Herman Melville
Der Pudding des armen Mannes und die Brosamen des Reichen
Herman Melville

Herman Melville

Der Pudding des armen Mannes und die Brosamen des Reichen

Erstes Bild

Der Pudding des armen Mannes

»Sie sehen«, sagte der Dichter Blandmour enthusiastisch, als wir vor etwa vierzig Jahren gegen Ende März durch weiches, feuchtes Schneegeriesel die Landstraße hinunter gingen, »Sie sehen, mein Freund, unsere gesegnete Wohltäterin, die Natur, ist in allem gütig und nicht nur das, sie ist auch so weise in ihrer Mildtätigkeit, wie es nur irgendein vernünftiger menschlicher Philantrop sein kann. Dieser Schnee hier, der so ungelegen zu kommen scheint, ist tatsächlich gerade das, was der arme Landmann braucht. Mit Recht nennt man den weichen Märzschnee, der dicht vor der Saatzeit fällt, mit Recht nennt man ihn ›den Dünger des armen Mannes‹. Von einem freundlichen Himmel auf die Erde herabrieselnd durchdringt er mild und nährend jede Scholle, jede Furche, jeden Rain. Dem armen Landmann bringt er soviel Nutzen wie der Dünger des reichen Bauernhofs. Und der Arme braucht sich nicht zu bemühen, ihn auszubreiten, was doch der Reiche tun muß.«

»Möglich«, antwortete ich ohne dieselbe Begeisterung und strich mir ein paar feuchte Flocken von der Brust. »Vielleicht ist es so, lieber Blandmour. Aber was sagen Sie dazu, daß der Wind ganze Wehen ›Dünger des armen Mannes‹ hier von dem zwei Morgen großen Ackerstückchen des armen Coulter wegtreibt und dort auf dem Zwanzig-Morgen-Acker des reichen Gutsbesitzers Teamster aufhäuft?«

»Oh! Gewiß – jawohl. Ich denke mir, Coulters Feld wird ohne weitere Bewässerung feucht genug sein. Es ist ja schon ein Fest, genug zu haben, wissen Sie.«

»Ja«, entgegnete ich, mir wieder ein ganzes Gestöber feuchter Flocken abschüttelnd, »wenigstens von dem nassen Zeug. Dieser warme Frühlingsschnee mag ja, wie Sie meinen, ganz nützlich sein, aber was sagen Sie zu dem vielen kalten Schnee in den langen, langen Wintern hier?«

»Wie? Erinnern Sie sich nicht der Worte des Psalmisten? ›Denn der Herr gibt Schnee wie Wolle‹, womit nicht nur gemeint ist, daß der Schnee so weiß ist wie Wolle, sondern auch so warm wie Wolle. Und zwar, wie ich annehme, aus demselben Grunde, aus dem Wolle so angenehm, weil die zwischen ihren Fasern eingeschlossene Luft die Wärme bewahrt. Genau dasselbe ist es, wenn Sie im Dezember auf einem mit solchem Schneevließ bedeckten Feld die Temperatur messen; ohne Zweifel werden Sie sie um einige Grade höher finden als die der Luft. Sie sehen also, sogar der Winterschnee ist eine Wohltat. Tatsächlich wärmt er unter dem Vorwand von Frost, wie ein barscher Philanthrop, die Erde, die später von diesen milden Märzflocken befruchtend befeuchtet wird.«

»Ich höre Ihnen gern zu, lieber Blandmour, und kann unter dem Einfluß Ihres gütigen Herzens dem armen Coulter nur recht viel von diesem ›Dünger des armen Mannes‹ wünschen.«

»Das ist aber noch nicht alles«, erklärte Blandmour eifrig. »Haben Sie nie etwas von dem ›Augenwasser des armen Mannes‹ gehört?«

»Nie.«

»Nehmen Sie diesen weichen Märzschnee, schmelzen Sie ihn und füllen ihn auf Flaschen. Er hält sich rein wie Alkohol. Für schwache Augen das Beste von der Welt. Ich habe einen ganzen Ballon davon. Der ärmste an den Augen leidende Mann kann sich kostenlos zu diesem allgütigen Heilmittel verhelfen. Wenn das keine freundliche Fürsorge ist!«

»Dann ist ›der Dünger des armen Mannes‹ auch gleichzeitig ›das Augenwasser des armen Mannes‹?«

»Sehr richtig. Und was könnte sparsamer erdacht sein? Eine Sache, die zweierlei Zwecken entspricht – und noch dazu so verschiedenen.«

»Wirklich sehr verschiedenen.«

»Ja, das ist so Ihre Art, sich über ernste Dinge lustig zu machen. Tut nichts. Wir sprechen vom Schnee; aber gewöhnliches Regenwasser, wie es das ganze Jahr über fällt, ist noch viel gütiger. Nicht zu reden von seiner bekannten Eigenschaft, die Felder zu befruchten, betrachten Sie es in einem bescheideneren Licht. Bitte, haben Sie je vom ›Ei des armen Mannes‹ gehört?«

»Niemals. Was ist denn das wieder?«

»Nun, bei gewissen Vorbereitungen in der Küche mit Weizenmehl oder ähnlichem, wozu das Kochbuch Eier empfiehlt, kann man an Stelle der Eier einen Tassenkopf kaltes Regenwasser nehmen, das wie Hefe wirkt. So eine Tasse kaltes Regenwasser nennen die Hausfrauen dann das ›Ei des armen Mannes‹. Haushälterinnen reicher Leute verwenden es auch manchmal.«

