1836
Wie Ihnen wohlbekannt ist, verehrte Zuhörer, teuere Kommilitonen, gibt es nichts, was in diesem unserm Zeitalter die Menschen mehr beschäftigt hat und beschäftigt, als die Lust und Neigung, die Staaten zu verbessern und in andre Formen umzugießen. Von zwei Dingen, glaube ich, hat diese Begierde ihren Anfang genommen, teils vom Überdruß an den Einrichtungen unserer Altvordern, weil man meinte, daß sie von dem ursprünglichen Grundgedanken ihrer Urheber weit abgewichen und entartet wären, teils aber auch von einer gewissen vorgefaßten Meinung über die beste Staatsform, die, ich weiß nicht wie, in aller Seelen fast durch eine Naturnotwendigkeit eingezogen war, zu deren Regel die Staaten entweder auf einmal oder allmählich hinzuführen sie für das Beste achteten. Denn das würde man nicht mit Recht behaupten, daß nur unkundige und schlechte Menschen, von Begierde nach Neuerungen ergriffen, diesen Weg eingeschlagen hätten; vielmehr weiß man, daß es sehr treffliche, ihr Vaterland liebende und in Ehren stehende Männer waren, welche denselben Ansichten gefolgt sind oder sie doch von Anfang an wenigstens nicht verdammt haben. Doch ist es wunderbar, daß aus dieser allgemeinen Richtung der Geister und Gedanken die Früchte nicht hervorgegangen sind, welche davon erwartet werden durften. Denn wie viele Staaten gibt es wohl, die durch diesen Drang nicht verwirrt und erschüttert worden wären? Haben wir doch gesehen, daß eben durch die Verfolgung solcher Pläne, durch welche die Menschen wähnten sich zu Weisheit und Tugend emporheben zu können, sie zu völliger Blindheit und zu Verbrechen getrieben worden sind; ja, wir haben gesehen, daß der lobenswerte Eifer, eine schlechte und verkehrte Staatsform zu verbessern, sich in eine Ablehnung guter Gesetze, in offenen Aufruhr, endlich in eine Wut und Raserei, alles umzustürzen und umzukehren, verwandelte. Daraus ist ein Sturm hervorgebrochen, der den Lenker des Staates nicht mehr mit Klugheit die Zügel handhaben ließ und ihm nicht gestattete, das Schiff nach einem festen Plane zu lenken, den Leuten selbst aber die Fähigkeit nahm, nachzudenken und zu erkennen, was nützen oder schaden werde, so daß der glücklich war, der sich aus dem von finsteren Wolken umgebenen und von entgegengesetzten Winden bewegten Meere lebend und gesund gerettet hatte. Die Freiheit, welche man erstrebte, ist einigemal in die einem ehrenhaften Manne verhaßteste Knechtschaft umgeschlagen, in die Herrschaft, meine ich, eines törichten und grausamen Volkshaufens. Und fragt man, welche Gestalt der Staaten aus dem Wechsel der Unglücksfälle hervorgegangen sei, so wird man nichts finden, was auf festem Grunde ruhte, nichts, was jene Sicherheit gewährleistete oder nur verspräche, welche zu echter Bildung und Zucht des menschlichen Geistes notwendig erfordert wird. Ja, je mehr ein Staat durch jenen Strudel von Meinungen und Parteiungen erschüttert und zerrissen worden ist, in desto heftigeren Bewegungen treibt er sich noch jetzt herum und, um mit Vergilius zu reden, flutet er in der Glut der Leidenschaften hin und her. Dem, was gerecht und gesund ist, werden immer die extremsten Richtungen vorgezogen; und so ist heutzutage die Lage der menschlichen Dinge beschaffen, daß, wenn irgendwo ein Zwiespalt der Gemüter entstanden ist, dieser auch sonst ruhigere Völker plötzlich ergreift und vergiftet. Zuweilen kommt uns die Furcht an, es möchte sich die Reihe der überstandenen Unglücksfälle wieder erneuern.
Nun zweifle ich nicht, geehrte Zuhörer, daß die meisten von Ihnen nach den Gründen geforscht haben, warum doch so gerechter Hoffnung und Erwartung der Erfolg so wenig entsprochen habe. Diese Gründe sind, wie jedem einleuchtet, vielfacher Art und in anderen Reichen andere, können auch nicht ohne große Ausführlichkeit und nur von dem entwickelt werden, der dieses unser Zeitalter ganz genau kennen gelernt hat. Einen Grund aber gibt es und zwar einen sehr allgemeinen, der öfter als andere vorgetragen zu werden pflegt: über diesen will ich, wenn Sie mir Gehör schenken wollen, heute mich aussprechen.
