Theodor Mügge

Eine Sturmnacht auf den Halligen

 

Gesammelte Novellen. Dritte Abteilung.
Einzelausgaben.
Zweiter Teil


 

Neu herausgegeben
von
lobo.dox@freenet.de

2024

 

Eine Sturmnacht auf den Halligen

An einem schönen Septembertage, des Jahres 1845 war ich in den Marschen der Friesen, die an der Westküste des Herzogthums Schleswig von Husum bis Tondern nördlich fortziehen. – Marschen nennt man die fetten, fruchtbaren Tiefländer, welche von allen Seiten gegen die Meereswogen durch hohe Deiche geschützt werden und zwischen diesen mit ihren reichen, herrlichen Saaten und leuchtenden Wiesen wie zwischen ungeheuern Festungswänden ruhen.

Ein unheimliches Gefühl beschleicht den Reisenden, wenn er auf den Kronen dieser hohen Deiche steht, wo zu seiner Linken der Schaum der brandenden Wellen zu ihm heraufspritzt, während er weit über ein sturmgepeitschtes, tobendes Meer blickt, und dann zu seiner Rechten die grün gesegnete Ebene liegt, wo blanke Rinderschaaren sich im Grase strecken, wo der goldene Weizen in unabsehbaren Feldern wogt und Schafe und Pferde um die Hügel weiden, auf denen die Menschen in Glück und Wohlstand, zwischen Blumen und Gebüschen ihre friedlichen Häuser gebaut haben. Auf der einen Seite segelnde Schiffe, die über schwarze, schlammige Wasser fahren; in der salzigen Tiefe Fische, Seehunde und häßliche Rochen, wild schreiende Mövenschwärme darüber; auf der andern Seite aber das sonnige Grün, das Menschenleben, der Schrei der Freude und der Lust. –

Wenn einer dieser Deiche bräche, wenn es der Sturmfluth gelänge, ihn zu durchwühlen oder mit ungeheuren Wogen über seine Höhen wegzustürzen, würde in wenigen Minuten der Segen sich in Fluch, das Leben in grausamen Tod umwandeln, die Marsch ein Meer seyn, auf dem die Leichen der Menschen und Thiere und die zerstörten Trümmer ihres Glückes wild durcheinander trieben.

Aber wie oft ist dieß nicht schon geschehen!. Wie oft gingen viele tausend Menschen Abend froh zu Bett, um nie wieder aufzustehen. Denn dieß Meer, welches jetzt seine Wellen leise grollend über die strohgestickten Deichbettungen wälzt, steigt bei Sturmfluthen dreißig, ja vierzig, Fuß hoch davor empor. Auf hundert Meilen brüllt dann der Wasserberg und schlägt und wäscht mit fürchterlicher Kraft an diese Bollwerke. –

In früherer Zeit, als sie noch nicht so stark waren, wie jetzt, überstieg er so oft in Zeit weniger Minuten und wenn der Morgen kam, war alles Leben vernichtet. Jetzt geschieht das seltener; doch wenn Du in die Marsch hinunterblickst, die von zahllosen Gräben durchschnitten ist, in welchen sich die Wasser sammeln und über welche nur der Marschbewohner mit Hilfe seines langen Springstockes zu setzen vermag, wenn Du die Schleusen und künstlichen Werke betrachtest, welche die eindringenden Fluthen wieder hinaus schaffen, wenn Du siehst, wie naß und weich der Boden ist, und wie die Häuser, welche vereinzelt über die Marsch zerstreut sind, jedes auf einem künstlichen Hügel erbaut, der die Warf genannt wird, wie umbuschte Inseln aus einem Meere von Gras und Schilf aufragen, so meinst Du gewiß, es könne der Mensch hier noch jetzt wohl keine Nacht ruhig schlafen, ohne fürchten zu müssen, vom Donner der Fluth, die an seine Schwelle schlägt, geweckt zu werden.

Aber die Bauern in der Marsch sind ein kühnes Geschlecht und so stolz auf ihr reiches Land, daß sie alle Bewohner der Höhen, der Geest, wie diese genannt werden, mit einer gewissen Geringschätzung betrachten, so daß ein alter Bauer einst zu seinem reiselustigen Sohn sagte: »Mein Sohn, dieß ist die Marsch, die ganze übrige Welt ist nur Geest, was willst Du Narr also in's wüste Land hinaus gehen?« – und wie jener Bauer, so denken die meisten. –

Ihre Häuser, geräumig und von Backsteinen gebaut, zeugen eben so wohl von ihrer Wohlhabenheit, wie von dem Reinlichkeitssinn, welcher Friesen und Sachsen, gleich den Holländern auszeichnet. Die Wände des Zimmers sind glänzend weiß, die Decken von Holz mit blauer oder rother Oelfarbe bestrichen, die Fenster mit großen Glasscheiben lassen helles Licht herein. Alles athmet Sauberkeit und Sorgfalt. Die Tische und Dielen sind so blank gescheuert, die Stühle mit Kissen von Seegras belegt, Kupferstiche in Rahmen hängen an den Wänden, eine alte Gehäuseuhr, die von Großvater auf Sohn und Enkel erbte, hat zwischen den Schildereien ihren Platz und im Pesel, dem großen Raume, der zur Sommerzeit das Wohn- und Gastzimmer bildet, stehen die mächtigen messingbeschlagenen Kisten, welche den Leinen- und Bettenschatz enthalten, oder schöne alte Schränke, mit Holzschnitzwerk bedeckt, die Zeugniß geben, daß in früherer Zeit schon die Holzschnitzkunst hier wohlbekannt und wohlgeachtet war.

So sind die Häuser in der Marsch auf den Warften meist behagliche Gebäude mit langen Fensterreihen, und man merkt es ihnen nicht an, daß mitten in ihrem Mauerwerk dicke Pfähle tief in die Warft eingerammt sind. Diese Pfähle tragen das Dach des Gebäudes und sind dazu bestimmt, daß. wenn Sturmfluthen einbrechen und den Steinbau wegschlagen, der ihrer Wuth nicht zu widerstehen vermag, doch die Holzbalken in der Warft wohl stehen bleiben mögen, auch das Dach mit ihnen, auf welches sich die Bewohner retten können, und diese Einrichtung hat schon vielen Menschen das Leben erhalten.

