(Quelle: Gewehre im Oktober, Verlag Druck und Wissen, Berlin 1970)
Den Arbeitslosen droht in Deutschland nicht der Hungertod. Die Unterstützung, die er vom Staat erhält, ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Der Arbeitslose vegetiert im Bereich der denkbar größten Armut. Nur Brot hat er, sonst nichts. Der Verheiratete kann die Miete für seine Wohnung nicht bezahlen, so klein und schlecht diese auch sein mag. Ist er einmal entlassen, dann fliegt er automatisch aus seiner Wohnung, aus dem Stadtviertel hinaus, wo er viele Jahre gewohnt hat. Dann quartiert ihn die Stadt irgendwo im Vorort ein, in eine leere, verlassene Kaserne, in eine Regimentsstallung, die notdürftig zu einer Baracke umgewandelt ist, in leerstehende Artillerieparks. Das sind die Konzentrationslager der Armut, öde Steinschuppen, die das Kaiserreich für das Militär gebaut hat, und in die die Republik jetzt die unzuverlässigen Elemente einquartiert.
Auf diesen vom preußischen Drill festgestampften Übungsplätzen wächst kein Gras mehr. Abgerissene Kinder spielen in Abflußgräben vor den Schilderhäuschen.
Ungeheure Gebäudekomplexe, die ganze Armeen für das Schlachtfeld vorbereitet hatten, stehen verlassen, finster, in ihrer Ehre gekränkt da. Mancher Offizier, der jetzt in die benachbarte Reichswehrkaserne übergesiedelt ist, mag die Gelbsucht bekommen haben – beim Anblick des mit unsauberem Gerümpel beladenen Wägelchens eines Arbeiters, das holprig, knarrend die häßliche, freudlose Wüste überquert.
Frauen binden ihre Wäscheleinen an die alten Adler vor den Toren, trocknen ihre Lumpen vor den geheiligten Fenstern der ehemaligen Offizierswohnungen. Ein rothaariger, lahmer Schuster, der «wegen der Politik» schon 18 Monate arbeitslos ist, bereitet sich auf den schweren Winter vor und «renoviert» zu diesem Zweck ein altes Kanonenöfchen, das er aus einer halb zerstörten Kaserne geholt hat.
Vergeblich sind alle Versuche, diese toten Gebäude heimisch zu machen, zu vermenschlichen. Die aus ihrer gewohnten Enge herausgerissenen Gegenstände bilden eine trostlose Frontlinie an den nackten Wänden. Es ist unmöglich, mit diesen Überresten eines Lebensschiffbruchs Scheunen zu füllen, die für vierzig Soldaten bestimmt sind. Die Leere ist so überwältigend, daß sie die Dinge verschluckt. Ein krümmtbeiniges, barfüßiges Kind schlurft über das Parkett, das zum Teil schon im vorigen Jahre, als in den ungeheuren Fenstern die Hälfte der Scheiben fehlte, in den Ofen gewandert ist. Das zweite Kind ist gestorben.
Zwei Betten nebeneinander, in denen der Vater, Mutter und zwei Kinder — ein Knabe mit seiner vierzehnjährigen Schwester schlafen. Ein freudloser Köter sitzt mitten im Zimmer und gähnt. Aus Angst und im Bestreben, das feindselige Haus, dessen Wände jedes Wort, jeden Schritt laut und ausdruckslos wiederholen, zu bestehen, wäscht die Frau des Schusters jeden Tag den endlos langen Korridor auf. Sie tut es, um mit dieser Wohnung in gute Beziehung zu treten; sie gibt der Kaserne einen Vorschuß menschlicher Wärme, die diese Mauern gleichgültig hinnehmen, wie der Unteroffizier – das naive Geschenk eines Rekruten.
Aber die Schuhmachersfrau braucht nur ihren Kopf zu heben, um die letzte Hoffnung zu verlieren. Die Wände dieser Kaserne mit dem toten Gesicht wiederholen mit großen Lettern die einzige Weisheit, die ihnen noch geblieben ist:
«Lerne leiden ohne zu klagen!» oder «Ordnung regiert die Welt!»
Und wohin sich die arme Frau mit ihrem Eimer und Scheuerlappen auch wenden mag, bei jedem Schritt und Tritt empfängt sie die Kasernentugend mit einem Faustschlag.
Sieben Mark wöchentlich für vier Menschen! Und diese Toteninsel dazu! Auch weiß die Frau, daß das Mädchen abends lange nicht einschläft, auf jede Bewegung, jeden Seufzer der Eltern krampfhaft gespannt hinhört. Das Allerschlimmste ist aber die ewige Stimme der Vergangenheit, deren bleierne Zunge von Tapferkeit und Gehorsam, von gelben Ulanen und schneidigen Husaren lallt, die längst irgendwo an der Marne oder in den russischen Steppen verwest sind.