Die Historie, sagt man, sei von den Neueren nicht nur nicht gehört, sondern absichtlich hinangesetzt worden: hätten sie deren Vorschriften beachtet und die fortlaufende Reihe von Tatsachen und ihre Notwendigkeit in Betracht ziehen wollen, so würde alles viel besser und mehr nach Wunsch gelungen sein. Dieser Grund trägt zwar den vollen Schein der Wahrheit an sich, ist aber dennoch keineswegs unzweifelhaft. Denn nicht wenige leugnen mit der größten Entschiedenheit, daß die Geschichte bei Anordnung eines Staates zu Rate gezogen werden könne oder müsse. Denn was habe die Geschichte, durch welche man sich die Kenntnis vergangener Zeiten verschaffe, mit der Verbesserung heutiger Staaten gemein? Zur Gründung oder Verbesserung von Staatsverfassungen bedürfte es einer ganz verschiedenen Wissenschaft. Die Historie entschuldige gewissermaßen die eingewurzelten Übel durch Nachweisung ihres Ursprungs: deren Heilung aber könne nur von den Vorschriften der in unsern Tagen erst entstandenen Wissenschaft, der Politik, entlehnt werden. Es gebe einen steten Fortschritt des menschlichen Geschlechts, und die Frage dürfe gar nicht aufgeworfen werden, was einst andere in ihrem Zeitalter getan haben, sondern lediglich, was heutzutage uns zu tun sei. Wenn man nicht wage, den eigenen Kräften zu vertrauen und auf neuen, noch unbetretenen Bahnen Neues und Besseres zu erstreben, so bieten die menschlichen Verhältnisse mehr das traurige Bild eines stehenden Gewässers oder unreinen Sumpfes, als den fröhlichen und heiteren Anblick eines dahinströmenden Flusses dar.
Und in der Tat, um zuzugestehen, was unleugbar ist, die Historie in der Verwaltung des Staates zu Rate zu ziehen, hat große Schwierigkeit, und zwar nicht bloß aus den Gründen, welche angeführt zu werden pflegen, wie ich sagte, sondern vorzugsweise, weil so sichere Vorschriften der Geschichte gar nicht überliefert werden, daß niemand an ihrer Wahrheit zweifeln könnte. Ist denn nicht jene glühende Begierde nach Neuerungen in die Geschichte selbst eingedrungen? Schriftsteller sind aufgetreten und treten täglich auf, die in der Historie weder etwas suchen, noch finden, als was mit ihrer politischen Doktrin gut übereinstimmt. Dieselben Meinungsverschiedenheiten, welche die Staaten in Parteiungen auseinanderreißen, sehen wir mit nicht minder heftigem Eifer in die Erzählung und Erforschung der Begebenheiten einführen. Man streitet über das Wesen und den Charakter des Mittelalters, über die ursprünglichen Sitten und Gewohnheiten der germanischen Nationen, über die Tugend der bei den Alten berühmtesten Männer, endlich über den Ursprung und Anfang des menschlichen Geschlechtes. Soweit entfernt ist die Historie davon, daß sie die Politik verbesserte, daß sie vielmehr gewöhnlich von ihr verderbt wird.
Was ist also zu urteilen, geehrte Zuhörer? Ist es wirklich wahr, was einige behaupten, daß es überhaupt in menschlicher Wissenschaft nichts gebe, was als völlig sicher und bestimmt bezeichnet werden kann? Kennen wir die Ereignisse der alten Zeit und ihre Geschichte, oder kennen wir sie nicht? Ist es möglich, ihre Natur und ihr Wesen genau zu wissen, oder werden wir in alle Ewigkeit damit unbekannt bleiben? Läßt sich nichts finden, wodurch sich ein wohleingerichteter Staat von einem verderbten, die tarentinische Verfassung von der römischen unterscheidet, nichts, wodurch die Tugend vom Laster verschieden ist? Das wolle Gott verhüten! die Menschen würden zur Tierwelt hinabgestoßen, alles würde dem Spiel eines blinden Zufalls dahingegeben werden. Nein, niemand kann leugnen, daß die Natur und die göttliche Vorsehung uns gestattet haben, einen tiefen Einblick in die Ursachen des Glückes und Unglückes zu tun, und zu unterscheiden, wie gute Gesetze von üblen Gewohnheiten verschieden sind. Niemand wird behaupten, daß wir an so großer Blindheit und Finsternis des Verstandes leiden, daß wir die Art und Weise früherer Zeitalter ganz und gar nicht in ihrem Unterschied zu erkennen vermöchten. Was also urteilen Sie, geehrte Zuhörer? Glauben Sie, daß eine solche Kenntnis vergangener Ereignisse gar nichts enthalte, was mit Nutzen auf Gegenwart und Zukunft bezogen werden könne? Wollen Sie annehmen, daß es keine enge Verbindung und Verwandtschaft der Historie mit der Politik gebe? Ich kann mir nicht denken, daß eine solche Ansicht ihre Beistimmung werde erlangen können. Dies allein ist fraglich, welches Verhältnis zwischen beiden obwalte. Und diese Frage kann zwar in unsern Tagen nicht ohne Gefahr der Verkennung aufgeworfen werden, empfiehlt sich jedoch, wenn ich mich nicht täusche, durch ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit so sehr, daß ich mich nicht scheue, an sie heranzutreten, zumal in einer Versammlung, an deren Wohlwollen ich nicht zweifeln darf. Sprechen also will ich von der Verwandtschaft der Historie und Politik und werde zu zeigen versuchen, welches die Grenzen dieser Wissenschaften sind, wo die eine die andere berührt, wo sie sich zu trennen beginnen, welcher Unterschied zwischen ihnen stattfindet.
