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Wahn, Wahn, überall Wahn
(Richard Wagners Hans Sachs)
Wenn mein Sohn in die Jahre gekommen, will ich ihm dies Buch in die Hand geben und zu ihm sagen:
Werde ein Mann, nimm und lies, denn hier ist Ehrlichkeit!
Beschaue dir diese Welt, überdenke sie!
Aus diesem Gedränge von Irrtümern soll die Wahrheit freie Bahn finden. Aus dieser Saat von Tollheiten soll reine Erkenntnis sprießen. Aus dieser Versammlung von Narren und Schurken, von Fratzenwesen und eingebildeten Halbgöttern, von Feiglingen und Helden soll eine geläuterte Menschheit wachsen. Aus diesem Erbe, bunt wie eine Trödelbude, sollst du dein Los ziehen. Aus diesem Tohuwabohu soll deine Seele nach eigenem Kontrapunkt Akkorde und Harmonien setzen. Aus diesem Chaos sollst du dir eine Welt zaubern, geordnet und schön, wert, deine Heimat zu sein und deines Geistes bleibende Statt. Aus dieser blutigen Verquickung von jahrtausendaltem kirchlichem Zwang soll deines Vaterlandes Freiheit erblühen.
Werde ein starker Mann, mein Sohn, der keine Furcht kennt. Du weißt aus Natur- und Geschichtsforschung, und dein schlichtes Gefühl bezeugt dir's, woher wir Menschen stammen, wie in der Not und Trübsal des Entwicklungskampfes die Wissenschaften entstanden und die Künste und die Religionen, wie diese dann miteinander rangen, sich gegenseitig würgten und überholten in allerlei Offenbarungen und Testamenten, und wie heute, im Zeitalter der immer sieghafter hervorbrechenden Naturerkenntnis, alles Dogmatische nur noch als Überbleibsel längst vergangener Kulturzustände sein Dasein fristet.
Überdenke dies, wenn du zu Schriften, wie der vorliegenden, nicht gleich den Reim findest.
Jede Trennung der wissenschaftlichen Lehren und Erkenntnisse vom Leben, jeder Zwiespalt des Lebens mit der Allnatur stiftet Verwirrung und Unheil und verfälscht die Maßstäbe. Nur in der Einheit von Lehre und Leben, von Leben und Natur stehst du auf dem Grunde der Wahrheit, deiner Wahrheit, und bleibst deiner Menschenwürde und Willensherrlichkeit gewiß.
Daß keiner über dein Gewissen herfalle, keiner dich mit Wortkünsten und scholastischen Blendwerken täusche, keiner dich mit welschem Dunst umneble, keiner dich fremde Wege führe, keiner deinen Heimatboden entwerte – sieh dich vor! Nichts ist wahr, was dem Sinn deines Lebens widerspricht, nichts ist geheiligt, was gegen deine eigene Natur streitet, nichts ist sittlich – gestatte dies von allen Unterdrückungssüchtigen und Scheinheiligen so gottesmörderisch mißbrauchte Wort –, was Ausnahmen von natürlicher Ordnung und Gesetzlichkeit fordert. Es gibt nicht zweierlei Wahrheit, denn es gibt nicht zweierlei Natur.
Mit der Wucht der Einheit schlage sie nieder, die dir mit Dualismen und jenseitigen Regeln und Satzungen kommen wollen, den Mörderdolch wider Vernünftigkeit und Geistesfreiheit im heuchlerischen Gewande.
Mit der Wucht der Einheit. Wer in Diesseits und Jenseits scheidet, will herrschen über die Diesseitigen, wer Göttliches und Natürliches trennt, will schwächen, damit seine eigene Macht den Vorteil habe. Alles war seither darauf gestellt in der Geschichte: Wille zur Macht, aber Wille in dieser Ausschweifung: Millionen Erwerbender und Darbender für tausend Besitzende und Genießende, Millionen Untertanen für hundert Herren, die ganze Christenheit eine Herde für einen Hirten, den Vizegott im Vatikan.
Und damit diese Ausschweifung ihres Babylons froh werde und vor Zerstörung sicher sei, ward der Spruch erfunden: »Die Religion muß dem Volke erhalten bleiben.« Religion in diesem Sinne bedeutet aber nur: Kusch vor den Gewalthabern, kusch vor der Autorität der Priester, Wahrsager und Zeichendeuter.
Religion in diesem Sinne aber ist Irr-Religion, Bestialität in der Maske der Göttlichkeit. Merkst du den Spuk?
Wenn aber dereinst vom Vatikan kein Stein mehr auf dem andern sein wird und das mittelalterliche Rom toter als das antike, wenn es als unglaubliche Sage klingt das heute noch lebendige Märchen von der Unfehlbarkeit und den Verfluchungsbullen und den Himmelsschlüsseln und dem Pantoffel und dem Kastratengesang in der sixtinischen Kapelle: dann –
Aber zu dieser Stunde äfft und narrt uns noch so vieles, sogar das Ladenschild eines Barbiers im vatikanischen Viertel in Rom, worauf ich in lebhaftester Erinnerung heute wie vor zwanzig Jahren die Inschrift lese in verwaschenem pompejanischem Rot: »Hier wird zur Ader gelassen, geschröpft und kastriert.«
Heute noch –
Nimm dieses Buch und lies! Es wird zuerst dein Herz bedrücken wie ein Alp, es wird dein Gehirn pressen wie Schrauben aus mittelalterlichen Folterkammern, es wird dich grabesnächtig anwehen wie aus Inquisitionskerkern, es wird dich andünsten wie schmorendes Menschenfleisch von Ketzer- und Hexenscheiterhaufen und wie Leichen- und Pestgestank von hundertjährigen Glaubenskriegen. Aber dann wird eine große Freudigkeit über dich kommen, eine helle, jubelnde Entschlossenheit und ein neues Heldengefühl. Du überwindest, wie deine Väter überwunden haben, du bist in unbezwinglicher Stärke gewachsen, beides im Geist und im Gemüt.
Nun vollende, küsse den heiligen Boden deines Vaterlandes, erhebe den Blick zu seiner Sonne und hilf dein Volk zum Siege führen!
So will ich zu meinem Jungen reden.
München, 1894
Michael Georg Conrad