Aber an Nichts merkt man so sehr, daß man bei einem Volksstamme verweilt, der auf dem Meere heimisch, an dessen Küsten oder Inseln seßhaft ist und eher Schiffe besaß, als Häuser, als an den Lagerstätten, denn diese sind noch ganz so eingerichtet, wie man sie auf Schiffen findet. In Holzverschlägen an der Wand sind sie angebracht und werden mit Schiebern zugeschoben, so daß man bei Tage Nichts davon gewahr wird. Da liegen die Marschbewohner warm und dunkel, und wenn der Sturm weht, wenn das Meer dumpf braust und das Gebäude ächzt und knarrt, träumen sie von dem wilden wogenden Element, das ihrer Väter Wiege und erste Heimat war.

Nachmittags saßen wir im Sonnenschein vor dem Hause Peter Jansen's, des Landeshauptmanns, eines wohlhabenden Hofbesitzers, denn kein adlicher Herr wohnt hier, kein Vornehmer. Seit uralter Zeit haben hier nur freie und gleiche Leute gelebt, und so tief eingeimpft war von je an die Freiheitsliebe bei den Friesen, daß ihr Wahlspruch hieß: »Lieber todt als Sklave!« und ihr größter Stolz war es, daß kein Herr und kein Knecht in ihrem Volke geduldet werde.

Der Garten des Landeshauptmanns zog am Abhange der Warft hin, wo zwischen Taxushecken die schönen dunkelrothen Levkoyen der Marsch und große farbige Nelken blühten. Vor uns lag die grüne reiche Ebene, der Seewind rauschte über die Deiche durch die kahl gefegten Kronen der Linden und auf dem Tisch brodelte der Theekessel. Dazu standen aus blauem Porcellangeschirr die Tassen daneben, und Teller, gefüllt mit frischer Butter, Waizenbrod, weiß wie Sonnenlicht, und mit Zuckergebackenem, wie es die friesischen Hausfrauen lecker zu bereiten verstehen.

Thee und Kaffee wird vom Morgen bis zum Abend in den Marschen getrunken, denn das Wasser ist sumpfig und krankmachend, aber abgekocht und zum Thee verwendet, gibt es diesem einen ganz besondern Wohlgeschmack. So saßen wir denn, munter sprechend und trinkend; die freundliche Wirthin hörte nicht auf zu nöthigen; Peter Jansen aber erzählte vielerlei von dem Leben in der Marsch, von den Winterstürmen, die mit fürchterlicher Gewalt toben, von der Regenzeit im Herbst und Frühjahr, wo die Marsch sich in Schlamm und Wasser auflöst und die Menschen auf ihren Warften oft wochenlang, abgeschnitten von der übrigen Welt, in den Häusern sitzen, weil die Wege grundlos und nicht zu betreten sind. Nur auf den Deichkronen kann man dann fortkommen, aber es kostet Mühe dahin zu gelangen und Niemand mag es wagen, in Sturm und Nacht und Nebel hier zu wandeln, denn mancher Wagehals hat es schon bereut und ist nie wiedergekehrt. Vielleicht that er einen Fehltritt, glitt aus und stürzte in die hohe Fluth, welche unter ihm an den Deichen brandete, vielleicht wehte ihn der Orkan hinunter, oder Nebel, in dessen stickender Dichtigkeit man zuweilen keine Hand vor den Augen erkennen kann, leitete ihn irre, wenn er etwa mit schwerem Kopf aus dem Wirthshause in der Stadt heimkehren wollte.

Nach der Sage aber gehen auf diesen Deichen allnächtlich zahllose Gespenster und Kobolde um, die den Sterblichen heimtückisch fassen und in die brüllende See stoßen. Da reitet ein böser Voigt auf schwarzem Roß, dem das Feuer aus den Nüstern sprüht, und wem er begegnet, der muß hinunter in den Abgrund; da springen seltsame Wesen plötzlich dem Wanderer in den Nacken und er kann sie nicht abschütteln. Sie decken mit ihren kalten Händen seine Augen zu; er hört ihr schreckliches Gelächter und in wahnsinniger Angst und Blindheit stürzt er in die Tiefe; oder der Dränger fällt den nächtlichen Pilger an und faßt ihn mit seinen entsetzlichen Armen. Man sieht ihn nicht und hört ihn nicht, aber man fühlt sich wie mit eisernen Ketten umschlungen. Der Dränger will sein Opfer in die hungrig wartende Fluth hinabschleudern, dieß wehrt und sträubt sich dagegen und nun geht es an ein Balgen auf Leben und Tod, bis alle Kraft erschöpft ist und der Dränger es ersäuft, oder das gräßliche Wesen mit dem ersten Morgenstrahle ablassen und entfliehen muß.

Mancher hat so gerungen die ganze Nacht über und ist in Schweiß gebadet endlich mit dem Leben davongekommen, viele Andere verschwanden auf ewig; wer aber die Deiche sieht und das Meer davor, das mit der tiefen Ebbe sechs Stunden weit sich zurückzieht und einen grausigen schwarzen Schlammgrund bloslegt, in den man schaudernd hinausblickt, bis endlich die Fluth wiederkehrt mit ihrem donnernden Wasserschwall, der wird es dem Volksglauben verzeihen, daß er seine Gespenster in die wilden Einöden des Vorlandes und der Watten bannte, wo sie wimmernd und Erlösung suchend umherirren.

Die aufgeklärten Leute glauben freilich längst nicht mehr daran, so versicherten uns die Marschleute; der Landeshauptmann aber sagte zuletzt lachend »Wenn es auch nicht wahr ist, was das Volk sich erzählt, so glaubt doch, Ihr Herren, es gibt bei uns so viele Noth und Gefahr, angstvolle Nächte und traurige Tage, wie es die Leute, welche im sichern Lande wohnen, kaum denken mögen. – Wenn wir Nachts aufwachen in unseren Betten und hören den Sturm heulen, wenn jede Fuge bebt und das Dach knarrt über unsern Köpfen, horchen wir ängstlich auf den Donner der See, denken an unsere Deiche und falten mit bangen Sorgen betend unsere Hände.«

»Aber Sie haben seit dem Jahre 1825 keinen Deichbruch gehabt,« – erwiderte ich.

