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I.
Poum

Poum glich allen anderen Kindern.

Als er zur Welt kam, begrüßte er dieses Jammertal mit Schreien und Quieken, und was sein Temperament betrifft, so konnte man es damals nur als »feucht« bezeichnen. Sein zahnloser Mund kannte als Vokabelschatz lange Zeit nur einen Selbstlaut und drei Mitlaute, und sie stellten für Poum in drei Worten die ganze Welt dar: das Gefühl und den Instinkt. Sie hießen papa, mama, tata … die ersten zwei genügten für das Gefühl der Zärtlichkeit, das dritte war derb materialistisch – nämlich der Schrei nach Nahrung.

Die ersten Entdeckungsfahrten, die Poum machte, wurden sozusagen sitzend unternommen. Denn er fand sich gleichsam festgewachsen mit einer sonderbaren weißen Vase, auf die man ihn gesetzt hatte und er schob sich unmerklich fort, indem er mit den Füßen den Fußboden kratzte. So wurde aus Poum ein Christoph Kolumbus der Kinderstube … er entdeckte Berge, die Lehnstühle waren, stieß sich die Nase an Eisbergen wund, die eine Tischecke darstellten, rutschte auf den gefrorenen Seen aus Porzellankacheln, lernte die Feuerzange kennen, die Kohlenschaufel und den Blasebalg.

Der erste bedeutsame Ausspruch, den dieser junge Gentleman tat, bezeugte die unwiderlegbare Beherrschung durch jenes Gestirn, unter dem er geboren war und dessen Einfluß sich fortan auf ihn heften sollte. Poum war eben im Begriff, ein köstliches Miam-Miam zu verkosten, das ihm tata-lolo verabreicht hatte; aber plötzlich ließ er diesen Leckerbissen im Stich, hob seine Augen zum Plafond, mit einem ekstatischen Blick, wie verzaubert durch das Lichtrund der Lampe.

»Oh! Der Mond!« rief er.

Und er starrte mit offenem Mund hinauf, lange, die Augen von irgendeinem köstlichen, unbekannten Traume erfüllt …

Der zweite denkwürdige Ausspruch, den Poum tat, beweist deutlich, daß er ebenso wie die anderen Menschenwesen die Anziehungskraft jener zwei magnetischen Pole verspürte, die widersprechend auf uns einwirken: Furcht und Mut – Mutter der Feigen und Vater der Helden. Damals bewegte sich Poum bereits auf seinen zwei kleinen Butterbeinen vorwärts und er liebte es, seine Mama zu begleiten, wenn sie dem Geflügel Futter streute. Er starrte das Federvieh entzückt an, klammerte sich an den Rock seiner Mama und krähte mit einer Stimme, die vor Kühnheit zitterte:

»Er fürchtet nicht die Hühner, Poum!« …

Die gefällige Nachwelt hat diese Aussprüche aufbewahrt, wie sie es ja bei uns allen tut, und jeder Mensch hat solche Erinnerungen, die gleichsam das rührende und komische Gepäck seiner Vergangenheit darstellen.

*

Poum schien zu einem Träumer geboren zu sein, mit einem Stich ins Absonderliche.

Er begriff nicht hinlänglich gut die Beziehungen, die zwischen den menschlichen Wesen und den leblosen Dingen existieren, aber er fühlte sie, und die sichtbare und die unsichtbare Welt schien sich sonderbar in ihm zu spiegeln.

Er konnte lange Zeit »abwesend« sein, er war »im Mond«, er »hörte« sich hören und verstehen. Eines Tages suchte man Poum im ganzen Hause, im ganzen Garten. Man schickte Leute aus, die ihn in der Umgebung auffinden sollten, schließlich wurde der Ordonnanzbursche zu Pferd abgeschickt. Nach drei Stunden fand man Poum unter den großen Kohlstauden versteckt, unbeweglich sitzend. Was machte er da? War er ein unbewußter Fakir, betrachtete er, wie die indischen Götzen, seinen Nabel? Horchte er auf die Stimmen der Unendlichkeit?

Niemand wußte es, und Poum am wenigsten.

*

Poum hatte einen liebebedürftigen Charakter. Vor allem liebte er die Dinge, weil sie leblos und dabei trotzdem sehr folgsam sind. Denn aus einem Stück Holz kann man Wunderdinge machen, man gräbt einen Brunnen, man legt Straßen an. Alles dagegen, was lebt, belästigt und schadet. Die Katze kratzt, der Hund beißt, ein Pferd bäumt sich, dies alles macht Furcht. Warum bellt der riesige Hofhund Polyphème so böse, obzwar ihm Poum klüglich auf zwanzig Schritte ausweicht? Selbst das menschliche Gesicht hat etwas hartes, ungewöhnliches. Poum liebt den Stallknecht gar nicht, weil er schimpft und sich berauscht. Das Kindermädchen Pauline beunruhigt ihn wie ein arglistiger und furchterweckender Dämon, und dieser Dämon gebietet sehr häufig über die Freiheit, über die Freude Poums. Er fürchtet Pauline viel mehr als seine Mama, deren Gesicht so sanft und so gütig ist.

Jemand, vor dem Poum eine große Furcht, jemand, mit einer dröhnenden Stimme und aufgesträubtem Schnurrbart, ist der Papa von Poum. Ein großes Prestige umgibt ihn; die Hochachtung der anderen scheint vor ihm in die Knie zu sinken. Wenn er auf der Bildfläche erscheint, so stürzen die zwei Ordonnanzburschen herbei. Der Oberst, in seiner goldverbrämten Tunika und den scharlachroten Hosen, blitzt auf wie der Gott des Gewitters. Poum weiß, daß Papa ein ganzes Regiment befehligt, aber er ist nicht sicher, daß der Gewaltige auch über Regen und Wind gebietet, daß ihm die Einwohner der Stadt und ganz Frankreichs gehorchen müssen. Wäre sein Papa vielleicht zufällig gar der Kaiser?! …

Daß sein Papa zugleich der beste, sanfteste der Menschen ist, tut nichts zur Sache. Wie sollte es Poum auch wissen? Wenn er die rauhe Kommandostimme vernimmt, lugt er nach dem Schlüsselloch. Ach, das Schlüsselloch ist viel zu klein, um Poum durchschlüpfen zu lassen.

Was den Großpapa Vernobre betrifft, so zeichnet er sich weniger deutlich ab. Wenn ihn Poum drei Tage lang nicht sieht, vergißt er ihn völlig. Und dabei ist Großpapa keineswegs eine unbedeutende Persönlichkeit. Er inspiriert sozusagen das Dekorum, das er verlangt, er ist der Herr Dekorum in Person, das heißt etwas Steifes, Ernstes, Hoheitsvolles. Dies alles ist leicht erklärlich: Großpapa weiß um sehr viele Geheimnisse, aber er verrät sie nicht. Dies alles macht ihn ernst wie einen Karpfen.

Cousine Mad und Cousin Step spielen ebenfalls eine Hauptrolle in der Tragikomödie, die Poum unbewußt durchlebt. Wen hat er noch da? Oh, einen sehr drolligen Jungen, der Poum so ähnlich sieht wie ein Bruder, ein sehr drolliger Junge, bleich, fahrig, schmal, mit versonnenen Augen, einem törichten Mund und schmutzigen Fingern. Und dieser kleine Junge wohnt in den Spiegeln … Er zeigt sich sofort, wenn ihn Poum darin sucht, und beide betrachten einander lange, schweigend, mit großem Ernst, das Original und sein Spiegelbild

*

Aber was für Poum der wahre Grund zum Leben ist, das Entzücken, das Paradies, das höchste Glück, das Wunder aller Wunder, dies ist der Garten, der Garten für Mattigkeit und für Schlummer, ein Garten, der jenem von Dornröschen gleicht, ein Garten mit Gegenden der heißen Länder, mit sonnigen Küsten, mit dem großen, blauen Meer, dessen helles, satinweiches Schimmern man zwischen den Platanen der breiten Allee sieht … Ein Garten, wo der Himmel von einem so wundervollen Blau ist, und dessen Wolken wie leichtester Schnee erscheinen … ein Schnee, unerreichbar hoch segelnd, ein Garten, den die Sonne durchleuchtet, dessen Rosen röter sind, als alle anderen Rosen, ein Garten, voll von blauen und grünen Insekten, von geflügeltem Getier, von goldigen Früchten, von grünen Palmen, ein Garten, in dem es sich so herrlich leben läßt!

Das Haus zur Seite ist etwas feindlich: es ist weiß, freilich, und rein und kühl, zugegeben! Es ist manchmal auch köstlich, wenn Poum an das Speisezimmer denkt, woselbst es so gute Sachen zu verkosten gibt, es ist schön mit dem Salon, dessen Möbel mit geblümter Seide überzogen sind, auf die man sich aber nicht setzen darf. Das Haus hat sicherlich seine Reize, seine versteckten Winkel, die Wäschekammer, das Badezimmer, aber es ist auch schrecklich, des Abends, mit seinen finsteren Korridoren, und mit den Wandschränken, in denen die Kleider aufgehängt sind, wie die Frauen des Blaubart. Aber ob es nun schön oder häßlich, gastfreundlich oder feindlich ist, es ist eben das Haus, also ein wenig das Gefängnis …

Dagegen der Garten! In dem Garten kostet Poum die ungebundene Freiheit des Lazzaroni aus, der sich in der Sonne braten läßt, das Hochgefühl eines Kosaken, der in den Steppen der Ukraine dahingaloppiert, die Einsamkeit des Eskimo in seiner Eishütte. Und Poum hat da auch seinen Lieblingsbaum, auf den er klettert und es sich auf der Gabelung zweier dicken Äste bequem macht. Und Poum bleibt da stundenlang, unbeweglich, dem Tiktak der kleinen Lebensuhr lauschend, die in seiner Brust schlägt, oder er starrt in die flirrende Helle hinaus, bis es ihm vor den Augen tanzt, denn er sieht da ein seltsames Insekt, schwarz, mit kleinen Löchern, das hin und her saust, er sieht es deutlich und lächelt geringschätzig über die Großen, die ihm weismachen möchten, daß ein solches Insekt gar nicht existiert und daß es nur aus dem Flimmern der Augen geboren wird. Poum weiß es aber besser!

*

Poum hat über alles nur elementare Begriffe. Er weiß, daß Lügen ein schreckliches Verbrechen darstellt. Er hat aber auch entdeckt, daß eine ungeheure Befriedigung darin liegt, wenn man etwas macht, was streng verboten ist. Der Gehorsam bringt ihn außer sich, aber die Furcht zähmt ihn. Was über den großen Garten hinausgeht und über die anderen Menschen, die er kennt, über diese Riesen, die ihn beherrschen, darüber macht er sich keine Gedanken. Weil es ihm Pauline vorgesagt hat, glaubt er, daß die Sterne Leuchtkäfer sind und er fürchtet, daß ihm einer in den Nacken fallen könnte. Er hat es gerne, in die Sonne zu blicken, weil dann die Bäume ganz rot und glühend erscheinen.

