erzeugen würden ...«

»Da sei Gott vor«, unterbrach ich sie, »daß ein solcher Zustand etwas anderes als ein aufrichtiges Beileid und die demütige Empfehlung in den Beistand des Allerhöchsten bei mir erzeugen sollte! Der Mensch ist dann, denk' ich, im Zustande des Träumens ...«

»Nicht wahr, alter Vater?« fiel sie hastig ein. »Oh, Sie sehen es recht! So ist es! Ja ja, so ist es!«

»Nicht anders«, fuhr ich erschüttert fort. »Ich – ich selber, der ich wahrlich ein Kind nie wissentlich gekränkt habe, könnte ja träumen, ich bringe es um! Könnte im Schlafe wohl gar rufen: ›Ich bin ein Mörder –‹«

In der Spannung, worin ich war, mochte mich selbst dies Bild wider Wissen und Willen entzündet und dadurch sie so sehr ergriffen haben. Sie fassete meinen Arm mit beiden Händen fest und pressete ihn an ihre Brust, indem sie mir lange starr und durchdringend in die Augen sah. Ich besann mich. Unzufrieden mit meiner Übereilung, brach ich ab und bat sie nur noch, einem redlichen Siebenziger zu vertrauen. Hierauf machte ich den Übergang, sie zur Beichte einzuladen.

»Gott sei mir Sünderin gnädig!« sagte sie mit Inbrunst dreimal und sank weinend auf die Kissen zurück. Ich redete nun sanft zu ihr aus dem Evangelio, und mein Herz wurde sehr erweicht. Indem ich aber endlich leise die Hand, segnend und Vergebung von Gott verkündigend, auf ihre Stirn legen wollte, richtete sie sich mit starr vor sich hin blickenden Augen langsam zum Sitzen auf, streckte, meine segnende Hand abwehrend, die Arme und Hände gerade aus, stieß mehrmals aus dem Tiefsten der Brust stöhnende Seufzer aus, die mir das Herz zerreißen wollten, und legte sich dann wieder wie erstarret zurück, den stieren Blick behaltend, kein Glied, kein Muskel bewegend. Ich sank in meine Knie vor dem Bett, wollte zu ihr sprechen, vermochte aber nichts zu sagen als Davids Worte: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Sei mir gnädig nach deiner Güte und verzeihe mir auch die verborgenen Fehler!«

Ich weiß nicht, ob sie mich vernommen hat. Sie lag noch lange schweigend und unbeweglich. Endlich warf sie die Blicke wieder umher, wie einer, der aus schweren Träumen erwacht, und fragte ängstlich: »Was hab' ich gesagt? Was hab' ich getan?«

Ich gab ihr nichts Bestimmtes an, sondern suchte sie nur zu beruhigen. Ihr Blick fiel auf den bekleideten Tisch mit den heiligen Gefäßen, und eine tiefe Wehmut ergriff sie. »Ich fühle mich jetzt zu schwach, selbst zur Andacht«, sagte sie nach einer Weile.

»Dem Allwissenden ist beten wollen auch beten!« erwiderte ich. »Und seine Kraft ist in den Schwachen mächtig!«

Sie drückte meine Hand und gab mir durch Zeichen zu verstehen, sie wünsche nun das Sakrament zu empfangen. Ich reichte es ihr. Der Herr bestätigte mein Vertrauen: Viele Tränen flossen aus ihren Augen, und ich konnte bemerken, wie endlich ihr innerer Seelenkampf sich in demütige Ergebung und milde Sehnsucht auflösete.

Jetzo empfand ich aber erst, wie sehr ich selbst in dieser Stunde angegriffen worden war. Denn plötzlich verließ mich die Kraft so, daß ich wankete und glaubte, mich entfernen zu müssen. Ich gestand es ihr. Sie drückte mir nochmals die Hand und sagte leise: »Ich vertraue dem redlichen Siebenziger!«

»Das können Sie auch!« sagte ich und ging.

Am Abend kam der Herr Rittmeister zu mir. Er schien über die Krankheit seiner Gemahlin sehr unruhig. Aber alles, was bei dieser Krankheit außerordentlich war, schien ihm gänzlich unbekannt. Ich erklärte mir das aus der Entfernung, in welcher beide selbst dann leben, wenn sie, wie hier, an einem Orte beisammen sind. Ich ließ ihm von allem Vorgefallenen nichts wissen.