»Ist richtig,« fuhr er fort, »doch er kann in jeder Nacht kommen, wo der Nordwestwind die Springfluth gegen unsere kostbaren Bollwerke treibt. Wir bauen und bessern daran seit Jahrhunderten, allein mit dieser wilden See wird unser Kampf niemals aufhören, denn wer kann sie unthätig machen?«

Unten am Tische saß ein alter Mann, ein Schullehrer, wie sie in den Marschen umherziehen von Hof zu Hof, da und dort eine Zeit lang einsprechen und die Kinder unterrichten, bis sie weiter wandern. Der alte Mann mit dünnem weißem Haar und langem faltigem Gesicht saß unbeweglich fast, ohne an unserm Gespräch Theil zu nehmen. Er trank seinen Thee und hielt die Thonpfeife mit der bunten Posenspitze weit ausgestreckt im Munde. Fest stieß er den Rauch in drei dichten Wolken von sich und sagte mit feierlicher Langsamkeit:

»Keine sündige Berufung, Peter Jansen, mach es nicht schlimmer als es ist; dankt unserm Herrgott im Himmel für die festen hohen Deiche. Haben nun zwanzig Jahre gehalten, die Deiche, ist mancher Sturm und manche Fluth gegen sie angefahren und konnten nichts ausrichten mit ihrem Wüthen. Sind zu gut gebaut und zu hoch, werden sorgsam unterhalten und bewacht, werden auch immer stärker gemacht und fester; muß ein Ereigniß kommen, wie es der allmächtige Gott selten in seinem Zorne über die Menschheit zuläßt, ehe es hier zum Aergsten geht. Aber denkt an die Halligen, Peter Jansen, denkt an die armen Leute da draußen, die mitten in der brüllenden See ohne Schutz und Schirm sitzen.«

»Denke wohl daran,« erwiderte der Landeshauptmann. »War eine schreckliche Nacht, und Ihr waret mitten darin; habt das ganze Elend mit erlebt.«

»Wie war es mit den Halligen?« fragte ich begierig.

»Erzählen Sie uns, wie es herging,« riefen meine Begleiter.

Der alte Mann schien es nicht ungern zu thun. –

»Sie wissen doch,« sagte er, »daß wir die kleinen Eilande mitten im Meere vor unserer Küste Halligen nennen? Sie sind die Reste größerer Landstücke, welche die See nach und nach weggeschlagen und auf ewig versenkt hat; wird auch diese Ueberbleibsel sich abholen, denn jährlich reißt sie Stücke davon los. Jetzt sind nach sechzehn solcher kleinen Eilande übrig, wo Menschen wohnen, meist aber nur eine Familie oder zwei und drei, die Wohnungen auf Warften erbaut haben und nichts besitzen, als eine Anzahl Schafe, welche von dem dürftigen Graswuchs leben. Deiche sind nirgend vorhanden, denn die Kosten sind zu groß, man kann sie nicht erhalten. Das Meer steigt bei jeder höheren Fluth über die Hallig hin bis an die Warften hinauf. Trinkwasser gibt es da nicht, es wird in Gruben auf der Warft gefangen und vom Lande herübergeführt, wenn der Halligbewohner dann und wann in seinem Boote zu uns schwimmt, um zu kaufen, was er nöthig hat. Es ist ein elendes, kummervolles Leben, Herr, auf diesen kleinen Inseln, der Tod steht immer vor ihren Thüren, und doch hängen die Menschen mit unendlicher Liebe an dem Fleck Erde und können nicht von ihm lassen, er ist ihre Wiege und ihr Grab. Da werden die kühnsten Seefahrer auf Erden geboren, die besten Schiffskapitäne kommen von dort. In frühern Zeiten nahmen die Holländer keine andere und noch jetzt führen viele die schönsten Schiffe durch das Weltmeer, werden wohlhabend und reich, aber immer wieder kehren sie auf ihre Hallig zurück, wäre es auch nur, um da zu sterben.

Bei jeder hohen Fluth gehen die Wogen über die Hallig hin; wenn aber Sturmfluthen kommen, dringen sie über die zwanzig Fuß hohen Watten in die Häuser, ja wohl bis über die Dächer hinaus, die mit allen Bewohnern dann weggespült und vernichtet werden.

Die Noth solcher Nächte zu beschreiben, vermag keine menschliche Zunge,« fuhr der alte Mann mit leisem Kopfschütteln fort. – »Fliehen kann keiner, wohin soll er? Rund umher schäumt und brandet das fürchterliche Meer. Drinnen muß der Mensch bleiben in der engen Wohnung, denn draußen wird er weggeweht. Er kann nichts hören vor dem Heulen und Sausen des Windes, dem Knarren des Hauses und dem Brausen der See, die an seiner Schwelle tobt. Mitten im wilden Aufruhr der Elemente muß er geduldig warten, bis die Mauern brechen, die Pfähle umstürzen, welche sein Dach tragen und sein angstvolles Daseyn ihm genommen wird. Wenn Nordweststurm die Springfluth in die Buchten der Frieseninseln treibt, dann schwillt die See wohl bis vierzig Fuß über ihren gewöhnlichen Stand. Alle offenen Ebenen der Friesenlande sind dann unter Wasser; klagend klammert sich die Möve an den Rändern der öden Dünen fest und selbst die wildesten Vögel der Nordsee, vor ihrer eigenen Heimath bange, suchen ein Obdach bei den Menschen. Dann zittert das Haus auf der Warft, die Betten bewegen sich, der Grund dröhnt dumpf unter dem Wogenschlag und scheint zu wanken, und der arme Halligbewohner blickt bang in das Krachen und Brausen der Nacht hinaus. Betend faltet er mit Weib und Kind die Hände, daß Gott sich erbarme, der einzig ihn erretten kann, betend birgt er seine beste Habe auf den Boden und flieht dort hinauf, wenn die Wasser durch Wände und Fugen quillen. Wer die Demuth vor Gott nie gefühlt hat, muß solche Nächte erleben. Da würde ein König seine Krone verschenken und der Reichste seinen Reichthum und der Stolzeste seine Ordensbänder und Sterne um Erlösung aus solcher Todesnoth.«

»Und Sie erlebten eine solche entsetzliche Nacht?« fragte ich erregt.

»Ich habe sie erlebt und kann sie nie vergessen,« sagte der Greis. »Es war die schreckliche Nacht zum 4. Februar 1825. Seit einigen Wochen war ich damals auf Südö im Hause eines Freundes und hätte die Halligen gern verlassen, aber anhaltend tobten die Nordweststürme, überdeckten die Insel alltäglich mit schäumenden Wogen und führten sie an die Warft empor, zuweilen bis an die Hausschwellen und Thüren, wo sie donnernd anpochten. Kein Boot konnte See halten, Ebbe und Fluth kamen und gingen ganz außer Ordnung und Regel; doch was den Fremden ängstigt, macht meist den Halligmännern wenig Sorge.