»Doch nur, wenn sie gerade keine Hühnereier haben, nehme ich an, lieber Blandmour. Aber im Ernst gesprochen, was Sie da erzählen, gefällt mir sehr. Sprechen Sie weiter.«

»Dann gibt es noch das ›Pflaster des armen Mannes‹ für Wunden und andere körperliche Schäden, ein Heilmittel und Linderungsmittel, das aus einfachen, natürlichen Dingen besteht und also sehr billig ist, so daß es sich der ärmste Leidende leisten kann. Reiche Leute gebrauchen oft das ›Pflaster des armen Mannes‹.«

»Aber nicht ohne vorher gegen Honorar den sachverständigen Rat eines Arztes einzuholen, lieber Blandmour.«

»Ohne Zweifel, zuerst konsultieren sie ihren Arzt, was wohl unnötige Vorsicht ist.«

»Möglich. Ich will nicht widersprechen. Weiter.«

»Gut also, haben Sie je den Pudding des armen Mannes gekostet?«

»Noch nicht einmal etwas von ihm gehört habe ich.«

»Wirklich? Nun, jetzt sollen Sie ihn kosten. Und zwar sollen Sie ihn nicht eigens für Sie gemacht essen, sondern echt, von der Frau eines armen Mannes zubereitet, am Tisch eines armen Mannes, im Hause eines armen Mannes. Nur zu, und sagen Sie nach dem Essen nicht, daß der ›Pudding des armen Mannes‹ ebenso schmackhaft ist wie der eines Reichen, so will ich die ganze Sache fallen lassen, bei der es sich kurz und gut darum handelt, daß die gütige Natur dem Armen erlaubt, aus seiner Armut selbst Vorteil zu ziehen.«

Doch genug von unseren Gesprächen über diesen Gegenstand. Wir hatten deren verschiedene, denn ich war damals meiner Gesundheit wegen in dieser Gegend bei Blandmour zu Gast. Es möge genügen, daß ich mich an einem regnerischen Montagmittag (der Schnee war inzwischen aufgetaut) auf Blandmours Betreiben hin selbst in Coulters Haus vorstellte unter dem unschuldigen Vorwand, als Wanderer um ein oder zwei Stunden Ruhe und Erholung zu bitten.

Ich wurde nicht ohne große Verlegenheit, an der wohl meine Kleidung schuld war, begrüßt, jedoch mit ungekünstelter, biederer Freundlichkeit. Frau Coulter wollte eben vom Waschtrog weggehen, um ihr Einuhressen fertig zu kochen, weil ihr guter Mann bald aus einem tiefen Walde heimkommen mußte, der etwa eine Meile weit weg zwischen den Hügeln lag, und wo er gegen einen Tagelohn von fünfundsiebzig Cents bei eigener Verpflegung Holz hackte. Das Waschen ging außerhalb des eigentlichen Hauses unter einem gebrechlich aussehenden alten Wetterdach vor sich, und die Frau stand auf einem halb verfaulten, durchweichten Brett, um so gut wie möglich ihre Füße vor der durchdringenden Feuchtigkeit des Bodens zu schützen; sie sah daher blaß und verfroren aus. Ihre Blässe hatte aber noch eine andere, verschwiegenere Ursache – es war die Blässe einer werdenden Mutter. Ein stilles, unergründliches Herzeleid schlummerte hinter dem milden, resignierten Blau ihrer sanften, fraulichen Augen. Doch sie lächelte mich an, als wolle sie die unvermeidliche Unordnung eines Montags und Waschtags entschuldigen, und führte mich in die Küche, wo sie mir den besten vorhandenen Sitz anwies, einen altmodischen Stuhl von schwächlicher Beschaffenheit.

Ich dankte ihr, rieb mir die Hände vor dem niedrigen Feuer, das nicht wärmte, und musterte, wie ich so dasaß, möglichst unbemerkt von Zeit zu Zeit meine Umgebung, während die gute Frau bei jedem Aufwerfen neuen Holzes bedauerte, daß die Küche nicht wärmer sei. Sie sagte noch mehr, jedoch ohne zu klagen, über das alte, feuchte Brennholz, aufgelesenes Reisig aus Squire Teamsters Forst, wo ihr Mann saftige Scheite von frischem Holz für die Feuerung des Squires hackte. Um mich von der Minderwertigkeit ihres Brennholzes zu überzeugen, hätte es nun freilich ihrer Bemerkung gar nicht erst bedurft, denn manche Stücke waren ganz moosig und pilzig vom langen Liegen in dem aufgehäuften toten Laub vieler Herbste und gaben nur ein schwaches Zischen und fortwährendes leeres Knattern von sich.

»Zum Essen müssen Sie wenigstens hier bleiben«, sagte die Frau, »zu dem, was da ist, sind Sie herzlich willkommen.«

Ich dankte ihr wieder und bat sie, nicht im geringsten auf meine Gegenwart zu achten, sondern sich in ihrer gewohnten Arbeit nicht stören zu lassen.

Von dem Anblick des Raums war ich betroffen. Ein altes durch und durch feuchtes Haus. Auf den Fensterbrettern Bläschen von ausgeschwitzter Nässe. Die verzogenen Fensterflügel wackelten in ihren Rahmen, und die grünlichen Glasscheiben waren von dem langen Tauwetter trübe. Als die Frau irgend einer Kleinigkeit wegen in ein anstoßendes Zimmer ging, ließ sie die Tür hinter sich etwas offen. Auch dort lag kein Teppich, so wenig wie in der Küche. Nichts um mich her als das Allernötigste, und das nicht vom Besten. Kein Druck an der Wand; nur ein alter Band Doddridge lag auf dem verräucherten Kaminsims.