Auch der andere rachitische Knabe wird diesen Winter vielleicht nicht überleben. Und der Schuster selbst wird es auch nicht mehr lange machen, denn es ist nicht leicht, bei Regen und eisiger Kälte auf Krücken den langen Weg zur Arbeitsbörse zurückzulegen. Diese Gespenster aber werden weiter leben und eine andere proletarische Familie schrecken, die ihren Untergang in diesem unverschließbaren Gefängnis suchen wird, dessen Türen von den Angeln gerissen, dessen Korridore bei windigem Wetter voller Schnee und Sand sind, – auch die Nachfolger werden von diesen «Fridericussen» triumphierend mit knöchernen Trommelwirbeln empfangen werden.
«Furchtlos und treu für Gott, Kaiser und Vaterland-.»
Nur ein Fenster leuchtet aus der Dunkelheit der schwarzen Gebäudereihen, – ein goldener Zahn im großen toten Rachen. Und wenn es finster und besonders kalt wird, steigen die auf der Decke gemalten Adler herab, schleichen sich in den Hof und durchwühlen die Müllgruben nach Überresten, die die Hühner des Schusters übersehen haben.
Sie tauchen ihre rassigen, mit dem spärlichen Gefieder des Kaiserreichs geschmückten Glatzen tief in den schmutzigen Abfall hinein.
Frau Fritzke hat bloß Strümpfe an, – um in diesen langen Korridoren keinen Lärm zu machen. Sie ist die Ninon de Lenclos dieser Armutswüste: Die Liebeserfahrung hat auf ihrem Gesicht große graue Säcke abgelagert.
Die Luft dieses Hauses schädigt ihr Leben: das Haarnetz löst sich fortwährend auf, der Puder «Khasana» hält nicht. Im nüchternen Licht schimmern die Röhren der langen engen Pantalons durch den zerrissenen Rock,
Während des Krieges verlor Madame Fritzke ihren Mann. Jeder verkauft, was er hat: Hunderte von Händen knutschten und rissen seit der Witwenschaft ihre Brüste, wie man an dem Spülhahn in der Toilette reißt. Das trug nicht zu ihrer Schönheit bei. Es schien, daß, wenn man den Kragen an der Bluse öffnete, diese Brüste wie zwei weiße Pfützen zerfließen würden. Auf diese Weise rettete Frau Fritzke ihre Kinder in den Kriegsjahren und zur Zeit der Inflation vor dem Hungertode. Nachdem der Staat ihnen den Vater genommen und den Waisenpfennig für die Unterstützung von Krupp und Stinnes verbraucht hatte, beschloß er jetzt, der sittenlosen Mutter die Kinder zu nehmen. In einigen Tagen wird der Schutzmann kommen und den dicken Jungen mit der niedrigen Stirn und das zwölfjährige idiotische Mädchen in das katholische Waisenhaus bringen.
Um die Familie zu retten, beschloß August, der letzte Freund der Frau Fritzke, diese Überreste der Liebe zu heiraten. Sie machten sich feierlich zum Standesamt auf. Sie – in ihren zu engen Lackschuhen wie auf Skiern durch den Staub stampfend, er – mit einem Papierkragen, nach Benzin duftend, bedeutungsvoll wie das Schicksal. Die heroische Maßnahme, die vom ganzen Armutslager eingehend besprochen wurde, erwies sich jedoch als fruchtlos.
Frau Fritzke holte sich Referenzen von ihren früheren Brotherren, aus denen hervorging, daß sie nicht nur Prostituierte, sondern auch eine Tagelöhnerin war, und daß, wenn die Sittenpolizei den ganzen Schmutz auf einen Haufen gelegt hätte, den diese Frau aus fremden Wohnungen herausgefegt hat, sich eine stattliche Pyramide zu Ehren ihrer ehemaligen Profession gebildet hätte.
Aber der gestrenge Polizist bleibt unerbittlich. Frau Fritzke weint. Um ihre Augen kreisen dunkle Ringe.
Wenn du in eine Kaserne geraten bist, dann setze dich hin und verhalte dich ruhig. Frau Fritzke kann Crepe-Georgette-Kleider tragen und ihre Hühneraugen mit besonderen Gummiringen bedecken, damit sie die Schuhe nicht auseinander treiben – denn sie hat ihren Beruf.