Abends saßen wir guten Muths um den Tisch, auf welchem der Theekessel dampfte, rauchten und tranken, während die Spinnräder der Weiber schnurrten, erzählten Geschichten von Stürmen und Sturmfluthen und lachten, wenn wir hörten, wie zuweilen fremde Schiffe, bei Nacht und hohem Meer über die Halligen hinweggefahren, wo die Mannschaft an Zauberei glaubte, wenn sie plötzlich dicht neben sich in eine hell erleuchtete Stube schaute, die aus dem Grunde der See herausgehoben auf den Wellen zu schwimmen schien. Dann und wann nur wurde das Geplauder unterbrochen, wenn draußen das Brausen und Geheul stärker ward, oder eine mächtige Woge wild über die Warft schlug und an der Mauer des Hauses mit schmetterndem Schlag zerstäubte. Dann sah wohl der Eine den Andern an und der Faden fiel aus der Hand der Mädchen, aber im nächsten Augenblick war der Schreck vorüber. Das Haus war neu und stark, seine Pfosten waren tief gesetzt und die Warft frei und fest.

Am Abend des dritten Februar saßen wir nun auch so beisammen und waren froher gestimmt als je. Denn obwohl es draußen stark wehte und dann und wann in furchtbaren Stößen stürmte, war der Himmel doch hell und klar, die Sterne schienen mit silbernem Gefunkel herunter und strahlend goß der volle Mond sein Licht über das unermeßliche Meer aus.

Wir sahen davon Nichts, denn die Läden waren dicht vor die Fenster gelegt, aber wir wußten es und hatten die frohe Hoffnung eines Wetterwechsels, der unsere Gefahren beenden mußte. Plötzlich kam ein Weinen aus der Kammer, wo die Kinder schliefen; ein kleines siebenjähriges Mädchen lief schreiend aus dem Schlaf zu ihrer Mutter und faßte mit beiden Händen das Knie der Frau. ›Mutter, liebste Mutter,‹ rief es jammernd, ›wir müssen Alle sterben in dieser Nacht, es ist vorbei mit uns, es ist Alles vorbei!‹

Die Mutter gab dem Kinde einen Schlag auf die Finger und sagte halb lachend, halb erzürnt: ›Geh schlafen und träume nicht, du schnaksche Dirne, es hat keine Noth. Draußen scheint der Mond hell und morgen springst du mit den Schafen im Sonnenschein.‹

›O nein, nein!‹ schrie das Kind, sich fester klammernd. ›Wie weht es draußen so stark. Es kommt naß in mein Bett.‹

›Bist ein Narr,‹ sagte der Vater rauh, indem er den Blick nach der alten holländischen Gehäuseuhr richtete. ›Es hat noch nicht zehn geschlagen, hohe Fluthzeit ist um zwei, also geh.‹

Hier hielt er inne, denn plötzlich war es, als schüttle sich das Haus. Die Tassen und Teller in den bunten Schränken klapperten hin und her und klangen gegen die Gläser und das Kupfer bewegte sich an der Wand.

›Was ist das?‹ rief der Mann und wir Alle sprangen von den Stühlen und eilten ihm nach zur Thür. Er riß sie auf und stand einen Augenblick wie gelähmt. Der Sturm fuhr wild durch die blitzende Nacht, welche vor uns lag in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit. Der Himmel hing darüber wie eine unendliche Sternendecke und vor uns wälzte sich das Meer in dunklen Thälern und leuchtenden Bergen, deren Gipfel das blendende Licht des Mondes feenhaft überstrahlte.

›Gott sey uns gnädig in dieser Nacht!‹ murmelte Jens, indem er die Hände zusammenschlug und auf die weißen Wellenkämme hinaussah, die hoch über die Warft hinaufschlugen, uns mit Schaum und Wasserstaub bedeckend. Dann aber mit der Entschlossenheit eines Mannes, der in Gefahren alt geworden ist, faßte er Weib und Kind mit seinen nervigen Armen, drängte sie und uns Alle in's Haus zurück, schlug die Eichenthüren zu, schob die Riegel davor und den Querbaum und schrie mit mächtiger Stimme: ›bringt die Schafe auf den Boden, rettet die Lade und den Schrank, die Betten und die Kinder. In einer Viertelstunde werden wir das Wasser im Hause haben und Alles wird zu spät seyn.‹

Nun gab es ein Laufen und ein Schreien. Es waren drei Männer da, zwei Frauen und drei Kinder und jeder suchte die steile Bodenleiter hinaufzuschleppen, was er fassen konnte. Aber die Fluth war schneller, als wir meinten. Nach wenigen Minuten schon sahen wir das Wasser in leisen kleinen Bächen geräuschlos durch die Fugen und Ritzen der Thür rieseln, so quoll es auch aus dem Gestein und aus den Dielen hervor und breitete sich immer rascher und eiliger aus. Plötzlich schoß eine hohe Welle gegen die Läden vor den Fenstern und drinnen klangen die Scheiben. Die kleinen Gefäße, Kisten und Kasten fingen an zu schwimmen und zu treiben und nun schmetterten die Wogen gegen die ganze Breitseite des Gebäudes, jede wilder und mächtiger als ihr Vorgänger. Thür und Fenster klirrten und ächzten, das Haus zitterte in seinen Grundfesten, die Weiber und Kinder flohen zum Boden hinauf, wir Männer aber saßen auf dem Tisch, zwischen uns die kleine Lampe haltend, die mit ihrem trüben Flämmchen unsere angstvollen Gesichter und das dunkle, immer höher wachsende Wasser beleuchtete.