Was seine Religion betrifft, so ist sie sehr unbestimmt. Er betet, aber er ist jedesmal entweder schläfrig oder nicht ausgeschlafen. Dies bringt ihn in Verwirrung, daß es einen guten Gott geben soll, den man gar nicht sieht. Der Herr Pfarrer hat auf der Kanzel von dem Finger der Vorsehung gesprochen. Ah, das muß ein schrecklich großer Finger sein!

Trägt dieser Finger auch einen Fingerhut?

Ist er aus Silber oder Gold? Ist er vielleicht gar so groß, wie der kleine Trinkbecher, den Poum vom Großpapa erhalten hat?

 

II.
Das Märchenbuch

Poum konnte bereits sehr gut lesen.

Poum war atemlos in ein Buch versenkt. Es interessierte ihn so stark, daß er sogar vergaß, an seinen Nägeln zu beißen. Er sah vor lauter geistiger Anstrengung ganz verstört drein und seine Ohren waren brennrot …

Die Prinzessin, auf einem Elefanten thronend, aß von einer goldenen Schale eine köstliche Rosenmarmelade, als plötzlich eine riesige Hand, mit grauen Haaren bedeckt, sich zwischen die Nase von Poum und das Buch ausstreckte und das letztere konfiszierte.

»Was liest Du da, Poum?«

Poum drehte sich wütend um, erkannte Großpapa und sagte, mit mehr Lebhaftigkeit als Höflichkeit:

»Du siehst ja, es ist ein Buch, das mir Madame de Falcord gegeben hat!«

Und er streckte die Hand aus, um sein Buch an sich zu reißen. Aber er griff fehl. Großpapa hob das Buch an seine Augen und besah sich den Goldschnitt, die pathetischen Bilder.

»Gib mir das Buch zurück, Großpapa!«

Aber Großpapa hatte seinen Finger an die offene Stelle des Buches gelegt und machte keine Miene, den Schatz auszuliefern. Sein Blick fiel auf den Absatz, da die Prinzessin, auf dem Elefanten thronend, von einer goldenen Schale eine köstliche Rosenmarmelade verkostete. Und Großpapa schien plötzlich sehr gespannt zu sein, denn er begann vom Anfang der Seite an zu lesen, um besser zu verstehen.

»Großpapa!« flehte Poum.

Aber war es nun Hartnäckigkeit oder Bosheit, Großpapa gab das Buch nicht her, er sprang sogar zur Seite, um Poum abzuwehren, der wie ein Tiger emporgeschnellt war, nach dem Buche haschend. Und dieser alte Herr, dieser ernste und würdige Herr, der sicherlich etwas Gescheiteres zu tun hatte oder sich an ernsteren Unterhaltungen genüge tun konnte, versteifte sich darauf, das unvorhergesehene Abenteuer kennen zu lernen, welches bewirkte, daß die Prinzessin, ganz bleich geworden, die goldene Schale fallen ließ und einen Schrei ausstieß, während der treue Inder, der vor ihr auf dem Hals des Elefanten balanzierte, sich umdrehte und ganz weiße Augen zeigte, und dessen Zähne vor Furcht klapperten!

»Gib mir das Buch zurück! Gib es mir!« jammerte Poum, den ebenfalls die Neugierde verzehrte, mehr zu wissen. Ja, er mochte noch so flehen, es nützte nichts! Hatte jetzt ein Rhinozeros, aus dem knackenden Dickicht hervorbrechend, den Stuhl umgeworfen? Nein, es war Poum, der dergestalt die Aufmerksamkeit seines Großpapa von dem Buche ablenken wollte. Aber es war verlorene Mühe!

Großpapa hob kaum die Nase von dem Buche, um nicht das Auftauchen des Prinzen Rustem zu versäumen, der im wilden Galopp seines weißen, schäumenden Pferdes heranstürmte, eine Lanze aus Eisenholz schwingend, deren silberner Griff mit feinen Perlen besetzt war.

Crac!!!

Es war die Fensterscheibe, die klirrend zerbrach. Die Empörung Poums, die keine Grenzen mehr kannte, hatte dieses Unglück verursacht. Poum wagte alles für alles!

Großpapa starrte einen Moment ganz verblüfft drein, dann rief er zornig:

»Kleiner Dummkopf! Ich will Dir zeigen, wie man Dich strafen muß!«

Und er steckte das Buch ein und ging davon, wahr und wahrhaftig!

 

III.
Das Schreibpult

Poum hatte zum Geburtstag ein Schreibpult erhalten, ein großartiges Schreibpult, wie man es nicht oft sieht und das wahrscheinlich sehr viel Geld gekostet hatte, denn man konnte es öffnen und der Deckel war aus glänzendem Lack mit goldenen Arabesken! Gut, aber es gab da auch einen kleinen glänzenden Schlüssel, der an einer roten Masche befestigt war! Sehr gut! Und wenn man erst einmal das Pult geöffnet hatte – ah! ah! – was es da alles gab!

Es gab da eine Schreibunterlage aus Leder, gerippt und satiniert, und darüber hellblaues Löschpapier. Dies ist aber noch gar nichts! An Gummibändern befestigt fanden sich da ein Federhalter, ein Bleistift, ein Dezimeter, mit dem man linieren konnte, ein Kratzmesser, das scharf war – oh! wie ein Rasiermesser! – und dies alles aus blinkendem Nickel und schönstem Bein! Aber wartet noch! Was gibt es in dieser Schachtel? Federn aus rotem Kupfer, daumenlang!

Und was verbirgt sich unter diesem Deckel? Siegellackstangen! Ja, aber was für ein Siegellack? Grün, violett, gelb, granatrot, goldgesprenkelt und silbergestreift! Jawohl!

Ist dies alles? Ah nein, denn was wäre dies hier? Ein Tintenfaß aus Kristallglas! Und eine hohle Kristallkugel mit Oblaten, und ein Schwamm, und diese drei Stockwerke von Schreibpapier und Umschlägen, mit dem Monogramm von Poum – ganz gewiß! Ein majestätisches »P«, hochmütig und vertraulich zugleich!

Poum wird in seinem Leben sicherlich noch Entzückungsräusche haben. Er wird den Ehrgeiz kennen, die Vergnügen des Luxus und das Fieber des Reisens. Er wird auf dem grünen Tuch der Spieltische Goldstücke und Bankscheine zusammenraffen, er wird in einer Nacht einen kleinen Schatz anhäufen. Aber niemals wird er eine so paradiesische Wonne verspüren als jene es ist, die ihm der Anblick dieses kostbaren Geschenkes verursacht.

Er wird in seinem ganzen Leben nie ein zweites so wunderbares Schreibpult besitzen.

Und es ist ganz natürlich, daß Poum das Bedürfnis empfindet, sich selbst einen Brief zu schreiben. Er nimmt mit zitternden Fingern eines der schönen Schreibblätter. Langsam, mit Zögern und reiflichem Nachdenken, malt er die Buchstaben, bestäubt sie dann mit dem vielfarbigen Streusand, trocknet sie noch eigens an dem Löschpapier, bläst auf das Papier, um sicher zu sein, daß er keinen Klecks macht. Dann faltet er das Briefblatt, schiebt es mit Mühe in den Umschlag, auf welchen er mit großer Geduld seinen Namen und seine Adresse schreibt. Und endlich siegelt er seinen Brief. Welchen Siegellack wählt er? Rot? Nein. Grün? Nein. Zeisiggelb! Und trunken vor Stolz drückt er das Siegel in das prasselnde Wachs, wobei er seine Stirne über die Kerze beugt, sodaß ihm die Flamme die Haare versengt.

Das wäre fertig.

Poum bringt jetzt sein Schreibpult in Ordnung, schließt es und begibt sich dann in den Garten. Dort klettert er auf eine Bank, die hinter einem Blumenmassiv steht, öffnet bedächtig seinen Brief und liest den Inhalt mit Entzücken, um ihn dann laut zu wiederholen, ihn endlich zu brüllen:

»Herr Poum!

Sie sind ein glücklicher Lausejunge! Aber hüten Sie sich vor Großpapa Vernobre, damit er nicht seine Nase in Ihr Schreibpult steckt!«

 

IV.
Die Bleisoldaten

Die ganze Armee war in Schlachtordnung aufgestellt. Mama hatte eingewilligt, daß Poum die runde Tafel abräume. Ohne Rücksicht auf die elementarsten Regeln der Strategie hatte er in die erste Reihe die Infanterie vorgeschoben, die gleichmäßig mit dem linken Fuße austrat und das Gewehr auf der rechten Schulter trug. Hinter der Infanterie war die Kavallerie gereiht, alle mit demselben Pferdebäumen und die Spitze des Säbels vorgestreckt. Zuletzt kamen die Kanonen, wirkliche Kanonen, aus denen man mit Erbsen schießen konnte. Das augenblickliche Resultat dieser Schlachtordnung wäre gewesen, daß die Reiter die eigenen Infanteristen niederreiten würden, und daß die Artillerie mit einer rührenden Unparteilichkeit ihre Kavallerie und Infanterie niedermähen würde.

Poum war trotzdem sehr stolz. Denn jeder weiß, daß die Hauptsache darin besteht, daß alle Soldaten in schönen Reihen aufrecht bleiben, und daß keiner von ihnen umfällt, weil dann die ganze Front ins Wanken käme.

Als die Armee endlich gereiht war, als die Kanonen bis zum Röhrenrand geladen waren, verfiel Poum in ein tiefes Nachdenken.

»Mama,« fragte er endlich, wobei er sich den Kopf kratzte, »werden während der Schlacht viele Soldaten getötet?«

»Gewiß, ohne Zweifel«, entgegnete Mama.

»Und die andern,« fragte Poum, »müssen die auch sterben?«

Als er bemerkte, daß ihn Mama ansah, ohne ihn zu begreifen, erklärte er:

»Nun ja, jene, die nicht in der Schlacht getötet werden, müssen die später trotzdem sterben?«

»Ja doch«, stammelte Mama etwas erstaunt.

»Also, alle Menschen müssen sterben? Papa wird sterben? Du wirst sterben? Ich werde sterben? Selbst ohne daß ich in den Krieg ziehe?«

»Aber mein Kind …«

Poum brüllte plötzlich:

»Dies ist ungerecht! Warum stirbt man? Ich habe gar keine Lust zu sterben!«

Und indem er sich gleich darauf völlig beruhigte, fegte er die ganze Armee mit seinem Arm vom Tisch herunter, wobei er den Bleisoldaten als wahrer Philosoph erklärte:

»Wenn es so ist, so müßt Ihr sofort sterben!«

 

V.
Cousine Mad

Poum lebte also inmitten des großen Gartens, der ihm nicht mehr und nicht weniger als das Paradies symbolisierte: das Paradies seiner tollen Ausflüge, seiner Jagden hinter den Schmetterlingen, das Paradies seiner Schlemmerei, denn der Obstgarten strotzte von reifen Pflaumen und der Rasen war mit den weggeworfenen Kernen bedeckt; das Paradies seiner Ängste, wenn die Wespen summten oder wenn sich des Abends die Gebüsche verfinsterten, wenn Polyphème, der große Hofhund, wie ein wildes Untier bellte.