»Sie müssen einen weiten Weg gemacht haben, Sir, Sie seufzen so ermüdet.«

»Nein. Ich bin längst nicht so müde wie Sie, glaube ich.«

»Oh, ich bin daran gewöhnt, Sie aber nicht, sollte ich meinen«, erwiderte sie, und ihre sanften, traurigen blauen Augen glitten über meinen Anzug. »Doch ich muß die Späne da wegkehren. Mein Mann hat sich heute Morgen vor Sonnenaufgang einen neuen Axtstiel gemacht, und ich hatte soviel mit dem Waschen zu tun, daß ich noch nicht dazu gekommen bin, Ordnung zu machen. Jetzt kann ich sie aber gut fürs Feuer brauchen. Weniger frisch taugten sie freilich besser.«

Wäre jetzt Blandmour hier, dachte ich bei mir selbst, würde er diese frischen Späne die »Streichhölzer des armen Mannes« nennen, den »Zunder des armen Mannes« oder ihnen sonst einen gefälligen Namen der Art geben.

»Ich weiß nicht«, sagte die gute Frau, sich wieder zu mir umwendend, während sie in ihren Töpfen auf dem rauchenden Feuer rührte, »ich weiß nicht, wie Ihnen unser Pudding zusagen wird. Es ist bloß Reis, Milch und Salz zusammengekocht.«

»Ah, ich glaube, Sie meinen, was man den ›Pudding des armen Mannes‹ nennt.«

Ein plötzliches, halb unwilliges Erröten flog über ihr Gesicht.

»Wir nennen es nicht so, Sir«, meinte sie und schwieg.

Ich warf mir selbst meine Unachtsamkeit vor, konnte aber doch nicht anders als bei mir denken, was wohl Blandmour sagen würde, hätte er diese Worte gehört und dies Erröten gesehen.

Schließlich wurden langsame, schwere Schritte hörbar, dann ein Scharren an der Tür, und eine Stimme sagte: »Rasch, Frau, rasch, rasch, ich muß im Nu wieder zurück. Wenn ich immer daheim essen soll, mußt du fix sein, denn der Squire – Guten Tag, Sir«, rief er aus, mich beim Eintreten erblickend. Fragend wandte er sich zu seiner Frau und blieb stockstill stehen, während die Nässe von seinen geflickten Stiefeln auf den Fußboden rieselte.

»Der Herr hat hier haltgemacht, um sich auszuruhen und sich zu erholen; er bleibt auch zum Essen. Jetzt ist alles im Handumdrehen fertig, setz dich nur auf die Bank, Mann, und hab, bitte, Geduld. Sehen Sie, Herr«, fuhr sie zu mir gewendet fort, »William da möchte morgens immer kaltes Essen mit in den Wald nehmen, um mittags den langen Weg durch die Felder hin und zurück zu sparen. Aber ich will das nicht. Für ein warmes Essen macht sich der Weg mehr als bezahlt.«

»Ich weiß nicht«, sagte William kopfschüttelnd, »ich habe es mir oft überlegt, ob es sich wirklich lohnt. Der Unterschied zwischen einem nassen Gang nach harter Arbeit und einem nassen Essen vorher ist nicht so sehr groß. Aber einer guten Frau wie Martha tue ich gern einen Gefallen. Und Sie wissen ja, Sir, Frauen müssen ihre Schrullen haben.«

»Ich wollte, alle hätten so freundliche Schrullen wie Ihre Frau«, meinte ich.

»Hm, ich habe mir sagen lassen, daß manche Frauen nicht lauter Ahornzucker sind, aber zufrieden, wie ich mit der lieben Martha bin, kümmere ich mich nicht viel um andere.«

»Sie finden eine seltene Weisheit in den Wäldern«, murmelte ich nachdenklich.

»Nun, Mann, wenn du nicht zu müde bist, hilf mir eben den Tisch ausziehen.«

»Nein doch«, sagte ich, »lassen Sie ihn sich ausruhen und mich helfen.«

»Nein«, erklärte William aufstehend.

»Bleiben Sie sitzen«, sagte seine Frau zu mir.

Pünktlich war der Tisch hergerichtet und wir saßen alle, unsere Teller vor uns, um ihn her.

»Sie sehen, was wir haben«, sagte Coulter. »Pökelfleisch, Roggenbrot und Pudding. Lassen Sie mich Ihnen vorlegen. Das Schweinefleisch habe ich vom Squire bekommen, etwas von seinem vorjährigen, das er mir auf Verrechnung abgelassen hat. Es schmeckt nicht ganz so gut wie diesjähriges, doch ich finde es kernig genug für meine Arbeit, und deswegen allein esse ich. Lassen Sie mich vom Rheuma und andern Krankheiten verschont bleiben, und ich frage nichts nach anderer Leute Genüssen und Genießen. Aber Sie essen ja nichts von dem Pökelfleisch!«

»Wie ich sehe«, sagte die Frau mit schlichter Freundlichkeit, »kennt der Herr den Unterschied zwischen diesjährigem und vorjährigem Pökelfleisch. Aber vielleicht schmeckt ihm unser Pudding.«

Ich bot meine ganze Selbstbeherrschung auf und ging lächelnd auf den Vorschlag mit dem Pudding ein, ohne mich durch Blicke auf das Schweinefleisch zu verraten. Aber um die Wahrheit zu sagen, es war mir ganz unmöglich, davon zu essen; freilich hatte ich auch nur ein wenig Appetit und war nicht etwa heißhungrig. Rundherum hatte es eine gelbliche Kruste und war, wie es mir dem Geruch nach schien, etwas ranzig. Ich beobachtete auch, daß die Frau nichts davon aß, obwohl sie sich etwas auf den Teller legen ließ und, wenn Coulter zu ihr hinsah, sich scheinbar eifrig damit beschäftigte. Roggenbrot aß sie aber, und ich machte es ebenso.