Gesprochen wurde nichts und was sollten wir auch sprechen? Alle unsere Aufmerksamkeit war auf das Brausen der Wellen und ihre furchtbaren Schläge gerichtet, die mit stets erneuerter und größerer Gewalt das Haus erschütterten. Zuweilen war das Toben der berstenden Wasser und das Geheul des Sturmes, der sie begleitete, so arg, als würden draußen Kanonen gelös't, deren Donner uns umtönte, dabei wuchs die Fluth von Minute zu Minute um unsere Füße. Bald war von dem Bett in der Wand und vom Heerdsteine nichts mehr zu sehen; finster sich kräuselnd, kroch es zu uns an der Tischplatte in die Höhe, nur wenig mehr als ein Haar breit fehlte daran, bis es uns erreichte, als plötzlich ein ungeheurer Schlag an der Mauer geschah und mit Gedankenschnelligkeit eines der Fenster sammt dem Laden und die Einfassung mit dem Stockwerk aus den Fugen sprang und niederwärts über uns hinstürzte.

In demselben Augenblick fuhr ein Balken von einer der mächtigen Wellen getragen durch die Oeffnung in das Haus, durchbrach die Hinterwand, welche in die Kammer führte, und stürzte mit dem Schwall des Wassers, der ihn hineingetragen, krachend nieder. Die Woge, welche sich über uns ergoß, warf zugleich unsern Tisch um und spülte uns in ihren Wirbel weiter. Ich stieß einen Schrei aus, denn der Stoß hatte mich hart an eines der schwimmenden Gefäße geschleudert, aber Jens faßte mich mit seiner starken Hand und riß mich auf zur Thür fort, die er mühsam nur noch zu öffnen vermochte.

Und es war ein Glück für uns,« fuhr der alte Mann nach einer Pause fort, »denn hoch stand das Wasser; die Leitertreppe zum Boden war umgestürzt und fortgeschwemmt, unsere Lampe längst erloschen, in dichter Finsterniß wir mitten in der Fluth und rings um uns der Tod. Mit Mühe fanden wir die Leiter und mit großer Noth gelang es uns, sie aufzurichten.

›Hinauf, so schnell Ihr könnt,‹ rief Jens, ›die Thür hält nicht länger aus,‹ und mit starkem Arm riß er mich die Stufen hinauf, dann den zweiten, endlich er selbst hinterher, und kaum war es geschehen, so kam, was er vorhergesagt. Ein Krachen geschah unten, die Hausthür flog in Stücke, die Leiter schlug über und verschwand; wie sie fiel, stürzte die ganze Vorwand des Hauses zusammen, nur die Ständer hielten blank und bloß, wie sie waren, und ließen den wüthenden Wellen nun freies Spiel, die in weniger Zeit, als ich rede, alle inneren Wände zerschlugen, daß von Allem, was gewesen, nichts mehr blieb, als das Dach, das auf den Pfosten ruhte.

Ein Schrei der Todesangst begleitete den Fall der Mauern und klang durch das Toben des Wassers und des Sturmes. Finsterniß war überall, das Strohdach, dicht und fest verkoppelt, ließ keinen Schimmer durch; naß, erschöpft und verzweifelnd warf ich mich nieder und hörte neben mir das Geschrei der Weiber und Kinder, die den Vater umklammert hielten, der vergebens ihnen Trost zuzusprechen suchte.

›Gott wird es gnädig von uns wenden,‹ sagte er, ›laß das Klagen seyn, Else, weint nicht, Weiber. Gottes Hand kann es allein, kein Mensch mit aller seiner List und Stärke. Und sind wir nicht glücklicher als Andere? Wir sitzen hier auf dem Dach, unsere Warft ist fest, manche muß schon gebrochen seyn, denn die Balken treiben durch die wüthende See. Ist ein Unglückstag, Peter,‹ rief er mir zu ›wie er seit einem Jahrhundert nicht über uns gekommen ist, hab' es nie erlebt und nie sagen hören von einem Lebendigen, müssen alle Deiche brechen bis an die Eider und weiter hinauf bis in die Elbe. Wer den Morgen erlebt, wird großen Kummer sehen.‹

›Werden den Morgen nicht erleben, Jens,‹ sagte ich, ›hat uns Gott durch den Mund Deines Kindes den Tod angekündigt, denn wir Alle leiden sollen.‹

›Ist nicht wahr, Peter,‹ rief er dagegen. ›Der allmächtige Gott hat durch den unschuldigen Mund uns gerettet, hat uns gewarnt, ehe es zu spät war, und wird uns weiter behüten.‹

In diesem Augenblick faßte ein wüthender Stoß des Sturmes das Dach und bog es zusammen, wie eine Weidengerte gebogen wird. Die Sparren knarrten und brachen über uns, die Rippen des Strohs rissen und trennten sich, Wellenschaum und nasser Staub stürzten durch den Spalt auf uns nieder, durch den ein Mondblitz matt hereinirrte und unserm Auge zeigte, was ich nie vergessen werde. Vor mir am Boden, die Arme fest ineinander geschlungen, saßen die Weiber mit aufgelös'ten Haaren, ihre starren, wilden Blicke zum Himmel gerichtet. Die Kinder hielten ihre Leiber umschlungen und bargen ihre Köpfe in stummer Angst an dem Busen, der sie genährt. Jens stand daneben, sein magerer, fester Körper und sein blutloses Gesicht waren wie von Stein, hinter ihm in dumpfer Gefühlslosigkeit stand der andere Mann, den nahen Tod wie ein Opferthier erwartend.

Und während dieser schrecklichen Minute flog das Dach zerrissen in Luft und See und ließ uns nun alle Schrecken unseres nahen Unterganges erkennen. Der Sturm schien sich mit dem fürchterlichen Stoße, der das Dach brach, gemildert zu haben, er tobte nicht mehr so arg, aber der Himmel war so klar, durchsichtig und glänzend, wie ich ihn kaum je gesehen. Der Mond strahlte dazu in seiner ganzen Pracht auf die unermeßlichen Wasserberge nieder, die brausend sich bäumten und sich verschlangen. Kein Ton des Lebens, kein Hoffnungszeichen, kein Schrei, keine andere Bewegung als die der empörten Wasser unterbrach die fürchterliche Eintönigkeit. Es war nichts zu entdecken von nahem oder fernem Lande, alle Halligen, alle Küsten der Außeninseln schienen tief unter der Fluth zu liegen, alles Lebendige darunter erstickt zu seyn. Es war, als seyen wir von allen sterblichen Wesen auf Erden allein noch übrig geblieben, um die Angst des Todes langsamer und schmerzhafter zu empfinden.