Die Schustersfrau hat ein Recht darauf, mit ihrer Brennschere am gemeinsamen Herd zu hantieren, daß ihr staubiges Haar mitsamt den Läusen knistert und dampft, denn sie hat den Schuster – das weiß alle Welt – geheiratet, als er schon Krüppel war, aus reiner Herzensneigung also. Keiner darf sich auf ihre Kosten breit machen. Man hat es nicht nötig, den Menschen falsche Vorstellungen über sein Einkommen zu machen. Wie auf dem Wege zertretene Schnecken, deren Fühlhörner mit den zuversichtlichen Augen sich noch schwach bewegen, lebt jeder in unverhüllter Nacktheit. Und wenn jemand, wie z. B. Herr Boß, sich seiner Leihhausquittungen schämt und niemand in sein Zimmer hineinläßt, damit sein Federbett und die roten Kissen ohne Überzüge nicht gesehen werden (und alle wissen doch ganz genau, daß sie so durchlöchert sind, daß die Federn umherfliegen), dann ist es einfach empörend.
In diesem Hause ist es wie im Paradies. Kleinbürgerliche Scham bleibt draußen vor den Toren, die vom Engel der Armut mit flammendem Schwert bewacht werden. Wenn jemand anfängt sich zu genieren, dann beunruhigt er damit andere Menschen, die dadurch gezwungen werden, ihre Kräfte für die Feigenblätter der Lüge zu vergeuden, die ja doch keinen hinters Licht führen. Das Haus verachtet Herrn Boß mit seinem Papierkragen, unter dem das Hemd fehlt, mit seiner Medaille an der Weste und seiner Art zu sprechen, als wenn er schon zu Mittag gegessen hätte.
Wenn jemand gewußt hätte, wieviel brennende Erniedrigung und Bitterkeit sich gerade in seiner ehemaligen Unteroffizierswohnung angesammelt haben! Wenn jemand auf Nägeln schläft und sich Asche aufs Haupt streut, so ist es gewiß Boß, der vierunddreißig Jahre in der staatlichen Pulverfabrik gearbeitet hat.
Ein Schwur trennte ihn sein ganzes Leben lang von allen anderen Menschen. Leute wie er, die den Soldatenschwur des Schweigens einmal gegeben haben, dürfen weder in die Gewerkschaft, noch in die Partei, selbst in der Arbeiterkneipe durften sie sich nicht zeigen. Das Schweigen der Offiziere aus dem Generalstab war mit schwerem Geld erkauft, mit hohem Rang, mit glänzenden Helmen und langen Ordensreihen, die Arbeiter der Pulver- und Geschützfabrik schwiegen umsonst, aus Dank für das ihnen bewiesene Vertrauen. Denn das machte sie gewissermaßen aus einfachen Lohnarbeitern zu Bundesgenossen der Regierung. Sogar der Kaiser selbst war sozusagen in der Schuld dieser Leute. Sie verehrten die Dynastie, wie arme Schlucker, denen ein Milliardär die Ehre erwiesen, ein paar Groschen auszuleihen. Und als der Krieg kam und Gold in Geschütze und Munition umgeschmolzen wurde, erwies die Regierung Herrn Boß tatsächlich eine große Ehre: sie nahm sein Sparkassenbuch.
Als die Frau Geheimrätin, die Gattin des Direktors, mit ihren Töchtern und ihrem Diener in der Wohnung des Herrn Boß erschien, um dem alten Arbeiter einige Obligationen der Kriegsanleihe anzubieten, – mit welcher Andacht und Opferbereitschaft warf ihr da Boß alle seine Ersparnisse vor die Füße!
Ehe Herr Boß sich die Tränen der Rührung vom Gesicht hatte wischen können, zerrann die deutsche Mark wie Tau am Morgen. Und die Goldstücke – er besaß deren 132 Stück – rollten so unhörbar in den Abgrund der Inflation, daß nicht einmal ein Klingen hörbar ward. Aber Boß war glücklich.
Seit jener Zeit vergingen fünf, nein, mehr – ganze sieben Jahre.
Die Welt verblutete, machte krampfhafte Befreiungsversuche und überzog sich endlich mit der dünnen Kruste der Stabilisation, aus der schwarze Löcher der Hungersnot und der Inflation gähnten.
Als man das Vertiko, einen Schaukelstuhl und die schöne Uhr, die er für seine 25-jährige makellose Arbeit von der Fabrik erhalten hatte, aus der Wohnung herausbrachte, glaubte Herr Boß noch an Gott und Gerechtigkeit.
Als seine Frau mit der Leihhausquittung aus dem Versatzamt nach Hause kam, wo sie die silberne Uhr mit den Namenszügen des Kaisers ließ, war Herr Boß noch immer ein starker Mann, der es nicht duldete, daß man von seinem im Kriege gefallenen ältesten Sohn bei Tisch sprach.