»Nun also den Pudding«, sagte Coulter. »Rasch, Frau, der Squire sitzt in seinem Eßzimmer am Fenster und sieht weit über die Felder hin. Seine Uhr geht genau.«

»Er spioniert Ihnen doch wohl nicht nach, wie?« fragte ich.

»O nein, das will ich nicht sagen. Er ist ein ganz guter Mann. Gibt mir Arbeit. Aber er ist eigen. Frau, gib dem Herrn. Sehen Sie, Sir, wenn ich die Arbeit beim Squire verlöre, was würde dann aus –« mit einem schlauen, bedeutungsvollen Blick, für den ich die Menschheit ehrte, schaute er rasch zu seiner Frau hinüber und sprach in etwas verändertem Ton sofort weiter: »– aus dem schönen Pferd, das ich mir kaufen will.«

»Ich glaube«, meinte die Frau mit einer merkwürdigen Art resignierter, schwächlicher Heiterkeit, »ich glaube, das schöne Pferd, von dem du manchmal so fröhlich träumst, wird noch lang in des Squires Stall stehen. Aber manchmal erlaubt mir sein Knecht eine Sonntagsfahrt.«

»Eine Sonntagsfahrt!« sagte ich.

»Ja, sehen Sie«, erklärte Coulter, »meine Frau geht gern zur Kirche. Aber die nächste liegt vier Meilen entfernt hinter den beschneiten Hügeln dort. Zu Fuß kann sie also nicht hin, und auf dem Arm tragen, wie ich es früher die Treppe hinauf getan habe, kann ich sie auch nicht. Aber wie sie sagt, der Knecht des Squires läßt sie manchmal unterwegs aufsitzen, und das ist auch der Grund, weswegen ich von einem Pferd spreche, das ich eines schönen Tages haben werde. Getauft habe ich es schon, bevor ich es noch habe, und zwar Martha. Doch was fällt mir ein? Rasch, Frau, rasch. Der Pudding! Gib dem Herrn. Los! Der Squire, der Squire. Denk an den Squire! Und reich den Pudding herum. Da, ein, zwei, drei Mundvoll müssen mir reichen. Guten Tag, Frau. Guten Tag, Herr. Weg bin ich.«

Schnell seinen triefenden Hut an sich reißend, eilte der Brave hinaus in Nässe und Schlamm.

Ich glaube, dachte ich bei mir selbst, Blandmour würde jetzt poetisch sagen: er macht den Bummel des armen Mannes.

»Sie haben einen herrlichen Mann«, sagte ich zu der Frau, als wir allein waren.

»William liebt mich noch heute so wie am Hochzeitstag, Sir. Wohl mal ein hitziges Wort, aber nie ein hartes. Gern möchte ich um seinetwillen tüchtiger und stärker sein. O Sir, sowohl seinetwegen als auch meinetwegen (und die schönen, sanften, blauen Augen verwandelten sich in zwei Quellen); wie wünschte ich, der kleine William und Martha wären noch am Leben – so ist es so einsam. William hieß nach ihm und Martha nach mir.«

Ist man mit jemand zusammen, dem das Herz überfließt, kann man nichts Besseres tun als gar nichts. Ich saß da und blickte auf meinen unangerührten Pudding.

»Sie hätten nur den kleinen William sehen sollen, Sir. So ein gescheiter, kräftiger Bub, nur sechs Jahre alt – und nun tot, tot!«

Ich tauchte meinen Löffel in den Pudding und zwang mich, einen Bissen zu essen, um mir den Mund zu stopfen.

»Und die kleine Martha – oh, Sir! Eine Schönheit war sie! Unsagbar bitter! Aber man muß es eben tragen ...«

Der Bissen Pudding berührte nun meinen Gaumen und zwar mit einem schimmeligen, salzigen Geschmack. Der Reis war ohne Zweifel von der Sorte, die billig verkauft wird, weil sie nicht mehr gut ist, und das Salz stammte aus dem vorjährigen Pökelfaß.

»Ach Sir, wenn die Kleinen, die jetzt auf die Welt kommen, dieselben Kleinen wären, die sie so traurig verlassen haben, wiederkehrende Freunde und keine Fremden, Fremden. Immer Fremde! Eine Mutter lernt sie wohl schnell lieben, denn gewiß Sir, sie kommen von daher, wohin die andern gegangen sind. Glauben Sie das nicht, Sir? Ja, ich weiß, alle guten Menschen tun es. Doch immer, immer – ich fürchte, es ist gottlos und boshaft dazu – immer, ich mag mich mühen wie ich will, mich mit dem Gedanken an den kleinen William und Martha im Himmel trösten und indem ich Dr. Doddridge da lese – immer, immer sickert düsterer Kummer zu mir herein, genau wie der Regen durch unser Dach. Ich bin jetzt so verlassen, einen Tag wie den andern, den ganzen Tag, der liebe William ist weg, und den ganzen feuchten Tag lang rieselt und rieselt der Kummer auf meine Seele nieder. Doch ich bitte Gott um Vergebung dafür und mache es im übrigen so gut ich kann.«