Denn eine schreckliche Gewißheit löschte die Hoffnungsfunken aus. Noch war mehr als eine Stunde Zeit bis zur höchsten Fluth und schon erreichte diese die halbe Höhe der Balken und schleuderte ihre Wellenspitzen bis zu uns auf. Zwischen den Spalten der Bretter unter unsern Füßen konnten wir die schäumenden Wogen verfolgen, wie sie durch die eingestürzten Wände des Hauses rollten, von den Resten der Mauern abprallten und ein schreckliches Spiel mit Kisten und Kasten, Schränken und Geräthen trieben, die sie aneinander warfen, bis endlich die letzte Schranke zusammenbrach und im wilden Wirbel nun Alles auf den breiten Tummelplatz ihrer Wuth gerissen wurde.

Denken Sie sich jetzt,« sagte der alte Mann, »wenn Sie es vermögen, das Bild unserer Noth. Denken Sie sich die starren thränenlosen Blicke, welche die Wasserwüste durchirren, denken Sie sich die krampfhaft gefalteten Hände, die Lippen, auf denen das Gebet stirbt, die angstverzerrten Gesichter, deren Entsetzen kein Wort beschreiben kann. Jede Welle, welche an die Pfeiler prallte, die allein unsere Erhaltung beschützten, regte die Angst höher auf; wir fühlten die durchdringende Kälte der Februarnacht nicht, fühlten nicht, daß die nassen Kleider an unserer Haut festklebten, fühlten den Sturm nicht, der unser Haar zerriß, alle Erwartungen und Empfindungen drängten sich auf das Bangen vor der gräßlichen Minute zusammen, die uns aus dem Buche des Lebens streichen sollte.

Und diese Minute nahete, wir sahen sie kommen, ohne irgend etwas thun zu können, um sie aufzuhalten. Die glänzenden Berge vom flüssigen Metall, welche uns umwogten, wurden höher und höher; die zitternden Balken überzeugten uns, daß das Wasser immer tiefer und mächtiger im Grunde nage und bohre. Zuweilen schienen sie zu schwanken und ihr Krachen zeigte an, wie mühsam sie dem wüthenden Element widerstanden. Der harte Lehm der Warft löste sich unter der Arbeit des Wassers auf, er wurde losgerissen und fortgespült, und die hohen Sturzseen, welche mit fürchterlicher Kraft an dem Holzbau rüttelten, zogen ihn hin und her, bis kein Widerstand mehr zu leisten war.

Unter allen diesen Schrecken hatte Jens allein seinen ungebeugten Muth bewahrt. Es war ein Mann, der unter den wetterharten Halligbewohnern einen hohen Ruf besaß. Lange Zeit war er wie die meisten jungen Männer der Halligen und Außeninseln auf den Meeren umhergefahren, hatte als Steuermann einen Indienfahrer geführt, und sich dann mit dem ersparten Gelde in seine geliebte Heimath zurückgezogen. Hinaus in die Welt wollen sie Alle und ihr Glück versuchen, aber wen das Meer nicht verschlingt, der kommt wieder heim mit tiefer Sehnsucht im Herzen, wie die Wandervögel wiederkehren, mögen sie noch so weit ziehen zu schönen fernen Ländern, sie suchen das Nest im hohen Norden immer wieder auf, wo es in Sturm und Nebel an den Klippen hängt.

Jens hatte ein Weib genommen und das alte Haus seiner Väter neu und stark aufgebaut. Mit breitem Steingiebel über der Eichenthür stand es schöner da, wie irgend eines, und Jens wohnte als ein glücklicher Mann darin. Drei kräftige Kinder schrieen dem Vater entgegen, wenn er aus dem Schlick mit seinem Netz voll Rochen und Krabben heimkam, oder sein weißes Segel der Hallig wieder nahte, zurückkehrend aus der Lystertiefe, wohin er sein Schiff geführt, oder von Husum, wo er sein Schaffleisch, seine Felle, und seine Möweneier verhandelt hatte. Keiner war weit und breit zu finden, der ein Boot so zu führen verstand, Keiner kannte das Meer besser, Keiner Wind und Wetter, so wie er. Er war ein kühner, ein echter Friese, vor keiner Gefahr bebend, ruhig überlegend, voll stolzen Selbstvertrauens und von Kindheit an gewöhnt, am meisten auf sich selbst zu hoffen.

Als das Dach in. Stücken flog, stand er eine Zeit lang starr hinausblickend auf das Meer, seinem Kummer hingegeben. Was er mühevoll gebaut und erworben hatte, war verloren und verschlungen, aber hier auf diesen nassen Dielen lag doch das Theuerste, gerettet, das er besaß: sein Weib, seine Kinder! Aber der alte Muth kehrte bald zurück. Er trug die Kinder auf die sicherste Stelle, schützte sie mit Betten und Geräth, band seine Schafe an den Balken und Sparren fest, daß Wind und Wellen sie nicht beschädigen mochten, sorgte für die Reste seines Eigenthums so gut er konnte, und sprach denen Trost zu, die auf ihn als auf einen Helfer ihrer Noth mit dem letzten kranken Strahl ihrer Hoffnung blickten.

Seine Ruhe, sein Vertrauen hielt ihren Glauben wach, der in jedes Menschen Brust wohnt, den Glauben an Rettung, welchen der Sterbende noch bewahrt, und wenn man auf Jens blickte, wie er fest in das Wellengebraus hinaus sah, wie er mit seinen harten Händen den Schaum der Wogen von seinem flatternden Haar wischte und mit festen Schritten von Einem zum Andern ging, ihm Muth zuzusprechen, hätte man glauben sollen, er wäre von aller Sorge und Furcht frei. Aber in seinem Herzen sah es anders aus, und als er zu mir trat, sah ich bald, wie wenig er selbst an Erhaltung unsers Lebens glaubte.

›Habet nie so etwas Fürchterliches geschaut, Peter,‹ rief er mir zu, ›glaube es gern, es geht mir eben so. Bewahre Gott jeder Mutter Kind, werdet davon erzählen können nach langen Jahren.‹

›Glaubt Ihr denn wirklich, daß wir jemals einem Menschen wieder sagen werden, was wir hier erlebten?‹ erwiderte ich.

Er sah mich mit einem wilden schnellen Blick an.