Gehen wir bei dieser Erörterung von der Historie als dem bekannteren Teile aus, so behaupten wir, daß deren Amt nicht sowohl auf die Sammlung der Tatsachen und ihre Aneinanderfügung, als auf das Verständnis derselben gerichtet sei. Nicht auf das Gedächtnis allein, wie einige glauben, bezieht sich die Historie, sondern Schärfe des Verstandes fordert sie vor allem. Nicht leugnen wird das, wer nur immer bedenkt, wie schwer es ist, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden und unter vielerlei Berichten den, der in der Tat der beste ist, auszuwählen, oder wer auch nur durch Hörensagen den Teil der Kritik kennt, der im Umkreise der Historik zur Anwendung kommt. Und doch ist dies nur ein Teil der Aufgabe der Geschichtschreibung. Eine andere noch herrlichere und ungleich schwierigere Seite besteht darin, daß wir die Ursachen der Ereignisse und ihre Prämissen, dann daß wir auch ihre Folgen und Wirkungen beobachten, daß wir die Pläne der Menschen, sowohl die Irrwege, durch welche einige sich zugrunde richten, als die Klugheit, durch welche andere siegreich sind, genau unterscheiden, daß wir erkennen, warum der eine emporkommt, der andere unterliegt, wodurch die Staaten entweder sich stärken oder sich auflösen, kurz, daß wir ebenso gründlich die verborgenen Ursachen der Begebenheiten, als ihre offen hervortretende Gestaltung begreifen. Denn eben dies will, dahin vorzugsweise ist die Historie gerichtet. Denn wie die Naturwissenschaft einerseits die Gestalt der Naturwesen sorgfältig zu zeichnen unternimmt, andererseits aber Höheres erstrebt und die ewigen Gesetze, welche der Welt selbst und den einzelnen Teilen und Gliedern derselben gegeben sind, zu untersuchen sich bemüht, dann aber zu dem inneren Quell der Natur, aus dem alles hervorströmt, vordringt, gerade so ist es mit der Historie: wie sehr sie auch danach trachtet, die Reihenfolge der Begebenheiten so scharf und genau wie möglich aufzurollen und jeder derselben ihre Farbe und Gestalt wiederzugeben, und darauf den höchsten Wert legt, so bleibt sie doch bei dieser Arbeit nicht stehen, sondern schreitet zur Erforschung der Anfänge fort und sucht bis zu den tiefsten und geheimsten Regungen des Lebens, welches das Menschengeschlecht führt, hindurchzudringen. Bis zu solcher Höhe wähnen einige sich wie im Fluge emporschwingen zu können: darin aber täuschen sie sich und pflegen, indem sie statt der Juno eine Wolke umarmen, Formeln und leeren Wind für Wahrheit zu verkaufen. Einige aber werden sich durch ein dunkles Gefühl der Unzulänglichkeit ihrer Meinungen bewußt, nehmen zu philosophischen oder theologischen Lehren ihre Zuflucht und gestalten danach ihre Historie. Aus diesem ihrem Irrtum geht aber nicht hervor, daß der Zweck, den sie sich vorgesetzt haben, überhaupt in der Welt nicht existiere. Ihr Ziel erreichen sie nicht; aber das Ziel ist vorhanden. Die Palme des Sieges tragen sie nicht davon; aber einst wird es solche geben, welche nach Horatius' Ausspruch der zu Elis gewonnene Siegespreis im Bewußtsein himmlischen Glückes in die Heimat zurückbegleitet. Aber auf einem ganz andern Wege, als jene, werden diese, wenn ich nicht irre, vorwärtsschreiten müssen.