Bitter und muffig ist der »Pudding des armen Mannes«, stöhnte ich im stillen, halb erstickt von dem einen kleinen Bissen, den ich kaum hinunterwürgen konnte. Ich brachte es nicht fertig, länger von Sorgen zu hören, denen die ernsteste Teilnahme doch nichts helfen konnte, von einer gläubigen Verliebtheit, für die kein weiterer Beweis als die schon vorhandenen erbracht werden konnte und die noch dazu von der Art war, die vieles Reden nur mehr oder weniger zu entstellen vermag, von grundlosen Selbstvorwürfen, die keine Vorhaltung hätte zerstreuen können. Bezahlung für die Gastfreundschaft, unentgeltlich und vornehm wie die eines Fürsten, bot ich nicht an. Ich wußte, daß solches Anerbieten mehr als abgelehnt, als Almosen empfunden worden wäre.

Auch wenn er arm ist, verliert der Amerikaner nie sein Zartgefühl und seinen Stolz. Daher leidet er, obwohl körperlich nicht so heruntergekommen wie der europäische Arme, innerlich noch mehr als die Armen irgend eines anderen Volkes der Welt. Diese besonderen sozialen, von unsern eigenen besonderen politischen Grundsätzen genährten Empfindlichkeiten erhöhen einerseits die wahre Würde des wohlhabenden Amerikaners und vermehren andrerseits nur das ganze Elend des unglücklichen, erstens weil sie ihm verbieten, anzunehmen, was kleine gelegentliche Mildtätigkeit etwa bieten möchte, zweitens weil sie ihn so bitter den schmerzlichen Unterschied empfinden lassen zwischen ihrem Ideal der allgemeinen Gleichheit und ihrer aufreibenden Erfahrung von der tatsächlichen Not und Schande der Armut – einer Not und Schande, die immer und überall dieselbe ist, war und sein wird, ob in Indien, England oder Amerika.

Unter dem Vorwand, ich müsse meine Reise fortsetzen, bot ich der Frau Lebewohl, schüttelte ihre kalte Hand, blickte ihr zum letztenmal in die blauen, ergebenen Augen und ging hinaus in die Nässe. Doch trostlos, wie es war, und feucht, feucht, feucht, eine schwere, mit allen möglichen Vorahnungen geladene Atmosphäre – kam mir jetzt durch die Plötzlichkeit des Gegensatzes zum Bewußtsein, wie die Luft in dem Hause, aus dem ich kam, schwer, ungesund und mit jener besonderen Schädlichkeit geschwängert war, die man am stärksten im Spital eines Armenhauses findet und die manche Besucher nicht ertragen können.

Daß die Zimmer der Armen im Winter so schlecht gelüftet sind – etwas, woran sie eigensinnig festhalten – rechnet man ihnen im allgemeinen als beschämende Vernachlässigung der einfachsten Grundsätze der Hygiene an. Doch der Instinkt des Armen ist klüger als wir denken. Frische Luft kältet auch aus. Und wer friert, zieht schlechtgelüftete Wärme gut gelüfteter Kälte vor. Von all den unsinnigen Anmaßungen der Menschen Menschen gegenüber übertrifft keine die meisten Urteile, die der Wohlgenährte in seinem schönen, warmen Haus über die Gewohnheiten der Armen fällt.

»Blandmour«, sagte ich abends, als ich nach dem Tee auf seinem bequemen Sofa vor dem flackernden Feuer saß, eins von seinen beiden rotwangigen Kindern auf dem Knie, »Sie sind nicht, was man eigentlich einen reichen Mann nennt, Sie haben Ihr gutes Auskommen, nicht mehr. Stimmts? Nun also, ich meine Sie nicht, wenn ich sage, daß, wenn je ein Reicher wohlwollend zu mir von armen Leuten spricht, ich es als das bezeichnen werde, was es ist, als – ich will das Wort nicht aussprechen.«

Zweites Bild

Die Brosamen der Reichen

Im Jahre 1814, in dem Sommer, nachdem ich zum erstenmal den »Pudding des armen Mannes«, gekostet hatte, empfahl mir mein Arzt eine Seereise. Die Schlacht von Waterloo hatte das lange Drama der napoleonischen Kriege beendet, und viele Ausländer besuchten Europa. Als ich in London ankam, hatten sich dort die siegreichen Fürsten versammelt und genossen eine Gastfreundschaft wie in »Tausend und eine Nacht«, die Gastfreundschaft der dankbaren und prachtliebenden Aristokratie und des höflichsten aller Gentlemen und Könige, des Prinzregenten Georg.

Alle Empfehlungsbriefe, mit Ausnahme des einen an meinen Bankier, hatte ich abgelehnt. Ich wanderte umher auf der Suche nach dem besten Empfang, der einem abenteuerlichen Reisenden zuteil werden kann, ich meine den Empfang, den ihm ungesuchte Chance und Zufall in seinen kühnen Weg werfen.