In diesem Paradies waren zwei Wesen zugelassen, die in den Augen Poums eine Trilogie darstellten, aus der sich alle Elemente der Dramen und Lustspiele, der Idylle und der Mysterien ergaben, die dieser winzige Poum, der ein Dichter war, wie alle Kinder, in seinem Kopfe durchdachte. Und diese zwei Wesen waren Cousin Stephane und Cousine Madeleine, Step und Mad!

Der Rest der Welt existierte nicht für Poum. Aber Cousin Step! Ah, das war ein ganz außerordentlicher Junge! Schwarzhaarig, stark wie ein Türke, obzwar er noch nicht sechzehn Jahre alt war! Keiner wie Step konnte so gut einen Stuhl auf seiner Nase balanzieren oder ein Tischchen mit den Zähnen emporheben. Er besaß ein großartiges Talent, sich als Wilder zu verkleiden oder ein Gespenst darzustellen. Er konnte die grobe Stimme eines Gendarmen nachahmen, jene eines Waldmenschen oder eines Menschenfressers. Und welche tückischen, schrecklichen Erfindungen förderte er zu Tage! Wie sehr konnte er Poum erschrecken, wenn er ihm androhte, ihn lebend in den Rachen Polyphèmes zu werfen! Wie wußte er ihn erbleichen zu lassen, wenn er ihm ankündigte, daß diese Nacht Diebe in das Haus einbrechen und alle Bewohner massakrieren würden, mit Poum angefangen! Dieser Step besaß in Wirklichkeit eine geniale Grausamkeit! Er verkörperte das Böse, er war der Ahriman des Paradieses Poums, und Poum haßte und liebte ihn zu gleicher Zeit.

Aber Cousine Mad! Oh, Cousine Mad! Sie war ganz Licht und ganz Zärtlichkeit, sie war die Fee, sie war die blonde Eva dieses Paradieses. Sie versinnbildete alles, was man sich unter Sanftmut, Schönheit und Güte vorstellt; sie verkörperte die behaglichsten Visionen, Erinnerungen an weiße Hände, die den kleinen Poum zu Bett bringen und die Decke glätten, weiche Lippen, die seine Augenlider küssen; sie erinnerte an Geschenke, an Hampelmänner, die sie aus bunten Lappen fabriziert hatte, sie hatte Poum die Schere geliehen, damit er Bilder ausschneiden könne, artig neben dem Arbeitstischchen von Mad installiert, und da waren noch herrliche Butterbrote mit Marmelade, Näschereien und kleine lustige Liedchen, die Mad beim Klavier sang. Oh, Cousine Mad!

Aber zum Unglück war sie nicht immer hier, wenn es galt, Poum gegen ihren schrecklichen Bruder Step zu verteidigen.

Gerade an diesem Morgen war Step von einer grimmigen Laune. Und Poum fühlte schon bei seinem bloßen Anblick eine köstliche und dabei schreckliche Furcht wie eine kalte Schlange entlang seines Rückens sich schlängeln und seinen kleinen Sitzteil eisig machen. Er hielt sich deshalb in vorsichtiger Entfernung, zur Flucht bereit, aber er wußte auch, daß diese Flucht vergeblich wäre, denn Cousin Step machte wahre Siebenmeilenschritte.

Step, die Hand am Kinn, betrachtete aufmerksam Poum, wobei er erschrecklich schielte, er grinste in einer sarkastischen und unheimlichen Manier und sein Schweigen hing über Poum gleich einer unheilschwangeren Wolke. Um seinen eigenen Appetit zu reizen, hatte er dem jungen Gentleman bereits vorgeschlagen, ihn mit Honig zu bestreichen, um dadurch Bienen und Wespen anzulocken. Dann hatte er das Bellen Polyphèmes nachgeahmt, mit einer solchen Vollendung, daß der Hofhund aus seiner Nische hervorgestürzt war und mit Step Chorus machte, dadurch die Hunde der Nachbarschaft in Aufruhr versetzend. Dann hatte Step seinen kleinen Cousin einigemale zum Sitzen aufgefordert und hatte ihm jedesmal den Stuhl weggezogen, sodaß Poum in die Brennnesseln fiel. Was konnte er noch planen?

Plötzlich begann er:

»Poum!« erklärte er, »Poum, ich sterbe vor Hunger!« Er zeigte seine Zähne, wobei er die Augen wie ein Kannibale rollte.

»Poum, ich denke mir wohl, daß Du nicht sehr fett bist, ich bin überzeugt, daß Du zähe bist wie ein Leder, es wäre zwar besser, ein Kaninchen zu verkosten oder einen Truthahn, oder ein Milchschweinchen. Aber da ich weder einen Truthahn noch ein Kaninchen noch ein Milchschweinchen bei der Hand habe, so werde ich Dich verspeisen, o Poum!«

Poum wurde bleich und seine Knie wankten. Er mochte sich noch so eindringlich sagen: »Es ist nicht wahr, Step macht nur einen Scherz!« er hatte trotzdem große Furcht.

Cousin Step fuhr fort:

»Es ist nur die Frage, in welcher Zubereitung werde ich Dich verspeisen, Poum? Als haschiertes Beefsteak oder gebacken, gekocht oder eingepökelt? Und zu welcher Sauce? Mayonnaise oder Zwiebeltunke? Oder in Essig und Öl? Oder mit Fisolen? Vielleicht mit Bratkartoffeln. Nein, ich werde Dich am Spieß braten lassen!«

Und als Step dies erklärt hatte, war er auf Poum losgestürzt und hatte ihm im Nu Hände und Füße gebunden, vor dem Küchenfeuer: »So, ich werde Dich sofort aufspießen, unterdessen werde ich Dich etwas ans Feuer legen, um Dich weich zu machen. Jetzt will ich den Tisch decken, weine doch nicht, Poum, dies würde unser Feuer ausgehen lassen!«

Und Step breitete das Tischtuch aus, brachte mit großem Lärm Teller und ein Besteck daher, schnitt sich ein großes Stück Brot ab und goß sich ein großes Glas Wein ein. Dann zog er seine Uhr und schien die Zeit zu berechnen, die nötig wäre, um Poum zu braten. Er drehte Poum, der sehr rot geworden war, auf die andere Seite und setzte sich mit gekreuzten Beinen nieder, an einen Monolog hingegeben, der dem armen Opfer bald einen schwachen Trost gab, um ihn dann wieder in die schwärzeste Verzweiflung zu stürzen:

»Habe ich wirklich einen so großen Hunger?« fragte er sich. »Vielleicht könnte ich bis morgen warten und Poum unterdessen in Freiheit setzen … Ja, aber er würde sich flüchten! Nein, er möge nur braten! Ich werde unterdessen meine Zeitung lesen. Aber habe ich wirklich ein Recht, diesen kleinen Poum zu verzehren, der so lieb und freundlich ist und der so über alles die Pflaumen und die Marmeladen liebt? (Mit schrecklicher Stimme:) Ja, ja, ich habe ein Recht dazu, denn Poum hat mir vorige Woche zwanzig Taschentücher gestohlen, außerdem eine Summe von dreitausend Francs in Briefmarken!« (Es war nicht wahr, aber Poum glaubte es in diesem Moment wirklich und war verzweifelt, daß er gestohlen hatte!) »Jawohl, machen wir ein Ende, ich werde jetzt Poum aufspießen!«

Poum begann in diesem Augenblick so gellend zu schreien, daß das ganze Haus in Aufruhr kam, man hörte Türen zuschlagen und Fenster öffnen. Der böse Step verschwand plötzlich, sprang durch das Fenster und verlor sich im Garten. Und strahlend kam Cousine Mad hereingeschwebt, zur Rettung Poums …

Ah, lieber Gott, wie herrlich war es jetzt, mit Mad in den Garten zu gehen, das Herz noch zitternd und die Augen gerötet, aber die Hand in jener von Mad, und mit der anderen eine köstliche und tröstliche Stange von Gerstenzucker lutschend!

Welch' herrliches Sonnenlicht! Und wie die Blüten nach Honig rochen! Und die Wespen stachen gar nicht! Und Step war verschwunden, vielleicht auf ewig! Step, das war nur ein böser Traum, der sich jetzt verflüchtigt hatte. Denn Mad hatte gesagt: »Es war doch nur Spaß« und sie hatte hinzugefügt:

»Ach, der dumme kleine Junge!«

Aber Poum, der sonst sehr empfindlich war, hatte ihr dies gar nicht übel genommen. Er drückte sich gegen das weiche Kleid des jungen Mädchens, hob das Kinn, um Mad besser zu sehen, Mad, seine Beschützerin, seine Süße, den Engel mit den blauen Augen! Sie sagte zu ihm:

»Laufen wir einmal, wir werden sehen, ob Du mich einholst!«

Und ihr Kleid flatterte dahin wie ein großer weißer Schmetterling, und er haschte sie richtig immer und immer wieder. Wie ging dies nur zu? Aber da sind sie schon bei den Pflaumen! Oh, wie gut es da riecht, warm und süß.

»Hier, Poum, esse von diesen hier, dies sind die besten!«

Aber Poum, inmitten seines Glückes, fühlte sich mit einemmal furchtbar beschämt und hilflos, er hatte etwas Schreckliches konstatiert. Ohne daß er es ahnte, hatte er vorhin, als ihn Step gefesselt vor das Feuer schleppte, eine Schwäche verspürt, er hatte, du lieber Gott, wie soll man sagen, na, kurz und gut, seine Hose war feucht geworden. Und zu seiner größten Verwirrung hatte auch Mad die Ursache seiner plötzlichen Verlegenheit erraten:

»Poum, oh, wie schmutzig!«

Und Poum brach in heiße Tränen aus. Mad versuchte, ihn zu trösten, führte ihn auf sein Zimmer, um ihn umzukleiden. Und Poum flehte sie an:

»Sag' es Step nicht, Mad, sag' es Step nicht!«

Mad versprach es.

»Schwöre, daß Du Step nichts sagen wirst!«

Mad schwor. Und der kleine Poum, frisch gekleidet, sehr beschämt, aber trotzdem beruhigt und glücklich, sagte zu Mad:

»Ich liebe dich, Mad, ich liebe dich!«

Und er warf ihr seine kleinen Arme um den Hals und küßte sie, zugleich sehr erstaunt, daß ihre Lippen so gut nach Erdbeeren rochen:

»Mad, ich will, daß Du meine Frau wirst! Wenn ich groß bin, werde ich dich heiraten!«

Sie erwiederte:

»Ja, ich will gerne!«

Und sie fügte hinzu:

»Armer, kleiner Poum!«

 

VI.
Die Hüte

An diesem Abend gaben die Eltern Poums ein großes Diner. Aus Prinzip und aus Eigenliebe waren diese Diners sehr elegant, glanzvoll und beinahe verschwenderisch. Poum hörte von diesem Diner drei Wochen vorher sprechen. Kurze Phrasen, wie: »Der Bischof wird kommen«, – »Der General ebenfalls, wenn er keinen Gichtanfall bekommt«, – »Straßburger Gänseleber«, – »Einen Rehrücken«, – »Meine rote Seidenrobe, mit den Brüssler Spitzen«, – »Den alten Pommard, der noch von Großpapa stammt«, – »Der Luster im großen Salon«, – »Eine neue Livree für die Diener« – und Dutzende solcher Bruchstücke vollführten einen tollen Wirbeltanz im Kopfe Poums.