Aber als alle Opfer vollkommen erschöpft waren und sich des noch immer geduldigen Boß die große Müdigkeit bemächtigte, die jeder Arbeiter kennt, der die Sechzig hinter sich hat; als seine Augen trübe wurden, seine Hände zu zittern anfingen und ihm der von Äther vergiftete Speichel aus dem Munde zu fließen anfing, – da wurde Boß entlassen. Mit zwei Billionen Papiergeld und einem Zimmer in der toten Kaserne. Da stellte es sich plötzlich heraus, daß Herr Boß auch nur ein Arbeiter war. Wie entsetzlich! Diese Einsamkeit! Zerfetzt, von der Maschine erdrückt, flog das Sandkörnchen Boß, der Splitter Boß in das große Meer seiner Klasse, in ihren tiefsten Abgrund hinein, wo es kein Licht und keine Hoffnung mehr gibt.
An der Oberfläche des Meeres rollten schwere schäumende Wogen: das Jahr 1921. Boß lag regungslos da, und sah von Zeit zu Zeit die kämpfenden Schiffe der Revolution sinken und langsam zu ihm herabfallen. Mit Flaggen am geknickten Mast, mit toten Menschen auf dem aufgewühlten Deck. Die Besten der Menschheit, ihre Sturmvögel: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht.
Dann pflegte Boß – in den langen Stunden trostlosen Nichtstuns -eine Kiste unter dem Bett hervorzuholen, die bis zum Rande mit entwertetem Geld gefüllt war, und Tage lang in sie hineinzustarren.
Das Zimmer hat graue Tapeten, mit von der Zeit verblaßten roten Spritzern – als wenn hier einmal ein Springbrunnen menschlichen Lebens geschlagen hätte und auf einmal erloschen wäre.
Die Venen öffneten sich an Boß' Beinen: sein müdes Blut suchte den Rückweg zur Erde.
Lang und hager, im kaffeebraunen Jackett, mit einer Medaille an der Uhrkette, pflegt er, auf Krücken gestützt, seiner Frau entgegenzugehen, die trotz ihrer grauen Haare, in der Tabakfabrik arbeitet. Die ganze Vorstadt kennt seine Minna, – ein solches Gesicht gibt es zum zweiten Male nicht wieder. Eine weiße Maske von einer solchen Schönheit, daß man vor ihr niederknien möchte. Nach der Arbeit leuchtet dieses Gesicht mit den kleinen Schweißtropfen an der Stirn wie weißer Gips. In seiner Jugend war Boß hartnäckig, nörgelnd, gebieterisch; er hielt es für seine Pflicht, seine Frau zum besten seiner Familie zu quälen.
Durch die Mauern von Kellern und Dachstuben, Gefängnissen und Fabriken sickert und fließt, sammelt sich zu Bächen, Flüssen und Meeren der geräuschlose stille Strom der Arbeitssolidarität. Mit unendlicher Geduld rührt er an den Steinen und Gittern, unterhöhlt, lockert, trägt Sandkorn um Sandkorn fort, um an einem großen Tage als eine Flut der Empörung über die Oberfläche zu rauschen.
Auch für Boß kam dieser Tag, stieg mühsam ins erste Stockwerk hinauf, erholte sich eine Weile, kletterte weiter ins zweite, klopfte an die Tür und trat ein. Er kam, um Boß die «Arbeiterzeitung» anzubieten.
Eine große Stille trat ein. Die weiße Minna wurde noch weißer und flüchtete in die Küche. Der Schuster setzte sich. Die Zeitung kostet zwanzig Pfennig. Boß erstickt fast: wirft zwanzig Pfennig auf den Tisch und noch ein graues stachliges Ding dazu.
«Da, nimm es ... Das ist alles, was ich im Leben verdient habe!»
Das eiserne Kreuz.
«Für Kriegshilf dienst!»
WR mit einer Krone darüber!
Bequeme, warme Pantoffeln aus Kamelhaarwolle. Vier Mark fünfzig.
Frau Kremer macht diese Pantoffeln und verdient vier Mark für hundert Stück. In einer Stunde macht sie fünf. Ihre Tochter, die erst das zweite Jahr diese Arbeit macht, näht sieben Pantoffeln in 55 Minuten. Nach vierzig Arbeitsjahren wird die alte Frau kurzerhand durch das mechanische Übergewicht der jugendlichen Kräfte geschlagen. Wie der Droschkengaul. Er mag noch so viele Jahre das Straßenpflaster abklappern – seine Kunst wird dadurch nicht größer. Mit Blitzesschnelle wird die Nadel, die mit der eigens zu diesem Zweck entstandenen Hornhaut zwischen den Fingern festgehalten wird, eingefädelt, es nützt dir alles nichts – du bist eben ein alter Gaul. Jedes Bauernfüllen wird dich nur deshalb überholen, weil es um zwanzig Jahre jünger ist.