Jetzt erfuhr ich nun von jenem merkwürdigen Geschehen auf dem Kirchhofe, womit die Krankheit angefangen zu haben scheint. Und ich darf es nicht leugnen, daß furchtbare Gedanken in mir aufstiegen, die ich zwar redlich bekämpfte, aber nimmermehr ganz unterdrücken konnte –

Ich sah die gnädige Frau den folgenden Morgen und hernach noch eilf Tage, fand sie aber niemals in einem Zustande des vollen Bewußtseins. Sie lag entweder in fieberhaften, meistens wilden und schreckhaften Phantasien oder in einer Erschöpfung, die an Ohnmacht grenzte. Jene Maria Müllerin und deren Kind waren die Bilder, die ihr fast immerfort vorschwebten und mit denen sie sich unbeschreiblich quälte. Bald bildete sie sich ein, vor dieser Müllerin auf den Knien zu liegen, und hob dann mit heißen Tränen die gefalteten Hände zu ihr empor, Vergebung flehend »für ihren Raub« – welches Ausdrucks sie sich immer bediente. Bald sah sie sich mit dem Kind zusammen, was noch weit schrecklicher war, so daß sie sich zum Beispiel im Sarge erblickte, umgeben von weinenden Freunden, die sie begraben wollten, und die heiligen Engel und die Schatten ihrer Eltern herabkamen, ihre Seele zu Gott zu führen, und nun immer das Kind blutig aus seinem Grabe heraufstieg und vor sie trat, so daß Engel und Menschen schaudernd vor ihr flohen – und was dergleichen wahrhaft entsetzliche Vorstellungen mehr waren. Alles Zureden war dann vergebens; sie verstand niemand.

Noch eins darf ich nicht vergessen! Ich war gegenwärtig, als ihr Herr Gemahl jene Maria und ihr Kind zum ersten Mal von ihr erwähnt hörte. Es machte einen gewaltigen Eindruck auf ihn. Anfangs erschrak er nur; hernach befiel ihn aber ein solches Grauen, daß er sich entfernen mußte und von nun an seine Gemahlin nur sah, wenn sie in jener Ermattung still dalag. Der Arzt soll es dem Herrn so verordnet haben.

Den eilften Tag erwachte die unglückliche Kranke zum ersten Male wieder aus dem ohnmächtigen Zustande mit vollem Bewußtsein, wie es mir wenigstens schien. Sie erkannte uns alle und fragte freundlich: »Um welche Zeit ist es?« Ich ging zu ihr und sagte, es sei sechs vorbei. Sie erwiderte mir leise: »So geht die Sonne bald unter. Dann treten schwarze Anschläge in den Herzen der Menschen auf, und die Bösen schleichen herzu und sagen: ›Wir wollen dir schaffen »deinen Raub«!‹ Nicht wahr, da ist's kein Wunder, wenn die armen Menschen fallen? Es leuchtet ihnen ja keine Sonne mehr!« – »Aber der Herr ist ihnen Sonne und Schild!« antwortete ich mit dem Psalmisten. Sie ließ hier meine Hand aus der ihrigen fallen, winkte mir zu schweigen, da ich weitersprechen wollte, und legte sich zurück, wo sie denn entschlummerte, um in dieser Zeitlichkeit nicht wieder zu erwachen.

Der Herr Rittmeister ließ sich während und nach dieser Zeit nicht sprechen, schien sehr erschüttert und nachdenklich, teilte am Begräbnistage viele Almosen aus und machte auf ewige Zeiten das Gestift, daß alljährlich an diesem Tage zwei sittsame Mädchen des Dorfs reichlich ausgestattet werden sollten. Gleich darauf reisete er ab, wurde, weil der Siebenjährige Krieg ausbrach, zur Armee berufen und blieb bei der ersten Expedition gegen die einfallenden Preußen im Jahre 1756.

Ich hatte seither fast keinen Tag Ruhe vor dem, was ich gesehen hatte, und vor dem, was sich mir nun, wiewohl dunkel, aus der Geschichte jener Maria Müllerin vergegenwärtigte. Jede neue Forschung über das Schicksal dieser Unglücklichen vermehrte mein Schrecken und meine Ängstlichkeit.

*

Maria war als acht- bis neunjähriges Kind mit ihrer Mutter und zwei etwas älteren Brüdern bettelnd in diese Gegend gekommen. Die Mutter war fünf Stunden von hier, auf einem Gute der Frau von U., der Mutter unseres Herrn Rittmeisters, erkranket und verstorben. Die Dame hatte das Mädchen wegen angenehmer Gestalt und guter Anlagen zu sich genommen, die Brüder aber bei ehrlichen Bauersleuten untergebracht. Diese haben auch hernach als ehrbare Nachbarn ihr Leben geführt.