Da nämlich die Historie durch ihr Wesen Erdichtungen und leere Schattenbilder zu verschmähen genötigt ist und nichts als ganz Gewisses und Sicheres zuläßt, so bedarf es ebenso sehr der Besonnenheit als der Kühnheit des Geistes, da dieser einerseits das einzelne mit der größten Sorgfalt erforschen und Irrtümer gewissenhaft vermeiden soll, andererseits aber sich nicht durch die Mannigfaltigkeit der Dinge zerstreuen lassen darf, sondern das letzte Ziel mit unverrücktem Auge verfolgen muß. Obgleich nun dies Verfahren streng verbietet, alles im ersten Anlauf erfassen zu wollen, so führt es doch an jeder Stelle unsägliche Süßigkeit und Erquickung mit sich. Denn was kann es wohl Angenehmeres und dem menschlichen Verstande Willkommeneres geben, als den Kern und das tiefste Geheimnis der Begebenheiten in sich aufzunehmen und bei einem oder dem andern Volke zu beobachten, wie die menschlichen Dinge gegründet werden, Kräfte gewinnen, wachsen und gedeihen? Und wie dann, wenn man allmählich dahin kommt, daß man entweder mit gerechtem Selbstvertrauen ahnen oder vermittelst der schon geübten Schärfe der Augen vollständig erkennen kann, wohin in jedem Zeitalter das Menschengeschlecht sich gewandt, was es erstrebt, was es erworben und wirklich erlangt hat? Denn das ist gleichsam ein Teil des göttlichen Wissens. Eben nach diesem aber suchen wir mit Hilfe der Geschichte vorzudringen; ganz und gar in dem Streben nach diesem Erkennen bewegt sie sich. Wer möchte da fragen, ob dies nützlich sei oder nicht? Es genügt, zu erkennen, daß ein solches Wissen, wenn irgendein anderes, zur Vollkommenheit des menschlichen Geistes gehört.
Treten wir jetzt an die Politik heran; da diese, sie sei nun Kunst oder Wissenschaft, Staatsverwaltung ist, so müssen wir einiges über den Begriff derselben vorausbemerken. Vorzüglich, wenn ich nicht irre, tritt in den Staaten die Kontinuität des Lebens hervor, welche wir dem menschlichen Geschlechte zuschreiben. Menschen sterben, ein Zeitalter folgt dem andern oder wird von demselben verdrängt; Staaten aber, welche die Lebensdauer der einzelnen Sterblichen weit überragen, erfreuen sich eines sehr langen und immer gleichmäßigen Lebens. Ein Beispiel dafür mögen wir von Venedig entlehnen. Seitdem diese Stadt in den Lagunen des Adriatischen Meeres gegründet worden ist, sehen wir sie den Zeitraum eines Jahrtausends hindurch auf demselben Wege beharren, dem Meer sich vermählen, die Eroberung der angrenzenden Länder bald mit List, bald mit Gewalt versuchen, eine geheime Staatsgewalt schaffen, das Volk begünstigenden Adel unterdrücken – wachsen, sich kräftigen, blühen, allmählich sinken und untergehen –, so daß, wer die Geschichte Venedigs durchläuft, sich vorkommt, als ob er dieselbe immer bewundernswürdige Dauer und Reihenfolge eines einzelnen Menschenlebens durch verschiedene Zeitalter hindurch verfolgte und anschaute. Ähnlich unterscheidet Florus Römischer Geschichtschreiber, dessen um 120 n. Chr. verfaßter Abriß die römische Geschichte nach den vier Lebensaltern einteilt. nicht ungeschickt gewisse Zeitalter des römischen Staatswesens. Untergang trifft zwar im Laufe der Zeit auch die Staaten selbst, und zwar nicht nur diejenigen, welche eines Siegers Gesetz und Oberhoheit dulden müssen, sondern auch, was auffällig ist, diejenigen, welche gesiegt und andern ihr Joch aufgelegt haben. Der römische Staat vermochte weder die alte Gestalt der städtischen Gesetze beizubehalten, noch sich überhaupt zu halten, seit die Stadt den Erdkreis zu beherrschen und zu regieren begonnen hatte. Denn die Natur der menschlichen Dinge bringt es so mit sich, daß der Teil, der am kräftigsten ist, er mag nun besiegt oder als Sieger den Kampfplatz verlassen, doch allmählich die Oberhand gewinnt und die Eigentümlichkeit des minder starken Teiles vernichtet. Eben dadurch wird aber zugleich bewirkt, daß das Leben nicht ganz zerstört wird oder irgend etwas völlig zugrunde geht. Scheint etwas unterzugehen, so schließt es sich nur an eine vollkommenere Gemeinschaft an und verschmilzt so mit ihr, daß ein neues Leben und eine andere Reihe von Begebenheiten entsteht, welche mit dem früheren Leben sehr eng zusammenhängt und sich rückwärts mit ihm verknüpft.