Die größte Anspannung der Kräfte kann den Arbeitslohn nicht erhöhen; Je schneller die Nadel fliegt, desto öfter reißt das schlechte Garn, an dem der Arbeitgeber auch verdient. Alles ist bis auf Bruchteile von Pfennigen berechnet, an Ersparnis ist nicht zu denken.
Sehr verführerisch sind Pantoffeln mit wattiertem Futter – sie werden besser bezahlt. Die junge Arbeiterin, die das Handwerk nicht kennt, fällt sicher auf sie herein. Aber Frau Kremer kennt sich in diesen Dingen aus. Mögen sich andere die Finger verbrennen, — sie weiß es nur zu gut, daß es eine Nadelfrage ist. Eine doppelte Sohle läßt sich nicht so einfach durchstechen, wie eine einfache. Man kriegt aber für beide Pantoffelsorten die gleiche Anzahl Nadeln geliefert. Drei Stück für hundert Pantoffeln. Es ist klar, daß die fünfzehn Pfennige, die der Fabrikant für die «Wattierten» zahlt – für die Gewöhnlichen kriegt man nur zehn –, den Mehrverbrauch an Nähnadeln nicht decken können. Das ist noch nicht alles. Es gibt zahllose Finessen und Kniffe, mit deren Hilfe der letzte Tropfen Kraft aus dem Menschen gepreßt wird. Es ist leichter, ein Schiff um das Kap der guten Hoffnung zu steuern, als die Pantoffelsohle so anzunähen, daß kein einziger Stich sichtbar ist.
Man rechne sich aus, wieviel «Einfache» eine Arbeiterin in einer Stunde fertig bringt? Fünf Stück. Und von den «Wattierten»? Nur drei. Ein Pfennig geht auf die Nadeln drauf, während der Fabrikant für dieselben 60 Minuten 10 Pfennige weniger bezahlt. Kein Wunder, daß Frau Kremer mit ihrem krummen Rücken, ihrem schwarzen, elenden Kleide und der Watte im Ohr, aus dem Blutwasser fließt, einer Statue der Trauer und des Mißtrauens ähnlich sieht. Wenn das Leben ihr heute mit ausgebreiteten Armen glückbringend entgegenträte, würde sie nur die Falten ihres Mundes enger zusammenziehen, sich abwenden und den Vorrat von fertigen Pantoffeln in Sicherheit zu bringen suchen.
Dieses Zimmer mit dem Büfett ohne Geschirr, mit roten fleckigen Federbetten, mit dem aufdringlichen Nachttopf, mit der Küche, deren Decke feucht ist und abblättert, diese ganze «Wohnung», die seit 15 Jahren weder renoviert, noch gestrichen wurde, die kein Wasser und keine Toilette hat, und Frau Kremer selbst, diese in einen Ameisenhaufen geratene und schon halbzernagte Maus – haben nur eine Verteidigungswaffe: absolutes Mißtrauen. Sie stimmt gegen alle und alles. Frau Kremer sagt: Diese SPD-Leute sind Kanaillen, jedes ihrer Worte ist Lüge; diese Kommunisten sind Feiglinge, sie haben das Jahr 1923 verschlafen. Sie kümmert sich nicht darum, ob die Partei für den Kampf reif war oder nicht, und wieviel Monate oder Jahre voll langweiliger Kiemarbeit vergehen müssen, um das Proletariat tatsächlich zum Siege zu führen.
Sie braucht Hilfe, aber jetzt, sofort, oder überhaupt nicht, denn die Kräfte der Frau Kremer sind ihrem Ende nahe.
Wenn eine Maus einen Todesschreck bekommt, fängt sie an zu schwitzen. Sie wird ganz naß vor Furcht. Wie kann Frau Kremer auf die Revolution warten – ihren ganzen Körper bedeckt ja der Schweiß der letzten Erschöpfung.
«Ich kann der Gewerkschaft nicht beitreten. Der Verband würde mir verbieten, für einen so niedrigen Lohn zu arbeiten, er würde verlangen, daß ich die Arbeit aufgebe.»
Aber im Hause der Frau Kremer herrscht doch ein großes Arbeitsfest: ihr einziger Sohn – ein fünfzehnjähriger, in einer Zigarrenkisten-Fabrik beschäftigter Knabe – streikt, streikt zum erstenmal in seinem Leben. Der Streik hat vor drei Wochen begonnen, 135 Menschen nehmen an ihm teil. Ohne Hoffnung auf Erfolg: haufenweise strömen die Streikbrecher aus den Nachbarorten in die Fabrik.