›Sind Beide alt genug zum Sterben, Peter,‹ sagte er dann, ›und habe das Meer wohl schon grimmiger gesehen, wie in dieser Nacht, ohne zu fürchten, aber da, da!‹ er deutete auf die Kinder, ›das macht das Ende zur Qual, die wie Höllenfeuer brennt. Stehe hier wie ein Lamm und kann mich nicht wehren gegen den Tod, muß ihn kommen sehen mit offenen Augen. Strecken ihre Arme zum Vater aus, fordern Hülfe und Erbarmen von ihm, das schneidet mit tausend Messern, Peter, das ist das Schrecklichste, was ein Mann erfahren kann.‹

In seinem blassen, ernsthaften Gesicht war ein grausamer Schmerz zu lesen, der plötzlich die undurchdringliche Ruhe überwältigte.

›Sind wir denn wirklich verloren, Jens?‹ rief ich, und der Muth, der ihn verließ, ergriff mich. ›Das Haus steht noch fest, in kurzer Zeit muß die Fluth ablaufen, das Aergste ist schon jetzt vorüber.‹

›Nein,‹ sagte er mit trotziger Bestimmtheit, ›das Aergste kommt noch, was wißt Ihr davon, Peter? Das Haus wankt, die Warft ist zur Hälfte fortgeschlagen, die Stützen liegen bloß, die Wellen heben die Bretter unter unsern Füßen, und nun seht dort hinaus, seht Ihr den schwarzen Berg, der sich über das Meer ausdehnt, wie ein Ungeheuer, das in die Wolken hinauf will? Das ist die hohe Fluth, Peter, sie rollt gegen uns auf und kein Leben kann ihr entkommen.‹

Als ich der Richtung seiner Hand folgte, stockte mein Blut vor Entsetzen. In der Ferne, wo Mondschein in Dämmerlicht verschmolzen, stieg ein dunkles, bewegliches Gebirge empor, das mit fürchterlicher Geschwindigkeit uns zu nahen schien. Es war die höchste Fluthwelle, die der Sturm vor sich hertrieb und sie zusammengeballt hatte, gleich einem ungeheuren Keil, den er mit unwiderstehlicher Gewalt gegen alle Küsten und Deiche schleuderte. Und ihm voraus höhlte sich die Tiefe vor seiner Macht und bildete ein schwarzes Thal, aus welchem die Wogen sich aufbäumten, kämpfend gegen einander stürzten und zerstäubten, um wieder zusammenzufließen und mit erhöhter Kraft auf uns zu stürzen. Schmetternd schlugen sie gegen die Westseite des Hauses; die Sturzseen flogen über uns hin, die Bretter des Bodens wurden unter unsern Füßen aufgerissen, das Wasser quoll darunter hervor, der ganze Bau wankte und krachte und mit dem Gefühl der Vernichtung schloß ich die Augen und umklammerte den Balken, an welchen ich mich gelehnt hatte.

Aber es war nicht so. Noch hielten die Bänder; nur an den Seiten waren die Pfähle fortgerissen und westlich hatte sich das Dach schief hinabgesenkt. Aus meiner Betäubung wurde ich durch Jensens Stimme geweckt, die das Gekreisch der Weiber übertönte, und wie ich die Augen aufschlug, sah ich den kühnen Mann rasch über das sinkende Dach laufen. Sein Dienstmann folgte ihm und Beide waren beschäftigt, die Schafe von den Sparren zu lösen, an welche sie gebunden waren. In diesem Augenblick schäumte der ungeheure Fluthberg heran, und von Todesangst getrieben, floh ich gegen die feststehende Ostseite. Da lag die Frau auf ihren Knieen, ihre beiden jüngsten Kinder fest an ihr Herz gedrückt, die Augen verzweiflungsvoll auf ihren Mann gerichtet.

›Zurück, Jens, zurück!‹ schrie sie ihm zu, und getrieben von ihrer Angst sprang sie auf und lief ihm entgegen. Ich wollte sie hindern und vermochte es nicht, wollte ihr zuschreien und wurde durch einen Schlag von ihrer Seite gerissen, wollte mich halten und konnte Nichts ergreifen. Die Woge bäumte sich schwarz über uns auf und stürzte vernichtend nieder. Ein Fallen und Brausen mischte sich mit wildem Gekreisch; ich verlor das Bewußtseyn.«

Hier schwieg der alte Mann, und setzte gemächlich seine erloschene Pfeife von Neuem in Brand.

»Jedenfalls,« sagte einer meiner Begleiter lächelnd, »mildert sich unser Entsetzen, da wir gewiß sind, Ihre Sinne schwanden nicht für immer.«

»Nicht für immer,« erwiderte er, »aber welch ein Erwachen war es. Zehn Schritte vom Hause, am Rande der Warft, wie es Sitte ist auf den Halligen, der Heuvorrath in einem hohen Haufen fest zusammen gepackt, und dieß geschieht mit solcher Gewalt, daß nur mit Mühe und mit Hülfe großer eiserner Gabeln das Heu, wenn es gebraucht werden soll, herausgestochen werden kann. Die Mitte der Heudieme, wie sie genannt wird, bildet ein starker Pfahl, der sie hält, und hier war es, wo ich mich wiederfand. Das Haus war zusammengestürzt, die letzte Stütze gebrochen, aber die Dieme stand, und die ungeheure Woge, welche mich aufgehoben und in das wilde Meer geschleudert, hatte mich hierher geworfen, wo ich in krampfhafter Starrheit mich an den Pfahl klammerte.

In solcher Noth scheint der schwache Lebensfunken sich vor seinem Erlöschen zu entsetzen, und mit verzweifelnder Stärke eine letzte Anstrengung zu seiner Erhaltung zu machen. Ich hing auf dem abschüssigen, mit Schlamm und Schaum bedeckten Heu, ohne loszulassen, und doch hätte eine einzige Biegung meiner Finger hingereicht, mich in die Wellen hinuntergleiten zu lassen, welche mit weißen Zähnen meine Füße packten. Das Gefühl des Lebens kehrte zurück, und mit diesem Augenblick zugleich das volle Bewußtseyn meiner Lage und meiner Gefahr. Der Mond war unter finstern Wolken verschwunden, todte Nacht rings umher. Ich sah Nichts von dem Hause, ich wußte, daß es mit Allen, die mit mir darin gelebt und gelitten, zerschmettert und versunken lag, daß triumphirende Wogen sich jetzt nur Leichen und Trümmer zuschleuderten, und ich hörte Nichts als das wilde Brausen der Fluthen, die unter mir vorüberstürzten, deren bleiches Leuchten mich erkennen ließ, wo ich war.