Maria wuchs heran und wurde ein feines und geschicktes, in reifern Jahren auch ein schönes Kind, das sich überall Liebe erwarb. Herr von U. besuchte nun seine Frau Mutter aus der Garnison und soll schon damals der Maria hart nachgestellt haben. Als aber nach anderthalb Jahren die Frau von U. starb und der Herr Sohn das Gut übernahm, wurde sein sträfliches, wiewohl vergebliches Bemühen nur allzu offenbar. So schuldlos die Müllerin geblieben war, so konnte sie doch dem bösen Leumund nicht entgehen. Teils deshalb, teils weil sie endlich eine heftige Zuneigung gegen den gefährlichen Mann zu spüren anfing, entfloh sie heimlich und wendete sich an ihre Brüder.

Die Brüder und deren Frauen, schon lange voll bösen Verdachts gegen sie, verbargen sie zwar, solange der Herr von U. nach ihrem Aufenthalte forschte; als er sich aber nach einiger Zeit ganz aus der Gegend wegbegab, hielten die Schwägerinnen die Schwester gar übel, und diese suchte Zuflucht bei einer alten, ihr bekannten Witwe in diesem meinem Dörfchen. Hier lebte sie still und eingezogen, nährte sich von feiner Arbeit, und jedermann betrachtete sie mit Wohlgefallen, denn sie war bescheiden, still und sittsam, wie sie wohl auch die Schönste im ganzen Dorfe war.

Der Herr von U. hatte indessen eine Reise nach Frankreich gemacht und war daselbst bis ins zweite Jahr verweilet. Auf der Rückreise hatte er die Tochter des Generals W. kennengelernt, und diese war von dem blühenden jungen Herrn heftig eingenommen worden. Sie war schön und reich, ihr Vater vermochte viel am Hofe: Schnell heiratete der Herr von U. das Fräulein, ohne Liebe zu ihr zu empfinden.

Die jungen Eheleute hatten eine Zeitlang auf jenem zweiten Gute gelebt, und die Frau von U. bemerkte den Kaltsinn ihres Gemahls nur allzubald. Sie war sehr heftig und leidenschaftlich in allen ihren Neigungen, mochte auch bei ihrer Erziehung am Hofe nicht die besten Grundsätze eingesogen haben. Es kam zu sehr anstößigen Vorfällen; und unglücklicherweise mußte ihr eben damals jene frühere Neigung ihres Gemahls gegen oftgenannte Müllerin bekannt werden.

Vielleicht erinnerten die bitteren Anspielungen und Vorwürfe, die die gnädige Frau ihrem Gemahl nur allzuoft zu hören gab, diesen erst wieder lebhafter an die Müllerin. Wenigstens läßt sich wohl annehmen, daß, je verächtlicher sie sich über Marien äußerte, desto mehr im Herzen des Gemahls sie selbst verlieren mußte, jene aber, die Maria, nur um so mehr gewinnen. So entstand allmählich von Seiten des Herrn Rittmeisters eine gewisse kalte – vielleicht könnte ich sagen – verachtende Härte gegen seine Gemahlin, nach welcher er ihren Vorwürfen nicht mehr antwortete, sondern ihnen nur bedauernde oder höhnische Gleichgültigkeit entgegensetzte – wodurch sie, ihrem heftigen Charakter gemäß, weit mehr gedrückt und erbittert ward als vormals selbst von lebhaften Erwiderungen. Wenn sie nun auch in bessern Stunden seine Achtung und sein Wohlwollen auf guten Wegen wiederzugewinnen strebte, so wich er ihr doch dann in herabsetzender Weise aus. Und konnte er zuweilen dennoch nicht ungerührt bleiben, so entfernte er sich mit dem Vorwurf, sie gebe ihm keine Kinder.

Wunderbar aber, doch keineswegs ohne Beispiel scheint es mir, daß ihre Liebe zu ihrem Gemahl durch seine Härte nur noch heftiger, ja bis zur Krankheit entzündet ward. Und da mußte ihr dieser letztangeführte Vorwurf (besonders weil sie vielen Stolz besaß) vollends ganz unerträglich werden. Sie überließ sich daher einer Leidenschaftlichkeit und Äußerungen derselben, die sie ihrem Gemahl nun sogar widrig machten –