Die Alte schweigt. Kein Wort des Vorwurfs, keine einzige Klage. Um sich treu zu bleiben, tut sie, als wenn nichts geschehen, als wenn der Sohn überhaupt nicht da wäre. Sie glaubt ja weder an Streiks, noch an Sozialismus, nicht einmal an die Pocken. Nur das eine weiß sie: alles, was von den Herren ausgeht, ist Betrug. Ein ganzes Jahr lang versteckte sie ihren Enkel vor dem Kreisarzt. Erst dieser Tage schleppte man ihn ins Krankenhaus, zerstach ihm den Arm, und – hatte sie nicht recht gehabt? Vier scheußliche Wunden zeigten sich auf dem Ärmchen. Das konnte jeder sehen, der den schmutzigen Ärmel des Kindes aufkrempelte.
Aber wie schiebt Frau Kremer ihrem Sohn bei Tisch den Teller hin, mit welchem Blick betrachtet sie seinen starken, männlichen Rücken! Mit vielsagendem Augenzwinkern, gespannt, zur Abwehr bereit, sagt sie den Nachbarn:
«Mein Sohn streikt.»
So winkt der abgestorbene alte Baum mit seinem letzten Ast grüßend, den jungen Mut, der alle Niederlagen vergißt, so winkt er dieser Solidarität für die eigene Klasse zu.
Der größte Teil der Arbeiter, die wegen politischer Unzuverlässigkeit ihre Arbeit verloren haben, gehört nicht der jungen, sondern der älteren Generation an. Ein junger Bauernbursch, dem es zu Hause zu eng wird, geht bei jedem Lohn und jeder Arbeitszeit in die Fabrik, nur um sich ein paar Mark für Bier, ein Fahrrad und einen in Taille gearbeiteten Sonntags-Anzug anschaffen zu können. Essen und Trinken kosten ihn nichts — der Vater gibt es ihm. Die ältere Arbeitergeneration, die auf eine zwanzigjährige Schule des gewerkschaftlichen und revolutionären Kampfes zurücksieht, ist trotz der relativ hohen Tarife und ihrer privilegierten Stellung der Arbeiteraristokratie, weit weniger nachgiebig und nicht geneigt, ihre letzten Positionen kampflos aufzugeben.
Das Endergebnis dieses Widerstandes – mag er auch noch so vorsichtig und gemäßigt sein –, ist die Entlassung. Der Arbeiter macht sich zunächst keine Sorgen darüber. Er hat ausgezeichnete Zeugnisse, blickt auf eine 20- bis 25 jährige Erfahrung zurück; auch ist auf seinem Arbeitsgebiet gerade jetzt ein Aufschwung festzustellen: heute oder morgen wird er gewiß neue Arbeit finden. Überdies arbeitet seine Frau als Zugeherin in einem wohlhabenden Hause und wird durchaus anständig bezahlt.
Anfangs erinnerte ihn nichts an das grausame Gesetz der Arbeitslosigkeit. Es tritt nur ganz allmählich in Kraft. Wer die Familie ernährt, wird zum Herrn im Hause. Wenn er nach schwerer Tagesarbeit nach Hause kommt, will er in eine saubere Wohnung treten und sich an einen fertig gedeckten Tisch setzen. Die Kinder müssen vor seiner Rückkehr gewaschen und gekämmt, ihre Nasen gewischt, ihre Schulaufgaben geprüft sein. Und nun — drei Tage nachdem der Mann arbeitslos geworden ist, schließt er eines Morgens die Tür hinter seiner zur Arbeit gehenden Frau, bindet sich demütig ihre Hausschürze um und macht sich an die Hausarbeit. Er wischt Staub, poliert die Fenster, wäscht das Geschirr und die Lappen, mit denen er gewaschen hat, trägt den Müll hinaus, scheuert den Fußboden in der Küche, macht die Betten, hängt die Federbetten zum Fenster hinaus und legt sie, nachdem sie von der Sonne durchwärmt sind, mit pedantischer Sorgfalt an ihren Platz.
Wir haben nicht die geringste Vorstellung über diesen Kultus von Sauberkeit und Ordnung, die die Frau eines mittleren und sogar des ärmsten deutschen Arbeiters tagtäglich in ihrem Hause veranstaltet. Man könnte stundenlang dasitzen und zusehen, wie sie reibt, wäscht, kratzt, trocknet, poliert — alles – Geschirr, Wäsche, Möbel, Fußboden, Wände. Selbst der entfernteste und dunkelste Winkel hinter und unter dem Schrank ist vor ihr nicht sicher. Alles das muß jetzt der Mann tun. Und wie er in guten Tagen prüfend über den Herd fuhr, um sich davon zu überzeugen, ob da auch kein einziges Stäubchen liegt, und seiner Frau keine noch so geringe Verfehlung hingehen ließ, so ist er jetzt! selbst vor ihr verantwortlich, jetzt ist sie der Herr, der die Familie ernährt.'