Fragen wir nun, was das sei, wodurch ein Staat, wie wir gesagt haben, lebt, so ist es auch hier nicht anders als bei dem Menschen, daß das Leben im Geiste und im Körper enthalten ist, so jedoch, daß vom Geist, als vom vorzüglicheren Teile, alles übrige abhängt. Obgleich es nun uns nicht gegeben ist, das Verborgene an das Licht zu ziehen, die Seele und ihre Tätigkeit, den Quell und den Strom des Lebens, nachzuweisen und durch gegebene Namen zu bezeichnen, so steht es uns doch frei, das vor Augen Liegende zu beobachten und daraus durch Nachdenken die Geheimnisse entferntliegender Ursachen zu erschließen. Denn der Geist kann nicht mit den Händen betastet oder mit den Augen berührt werden: an seinen Erfolgen und seiner Wirkung wird er erkannt. Von Gott zu wähnen, daß er mit Augen geschaut werden könne, welcher Grad von Torheit möchte dazu gehören? Und doch wird niemand Bedenken tragen, zu behaupten, daß er sei und daß alles von ihm seinen Ursprung habe.
Ich komme nun zu dem, was ich zu beweisen unternommen habe. Da wir Staaten und Völker, sie mögen nun in weitere oder engere Grenzen eingeschlossen sein, sämtlich nach ihren eigenen Sitten, welche sie sehr häufig mit keinem andern Volke gemein haben, nach ihren eigentümlichen Gesetzen, ihren besonderen Einrichtungen leben und blühen sehen, so ist offenbar, daß jedes einen ganz bestimmten, von allen übrigen verschiedenen und gesonderten Charakter und ein eigentümliches Leben hat, von dem alles, was es besitzt und tut, sich herleitet. Da dem so ist, so ist nicht schwer zu sagen, welche Aufgabe und Pflicht diejenigen haben, welche die Staaten verwalten. Wie nun, geehrte Zuhörer? wird Ihr Urteil dahin gehen, daß diejenigen ihre Sache gut durchführen werden, die, durch gewisse lockende Meinungen in Vorurteilen befangen, alles Frühere als veraltet und nicht mehr zur Anwendung geeignet mißachten und beseitigen wollen und deswegen, ohne weiter auf Formen und Gesetze, welche durch den Gebrauch in Ansehen und geheiligt sind, Rücksicht zu nehmen, an Neuerungen denken, kurz, die den Staat, den sie nicht kennen, umzugestalten unternehmen? Mir scheinen sie in keiner Weise ihre Pflicht zu erfüllen, vielmehr, statt etwas aufzubauen, es niederzureißen. Laßt uns einen Mann hören, der in der Staatsverwaltung sehr geübt erscheint. »Jedes Volk«, sagt Cicero, »jedes Gemeinwesen, das eine Einrichtung des Volkes ist, jeder Staat, der des Volkes Sache ist, muß, um Dauer zu haben, nach einem bestimmten Plane regiert werden.« Wie sehr diese Ansicht mit der unsrigen übereinstimme, ergibt sich von selbst. Denn jedes Leben flieht seiner Natur nach den Tod und strebt nach Selbsterhaltung. So muß es uns als Hauptgesichtspunkt bürgerlicher Klugheit erscheinen, daß diejenigen, welche mit dem Ansehen obrigkeitlicher Ämter bekleidet sind und irgendeinen Teil des Staates zu verwalten haben, diesen pflegen, erhalten, zu immer höherer Vollkommenheit Tag für Tag weiter führen. Wie dies geschehen möge, lehrt Cicero an derselben Stelle, indem er hinzufügt: »Dieser Plan ist immer auf die Grundursache zurückzubeziehen, welcher der Staat seine Entstehung verdankt.« Denn in dieser Grundursache ist der Quell und Ursprung des inneren Lebens, von welchem wir reden, enthalten. Wie also der Lenker eines Schiffes wissen muß, was für ein Unterschied zwischen einem Kriegsschiff und Lastschiff ist, so wird kein Lenker eines Staates am Ruder sitzen dürfen, als ein solcher, der nicht allein die Beschaffenheit des Meeres, in welchem er fahren soll, sondern vorzüglich die Natur seines Staates vollkommen erkannt und ergriffen hat; wem diese Kenntnis abgeht, der täte besser, die Hand vom Steuerruder abzutun. Denn eben jene Einrichtungen, zu deren Erhaltung er dahin gesetzt ist, wird er notwendig verderben, die Lebenslust zerstreuen und vernichten. Ja, um zu sagen, was ich denke, nur der wird sich in der Politik auszeichnen können, der mit dem Wesen des Staates, dem er vorsteht, die innigste Verwandtschaft und Gemeinschaft gewonnen hat.