Je qualvoller dieses heillose Verhältnis war und je sorgfältiger es der Welt verborgen werden mußte, desto dringender erwachte im Herrn Rittmeister die Sehnsucht nach einer vertrauten Seele, vor welcher er zuweilen sein gepreßtes Herz erleichtern und seinen verhärteten Sinn mild auflösen könnte. Je bestimmter sich's nun zeigte, daß seine und seiner Gemahlin Sinnes- und Empfindungsart sich nie in Liebe vereinigen könne, desto lauter sprach der Drang nach einem Wesen, wo dies geschehen könnte, in seinem Innern. Beides zog ihn denn mit verdoppelter Macht zu unsrer Maria, deren Aufenthalt er endlich erfahren, seiner Gemahlin aber auf die feinste Weise glaublich zu machen gewußt hatte, sie sei ganz aus der Gegend entfernet – welches letztere ihm um so mehr gelingen konnte, da er nun, wahrscheinlich nicht ohne Zutun der guten Maria, jener, der Gemahlin, in seinem Hause weit mehr Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Güte bewies.

Die arme Maria aber ward von dem grausamen Manne aufgeopfert. Sie wurde schwanger. Krankheit hinderte sie, sich zu entfernen. Sie verlangte nichts, als daß der Herr von U. sie nun verlassen möchte, seinen Ruf und seine Gemahlin zu schonen. Sie ließ nicht ab, bis er das versprach und auch, wenigstens eine Zeitlang, hielt.

Maria genas von einem Knaben. Sie unterwarf sich willig allen Büßungen der Kirchenordnung. Sie ertrug still, daß das Dorf sie schmähete, ihre Gefreunden sie verließen. Aber kein Mensch erfuhr den Vater des Kindes. Gleichwohl hatten Mutmaßungen nicht unterbleiben können, und diese wurden nun der Frau von U. hinterbracht, welche sie bald bestätigt fand. Sie verdoppelte, doch nur auf kurze Zeit, ihre Liebkosungen gegen den Gemahl. Da sie aber nur Schonung und Gefälligkeit bei ihm fand, so schien sie sich in Verachtung gar nicht mehr um ihn und jene geheime Verbindung zu kümmern, zog sich von allen Gesellschaften und Lustbarkeiten zurück, ging stundenlang ganz allein im Walde umher und zeigte gegen jedermann einen kalten Haß, ja zuweilen eine so grausame Härte, daß sie die Leiden anderer mit wahrem Genuß forschend beobachtete. Ich könnte davon manch widerwärtig auffallendes Beispiel erzählen. Nur gegen ein einziges Geschöpf hatte sie sich über jene Verhältnisse insgeheim erklärt, und das war die Mutter des Jägers – ein altes, grundböses Weib, das in der ganzen Gegend gefürchtet ward und auch im Rufe geheimer Zauberkünste stand. Diese Vertraulichkeit ist jedoch erst spät, nachdem nicht nur dies Weib, sondern auch die Maria verstorben war, ruchbar geworden.

Nach einigen Monaten drang die Frau von U. unablässig in ihren Gemahl, er möchte sie auf einige Zeit zu ihren Eltern nach der Residenz bringen, und er, der sein geheimes Unrecht und auch wohl wahres Mitleid gegen seine Gemahlin fühlte, schlug es ihr nicht ab. Früh mit Tages Anbruch sollte die Reise vor sich gehen und ging auch wirklich vor sich.

Den Abend vorher aber war Maria von einer kaum erträglichen Unruhe im Blut und einer großen Beängstigung im Gemüt übermächtiget worden, die sie auch nicht verbergen konnte. Die ehrliche Witwe, bei welcher sie wohnte, hatte darum beschlossen, weil Maria nicht zum Schlafe zu bringen war, mit ihr aufzubleiben. Beide hatten in der Kammer das vollkommen gesunde Kind in den Schlaf gebetet, waren dann in die Stube zurückgegangen. Die Alte hatte sich schwatzend an den Spinnrocken gesetzt, die Maria aber war, in ihrer Unruhe und Beängstigung, auf und ab gegangen –

Hier wage ich nicht selbst fortzuerzählen, indem sich, wider mein Wissen und Willen, meine eigenen Gedanken einmischen könnten, was ich doch durchaus vermeiden möchte. Ich lasse also die Akten sprechen und beteure nur noch Euer Hochwürden vor Gott und meinem Gewissen, daß ich, was bisher berichtet worden, mit größter Sorgfalt erkundet und in stetem Bewußtsein der Gegenwart meines Richters, vor den ich alter Mann leicht noch in dieser Stunde gerufen werden könnte, niedergeschrieben habe.