Er – der Untergebene, der gehorsame Tagelöhner, die Waschfrau im Hause. In der Tiefe seiner Seele hält jeder Deutsche seine Frau für eine Dienerin und verachtet ihre Arbeit. Wenn der Mann nun mit dem Scheuerlappen in der Hand, ächzend in alle Winkel kriecht oder mit einer Schüssel auf den Knien Kartoffeln schält, fühlt er sich unendlich erniedrigt. Der Arbeiter faßt diese Dinge ebenso auf, wie jeder Kleinbürger. Ein sehr guter Genosse, der einige Jahre arbeitslos war, sagte mit tiefer Bitterkeit, indem er auf seine aufgekrempelten Ärmel, auf die Bürste in der einen und den schmutzigen Schuh seiner Frau in der anderen Hand hindeutete:
«Sehen Sie, bis zu welcher elenden Erniedrigung uns die Arbeitslosigkeit bringen kann. Ich, ein Mann, muß dem Frauenzimmer die Schuhe putzen!»
In seinem männlichen Stolz verletzt und beleidigt, sucht er das verlorene Gleichgewicht auf andere Weise herzustellen. Am Lohntag, wenn die Frau mit gemachter Bescheidenheit ihren Wochenverdienst auf den Tisch legt, geht er vom frühen Morgen an finster und gereizt umher, Bei Tisch bricht ein wilder Konflikt aus.
«Wer ist der Herr im Hause, – du oder ich?»
Bums – schlägt die Faust auf den Tisch. Eine alte Peitsche wird von der Wand genommen. Die Kinder heulen. Die Mutter lenkt ein. Nach dem Essen schließen sich die Eltern im Schlafzimmer ein. Er läßt sich lange bitten. Sie zieht sich aus, sieht ihn mit feuchten, flehenden Augen an. Er vergewaltigt sie, er tut es mit Haß, so daß sie schreit, daß man es auf dem Flur hört, und schickt sie dann nach Zigaretten. Niemals in den Tagen liebte er seine Frau mit einer solchen eifersüchtigen Liebe, niemals dürstete sie so nach neuen Zärtlichkeiten, wie gerade jetzt, da sie im Grunde erkauft werden müssen.
Der Mann verwandelt sich allmählich in den Zuhälter seiner Frau.
«Ich werde bald ihr Zuhälter werden», sagte der kleine Kamm, derselbe, der die Schuhe putzte. Seine Lage verwickelte sich besonders dadurch, daß seine Frau aus einer alten katholischen Bauernfamilie stammte, einer Familie mit Kaiser- und Kaiserinbildnissen, mit Kirchgang am Sonntag, und mit einem Großvater, der Fahnenträger der ehemaligen Hundertsechsundsechziger, der gelbblauen Ulanen ist. Überhaupt, der alte Mann war von jeher gegen diese Ehe gewesen. Wie war es möglich, daß diese gut gewachsene, ehrliche, hübsche Bauerndirn sich in den kleinen, unruhigen Schmied verschossen hat, der alle Monat seinen Brotgeber wechselte. Nein, dieser kleine Mann ist nicht imstande, eine Familie zu ernähren!. . .
Jetzt, da Kamm in materielle Abhängigkeit von den Alten geraten war, versuchen die Schwiegereltern die ganze Familienkonstitution zugunsten der Frau und der Kinder und sehr zuungunsten des mißratenen Gatten zu ändern. Ja, Lieschen, die kleine Enkelin, kann den ganzen Sommer bei Großvater und Großmutter verbringen, und das wird keinen Pfennig kosten. Des Sonnabends wird Speck, Gebackenes und eine Gans ins Haus geschickt, aber die Enkelin muß in die Kirche gehen. Wenn die beiden unterstützt sein wollen, dann soll der Vater dem Kinde sagen, daß es einen Gott gibt, und daß alle, die ihn leugnen, in die Hölle kommen. Was soll man da machen? Man muß durchhalten. Aber Lieschen hat glücklicherweise den skeptischen Geist des Vaters und seinen französischen Schalk. Sie verstehen einander ausgezeichnet.
«Lieschen», sagt Kamm zu der Tochter, und setzt sie auf seine Knie, «weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, daß es keinen Gott gibt, daß das Paradies nur ein dummes Märchen für Kinder ist, Lieschen, schau mir in die Augen: ich habe mich geirrt, ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt. Er sitzt wirklich im Himmel und sieht alles und weiß alles.»
Die Alten stehen daneben und sehen dem Schwiegersohn auf den Mund, wie man einem verdächtigen Kartenspieler auf die Finger sieht. Die Kleine nickt:
«Schön, Papa.»
Kamm erkennt seine Rasse: ein Glück, denkt er, daß das Kind sich den Kuckuck um den ganzen Firlefanz kümmert.