Er war jedesmal entzückt, wenn seine Eltern ein großes Diner gaben, vor allem, weil er nicht dabei sein mußte, weil er aber zugelassen wurde, um seine Mama in ihrem Festkleid zu bewundern, weil er die geschmückte Tafel sehen konnte, mit dem Glanz von Silber und Kristall, mit den Pyramiden von Blumen und Früchten, weil man ihm vom Dessert aufhob, und schließlich, weil er, wenn alles zu Tische saß, aus dem Bette stieg und sich ins Vorzimmer schlich, woselbst sich auf zwei großen flachen Divans ein ganzer Hutladen ausbreitete. Und Poum konnte da in einer förmlichen Ekstase die verschiedenen Kopfbedeckungen zählen und betrachten, die von den Gästen hier niedergelegt wurden.

Ah, diese Hüte! Es war unerhört, daß es deren so viele gab! Man hätte meinen mögen, daß jeder Gast deren zwei mitgebracht hätte, einen auf dem Kopfe und den anderen in der Hand. Es waren da Hüte von allen Farben und allen Formen, und es gab da Gold, Silber, Federbüsche, Stickereien. Da war der eckige Generalshut, und hier der Tschako mit dem Federbusch des Adjutanten, und hier die roten, grünen, schwarzen, mit Gold verbrämten Käppis der Offiziere, hier der silbergespickte Zweispitz des Präfekten, und hier der runde flache Hut des Bischofs, behaart wie ein Biber und glänzend wie Lack, mit einer violetten Schnur rundum!

Aber heute war Poum zu seinem Unglück gar nicht brav gewesen. Und trotz seiner Bitten und Tränen wurde es ihm nicht gestattet, seine Mama in ihrer roten Seidenrobe zu bewundern und einen Blick auf die geschmückte Tafel zu werfen. Man hatte ihn verurteilt, zum Diner nur einen Milchbrei zu verkosten, mit einem Stück trockenen Brotes, und dann wurde er ins Bett gesteckt, vor der Ankunft der Gäste.

Wie! Er konnte nicht einmal durch das Schlüsselloch die Ankunft der gewichtigen und mysteriösen Persönlichkeiten beobachten! Er mußte gehorsam im Bett liegen und nichts würde er hören als nur das undeutliche Summen der Stimmen im Speisezimmer, dann ein starkes Stühlerücken, von einer großen Stille gefolgt, ein Zeichen, daß nun die Paare in den Salon eintreten würden … Wie! Er würde nicht auf das Hasten und Drängen der Dienerschaft lauern können, um den Duft der leckeren Platten einzuschlürfen!

Darüber hätte sich Poum vielleicht noch getröstet. Aber daß er verhindert wurde, seine Freunde, die Hüte, in einer Art hypnotischer Ekstase zu bewundern, diese wunderbaren Hüte mit dem Futter aus glänzendem Satin, das so gut nach Pomade roch! Nein! Nein! Poum war empört, er fühlte sich einer Rebellion fähig. Dies würde nicht geschehen. Er würde seinen Freunden einen Besuch abstatten, würde die Hüte betrachten, würde sie ein wenig am Ohr zupfen, um zu sehen, ob sie nicht zusammenschrumpfen, er würde vielleicht die Kühnheit haben, sie zu streicheln oder gar den kleinsten von ihnen aufsetzen.

Gestärkt durch einen so mutigen Entschluß, aß er seinen Milchbrei mit Fassung, ließ sich auskleiden und von Pauline zu Bett bringen. Pauline war etwas mißgestimmt und nervös.

»Sagen Sie Ihr Nachtgebet, Herr Poum!«

»Ja, Pauline!« Und als er es beendigt hatte, flehte er:

»Pauline, nennen Sie mich nicht Herr Poum, nennen Sie mich Poum, Pauline!«

»Ich werde Sie Herr nennen, weil Sie ungehorsam waren. Schlafen Sie sofort ein, Herr Poum!«

Poum schloß die Augen sofort, aber mit schwerem Herzen. Er betete Pauline an und er hatte große Furcht vor ihr. Er wartete, bis Pauline seine Kleider geordnet hatte und nun mit der Kerze fortging. Dann richtete er sich auf, horchte auf den undeutlichen Lärm aus dem Vorzimmer, auf das Zuschlagen der Türen, auf das Geschirrklappern in der Küche, auf das Lachen und Plaudern im Speisezimmer … Lange wartete er so, im Dunkeln, das Auge auf den leuchtenden Punkt des Schlüsselloches gerichtet, mit der Furcht, daß Pauline vielleicht eintreten und ihn mit der Rute bedrohen würde. Und gerade in diesem Augenblick knarrte die Tür. Poum warf sich in die Federn zurück, wie ein verschüchterter Hase. Jemand kam auf das Bett zu, tastete auf der Decke – wollte man ihm die Rute zu verkosten geben?

»Schlafen Sie, Poum?« fragte Pauline.

Und Poum erwiderte naiv, sehr gehorsam:

»Ja, Pauline, ich schlafe!«

»Da haben Sie!« sagte sie, indem sie ihm einen Kuchen zwischen die Finger schob, »bin ich nicht gut? Aber Sie werden es wieder der Mama klatschen und man wird mich schelten.«

»O nein, Pauline, wahr und wahrhaftig, ich werde nichts sagen!« Und Poum begann selig den Kuchen zu verspeisen, dessen Mandeln »croc! croc!« zwischen seinen Zähnen machten.

»Pauline, sagen Sie mir, ist er gekommen, mit dem großen, violetten Hut?«

»Wer denn?«

»Nun, der Rehbock!«

»Der Rehbock?«

»Nein, ich will sagen der Bischof! Pauline, hat man ihn schon auf den Tisch gebracht und hat man ihn gegessen?«

»Wen denn?«

»Den Bischof, nein, den Rehbock!«

»Poum, Sie schwätzen Unsinn! Ja, alle Gäste sind gekommen, man ist mitten beim Diner, und nun schlafen Sie sofort ein!«

»Ja, Pauline, danke, Pauline!«

Pauline ging hinaus und Poum richtete sich wiederum auf. Er wartete geduldig auf den Moment, bis der Nachtisch aufgetragen war und die Domestiken nicht mehr durch das Vorzimmer laufen würden. Dann glitt er aus dem Bette, schlich sich im Nachthemd zur Tür, drehte mit Herzklopfen die Klinke, lief über den Gang und öffnete die Tür zum Vorzimmer. Aber als er durch den schmalen Spalt einen Blick geworfen hatte, sah er zu seiner größten Verblüffung, daß auch andere die Idee gehabt hatten, die Hüte zu bewundern: beinahe die ganze Dienerschaft war da, in einer dichtgedrängten Gruppe, und so ins Schauen versunken, daß man von Poum gar keine Notiz nahm. Er erkannte den dicken Jean, den Kutscher, dann Firmin, den Kammerdiener, und Pauline, und die alte Agathe, und den Wärter Baptiste und den Koch Rigobert. Baptiste hatte den Hut des Generals hochgehoben und ließ ihn von den Frauen bewundern, die gleichzeitig entzückt und entrüstet waren. Firmin hatte mit unterdrücktem Lachen den Biberhut des Bischofs gepackt und hatte ihn auf den Kopf des dicken Jean gestülpt, was alle zum Lachen brachte. Baptiste setzte hierauf den Generalshut Pauline auf. Sie nahm ihn schnell vom Kopfe, aber Baptiste griff nach ihm und schmückte sich damit. Firmin hatte die gestickte Mütze des Forstinspektors aufgesetzt und die drei Männer begannen vor den erschreckten Frauen einen Cancan zu tanzen. Der dicke Jean blies die Lippen auf und rollte schrecklich die Augen, Firmin trug die Mütze verkehrt und Baptiste, den Generalshut im Nacken, verrenkte sich beinahe die Beine. Dieses Schauspiel schien den Koch Rigobert zu entflammen; er stülpte sich gleich ein halbes Dutzend Hüte auf und begann mit dieser Pyramide auf dem Kopfe sich zu drehen wie ein Derwisch, während Agathe und Pauline einander um die Mitte faßten und eine Polka probierten, wobei sie mit der linken Hand den Rock zierlich schürzten.

Poum war sehr verwirrt, wollte gleichzeitig lachen und weinen, denn es schien ihm sehr drollig zu sein und auch sehr ungehörig, und da er auf den kalten Steinfliesen mit nackten Füßen stand, konnte er nicht verhindern, daß plötzlich seine Nase losging, in einem Niesen, das wie ein Pistolenschuß klang und dem noch mehrere schwächere Schüsse folgten. Dieser ungewöhnliche Lärm schien die Tanzenden zu versteinern. Dann warfen sie die Hüte weg und ergriffen die Flucht, von einer solchen Panik erfaßt, daß der dicke Jean mit dem Kopfe an einen Türflügel anrannte und daß Agathe einen Pantoffel verlor.

Und Poum brach in ein tolles Lachen aus und lief in sein Zimmer zurück, sprang mit solchem Ungestüm auf sein Bett, daß er dabei ein gewisses Gefäß, das er »Thomas« nannte, umstieß, mit allem, was darin war.

 

VII.
Der kleine Bruder

Es geht etwas Ungewöhnliches vor. Das Haus ist seit einer Woche in großer Aufregung. Poum zerbricht sich darüber den Kopf. Aber er mag noch so oft fragen, jeder zieht ein geheimnisvolles Gesicht und legt den Finger an die Lippen, wobei er die Augen aufreißt: »Pssst! Pssst!« Er sieht seine Mama nur mehr am Nachmittag. Sie liegt beständig auf dem Sofa. Was Papa betrifft, so quält ihn sicherlich etwas, er wartet auf etwas, er geht ungeduldig auf der Terrasse hin und her, die Hände auf dem Rücken. Er scheint auf jemand zu warten. Es klingelt. Wer kann da nur klingeln? Poum stürzt hinaus. Sieh da, es ist Herr Ripert, der Doktor! Was will er denn nur? Es ist ja niemand krank. Und der Herr Ripert scheint heute sehr aufgeräumt zu sein.

Poum, der sich sonst vor den Doktoren unglaublich fürchtet, kann Herrn Ripert ganz gut leiden, weil er stets frisch rasiert ist, weil er klein, dicklich und rosig ist und stets lächelt, und ferner weil er in der Westentasche eine kleine Hornschachtel mit Anisplätzchen hat, ganz voll mit Anisplätzchen!

»Guten Tag! Guten Tag!« sagt Herr Ripert, während er im Vorbeigehen die Wange Poums tätschelt.

Er ist aufgeräumt, dies ist sicher, aber er scheint sehr beschäftigt zu sein. Was geht denn eigentlich vor? Herr Ripert bringt wahrscheinlich irgend eine wichtige Neuigkeit. Vielleicht ist die Händlerin mit den Anisplätzchen gestorben, oder es gibt etwas neues hinsichtlich der chinesischen Küste!

Ah, da ist ja auch Pauline, die vorbeiläuft. Sie trägt einen Stoß von Servietten.