*

Fol. I No. 3 Lit. A Maria Müllerin hat gleich am Morgen im ersten Verhör ausgesagt, wie sie nebst ihrer Wirtin, der Elisabeth Heynin, gegen Mitternacht plötzlich vom Schlafe so hart seien überfallen worden, daß sie, ohngeachtet der Beängstigung ihrer Seele und der Bemühung der Elisabeth, wach zu bleiben, sich beide nicht munter erhalten können, sondern wie trunken auf die Betten sich haben niederlassen müssen –

Den folgenden Morgen war es schon hoch am Tage, als weder Laden noch Tür geöffnet und die Nachbarschaft dadurch besorgt gemacht wurde. Bei deshalb ergangener Anzeige und nachheriger Eröffnung durch die wohllöblichen Gerichten zeigte sich aber alles in Ordnung, und die beiden Weiber fand man noch auf den Betten, so daß sie sich eben erst mühsam ermunterten. Das Knäblein aber lag an der Seite der Mutter verschieden und mit Zeichen eines gewaltsamen, doch nicht blutigen Todes. Wiewohl nun eines jeden erster Gedanke gewesen, daß die Mutter im Taumel des Schlafs ihr Kind erdrückt haben möge, so haben doch die genaue Ansicht und nachherige gerichtliche Untersuchung und Sektion des Herrn Physici (siehe Beilage No. 1) unwidersprechlich dargetan, daß das Kind nicht erdrückt, sondern durch Anwendung eines dreischneidig geschliffenen kleinen Stiletts, welches ihm unmittelbar ins Herz gesenkt und nach dem ersten Verhör im Stroh des Bettes der Mutter verborgen gefunden worden, ums Leben gebracht sei. Wobei nur das noch befremdlich geblieben, daß, nach Aussage des Herrn Physici, das Kind viel Blut verloren habe, von diesem aber, ohngeachtet aller Nachforschungen, keine Spur zu entdecken gewesen.

Fol. I No. 3 Lit. C Es sind die Türen und Fenster wohlverwahret befunden, auch sonst durchaus keine erweisliche Spuren von der Gegenwart irgendeines Dritten entdeckt worden. Die alte Elisabeth ist beim Anblick des toten Kindes darniedergesunken und hernach zwar zum Leben, aber nicht zum Bewußtsein zurückgebracht worden, in welcher Bewußtlosigkeit sie auch den zweiten Tag verstorben ist.

Fol. III No. 1-3 Es hat die besagte Müllerin in allen Verhören eine gänzliche Unwissenheit an allem, was mit dem Kinde vorgegangen, wie auch von dem bei ihr gefundenen Stilett, bezeiget und ist dabei nur oft in großes Wehklagen über das Schicksal des Kindes, nicht über ihr eigenes, ausgebrochen. Ferner hat sie, auf tiefere Apregung ihres Gewissens, sich großer Schuld vor Gott angeklagt, aber jene Mordtat selbst aufs hartnäckigste geleugnet. Da sie nun jene Schuld einem Hochedlen und Hochwohlgeborenen Rate nicht hat bekennen, ja nicht einmal den Vater ihres Kindleins gestehen wollen, wegen der Tat aber nicht den geringsten Verdacht auf andere werfen, noch sich von den ihr vorgehaltenen Erweisen reinigen können: so hat ein Hochedler und Hochwohlgeborener Rat ihr der Peinlichkeit ersten Grad zugesprochen, verhoffend, daß sie, besonders bei ihrer schwächlichen und zarten Konstitution, die Wahrheit da nicht länger werde verbergen mögen –

Nun hat sie auch wirklich während der Pein alles eingestanden, was zu wissen nötig. – Als ihr hierauf der Besuch des Herrn Diaconi zuteil geworden, hat sie gleichwohl das Geständnis widerrufen, dabei aber sich des Todes schuldig und gewärtig erklärt. Nachdem man ihr diese Selbstanklage von Gerichts wegen, auf Anzeige des Herrn Diaconi, vorgehalten, hat sie sich über solche Anzeige gar wunderlich gekränket zeigen, auch wegen solcher Selbstbeschuldigung durchaus nicht weiter eingestehen wollen, sondern vielmehr, als man ihr der peinlichen Frage zweiten Grad zuerkannt, jene Untat an ihrem Kinde nochmals eingestanden – –

Von diesem Tage bis zu ihrer Hinrichtung hat sie gar nicht gesprochen, aber eine demütige Reue und gläubige Gottergebenheit bewiesen, weshalb ihr auch, aus christlicher Liebe, nach abgebüßter Blutschuld die öffentliche Fürbitte nicht ist versaget worden.