Doch ich übergehe alles andere, um das zufällige Abenteuer einer Stunde unter der Führung eines sehr freundlichen Mannes zu berichten, den ich auf offener Straße in der Cheapside kennenlernte. Er trug Uniform und war irgend ein subalterner Zivilbeamter, ich weiß nicht mehr genau, was für einer. Diesen Tag tat er keinen Dienst. Seine Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die vornehme Wohltätigkeit Londons. Zu zwei oder drei solchen Veranstaltungen nahm er mich mit und erwähnte bewundernd einige andere. »Aber«, sagte er, als wir wieder in die Cheapside einbogen, »wenn Sie sich überhaupt für dergleichen interessieren, lassen Sie sich von mir – wenn es nicht schon zu spät ist – eine der interessantesten Wohltätigkeitsveranstaltungen von allen zeigen, Sir, nämlich die unseres Lord Mayor, nein, nicht nur von einem Lord Mayor veranstaltet, sondern dies eine Mal, wie ich wirklich sagen darf, von Kaisern, Regenten und Königen. Erinnern Sie sich des gestrigen Ereignisses?«

»Sie meinen das böse Feuer am Flußufer, das so viele Arme obdachlos gemacht hat?«

»Nein. Das große Guildhall Bankett für die Fürsten. Wer könnte das vergessen? Das Diner wurde nur auf Geschirr aus reinem Silber und Gold serviert, das mindestens 200 000 Pfund wert ist, also eine Million von Ihren Dollars, während die bloßen Ausgaben für Speisen, Wein, Bedienung und Dekoration nicht unter 25 000 Pfund oder 125 000 Dollar in Ihrem Hartgeld angesezt werden können.«

»Nun, lieber Freund, Sie werden es doch gewiß nicht Wohltätigkeit nennen, wenn man Könige in diesem Maßstab bewirtet.«

»Nein. Erst war das Fest – gestern, und dann die Wohltätigkeit – heute. Wie könnte das anders sein, wenn es sich um Fürsten handelt? Doch ich glaube, wir kommen gerade rechtzeitig. Hier sind wir an der King Street, und da unten ist Guildhall. Wollen Sie?«

»Mit Vergnügen, lieber Freund. Führen Sie mich hin, wo Sie wollen. Ich bin nur hier, um umherzustreifen und etwas zu sehen.«

Wir vermieden das geschlossene Hauptportal der Halle; er führte mich durch irgend einen Nebengang, und dann standen wir in einem Hinterhof mit fensterlosen Wänden wieder im Freien. Bestürzt blickte ich mich um. Der Hof war so schmutzig wie ein Hinterhof von Five Points und stand gestopft voll von einer Masse magerer, ausgehungerter, raubgieriger Wesen, die um einen geheimnisvollen Vortritt rangen und kämpften und alle schmutzige blaue Eintrittskarten in der Hand hielten.

»Es gibt keinen andern Weg«, sagte mein Führer, »wir können nur mit dem Haufen hinein. Wollen Sie es versuchen? Ich hoffe, Sie haben nicht Ihren besten Anzug an. Was sagen Sie dazu? Es wird sich für Sie lohnen, es anzusehen. Eine so vornehme Wohltätigkeit wird nicht oft geboten. Das eine Mal nach dem jährlichen Bankett des Lord Mayors Tags – eine so schöne Wohltätigkeitsveranstaltung es auch sein mag – kommt gar nicht in Frage neben dem, was es heute zu sehen gibt. Ja, ist es soweit?« Während er redete, wurde weit vor uns zu ebener Erde eine Tür geöffnet, und die schmutzige Menge drang gewaltsam in das dunkle Gewölbe, das sich dahinter auf tat.

Ich nickte meinem Begleiter zu, und wir drängten uns von der Seite mit den übrigen hinein. Bald war uns der Rückzug von der belfernden Menge hinter uns abgeschnitten, und ich konnte mir nur dazu gratulieren, einen sowohl bürgerlichen, als auch höflichen Führer zu haben und noch dazu einen, dessen Uniform seine Amtsgewalt erkennen ließ.

Es war ganz so, als hätte ich mich an irgend einem heidnischen Strand eingequetscht zwischen einem Haufen Kannibalen befunden. Die Wesen um mich her brüllten vor Hunger. Gerade in diesem gewaltigen London bringt das Elend die Menschen zur Raserei. Auf dem Lande macht es demütig. Als ich das hagere, blutgierige Pack anstaunte, dachte ich an die blauen Augen der sanften Frau des armen Coulter. Nun schwang mein Führer irgend ein gekrümmtes blitzendes Stahlding (keinen Säbel; ich weiß nicht, was es war), das er vorher in seinem Gürtel gehabt hatte, drohend in der Luft, damit die Kreaturen nicht etwa gegen den Fremden gewalttätig wurden.

Eingekeilt, wie wir waren, drängten wir uns langsam in das düstere Gewölbe, in dem das Geheul der Menge widerhallte. Ich kam mir vor, als kochte ich unter den Verdammten der Hölle. Weiter und weiter ging es durch feuchtes Dunkel und dann eine steinerne Treppe zu einem breiten Portal hinan; als oben der verpestete Mob im strahlenden Tageslicht auseinanderströmte, ergoß er sich zwischen bemalten Wänden unter einer ausgemalten Kuppel. Ich gedachte der anarchischen Plünderung von Versailles.

Einige Augenblicke – und ich stand unter den Bettlern in der berühmten Guildhall.

Wo ich stand, wo sich der Pöbel drängte, hatten weniger als zwölf Stunden zuvor Seine Majestät der Kaiser Alexander von Rußland, Seine Majestät König Friedrich Wilhelm von Preußen, Seine Königliche Hoheit der Prinzregent Georg von England, Seine weltberühmte Gnaden der Herzog von Wellington gesessen mit einer aus siegreichen Feldmarschällen, Earls, Grafen und unzähligen andern Adligen von Bedeutung bestehenden Gesellschaft von Granden.