»Pauline! Pauline!«

»Ich habe keine Zeit!«

Poum stürzt ihr nach, klammert sich an ihre Röcke:

»Was gibt es denn, Pauline?«

»Lassen Sie mich sofort los, Herr Poum! Ich habe keine Zeit!«

Poum stampft und heult:

»Ich will es wissen!«

»Man erwartet Ihre kleine Schwester! Sind Sie nun zufrieden?«

Pauline ist verschwunden. Poum, ganz verblüfft, bleibt unbeweglich. Ist's wahr? Ist's möglich?

Seit einigen Monaten bereits wartet man auf die kleine Schwester. Poum hat ganz gut gehört, daß man sie in China bestellt hat, aber sie kam ewig nicht! Vergeblich hat Poum oft lange auf jener Stelle im Garten gewartet, von wo aus man das Meer sieht. Wenn sich ganz unten am Horizont die Schiffe zeigten, kleine Schiffe, wie Spielzeuge, bis man allmählich Schornsteine und Maste zählen konnte, so fühlte Poum sein Herz schlagen. Aber keines dieser Schiffe hatte die kleine Schwester gebracht. Es war schließlich wirklich zum verzweifeln! Poum hatte darauf verzichtet, die kleine Schwester auf dem Meere dahersegeln zu sehen.

Und nun wartete er gar nicht mehr auf sie. Pauline hatte ihn sicherlich zum besten gehalten! Gestern war gar kein Schiff vorbeigekommen. Vielleicht in der Nacht? Aber dann hätte Poum dieses Dröhnen gehört, das die Schiffe ausstoßen, wenn sie in den Hafen einlaufen wollen. Ist es denn schließlich auch ganz sicher, daß die kleinen Kinder aus China kommen? Es gibt sehr würdige Personen, die es Poum versicherten. Aber man kennt sich da nicht recht aus. Beispielsweise erzählte Firmin, daß man die Kinder unter den Kohlstauden findet. Wie oft war nicht Poum seither im Gemüsegarten gewesen und hatte die Kohlblätter vorsichtig in die Höhe gehoben. Nichts! Der Gärtner Crochart hatte auf die Bitte Poums ein kleines Beet eigens mit besonderen Kohlpflanzen angebaut, die Poum stolz »Kohl der kleinen Schwester« nannte. Aber es wurde ein Kohl wie der andere, mit großen, etwas gekräuselten Blättern, aber von der kleinen Schwester war keine Spur zu sehen.

Wenn es aber vielleicht doch wahr wäre? Wenn die Kleine heimlich mit einem Schiffe angekommen wäre? Dies war es wahrscheinlich, was Herr Ripert melden wollte. Und Poum, von einem Freudentaumel ergriffen, beginnt auf einem Beine zu hüpfen, stößt wilde Schreie aus und dann läuft er, um Großpapa über die Sache zu befragen!

Großpapa Vernobre wohnt am hinteren Ende des Gartens, in einem alten Pavillon. Poum galoppiert wie ein junges Fohlen, er versucht sich sogar in einem Wiehern. Die Tür des Salons ist offen und Poum stürzt hinein:

»Die kleine Schwester rückt an, Großpapa!«

Großpapa Vernobre fährt in die Höhe. Was hat er denn nur? Wahrscheinlich schlief er! Er läßt die Zeitung fallen, er ist sehr rot geworden. Poum fragt arglistig:

»Es ist also ein Schiff aus China gekommen?«

»Natürlich, kleiner Nichtsnutz! Gieb mir meinen Stock!«

Aber da kommt auch schon Firmin dahergelaufen.

Ganz entschieden, es ist etwas passiert! Firmin murmelt einige Worte am Ohr Großpapas und dieser sagt: »Sehr gut! Sehr gut!« und ohne sich Zeit zu nehmen, seinen Hut aufzusetzen, geht er schnell davon.

Firmin gibt Poum den Rat, in der Platanenallee spazieren zu gehen, bis ihn seine Mama abholen ließe. Und Firmin macht ein geheimnisvolles Gesicht, legt den Finger auf den Mund und flüstert: »Pssst, pssst!«

Es ist kein Zweifel mehr. Der liebe Gott hat die Sendung aus China besorgt! Die kleine Schwester ist angekommen. Poum wußte ja übrigens, daß sie schließlich ankommen würde, denn alle kleinen Kinder werden aus China expediert. Es ist ja aus diesem Grunde, daß die Missionäre Briefmarken sammeln. Sie raffen alle zusammen, deren sie habhaft werden können, und wenn sie tausend Marken beisammen haben, so kommt ein kleines Kind zur Welt. Poum hatte deswegen auch in den letzten Monaten eifrigst gesammelt, er zerriß beinahe dreihundert alte Briefumschläge, um seiner Mama die kostbaren kleinen gelben, roten und blauen Vierecke bringen zu können.

Seine kleine Freundin Zette hatte also recht. Übrigens konnte man nicht zweifeln, wenn man an die große Lackschachtel dachte, die im Salon auf einem weißen Pfeilertischchen steht. Denn in dieser Schachtel wurde seinerzeit Poum aus China expediert, seine Mama hatte es ihm erst unlängst wieder einmal erzählt. Und es ist ja auch bekannt, daß jedes Kind inmitten von Blumen geboren wird. So kam beispielsweise Zette in einer Schachtel an, die mit weißen Lilienblüten angefüllt war. Poum dagegen lag auf einer Unterlage von frischen Blättern und Akazienblüten. Ah, welches Glück, eine kleine Schwester zu haben! In welchen Blumen wird sie eigentlich ankommen? Zette ist allerdings sehr lieb und nett, aber sehr oft hat sie auch ihre Launen! Sie ist manchmal geradezu dickköpfig, sie brüllt förmlich, wenn Poum an ihre Puppen rühren will. Ah, diese Mädchen begreifen gar nichts! Und dann muß man stets so tun, wie sie es haben wollen. Zette ist nur dann gut gelaunt, wenn sie die Gebieterin spielen kann. »Poum! Bürste einmal den Teppich« – »Poum! Hole mir um zwei Sous Butter!« – »Poum! Tragen Sie meinen Sonnenschirm!« Und wenn auch Zette sehr hübsch ist und vor allem lange flatternde Haare hat, die sich wie goldige Seide anfühlen, so hat es Poum allmählich satt, ihren Diener zu spielen! Er hat immer davon geträumt, eine kleine Schwester zu haben. Das wird himmlisch sein. Erstens ist ja die Schwester viel kleiner als er. Wenn sie spazieren gehen werden, muß sie die Spielsachen tragen, Schaufel und Spaten, den Ballon und das Butterbrot. Sie wird Poum unter allen Umständen gehorchen! Sie wird nie ihre Puppen ankleiden, ohne die Meinung Poums einzuholen und Poum betrachtet sie bereits jetzt als eine Puppe, als eine sehr vollkommene Puppe, sehr amüsant, eine Puppe, die spricht und die sich bewegt. Er wird mit ihr nach Belieben spielen können. Sie muß ihm ihren Fingerhut, ihren Zwirn, ihre Nadeln leihen. Dafür wird er sie belohnen, er wird sie gegen die Hunde und andere böse Tiere verteidigen. Poum ist ganz stolz, da er an die Beschützerrolle denkt und er stemmt herausfordernd die Faust auf die Hüfte. Er wird der Beschützer und Freund seiner kleinen Schwester sein; vielleicht wird er mit ihr seine Kostbarkeiten teilen, die Zuckersachen, die Schmetterlinge, Bonbons. Poum hat wirklich ein edles Herz!

Ah, dort ist ja Pauline, die mit den Armen in der Luft herumficht. Kein Zweifel, sie will Poum herbeirufen. Sie ruft.

Hurra! die Schachtel ist sicherlich während der Zeit angekommen, da Poum bei Großpapa Vernobre war …, und Poum galoppiert!

»Kommen Sie schnell, Poum! Papa und Mama wollen Sie sehen!«

»Ist sie angekommen?«

»Wer denn?«

»Die kleine Schwester, die Schachtel!« keucht Poum atemlos.

»Es ist keine kleine Schwester, was in der Schachtel war.«

»Was denn, Pauline! Was denn?«

»Ein kleiner Bruder! Ein zweiter Poum!«

»Ein zweiter Poum! …«

Was ist das für ein törichter Scherz? Ein zweiter Poum … Dies ist unmöglich!

Und der wahre Poum, Poum der Erste, der Einzige verfällt in einen schrecklichen Zorn, bricht in Tränen aus, stampft mit den Füßen und brüllt:

»Ich will keinen zweiten Poum! Ich will ihn nicht … Was will er denn hier? Ich will eine kleine Schwester, ich muß eine kleine Schwester haben!«

Pauline sucht ihn zu beruhigen, aber es ist vergebliche Mühe. Sie sagt zwar, daß ein kleiner Bruder sehr amüsant ist, sehr erheiternd.

Aber Poum ist untröstlich. Seine Zukunftspläne, die er so lange hegte, seine Träume von Zärtlichkeit und seine Rolle als Beschützer, dies alles bricht in nichts zusammen. Keine gehorsame Gespielin mehr, keine Puppe, keine Spielsachen. Ah, es ist schrecklich! Statt dessen eine neue unbekannte Persönlichkeit, ein kleiner Bruder, der da angesegelt kommt, ohne sich anzumelden, ohne daß jemand ihn wünscht! Poum hat so ein unbestimmtes Gefühl, als wäre er durch den neuen Ankömmling benachteiligt. Und er hat gar keine Zärtlichkeit für ihn vorbereitet. Ein zweiter Poum! Was soll das heißen!?

»Ihre Mama ist zu Bett … Sie ist gefallen und hat sich wehe getan, als sie dem kleinen Bruder entgegenlief. Aber es hat keine Bedeutung.«

Poum hört gar nicht mehr auf Pauline. Er hat einen sehr großen Kummer, und dabei ist er sehr neugierig. Ein kleiner Bruder? Wie sieht er aus? Schnell, schnell, durch den Korridor und toc! toc! Die Tür öffnet sich …

Mama ist im Bett, sehr bleich, den Kopf in den spitzenbesetzten Polstern vergraben. Sie lächelt schwach …

Papa steht neben ihr und hält ihre Hand. Großpapa Vernobre und der Doktor Ripert plaudern leise in der Fensternische … Und alle sehen sehr zufrieden drein.

Poum, sehr aufgeregt, bleibt an der Schwelle stehen. Wo ist denn dieser andere Poum?

Papa hat sich umgedreht.

»Komm' schnell, mein Alter!«

Und Poum fühlte sich von zwei mächtigen Armen emporgehoben und sieht unter sich das gute, glückliche Gesicht seines Papa. Und Mama küßt ihn auf die Stirne und sagt:

»Geh nun und sieh Dir deinen kleinen Bruder an!«

Poum sucht ihn. Aha! Auf der anderen Seite des Bettes steht eine Wiege. Poum erkennt sie, es ist ja seine eigene! Ah, da hat man ihn ja schon benachteiligt! Von der Schachtel sieht er nichts, man hat sie wahrscheinlich fortgetragen …

Der Doktor Ripert schiebt behutsam den weißen Vorhang zurück; Poum gewahrt in den weißen Kissen ein kleines, rötliches Paket. Das soll der kleine Bruder sein!? Ah, großer Gott, wie häßlich der ist!

