Zur Zeit, als ich in Tübingen mit Alb. Rheinwald viel umging, verbrachten wir einmal, wie öfter, die halbe Nacht bei einem starken Tee auf meiner Stube (Jerusalem) in allerlei, meist heitrer Unterhaltung. Eine Weile war sehr ernsthaft von unserer Zukunft die Rede, die beiderseits äußerst unsicher, eigentlich ziel- und bodenlos vor uns lag. Wir hätten herzlich gern gewußt, ob denn auch irgend etwas aus uns werde, das den Neigungen und Wünschen eines jeden ungefähr entspräche. Halb zum Spaß, halb im Ernst befrug ich das Schicksal um mich, indem ich von Ludwigs Bücherständer, bei welchem unser Tisch (am Fenster) stand, den nächsten besten Teil des deutschen Shakespeare herunternahm, mit dem Daumen hineingriff und hier (ich meine, es war die rechte Seite, oben) sogleich auf eine Stelle stieß, die wir als bejahende Antwort nahmen. Frappant, gewissermaßen komisch-frappant, war sie dadurch, daß sie selber den Ausdruck Orakel, also die genaueste formale Beziehung auf meine Absicht enthielt. Ich habe in der Folge die Sache kaum jemanden erzählt, weil jedermann sie allzu unwahrscheinlich finden muß und ich mich nicht lächerlich machen wollte. Auch hatte ich seit vielen Jahren ganz und gar vergessen, wo die Worte vorkommen. Im »Troilus« fand ich jedoch unlängst zu meiner Überraschung in den Reden zwischen Achill und dem Hektor, Akt IV, Szene 5 folgendes:
(Achill – – – Antwort, ihr Götter!
Hektor. Mißziemen würd' es heil'gen Göttern – Antwort zu geben solcher Frage. Sprich! Glaubst du usw.)
Achill. Ja, sag' ich dir.
Hektor. Und wärst du, solches kündend, ein Orakel,
Nicht glaubt' ich dir.
Das Unterstrichene, was, als Bescheid auf meine Frage angesehen, ganz nach Orakelart ironisch zweideutig wäre, ist ohne Zweifel eben die betreffende Stelle von jener Nacht. Was wäre nun davon zu halten? Entweder ist es purer Zufall, oder kann ich es nur mit meiner alten Hypothese von einer doppelten Seelentätigkeit erklären. In dieser Beziehung, als psychologisches Problem, hat neuerdings der Kasus ein wahres Interesse für mich.
Im allgemeinen ist meine Voraussetzung diese: die Seele strahlt und wirkt von ihrer Nacht- oder Traumseite aus in das wahre Bewußtsein herüber, indem sie innerhalb der dunkeln Region die Anschauung von Dingen hat, die ihr sonst völlig unbekannt blieben. Ihre Vorstellungen in der Tag- und Nachtsphäre wechseln in unendlich kleinen, gedrängten Zeitmomenten mit äußerster Schnelligkeit ab, so daß die Stetigkeit des wachen Bewußtseins nicht unterbrochen scheint. Ich kam auf diesen Gedanken durch den Versuch, das Geistersehen, sowie die oft so erstaunlich treffenden Aussagen bei der Tischklopferei usw. natürlich zu erklären, wo doch vieles offenbar auch nur auf einem leeren, zum Teil neckischen Spiel der Traumseele beruht.
In dem oben erwähnten Fall hatte die wissende Traumseele den Einfall, das Buch zu befragen, bei mir angeregt und mich im folgenden durchaus geleitet; das heißt, ich verhielt mich in dem Augenblick bis auf den entscheidenden Griff meines Fingers hinaus partiell somnambul. So fremd und abenteuerlich das auch aussieht, warum sollte es geradezu unmöglich sein? Und übrigens: »Eine geradezu falsche Hypothese ist besser als gar keine«, sagt Goethe irgendwo in bezug auf seine Farbenlehre.