Bis hierher, geehrte Zuhörer, haben wir gesondert betrachtet, welches die Ämter der Historie und der Politik, welches ihre Grenzen sind. Nicht schwer wird es sein, daraus abzuleiten, was für ein Verhältnis zwischen beiden stattfindet, welches ihre Verwandtschaft und Verschiedenheit ist.
Zuerst ist klar, daß die Grundlage beider eine und dieselbe ist. Denn da es keine Politik gibt als die, welche sich auf vollkommene und genaue Kenntnis des zu verwaltenden Staates stützt – eine Kenntnis, die ohne ein Wissen des in früheren Zeiten Geschehenen nicht denkbar ist –, und da die Historie eben dieses Wissen entweder in sich enthält oder doch zu umfassen strebt, so leuchtet ein, daß auf diesem Punkte beide auf das innigste verbunden sind. Nicht sage ich, daß es ohne vollkommene Geschichtskenntnis überhaupt keine Politik geben könne. Denn es gibt einen Scharfsinn des menschlichen Verstandes, der gleichsam durch göttlichen Anhauch in die Natur der Dinge eindringt. Auch liegt es nicht in meinem Sinne, für die zur Staatslenkung geeigneten Männer eine eigentümliche Erziehungsmethode nachzuweisen; vielmehr erforsche ich das Wesen der Dinge, wenig darum bekümmert, ob eine sorgsam erworbene Bildung oder eine Art weissagender Ahnung mehr geeignet sei, jene Höhe, von welcher wir reden, zu ersteigen. Demnach ist es die Aufgabe der Historie, das Wesen des Staates aus der Reihe der früheren Begebenheiten darzutun und dasselbe zum Verständnis zu bringen, die der Politik aber, nach erfolgtem Verständnis und gewonnener Erkenntnis es weiterzuentwickeln und zu vollenden. Die Kenntnis der Vergangenheit ist unvollkommen ohne Bekanntschaft mit der Gegenwart; ein Verständnis der Gegenwart gibt es nicht ohne Kenntnis der früheren Zeiten. Die eine reicht der andern die Hände: eine kann ohne die andere entweder gar nicht existieren oder doch nicht vollkommen sein.
Dessenungeachtet gehöre ich nicht zu denen, welche der Meinung sind, daß nichts Neues geschehen dürfe. Wir wissen aus Erfahrung, daß, wie einmal die menschliche Natur für Fehler zugänglich ist, die menschlichen Dinge sich leicht zum Schlimmeren wenden. Wir sehen, daß, damit das Leben selbst fortschreite und dauernd in Fluß bleibe, täglich neue Unternehmungen erforderlich werden, ja daß auch Stürme notwendig sein können. Die politische Klugheit besteht nach unserer Ansicht nicht so sehr in Bewahrung, als in dem Vorwärtsbewegen und dem Wachstum. Denn es fehlt noch viel, daß das Menschengeschlecht zur höchsten Vollendung aufgewachsen sein sollte. Die Historie selbst wäre zu ihren Grenzen und zu ihren ewigen Endzwecken gelangt, wenn wir nicht diese Höhe und Spitze zu erreichen weiterstreben wollten.
Dies ist, geehrte Zuhörer, die Verwandtschaft und Verschiedenheit der Historie und Politik, wie ich sie auffasse. Beide umfassen zugleich eine Wissenschaft und Kunst. Der Wissenschaft nach sind sie aufs engste miteinander verbunden, so jedoch, daß die eine mehr die Vergangenheit, die andre mehr die Gegenwart und Zukunft umfaßt. Weit mehr unterscheiden sie sich in Beziehung auf Kunst. Die Historie bezieht sich ganz auf die Literatur: denn ihre Aufgabe geht dahin, wie die Begebenheiten geschehen sind, wie die Menschen beschaffen waren, von neuem vor Augen zu stellen und das Andenken daran für alle Zeiten zu bewahren. Die Politik aber bezieht sich ganz auf das Handeln; sie strebt dahin, die Menschen durch die Bande des Staates zusammenzuhalten, durch die Weisheit der Gesetze den Frieden unter ihnen zu bewahren, sie durch freien Gehorsam zu verknüpfen, kurz dazu hinzuführen, daß sie im öffentlichen und Privatleben gut und recht handeln. Historie und Politik unterscheiden sich fast so, wie theoretische und praktische Philosophie; die eine bezieht sich auf die Schule und geschäftlose Menschen, die andre mehr auf den Markt, auf Zwiespalt und öffentliche Streitigkeiten; die eine wird im Schatten, die andre mehr im Lichte des Tages geübt; für die eine genügt es, zu erhalten, die andre erhält nicht nur, sondern schafft auch Neues.