Ein zweiter Poum? Ah, nein, das kann man nicht behaupten; es gibt keinen zweiten Poum. Und der wahre, der einzige Poum fühlt sich sehr beruhigt und betrachtet stillschweigend, mit etwas Hochmut und Mitleid, dieses schlafende Fleischbündelchen, dieses lebende, mysteriöse Etwas …

 

VIII.
Poum auf der Jagd

Am Vortag waren der Papa Poums, dann Onkel Arsène, die Herren Muholat und Dubreuil des Abends mit schweren Schritten heimgekommen, mit roter Ackererde an den plumpen Stiefeln. Sie hatten aus ihren Jagdtaschen rötlich blinkende Hasen, Rebhühner und Wachteln hervorgeholt. Die Rebhühner hatten halbgeschlossene Augen, aus denen noch ein schwaches Leben zu schimmern schien, und die Wachteln ließen die zerschmetterten Flügel hängen. All dieses Getier war auf dem großen Tische in der Küche ausgebreitet, roch wie nach warmen Federn und Haaren, und dann und wann fielen Blutstropfen auf die Steinfliesen, von den Hunden gierig aufgeleckt.

Poum streichelte die Beute mit Bewunderung. Man mußte schon höllisch geschickt sein, um so viele Tiere auf einmal zu töten! Man hatte Poum gesagt, daß sie nicht leiden: pan! pan! und es war um sie geschehen. Und wenn ein Tier nicht sofort tot war, so gab man ihm einen Schlag auf den Kopf. Übrigens ein Mann darf nicht rührselig sein! Und Poum richtete sich stolz auf, obzwar ihm beim Anblick all dieser armen Tiere die Tränen gekommen waren. Die Jäger, wie berauscht durch die Jagdbeute und den Aufenthalt in der freien Luft, sprachen und schrien mit starker Stimme. Herr Dubreuil, der so dick war, daß sich sein Lachen bis in den Bauch fortzusetzen schien, machte sich über den mageren Herrn Muholat lustig, der nicht nur lauter Fehlschüsse abgegeben hatte, sondern beinahe auf Herrn Dubreuil geschossen hätte, als sich dieser hinter einem Gebüsch bewegte. Herr Dubreuil trug einen Anzug aus grauer Leinwand und Herr Muholat hatte den Kameraden für einen Rehbock angesehen!

Poum träumte in dieser Nacht nur von Flammen und Rauch, von niederstürzendem Geflügel, von Seitensprüngen der Hasen, die schließlich in einen Graben kollerten. Wann würde die Zeit kommen, da auch er, Poum, auf die Jagd gehen könnte? Ah, Poum wird sich nicht mit Hasen und Rebhühnern begnügen; nein, es gibt ja da wütende Wildschweine, Stachelschweine und Meerschweinchen, die er allerdings noch nie gesehen hatte, die er sich aber in furchterweckender Gestalt vorstellt, mit Elfenbeinhauern und auf dem Rücken große Fächer von steifen, spitzen Stacheln.

Es war also kein Wunder, daß er hoch entzückt war, als am nächsten Morgen Step in sein Zimmer polterte, mit wirrem Haar und grimmiger Miene, und kategorisch erklärte:

»Schnell, Poum, heraus aus den Federn! Wir gehen auf die Jagd!«

»Wir beide?!«

»Ja; seine Majestät der König von England sollte uns begleiten, aber er hat mir soeben eine Depesche geschickt, um sich zu entschuldigen; er hat einen bösen Finger, und gerade jener, der den Gewehrhahn abdrückt!«

Poum, nur halb ungläubig, denkt, daß dies leicht möglich ist. Übrigens sucht er vergeblich nach seinen Hosen, endlich findet er sie über die Pendule gestülpt! Ah, großer Gott! Step scheint sehr sorgenvoll zu sein! Er schielt schrecklich, runzelt die Nase und beißt die Lippen.

»Woran denkst Du, Step?«

Und Poum hat bereits ein bißchen Angst. Denn solche Anzeichen bei Step deuten immer auf irgendeine Gefahr hin, auf ernste Ereignisse.

»Ich frage mich, Poum, ob wir auch recht daran tun, gerade heute auf die Jagd zu gehen!«

Warum nicht? denkt Poum. Es ist sehr schönes Wetter, durch das offene Fenster sieht man die Blätter der Platanen in der Sonne glänzen und der Gärtner begießt seine Tulpen.

Alles atmet Frieden und Sicherheit.

Step gibt sich den Anschein, den Park und den anstoßenden Wald aufmerksam zu besichtigen, mit seinen geballten Fäusten, die er wie ein Fernrohr vor das Auge stemmt.

»Ich sehe nichts … ich hoffe, das heißt, ich will hoffen, daß wir ihm nicht begegnen werden; übrigens habe ich mein Gewehr mit großen Kugeln geladen (denn Step hat ein wirkliches Gewehr, das die Bewunderung und den Neid Poums hervorruft!), hoffen wir, daß ›er‹ andernorts beschäftigt ist. ›Er‹ hat gestern einen kleinen Pächterjungen verschlungen, Du kennst ihn ja, diesen kleinen, häßlichen Pierre, der Dir immer die Zunge herausstreckt. ›Er‹ hat ihn im Nu verschlungen: ham! harm! Auf zwei Bissen!«

»Wer? – er«, fragt Poum ängstlich.

Und Poum vergißt ganz, das köstliche Gefühl der Rache zu verkosten, denn dieser Pierre hat sich lange genug über Poum lustig gemacht und er hat jetzt nur, was er schon seit langem verdiente!

»Pssst!« sagt Step, dessen Zeigefinger sich aufrichtet wie ein Blitzableiter. »Es bringt Unglück, wenn man ›ihn‹ nennt. Wisse bloß, mein armer Poum, daß ›er‹ sieben Köpfe und zehn Hörner besitzt. Man kann sagen, daß ›er‹ einem Leopard gleicht, obgleich er die Tatzen eines Bären und die Mähne eines Löwen hat. ›Er‹ speit Frösche, ›er‹ nährt sich von Feuer und sein Blick ist so giftig, daß man augenblicklich sterben muß. Ich will Dir sagen, wie ›er‹ heißt, denn es ist ja schließlich besser, wenn Du ihn kennst, falls Du ihm zufällig begegnen solltest, aber ich weiß nicht, ob Dir nicht sein bloßer Name bereits Zahnweh und eine Kolik gibt. ›Er‹ heißt …«

»Sage es mir nicht, Step, sage es mir nicht!«

Und Poum verstopft sich die Ohren. Aber Step, der sich vorsichtig nach allen Seiten umblickt (man sieht wohl, daß er selber nicht ganz beruhigt ist!), proklamiert feierlich:

»Es ist – das – Tier!«

Die Neugierde Poums obsiegt seiner Furcht:

»Welches Tier, Step?«

Step schließt die Augen, seine Zähne klappern, seine Knie schlottern, und er stottert:

»Das Tier – der – A-po-ka-lyp-se! …«

Poum bleibt ganz vernichtet, dann schlägt er schüchtern vor: »Wir könnten vielleicht die Jagd auf morgen verschieben?«

»Es ist unmöglich, Poum! Heute gibt es Rebhühner in der Luft … ich rieche sie. Du wirst drei Rebhühner töten, Poum, so wahr als Du ein Mann bist! Denn Du bist ein Mann, nicht wahr? Du hast keine Furcht? Also vorwärts, nimm Dein Gewehr, trinke Deine Schokolade und machen wir uns auf den Weg!«

Zehn Minuten später sind sie am Ende des Parkes, woselbst der Forst beginnt.

»Halte den Gewehrlauf niedrig, Poum! Falls Du diesen Ast hier gestreift hättest, wäre mir die Ladung ins Auge gegangen!« Poum senkt sofort sein Gewehr, obzwar es nur ein Holzgewehr ist, wobei man den Schuß mit dem Munde imitieren muß.

»Halloh, die Reihe ist an Dir! Rebhühner!«

Und Step, den Schuß brüllend und das Echo markierend:

»Badabumm! Ufffrrr …«

Er stürzt vor, bückt sich und hebt in größter Überraschung die Arme zum Himmel:

»Ein dreifacher Treffer, Poum! Drei Rebhühner! Komm schnell! – Aber von den Rebhühnern sind nur die Köpfe übrig geblieben, das Gewehr war so stark geladen, daß der Schuß den Rest hinwegtrug. Aber das ist ja großartig! Das nenne ich zielen! Es ist wirklich wie eine Magie!« Poum sieht in der Hand Steps drei kleine Köpfe, deren Federkrause den abgeschnittenen Hals umgibt. Poum bewundert seine Kunst, seine Geschicklichkeit, er ist sehr erstaunt und sehr stolz. Allerdings kommen ihm diese Köpfe etwas bekannt vor, und gestern auf dem Küchentisch …

»Du mußt Dein Gewehr von neuem laden, Poum! Achtung, ich werde Kugeln nehmen, es ist klüger! Ich will es selbst laden.«

Step zieht einige Kugeln vor und gibt sich den Anschein, das Gewehr Poums bis an die Mündung zu laden.

»So, nun sind wir auf alles vorbereitet. Aber, höre doch! … Hörst Du nichts?«

Man hört nichts als den leisen Wind, der die Blätter rührt. Aber das Herz Poums schlägt stürmisch, seine Ohren sausen, und es scheint ihm, daß Step sehr bleich geworden ist.

»Wenn er auftaucht, wirst Du zuerst schießen, Poum! Du mußt auf die Brust zielen … es kommt mir vor, als würde ich schwere, schleichende Schritte hören. Es ist kein Zweifel, die Gefahr naht … Nein, siehst Du Poum, ich habe Dich gar zu gern, ich will nicht, daß es Dir so geht wie dem bösen Pierre, ich will vorausgehen, ich will höflich meine Mütze ziehen und bitten: ›Verschlingen Sie lieber mich, aber lassen Sie Poum am Leben …‹ Da, Poum, ich will Dir meine Uhr und meine Geldtasche als Andenken geben, nimm auch mein Taschentuch, Deine Nase tropft … Adieu, Poum, umarme mich, sage meinen armen Eltern, sie sollen eine Messe für mich lesen lassen. Es ist bitterlich, aber ehrenvoll, für einen Freund zu sterben!«

»Oh, Step, bleib hier, gehe nicht fort!«

Und in der Herzensangst Poums errät man nicht nur die Verzweiflung darüber, daß sich Step für ihn aufopfert, sondern auch diesen schrecklichen Gedanken, hier allein zu bleiben.

»Dann wollen wir uns also verstecken, es ist unsere letzte Hoffnung … schnell, hinter diesen Baum! Lege Dich platt auf den Boden, ich werde Dich mit Ästen und Blättern zudecken, sprich nichts, halte den Atem an, schließe die Augen … Ah, großer Gott, er kommt immer näher … Hörst Du nicht, wie ›er‹ seine Krallen an den Baumstämmen schärft?«

Step kratzt mit seinem Messer an der Rinde der Eiche.