Die Wände bewegten sich hin und her, wie die Laubmassen eines Waldes aus wappengeschmückten, siegreichen Fahnen. Von der Außenwelt war nichts zu sehen, denn die Fenster fingen erst vierundzwanzig Fuß hoch über dem Boden an. Umsomehr fesselte mich das glänzende Schauspiel – glänzend, sage ich, ringsumher, bis das Auge auf den Fußboden fiel. Der sah dreckig wie in einer Bretterbude aus, wie in einem Hundestall. Die nackten Dielen waren mit zertrampelten Resten des Festessens bedeckt; auf den beiden langen, die Halle hinauf und hinunter laufenden, parallelen Linien der jetzt abgedeckten schäbigen, schmutzigen tannenen Tische häuften sich besser erhaltene Reste. Die farbigen Banner gehörten noch zu den Königen der verflossenen Nacht, der Fußboden paßte zu den Bettlern von heute. Auf diesen Fußboden schauten die Fahnen herab wie der reiche Mann im Evangelium von seinem Balkon auf Lazarus. Eine Reihe livrierter Bedienter hielt mit Stöcken die ungeduldige Wand der Menge zurück, sonst wäre wahrscheinlich aus der Wohltätigkeitsveranstaltung sofort eine Plünderung geworden. Beamte in vergoldeter Amtstracht verteilten Fleischreste – die kalten Gerichte und Brosamen der Könige. Ein Bettler nach dem anderen hielt seine schmutzige, blaue Eintrittskarte hoch und wurde mit dem halb gegessenen Wrack eines Fasans bedient oder mit dem Rand einer Pastete, der wie der losgegangene Kopf eines alten Hutes aussah und aus der alles Nahrhafte und Eßbare und das eigentliche Gericht herausgenommen war.

»Was für eine großartige Wohltätigkeit«, flüsterte mein Führer. »Sehen Sie nur die Pastete, die das blasse Mädchen an sich reißt. Wahrscheinlich hat vorige Nacht der russische Kaiser davon gegessen.«

»Sehr möglich«, murmelte ich. »Es macht den Eindruck, als ob ein oder der andere gefräßige Kaiser die Hand im Spiele gehabt habe.«

»Und sehen Sie auch den Fasan dort – den da – jetzt hat ihn der Bursche in dem zerfetzten Hemd – sehen Sie! Vielleicht hat der Prinzregent davon gespeist.«

Auf beiden Seiten war der Fasan grausam der Brust beraubt worden, so daß man die bloßen Knochen sah, geschmückt mit den unberührten Keulen und Flügeln.

»Ja, wer weiß«, meinte mein Begleiter, »Seine Königliche Hoheit der Prinzregent kann von genau demselben Fasan gegessen haben.«

»Daran zweifle ich nicht«, murmelte ich, »man sagt, er habe eine ungemeine Vorliebe für Brust. Doch wo ist die Schüssel mit Napoleons Kopf? Ich stelle mir vor, das müßte das Hauptgericht gewesen sein.«

»Sie scherzen gern, Sir, hier in Guildhall sind sogar Kosaken barmherzig. Schauen Sie, der berühmte Platoff, der Hetman selbst, vorige Nacht war er mit den andern hier, gewiß hat er mit seiner Lanze die fette Schweinefleischpastete dort aufgespießt. Sehen Sie, nun hat sie der alte Mann ohne Hemd. Wie er sich das Maul danach leckt, ohne daran zu denken, dem guten, lieben Kosaken dankbar zu sein, der sie ihm übrig gelassen hat! Oh – ein anderer – ein Stärkerer hat sie ihm weggegrapst. Sie fällt. Gott im Himmel! Die Schüssel ist ganz leer – nur noch ein Stückchen zerhackte Kruste.«

»Die Kosaken, mein Freund«, bemerkte ich, »sollen wild versessen auf Fett sein. Der Hetman war kaum so barmherzig, wie Sie meinen.«

»Eine durchaus vornehme Wohltätigkeitsveranstaltung trotz allem. Sehen Sie, selbst Gog und Magog dort hinten am andern Ende der Halle lachen deutlich vor Entzücken über die Szene.«

»Aber finden Sie nicht auch«, meinte ich, »daß der Bildhauer, wer es nun auch war, aus dem Lachen zu sehr ein Grinsen gemacht hat – ein hämisches Grinsen?«

»Wie Sie es nehmen wollen, Sir. Aber schauen Sie, nun möchte ich eine Guinee wetten, daß die Gemahlin des Lord Mayor ihren goldenen Löffel in das goldfarbene Gelee dort getaucht hat. Da – der geleeäugige alte Mann hat es mit einem großen Schluck durch die Kehle schlupfen lassen.«

»Friede dem Gelee«, flüsterte ich.