Eine Minute lang faßte mich die Angst, ich konnte nicht länger mich festhalten, meine Finger konnten die Last nicht tragen, dann kam die neue Lebenshoffnung mit ihrer wunderbaren Kraft, und langsam unter ungeheurer Anstrengung hob ich mich auf und schlang den Arm um den rettenden Pfahl. Es war mir als hinge eine schwere Last an meinem Leib, und wollte ihn niederziehen, plötzlich fühlte ich einen Körper, den Arm eines Wesens, das mich umschlungen hielt, und leblos an meiner Seite lag. Es war das Kind, das uns zuerst gewarnt, Elsbeth, Jensens erstgebornes Töchterchen, und mitten in meiner Noth drang der erste Schimmer der Freude wieder in mein Herz, als ich noch Lebenswärme in ihm fühlte. Mühsam lös'te ich seine Händchen, zog es empor zu der Mitte der Dieme, riß Schlamm und Heu fort, und bettete seinen kleinen Leib, sogut ich konnte.

Sechs Stunden saßen wir dann Beide allein in Furcht und Finsterniß, bis der Morgen hereinbrach,« fuhr er dann fort – »sechs lange schreckliche Stunden, deren Qualen nicht zu schildern sind. Mit dem letzten Wogenschwall der höchsten Fluth, unter welchem Jensen's Haus zusammensank, war der Sturm gebrochen, die Wuth der vereinten Elemente erschöpft. Als der Tag kam, war das Wasser in sein Reich zurückgekehrt; die Warfte lag zerwühlt und zerspült vor uns, ein paar Balken steckten schief, in dem Hügel, und die Hallig, von tiefem Schlamm bedeckt, von eingefressenen Buchten und Rinnen zerschnitten, trat grau aus dem Meere hervor.

Das Kind lag unter meinem nassen Rocke fest eingeschlafen, mich schüttelte der Frost im Fieber, doch vergebens warf ich meine Blicke umher; kein Boot, kein lebendes Wesen zeigte sich, ich wußte nicht, ob es noch Menschen gab, die diese Nacht überlebt hatten. Endlich konnte ich es nicht länger ertragen, ich glitt an der Dieme nieder, und watete durch Schlamm und Schlick an der Warft hinauf. In einer Bucht, die das Meer gehöhlt, spielten die Wellen mit den bunten Fetzen eines Kleides, und als ich näher trat, allgütiger Gott: da lagen sie, wie ich sie zuletzt gesehen; Jens, die Frau, die beiden Kinder fest umschlungen, doch blaß, kalt und todt, und um sie her die Trümmer ihres Glücks, Gebälk und Steine des Hauses, in dessen Frieden sie gewohnt, die Leiber der kleinen Heerde dazwischen, welche sie ernährt hatte.

Es war ein banger, trauriger, ein thränenvoller Tag, voller Weh und herzzerreißender Klagen. Hundert Menschen waren auf den Halligen umgekommen, viele auf den Inseln und in Dithmarschen, noch mehrere hatten nur das nackte Leben davongetragen. Die Deiche brachen, die Marschen liefen voll; ich aber stand erst nach sechs Wochen von meinem Krankenlager wieder auf, so lange hielt das Fieber mich nieder.«

»Und das Kind? fragte ich, »was ist aus dem Kinde geworden?«

»Das ist mein herzliebstes Töchterchen bis auf diese Stunde,« sagte der alte Mann stolz und erfreut; »ich habe sie groß gezogen, dann hat sie einen wackern Mann genommen, mit dem und drei schönen Buben lebt sie froh in dem neuen Hause auf der Warft: doch wenn ich komme, geschieht es nie, ohne daß wir uns der wilden Nacht erinnern, und um Die klagen, welche verloren gingen.«

»Und sie fürchtet nicht, daß eine solche Nacht wiederkehrt?« –

Der alte Mann schüttelte lächelnd den Kopf.

»Sie kennen die Leute von den Halligen nicht,« sagte er, »da weiß jeder, daß es kommen kann, heut oder morgen, aber alles Leben steht in Gottes Hand, und lieber das Leben verlieren, als die Hallig, wo es so schön ist.«

Editorische Hinweise


Der Pfarrer vom See. Eine Lebensgeschichte von Theodor Mügge. Verlag von Otto Janke. Berlin 1858. (Romane von Theodor Mügge. Neue Folge. Zweiter Band.) 186 Seiten.

Romana. Historische Erzählung. Romane von Theodor Mügge. Dritte Folge. Erster Band. Verlag von Eduard Trewendt. Breslau 1862. 316 Seiten. (EA: Die Gartenlaube 1860)

Die Erbin von Bornholm. Romane von Theodor Mügge. Dritte Folge. Vierter Band. Verlag von Eduard Trewendt. Breslau 1862. S. 1-148.

Am Scheidewege. Ebd. S. 149-251. (EA: Die Gartenlaube 1861)

Die Auserwählte des Propheten. Romane von Theodor Mügge. Dritte Folge. Fünfter Band. Verlag von Eduard Trewendt. Breslau 1862. S. 1-94.

Sigrid, das Fischermädchen. Ebd. S. 95-211. (EA: Die Gartenlaube 1860)

Drei Freunde. Romane von Theodor Mügge. Dritte Folge. Sechster Band. Verlag von Eduard Trewendt. Breslau 1862. S. 1-144.

Alte und neue Welt. Ebd. S. 145-288.

Der Propst von Ulensvang. Romane von Theodor Mügge. Dritte Folge. Dritter Band. Verlag von Eduard Trewendt. Breslau 1862. S. 1-63.

Vater und Sohn. Ebd. S. 65-223.

Elsi. In: Die Erbin. Roman von Theodor Mügge. Zweiter Theil. Verlag von Otto Janke. Berlin 1855. S. 193-362.

Eine Sturmnacht auf den Halligen. Unterhaltungsblatt als Beilage zur Regensburger Zeitung. 1848, Nr. 18/19.

 

Die Novelle »Anna« (Romane von Theodor Mügge. Dritte Folge. Zehnter Band. Verlag von Eduard Trewendt. Breslau 1867. S. 193-399), unter dem Titel »Fort aufs Land!« im »Vielliebchen«-Taschenbuch von 1850 zuerst erschienen, ist innerhalb der vorliegenden eBook-Edition der Novellen von Theodor Mügge im erstem Band bereits enthalten und daher hier nicht mit aufgenommen.

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