»Er kommt näher, schließe gut die Augen, Poum! Er macht den Rachen auf, na, die Menge von Fröschen, die er speit! Grüne, blaue, schwarze Frösche … Coa! Coa! bre–kekex! … Er hat sieben Köpfe und zehn Hörner … Er bewegt sich wiegend vorwärts wie ein Bär! Oh, Poum, er kommt! Sprich ein Stoßgebet … Ah, er macht kehrt, wäre es möglich, daß er davongeht? Ah, ich will ihm eine Ladung unter den Schwanz pfeffern!«

»Tu es nicht, Step, tu es nicht! Er könnte wiederkommen!«

»Du hast recht, man darf ihn nicht reizen. Achtung! Sollte er doch umkehren? Nein, die Gefahr ist vorüber, steh auf, Poum, Du bist etwas bleich, aber Du lächelst! Na, ich sehe, daß Du keine Furcht hattest; ein ganz klein wenig nur, nicht wahr? Willst Du, daß ich Dich allein nachhause gehen lasse?«

»Oh nein, Step!«

»Dann werde ich also den anderen sagen, daß Du ein Feigling bist?«

»Oh nein, Step!«

Und Poum betrachtet seinen Peiniger mit flehenden Augen, denn er hat es gerne, daß man ihm Furcht macht, er hätte gewünscht, das Tier der Apokalypse wirklich zu sehen, einen Augenblick lang, obzwar er ganz gut wußte, daß es gar nicht existiert!

 

IX.
Poum und der Zuave

Poum langweilte sich zum Sterben, eines Tages, da ihn seine Eltern zur Strafe zuhause gelassen hatten, und er hatte alle Erfindungskünste seiner Phantasie aufgeboten, um sich zu zerstreuen. Er hatte den Hund gereizt, hatte seine Schuhe an der Pumpe mit Wasser gefüllt, hatte sich vor einer Eidechse sehr gefürchtet, hatte Steine in das Bassin geworfen, hatte sich nach seiner Freundin Zette gesehnt, um sie gleich darauf zu verwünschen, weil sie nicht kam, er hatte entschieden, daß er Soldat werden würde, um seine Feinde köpfen zu lassen, er hatte sich für Weihnachten eine Spieldose gewünscht, er war in der Platanenallee auf allen Vieren gekrochen und stürmte jetzt in das Speisezimmer, wobei er eine Lokomotive nachahmte und er hatte gehofft, im Speiseschrank etwas Obst zu mausen, als er plötzlich innehielt, weil ihm zu seiner größten Verblüffung ein Wesen erschien, dessen Seltsamkeit fortan seiner Erinnerung reichen Stoff geben sollte.

Es war ein Zuave.

Er stand auf einer hohen Leiter, in einer roten Hose und einem grauen Arbeitskittel und strich den getäfelten Plafond an. Er schien gar nicht erstaunt zu sein, daß eine Lokomotive in das Zimmer einbrach und begnügte sich, zu schreien:

»Cornichon! Zehn Minuten Aufenthalt! Buffet!«

Poum blieb mit gemischten Gefühlen stehen, denn er war nicht ganz sicher, ob sich nicht das Wort »cornichon« auf ihn beziehe und ob ihn also der Zuave nicht eine »Gurke« nenne, oder ob er dies als einen guten Witz auffassen sollte. Der Zuave sah ihn scharf an, hob den Pinsel bis zu den Augen und grüßte:

»Guten Tag, Herr Oberst!«

Poum nahm eine würdige Miene an, indem er seinen Papa nachahmte, wenn dieser die Wache grüßte, den Arm halb erhoben. Und er geruhte wohlwollend zu sagen:

»Wenn die Leiter nicht fest steht, könnten Sie fallen!«

»Das würde meinen steifen Hals kurieren!« sagte der Zuave, der seinen Hals in der seltsamsten Art vorstreckte und hierauf seinen Kopf wirbelnd hin und her drehte, als wollte er ihn von sich schleudern.

Poum stieß vor Schrecken und Bewunderung einen Schrei aus.

»Sieh da!« sagte der Zuave sehr geärgert, »jetzt ist mir mein Auge herausgefallen! Bitte, suchen Sie einmal unter der Leiter, dort zur Linken!«

Und sein linkes Augenlid hatte sich in der Tat plötzlich geschlossen.

»Dies ist bereits das zweitemal, daß mir das passiert!« sagte der Zuave. »Ich darf den Kopf nicht allzu stark rühren. Das anderemal war es auf einer Jagd in Tartarie, bei meinem Freund Barbarie, mein Freund Poum! Ein Krokodil hatte das Auge sofort geschnappt!«

»Ich sehe kein Auge auf dem Boden!« sagte Poum, der wirklich gesucht hatte, weil ihm das Phlegma des Zuaven höchlichst imponierte.

Der Soldat schoß die Leiter herab, schien etwas in der Luft aufzufangen und steckte es mit einem Schlag in die Augenhöhle.

Dann riß er beide Augen auf.

»So, mein Junge! Nun ist mir leichter!«

Poum fühlte sich beruhigt und begann zu lachen. Der Zuave ebenfalls.

»Es ist genau so, wie mit dem Krokodil!« sagte er. »Es war so lustig, mein Auge verschluckt zu haben, daß es ihm vor lauter Glucksen unversehens wieder beim Rachen herausfuhr. So ging es auch meiner seligen Großmutter, wenn sie ein Fünffrankstück verschluckte!«

Poum riß erstaunt die Augen auf.

»Vielleicht glauben Sie mir nicht?« fragte der Zuave. »Vielleicht haben Sie nie von meiner Großmutter sprechen gehört? Sie hieß Barbara Scarmaucha, sie war allgemein beliebt.«

Poum erklärte würdig und höflich:

»Nein, ich habe sie nicht gekannt!«

»Haben Sie ein Fünffrankstück?«

Poum schüttelte verneinend den Kopf.

»Ein Zweifrankstück vielleicht?«

»Auch nicht!«

»Na, Sie werden aber doch ein Halbfrancstück haben!« sagte der Zuave so ironisch und so gebieterisch zugleich, daß Poum, obzwar im vorhinein sehr besorgt, ein ganz neues Geldstück dieser Sorte am Grunde seiner Hosentasche hervorsuchte, woselbst es mit einer Kreisel und einem Bleisoldaten fraternisierte.

»Da ist kein Verdienst dabei, ein Kind würde dies können! Uapp!«

Der Zuave ließ ein Bellen hören und das Geldstück war verschwunden.

»Oh, geben Sie es mir zurück!« flehte Poum.

Der Soldat sah ihn groß an:

»Aber ich habe es ja verschluckt!«

»Oh, geben Sie es mir zurück!«

»Hören Sie, ich muß wiederum an meine Arbeit gehen, die Farbe wird sonst trocken! Und was würde Ihr Papa, der Herr Oberst, dazu sagen!«

Er machte Miene, wieder die Leiter hinanzusteigen.

»Mein Geldstück!?« wimmerte Poum.

Der Zuave schnitt ein argwöhnisches Gesicht und sagte in strengem Ton:

»Sind Sie sicher, daß es aus Silber war und nicht aus Blei?«

»Es war ein halber Franc, ganz neu, aus Silber!«

»Aber sind Sie ganz und gar sicher?!«

Sein Ton war so seltsam, so angstvoll, daß Poum stammelte:

»Warum?«

»Wenn das Geldstück aus Blei ist, sagen Sie es mir lieber gleich, denn dann bin ich ein toter Mann!«

Er griff sich an den Bauch und schnitt gräßliche Grimassen.

»Das Geldstück war falsch, ich bin vergiftet!«

Er krümmte sich vor Schmerz.

»Ah, es gibt kein Gegenmittel … Oder doch? Aber Sie dürfen kein Sterbenswort verraten! Eine Zigarre würde mich retten, oder einige Zigaretten! Gibt es gar keinen Tabak hier? Ah, großer Gott, ich habe schreckliche Schmerzen …«

»Warten Sie, ich habe gehört, daß in solchem Fall ein Glas Rum …«

»Ah, Du mein Schöpfer, welche Qual! Wenn ich nur etwas Kirschwasser hätte … Ah! Ah! Ah!«

Poum stürzte zum Speiseschrank, ergriff eine Flasche, goß dem Soldaten ein Weinglas voll ein. Dieser rollte die Augen vor Entzücken.

»Ah, Ah, danke. Es ist – meiner Treu – Kognak! Ah, er ist etwas stark, aber das macht nichts! Sapristi, ist er stark!«

Er ließ den Rest in seine Gurgel rinnen und sagte:

»Jetzt hats keine Gefahr mehr, das Geldstück ist aufgelöst.«

Er blickte Poum überzeugend an.

»Aufgelöst, geschmolzen, verflüchtigt!«

»Mein Geldstück!« begann Poum wiederum.

Der Zuave sagte ihm wohlwollend:

»Es war einmal eine Königin, die Kleopatra hieß, zur Zeit des heiligen Antonius. Sie hatte ihre Perlenorgehänge verschluckt, aus Bosheit, und sie mußte dann einen ganzen Topf voll Essig trinken, um die Perlen zu verdauen.«

Er fügte nachdenklich hinzu:

»Dies ist kein Scherz. Sehen Sie, ich bin ein Freimaurer, sehen Sie einmal her, ich habe die Marke!«

Er schob seinen Ärmel zurück und an seinem rechten Arm sah Poum eine blaue Tätowierung, ein Herz, von einem Pfeil durchstochen!

»Sie müssen wissen, daß sich die Freimaurer schrecklich rächen, wenn man sie verrät; es kommt dann in der Nacht ein Phantom und erstickt den Verräter. Wenn Sie also zum Beispiel Ihrem Papa erzählen würden, was hier vorgefallen ist, so können Sie sicher sein, daß in der Nacht, wenn alles schläft, eine Hand unter Ihrem Bette hervorgreift, ein Totenkopf sich zeigt, und …«

Der Zuave hielt plötzlich ein, wie erstarrt, als ob ihm das Phantom erschienen wäre! Und man hörte eine schreckliche Stimme, die aus einem Munde mit gesträubtem Schnurrbart hervordröhnte:

»Fahren Sie fort, Zuave, fahren Sie fort!«

Poum schnellte wie ein Karpfen zurück, da er den Oberst erkannte, seinen Papa! Dieser sagte strenge, ohne Poum anzusehen:

»Geben Sie diesem kleinen Dummkopf sein Geldstück zurück!«

Der Zuave wurde feuerrot, röter als seine Hose! Und er suchte das Geldstück hervor. Poum nahm es, sehr zufrieden, aber er fühlte sich etwas beschämt, weil ihn Papa vor dem Zuaven einen Dummkopf genannt hatte.

Der Oberst blickte nach dem offenen Speiseschrank, sah die Flasche entkorkt, sah das leere Glas. Es entstand eine tiefe Stille, der Oberst kaute an seinem Schnurrbart, dann fragte er:

»Ist mein Kognak gut?«

Der Zuave stand stramm, die Hände auf der Hosennaht.

»Ist mein Kognak gut?« wiederholte der Oberst mit schrecklicher Stimme.

»Ja, mein Oberst!« hauchte der Zuave.