Ich glaube, geehrte Zuhörer, Stimmen zu vernehmen von solchen, welche mir einwenden, daß es Teile der Politik gebe, welche mit der Geschichte nichts gemein haben und doch von der größten Wichtigkeit seien; in diesen werden die Naturgesetze der Staaten auseinandergesetzt, nicht nur die richtige Behandlung des Ackerbaues und der Wälder, sondern auch die Art, wie Geld einzunehmen und auszugeben sei, wie Städte verwaltet, Gerichte gehalten, Gesetze gegeben und durchgeführt werden sollen. Und in der Tat, ich möchte eine Wissenschaft nicht gering achten, welche so reich ist an Scharfsinn, Wahrheit und Nützlichkeit: vielmehr scheint sie mir nicht minder notwendig für den Staat als die Medizin für den menschlichen Körper. Denn auch die menschliche Gesellschaft hat gleichsam ihren eignen Leib; die Staatsökonomie zeigt, wie die Glieder des Staates miteinander verwachsen sind, legt uns ihre Arterien und Adern vor Augen, die Orte, wo Odem und Blut sich befinden, und lehrt, wie die gesunde Beschaffenheit des Staatskörpers bewahrt, die ungesunde geheilt oder ihr vorgebeugt werde. Von um so größerer Wichtigkeit ist sie, weil die Vernachlässigung ihrer Lehren nicht einem, sondern allen schadet, ja Verderben bringt. Dessenungeachtet schwächt dies nicht im mindesten unsere frühere Auseinandersetzung. Denn zuerst: der Historiker bedarf nicht viel weniger als der Politiker eine genaue und leicht zugängliche Bekanntschaft mit diesen Dingen, weil ja gar oft gerade auf diesem Gesundheitszustande des Staates die Ursachen der Ereignisse, die er erforscht, beruhen. Zweitens aber, und das ist die Hauptsache, jene Wissenschaft hat nicht so viel Gewicht und Ansehen, daß von ihr jede politische Handlung abhängen sollte. Denn wie ein kräftiger und gesunder Mensch, obgleich er die ärztlichen Vorschriften beachtet, doch weit von einem so speziellen Gehorsam entfernt ist, daß er das ganze Leben nach den Bestimmungen des Arztes einrichten sollte, sondern diese Folgsamkeit dem Kränklichen und Leidenden überläßt, geradeso ist es mit einem gesunden und weise eingerichteten Staate: er stützt sich zwar auf die Gesetze der Staatsökonomie und beobachtet sie stillschweigend, hält aber keineswegs so ängstlich an ihnen fest, daß er nichts tun sollte, als was ganz genau ihrer Regel angepaßt wäre; er leistet ihnen nie einen knechtischen Gehorsam. Andre Gesetze von höherer Bedeutung, großartigere Gesichtspunkte faßt er ins Auge, welche durch den Trieb des innern Lebens hervorgerufen werden, sich auf Geist und Herz beziehen, kurz die Menschen göttlicher Freiheit teilhaftig machen.
An dieser Stelle tritt unserer Betrachtung noch ein andrer Unterschied der beiden so eng verbundenen Disziplinen entgegen. Die Geschichte ist ihrer Natur nach universell. Zwar finden sich einige, welche all ihr Streben für ihr engeres Vaterland, für ihren Staat verwenden, zuweilen auf einen dunklen Winkel des Erdkreises sich beschränken: diese aber werden mehr von einer gewissen Vorliebe und Pietät, oder einer an sich recht lobenswerten Neigung zu sorgsamem Fleiß, als von jenem Drange nach Erkenntnis geleitet, welcher der Wissenschaft eigen ist; denn dieser Drang wird von der Überzeugung, daß nichts Menschliches ihm fern und fremd sei, zur Umfassung des ganzen Kreises aller Jahrhunderte und Reiche fortgerissen. Ein ganz andres ist das Wesen der Politik; sie bezieht sich jederzeit auf einen einzelnen Staat, wird zu dessen Nutzen geübt, hängt deswegen notwendig von dessen Natur ab und schließt sich so in bestimmte Grenzen ein. Denn wer möchte es wohl unternehmen wollen, selbst und allein überall alle Staaten zu regieren? Glücklich, wer einem einzigen vorzustehen versteht. Unzählige gibt es, welche das Staatsschiff zu lenken unternehmen, sehr wenige, die nicht sofort wieder die Zügel aus der Hand zu legen gezwungen werden. Denn diese Kunst erfordert, wenn irgendeine andre, Schärfe des Verstandes, Kraft des Genius, der dazu geboren ist, zu entdecken und durch Denken zu ergründen, Tapferkeit der Seele und ist, wenn ich mich nicht täusche, die schwerste aller Künste.