Drei Jahre schon ist Kamm ohne Arbeit. Er wäscht, bäckt Brot, hat gelernt Strümpfe zu stopfen. Endlose Vorwürfe. Ewiges Gerede – er habe die Familie ins Unglück gestürzt, die Partei nütze die Leute aus, solange sie in der Fabrik sind, um sie dann in ihrer Not laufen zu lassen. Es war um den Verstand zu verlieren.
«Was hast du von all deinen Entbehrungen? Sie geben dir nicht einmal den kleinsten Posten in der Partei!», so geht es den ganzen Tag.
Der kleine Kamm flieht in die Dörfer, geht als wandernder Agitator aufs Land, besteigt den Vogelsberg, wird nach dem Spessart verschlagen. Als erster wagt er sich ins Dorf der alten Waldmeisen, einst Freischärler der großen Bauernkriege, jetzt – reiche Bauern, die in geiziger Einsamkeit fern von Menschen leben. Jeder von ihnen ist im Grunde genommen reich bis zu vierzig Morgen Land, aber weder Pferd, noch Knecht, um sie zu bearbeiten. Die Inflation hat das Geld aufgefressen, wie soll man da ohne Maschinen und teure Düngemittel die Ernte aus der kalten, harten Erde herauspressen? In ihrem Väterglauben betrogen, verjagte die Gemeinde ihren Geistlichen aus dem Dorf und sämtliche Parteisprecher, die vor den Präsidentenwahlen Stimmen warben. Kamm hat bisher noch keinen Anhänger unter diesen verbitterten orthodoxen Bauern gewonnen, aber er hat es erreicht, daß die harten Gesichter der Männer mit ihren breitrandigen, mittelalterlichen Hüten und die Frauen mit weißen, gestärkten, drachenähnlichen Häubchen ihn freundlich grüßen.
In den entferntesten Gebirgsdörfern, wo die häufigen Regengüsse je den Dünger fortspülen, kennt man ihn gut, diesen Mann von scheinba achtzehn, aber doch vierzig Jahren, der mit seiner Zeitungstasche über der Schulter von Ort zu Ort geht.
«Dieser Bursch hat für Bohnen und Kartoffeln keinen Sinn», sagen J von ihm die Steinhauer der Basaltbergwerke, verwilderte Menschen und 3 Walddiebe. Es ist wahr, Kamm hat weder Salatbeete, noch einen Laubengarten, in dem der deutsche Proletarier so gern seinen Feierabend verbuddelt. Der Pastor in Griesheim, mit dem er regelmäßig am Sonntag nach der Predigt aneinander gerät, sagte von ihm: «Ein bösartiges Maul hat diese kleine giftige Spinne!»
Aber die Gebirgspfade führen schließlich doch ins Tal hinab. Nach langen Wanderungen muß man wohl oder übel nach Hause gehen. Zu Hause aber herrscht die böse fromme Frau, die hübsche, gut gewachsene Bäuerin mit dem stets gesenkten Blick, hinter dem sie ihre herrschsüchtige Gier verbirgt. Zwanzigmal verließ Kamm sein Haus, um nie wieder zurückzukehren, und zwanzigmal kehrte er seines Lieschens wegen wieder um. Wer wird sie vor Pfaffen, Tanten, vor der falschen mütterlichen Liebe bewahren?
Das Allerschlimmste beginnt, wenn die Kinder schlafen, wenn die Türen verschlossen, die Fenster verhängt sind, wenn das ganze kleinbürgerliche Haus tückisch schweigt.
Sie zieht sich schon aus. Das eiserne Korsett wird abgelegt, über ihr Gesicht huschen feindselige Gedanken, die jedes seiner Gefühle, jedes Buch auf seinem Tisch hassen. Der Mann weiß es: die Frau freut sich über seine Niederlage, ist glücklich mit seinen Feinden, aber — schamlos im Bett, geil, wie es eine Straßendirne nicht sein kann. Keine Prostituierte ist so erfinderisch, wie diese fromme, tugendhafte Frau, die sich hinter verhängten Fenstern ausleben will, die sich auf das Gesetz stützt und von ihrem Mann verlangt, daß er sie wenigstens liebe und befriedige, wenn er seiner «idiotischen kommunistischen Ideen» wegen zu nichts anderem tauge! Wer nicht arbeitet, der soll auch nichts essen!
Je zügelloser der Bettkampf, desto größer die Niederlage. Wie eine gesättigte Milbe fällt die befriedigte Frau auf ihre Kissen zurück, um sofort – noch ehe sie sich das Haar und die verknüllten Röcke geordnet – unzweideutig zu verstehen zu geben, daß «dies» in ihren Beziehungen natürlich nichts zu ändern vermag. Alles bleibt beim alten.
«Erinnere mich morgen daran, Hans, daß ich die Bibel für Lieschen kaufe, hörst du? Das alte und das neue Testament...»