»Welch großmütige, edle, hochherzige Mildtätigkeit, unerhört in jedem andern Lande als England, das sogar seine Bettler mit goldfarbenen Gelees füttert.«

»Aber nicht dreimal täglich, mein Freund. Und finden Sie wirklich, daß Gelees die beste Unterstützung sind, die man Bettlern angedeihen lassen kann? Wäre nicht einfaches Rindfleisch und Brot und Arbeit, mit der sie etwas verdienen könnten, besser?«

»Einfaches Rindfleisch und Brot werden hier aber nicht gegessen. Kaiser, Prinzregenten, Könige und Feldmarschälle dinieren nicht oft mit einfachem Rindfleisch und Brot. Und dem entsprechen die Überbleibsel. Können Sie voraussetzen, daß die Brosamen von Königen dieselben sind wie von Eichhörnchen?«

»Sie! Sie da meine ich! Gehen Sie beiseite oder nehmen Sie Ihre Sache und dann weg! Da haben Sie eine Pastete und seien Sie dankbar, daß Sie von demselben Gericht kosten dürfen wie Ihre Gnaden, die Herzogin von Devonshire. Hören Sie nicht, Sie frecher Lumpenkerl?«

Diese Worte wurden mir von einem rotgekleideten Beamten dicht neben der Tafel durch den Lärm zugebrüllt.

»Er meint doch gewiß nicht mich«, sagte ich zu meinem Führer, »er wird doch nicht mich mit den andern verwechselt haben.«

»Man beurteilt einen nach der Gesellschaft, zu der man sich hält«, lächelte mein Begleiter. »Nicht nur Ihr Hut sitzt Ihnen schief und verbeult auf dem Kopf, wissen Sie, sondern auch Ihr Rock ist schmutzig und zerfetzt. Nein«, schrie er dem Rotgekleideten zu, »das ist ein unglücklicher Freund, ein einfacher Zuschauer, versichere ich dir.«

»So, du bist das, alter Knabe!« antwortete der Rotgekleidete im Ton familiären Wiedererkennens – mein Begleiter schien persönlich mit ihm befreundet zu sein. »Gut, aber bring deinen Freund sofort hinaus. Denk an den großen Krach, der gleich kommen wird. Hörst du! Jetzt! Weg mit ihm!«

Zu spät. Man hatte sich der letzten Schüssel bemächtigt. Der immer noch unersättliche Mob erhob ein gellendes Geschrei, das wie ein starker Windstoß die Fahnen flattern ließ und die Luft mit einem Dunst wie aus Kloaken erfüllte. Die Masse brandete gegen die Tische, durchbrach alle Schranken und überflutete die Halle – ihre nackten, erhobenen Arme wirkten wie die zerschlagenen Rippen eines Wracks. Eine grausame Wut ohnmächtigen Neides schien sie plötzlich ergriffen zu haben. Dies halbstündige Schielen nach den kahlen Überbleibseln der Herrlichkeiten der Königstafel, die unbefriedigenden Bissen von ausgeweideten Pasteten, abgenagten Fasanen und halbgegessenen Gelees brachten ihnen die ganze Erbärmlichkeit dieser Almosen zum Bewußtsein. Was Geheimnisvolles sie auch immer ergriff, in dieser plötzlichen Stimmung schienen die Lazarusse bereit, die entehrenden Brosamen des reichen Mannes voll reuiger Verachtung auszuspeien.

»Hier entlang, hier entlang! Bleiben Sie ganz dicht hinter mir«, flüsterte mein Begleiter eindringlich. »Ich habe meinem Freund ein Zeichen gegeben, und er hat daraufhin den Privatausgang dort für uns aufgemacht. Drängen Sie sich durch, rasch drängen Sie sich hinein – da, Ihr zerbeulter Hut ist hin, bleiben Sie nicht wegen Ihres Rockschoßes stehen – stoßen Sie den Mann beiseite, schlagen Sie ihn nieder! Halt! Drücken! Jetzt! Jetzt! Winden Sie sich durch, wie es nur geht! Ha! Hier können wir frei atmen, Gott sei Dank! Sie fallen in Ohnmacht. Ho!«

»Kein Gedanke. Die frische Luft belebt mich.«

Ich holte ein paarmal Atem und fühlte mich wieder fähig weiterzugehen.

»Und nun, mein guter Freund, bringen Sie mich durch irgend einen Vorderausgang zur Cheapside. Sofort. Ich muß nach Hause.«

»Gehen können Sie jedenfalls nicht. Sehen Sie Ihre Kleidung an. Ich muß einen Mietwagen für Sie finden.«

»Ja, ich glaube auch«, meinte ich, wehmütig meine Lumpen betrachtend und dann einen neidischen Blick auf den anliegenden Rock und die flache Mütze meines Begleiters werfend, die über alle Unbilden und allen Kummer erhaben waren.

»Nun also, Sir«, sagte der brave Mann, als er mich in den Mietwagen setzte und mitsamt meinen Fetzen gut darin verstaute, »wenn Sie in Ihre Heimat kommen, können Sie erzählen, Sie hätten mit eigenen Augen die größte von allen vornehmen Wohltätigkeitsveranstaltungen in England gesehen. Mit dem unvermeidlichen Gelee werden Sie natürlich verständnisvolle Nachsicht haben. Kutscher«, wandte er sich an den Mann auf dem Bock, »denken Sie daran, Sie fahren einen Gentleman. Er kommt gerade von der Wohltätigkeitsveranstaltung in der Guildhall, daher sieht er so aus. Fahren Sie. Vergessen Sie nicht wohin: London Tavern, Fleet Street.«

»Na«, seufzte ich, als ich abends zerquetscht und zerschlagen im Bett lag, »sei mir der Himmel gnädig in seiner Güte und bewahre mich vor den vornehmen Wohltätigkeitsveranstaltungen in London und ebenso vor dem ›Pudding des armen Mannes‹ wie vor den ›Brosamen des Reichen‹.«