Und so kehren wir dahin zurück, von wo wir ausgegangen sind. Denn darin irrten sich die Philosophen des nächstvorhergehenden Jahrhunderts, daß sie sich eine universale Doktrin ausgedacht hatten, nach welcher alles regiert werden müsse. Die ausharrende Arbeit der Studien, durch welche das einzelne erkannt wird, vermieden sie; ein solcher Ekel vor der seit langer Zeit in vielen Staaten, wie nicht geleugnet werden kann, eingetretenen Verderbnis der öffentlichen Verhältnisse hatte sie erfaßt, daß sie sich überredeten, alles nach dem Entwurf eines Bildes der besten Staatsform umgestalten zu müssen, den verschiedensten Völkern ein und dasselbe Gesetz gaben und eine gemeinsame Staatsform vorschlugen. Und so versuchten sie alles nur mögliche; als das vornehmste und zuerst zu erstrebende Verdienst erschien es ihnen, die von alters her bestehenden Einrichtungen zu lockern, zu zerreißen, zu vernichten: davon, so weissagten sie, werde ein Anfang gemeinsamen Glückes, die Rückkehr eines goldnen Zeitalters womöglich, erfolgen. Sie erkannten jedoch bald hernach selbst, daß man die Elemente und Anfänge der Dinge, welche der Gründung der menschlichen Gesellschaft gedient hatten, nicht ungestraft in Bewegung bringe und mitten in den Streit und den Zwiespalt führe; sie wurden belehrt, daß es in den Staaten eine besondere Eigenheit des Charakters gibt, welche durch Gewalt und Gewalttätigkeit zwar zurückgedrängt, nicht leicht aber ganz vernichtet und aufgehoben werden kann; sie erfuhren endlich durch persönliche Leiden die Habgier und Herrschsucht der schlechtesten Menschen, welche sie selbst aufgerufen hatten. Daher jene Männer, wenn sie auch die Luft reinigten, doch zugleich unermeßliches Mißgeschick über das Menschengeschlecht brachten und noch heutzutage, wie Spanien zeigt, dem Staate Unheil zu bereiten fortfahren.
Und nun wende ich mich an Sie, liebe Kommilitonen. Die Geschichte, deren Lehramt ich seit einigen Jahren verwaltet habe und heute durch einen feierlichen Akt übernehme, hat unzähliges Gute, wodurch sie sich empfiehlt, vorzüglich aber, wie wir eben gesehen haben, das, daß sie einer gesunden Politik den Weg bahnt und Dunkelheiten und Täuschungen abwehrt, welche in unserer Zeit selbst den besten Männern vor den Augen zu tanzen pflegen. Einige wiederholen uns immer von neuem, daß unser Zeitalter wegen der ausnehmenden Kunst der Handwerker und Fabrikanten, dann wegen der Herabführung mannigfacher Bildung bis zu den untersten Volksschichten, endlich wegen der allgemeinen Einsicht und Humanität in dem Grade alle früheren übertreffe, daß man von ihnen nicht einmal ein Beispiel entnehmen, viel weniger ein Gesetz herleiten könne. Groß erscheinen sie sich, wenn sie Eltern und Voreltern nicht im mindesten achten. Andre dagegen versichern, daß unser Zeitalter das schlechteste von allen sei, die jemals gewesen sind, daß es der Pietät, der Religion, der Tapferkeit, der Gerechtigkeit ermangle; ja, sie rufen klagend aus, daß es so von Fehlern wimmle, daß man an seiner Besserung verzweifeln müsse. Jenen sagt nur zu, was neu und unerhört ist: denn dies allein stimme am meisten mit dem veränderten Charakter der Zeitverhältnisse überein; diese dagegen billigen nichts, als was durch das Ansehen des Altertums bestätigt werde, und halten sich so nahe als irgendmöglich an die Fußstapfen der Altvordern. Die Geschichte aber belehrt uns, daß jedem Zeitalter seine eigne Fehlerhaftigkeit anhaftet und seine eigentümliche Fähigkeit zur Tugend beiwohnt, so daß wir weder zur Verzweiflung, noch zu Stolz und Übermut besonderen Grund haben. Auch das lernen wir, daß jedem Zeitalter seine eigne Aufgabe gegeben und vorgezeichnet sei und so auch dem unsrigen, welche mit Fleiß und Sorgsamkeit durchzuführen wir uns selbst anschicken müssen. Endlich erkennen wir, daß die menschlichen Dinge weder durch ein blindes, unvermeidliches Geschick geleitet, noch durch Truggebilde gelenkt werden, sondern ihre glückliche Durchführung nur von Tugend, Verstand und Weisheit abhänge. Diese Wissenschaft in Ihre Seele aufzunehmen, lade ich Sie ein, teure Kommilitonen: daß wir den Weg einschlagen, den sie uns zeigt, dazu mahnt uns das Vaterland, das Beispiel des Altertums und der neueren Zeiten, endlich die Natur und Notwendigkeit der Dinge selbst.