»Ich bin erfreut, es zu hören! Aber, ich hoffe, dies hat Ihnen etwas Mut zu Ihrer Arbeit gegeben? Lassen Sie sich davon nicht abhalten, weil ich hier bin.«

Der Zuave stob die Leiter hinan und begann fieberhaft schnell mit dem Pinsel zu hantieren, wie aufgespießt durch das Luchsauge seines Vorgesetzten, während sich Poum duckte und sein Geldstück streichelte, wobei er kaum zu atmen wagte …

 

X.
Der rote Pfau

»Großpapa, laß doch das Musik-Ei spielen!«

Großpapa Vernobre steht von seinem Lehnstuhl auf, schlürft durch das Zimmer und nähert sich einem absonderlichen Gegenstand, der sich auf dem Kaminsims befindet. Es ist eine geheimnisvolle winzige Truhe, auf die ein Straußenei geschraubt ist.

Großpapa hebt den Deckel ab und man sieht ein unvergleichlich schönes Schauspiel. Auf einem Meer, dessen kleine Wogen aus blauer Seide bestehen, gleitet ein winzig kleines Schiff beim Klange des Liedes: »Glückliche Reise, Herr Dumollet!« gegen eine Stadt, die man an ihren Moscheen und an den Palmen als Algier erkennt. Die Wogen werden beinahe stürmisch, als wollten sie dem Beschauer die Seekrankheit geben, und die Spieluhr knarrt und schnurrt, daß man mit den Zähnen knirschen möchte. Großpapa Vernobre hält es nicht mehr aus, stellt das Werk ab und verschließt das Ei.

Poum hat aber noch nicht genug.

»Großpapa, zeige mir doch die trommelschlagende Schnecke!«

Aber Großpapa Vernobre sieht ihn strenge an und Poum räuspert sich verlegen. Poum trägt das Haar ganz kurz geschoren, was seinen feinen Kopf einem schlecht gebrannten Tontopf ähnlich macht, dessen Henkel die Ohren wären. Er trägt eine samtene Bluse und mexikanische Hosen, sodaß er eine große Ähnlichkeit mit den Modebildern der jungen Gentlemen des zweiten Empire aufweist. Und Großpapa Vernobre ist echtestes zweites Empire, mit seinem sehr hohen Kragen, der weißen Weste, seinem gut gefärbten Gesicht, dem gewichsten Schnurrbart und dem unten sehr engen Pantalon, wie es Napoleon III. zu tragen pflegte.

Über den beiden, an der Rückwand, in einem ovalen Medaillon, sieht man die selige Großmama Vernobre, als ganz junge Frau, sehr schmachtend, mit schwarzen Locken und einem süßlich gespitzten Mund.

»Die Schnecke, Großpapa!«

Diese Schnecke ist ein wahres Weltwunder, ganz verwirrend, das man bewundert, ohne es zu berühren. Diese Schnecke ist zu drei Vierteln aus dem Häuschen hervorgekrochen, biegt sich in Form eines großen »S« und schlägt mit den Fühlhörnern einen Trommelwirbel auf dem eigenen Rücken.

»Oh, Großpapa, willst Du mir jetzt den schönen, roten Pfau zeigen?«

Die Stimme Poums ist herzerweichend. Seine Augen blicken sehr zärtlich, seine Nasenflügel erweitern sich vor Erwartung und Sehnsucht. Aber die Gefälligkeit Großpapas hat ihre Grenzen:

»Ein andermal, Poum!«

Und Gott weiß, daß Großpapa nur selten etwas abschlägt! Hat er nicht gestern, trotzdem er die Gicht in der rechten Zehe hatte, einen Dragonerhelm und einen Säbel für Poum herbeigebracht? Und welch herrliche Geschenke hat er für Poum dreimal des Jahres bereit! An seinem Geburtstag, zu St. Jean, und am 15. August, da man Poums Namenstag feiert.

Der junge Gentleman blickt verzweifelt nach dem Glasschrank, woselbst ein roter Pfau aus böhmischem Glas Rad schlägt, zwischen einer Schäferin aus Meißen und einem kleinen Sessel aus Kristall. Großpapa Vernobre weicht der Bitte aus, die Poum jeden Abend stellt.

»Rolle nicht Deine Augen wie ein Karpfen, es ist vergeblich! Alles, was ich tun kann ist, Dir den Pfau morgen zu zeigen.«

Poum kennt schon diese Phrase. Seit drei Monaten wiederholt Großpapa: »Morgen, morgen!« Und dieses Morgen kommt nie! Poum kann sich dies nicht erklären. Warum ist dieses »Morgen!« so unendlich weit? Es ist also so etwas wie die Ewigkeit? Nein, Poum möchte endlich den roten Pfau besehen! Er weiß, daß ein Morgen nicht existiert.

In seiner Einbildungskraft, die alles vergrößert und alles verändert, ist dieser unerreichbare Pfau ein Wundervogel geworden, etwas ganz Unbekanntes, Seltenes, Köstliches. Poum träumt des Nachts davon. Der Pfau ist so etwas von unschätzbarem Werte … Es ist ein lebendes Tier … Die Träume von Poum verwechseln den Pfau mit allen Fabelwesen, von denen in den Märchen die Rede ist, er sieht scharlachrote Vögel, phantastische Pfauen, die in dem Nachtdunkel ihre wunderbaren Federn entfalten … Ah, diese seltsamen Tiere! Sie haben Augen auf den Federn! Sie durchbohren Poum wie mit tausend Blicken! Und Poum klappert mit den Zähnen, vor Furcht und Entzücken …

Aber dies kann doch nicht ewig dauern! Großpapa hat versprochen und diesen Abend muß er endlich sein Wort halten! »Großpapa, Du mußt Dein Wort halten!« sagt Poum sehr ernst. Denn man hat Poum vorgesagt, daß man stets halten muß, was versprochen wurde. Soll der Großpapa nicht mit gutem Beispiel vorangehen?

Poum sieht so unglücklich drein, daß Großpapa endlich nachgibt. Er steht auf! Er geht mit feierlichen Schritten zum Schrank … Poum hat sehr starkes Herzklopfen …

Mit größter Vorsicht, mit behutsamen, wie zärtlichen Gesten läßt Großpapa Vernobre seine schmale Hand zwischen dem Kristallstuhl und der Meißner Schäferin hindurchgleiten und nimmt den kostbaren Vogel zwischen Daumen und Zeigefinger.

Poum zittert vor Ungeduld. Endlich dreht sich Großpapa um und hebt den Pfau empor.

»Achtung, Poum! Nun? Hast Du vielleicht die Zunge verschluckt?« Nein, aber Poum ist sehr gerührt. Er weiß nicht, soll er weinen oder lachen. Den Kopf zurückgeworfen, starrt er den Pfau mit aufgerissenen Augen an. Er unterscheidet etwas undeutlich einen goldenen Schnabel, einen Unterleib aus rosa Email und das Pfauenrad, das wie mit Diamanten überstreut ist.

»Gib ihn mir, Großpapa!«

Er streckt den Arm aus und in seiner Stimme ist soviel Rührung und Respekt, daß Großpapa belustigt lächelt:

»Wie, Du möchtest den roten Pfau anrühren, Poum? Aber Du denkst nicht daran; herab mit den Händen! Du wirst ihn erschrecken. Weißt Du, daß es ein außerordentlich empfindlicher Vogel ist? Er gehörte einst der Königin von Spanien! Wenn ich Dir ihn gebe, wird er vor Schrecken vielleicht die Farbe wechseln. Er hat Abscheu vor den schmutzigen Fingern der kleinen Jungen. Zeig zuerst Deine Hände!«

Poum zeigt sehr stolz seine Hände, denn Pauline hatte sie eine Viertelstunde vorher gewaschen.

Aber was geschieht? Ja, ist denn Großpapa verrückt geworden?

Ist es wirklich sein Ernst? Er reicht Poum den roten Pfau hin und sagt ganz einfach:

»Na, so sieh Dir ihn einmal ordentlich an, damit ich Ruhe habe!«

Ein verhängnisvoller Einfall!

Denn Poums Finger zittern, er ist von einer beinahe abergläubischen Furcht erfüllt, er denkt: »Sieh einmal, er glänzt in der Nähe gar nicht so stark wie im Schrank, und er ist ziemlich klein …« und schon liegt der rote Pfau auf dem Boden … crac!

Poum sieht ganz irrsinnig drein. Er begreift zuerst gar nicht. Wo ist der Pfau? Da, am Boden, es ist nur ein kleines Häufchen von Glassplittern, kleine, rote Dingerchen … Ist's möglich? Es herrscht in dem Zimmer eine plötzliche, große Stille und dann bricht Poum in Tränen aus.

Großpapa wird sehr zornig sein, dies ist sicher! Aber dies allein ist es nicht, was Poum so verzweifelt macht …

Er weint kläglich, er weint, daß seine Brust zerspringen will, er empfindet einen riesigen Schmerz und Kummer, ohne eigentlich zu wissen warum. Der rote Pfau ist tot! Der Wundervogel, der Traumvogel existiert nicht mehr. Poum hat seine erste Illusion verloren … er beginnt seine Lehrzeit als Mensch …

Und Großpapa ist wirklich wütend:

»Wer hat mir einen so ungeschickten Jungen bescheert? Taugenichts! Einarm!«

Die schreckliche Stimme rollt wie ein Donner. Und der Arm weist wütend nach der Tür:

»Nie mehr wirst Du deine Füße hieher setzen! Fort! Hinaus!« Und Poum entflieht, mit gebeugtem Kopf, mit dem Gefühl, daß er etwas sehr, sehr Großes verloren hat, daß er jetzt allein ist und sehr unglücklich … und daß man ihn aus dem Paradies verjagt hat …

 

XI.
Das Hundehalsband

Poum hatte die abscheuliche Gewohnheit, Grimassen zu schneiden. Man hätte es kaum glauben können, wenn man ihn sah, mit seinem Mädchengesicht und dem mageren Körper; aber es war traurige Wahrheit! Er konnte nicht dem Verlangen widerstehen, sein Gesicht in der wildesten und gewaltsamsten Art zu verzerren. Vor allem waren ihm zwei Grimassen über alles teuer: die erste bestand darin, die Augen fast aus ihren Höhlen treten zu lassen, wie ein Lastträger, der, einen Kleiderschrank auf dem Rücken, mit seiner Last in der Türfüllung stecken bleibt. Die zweite Grimasse setzte durch eine drehende Bewegung die Nasenspitze und die Oberlippe in eine solche Nähe, daß sie einander beinahe berührten, und Poum versuchte dieses Manöver sowohl von der linken wie von der rechten Seite, trotzdem die zweite Art etwas schwieriger war.

Da Poum eine seltene Beobachtungsgabe besaß, so hatte er wahrgenommen, daß man großartige Effekte erzielen könne, wenn man die Stirne runzelt und gleichzeitig die Augenbrauen hochzieht. Er konnte auch mit den Ohren wackeln, und die Beweglichkeit der Nasenflügel, die in dem steinern gewordenen Gesicht einen Wirbel schlugen, hatte keinerlei Geheimnisse für ihn.

Es gab da noch andere Genüsse; es war ein seltsam wollüstiges Gefühl, einen Finger in die Nase zu bohren, oder sich dergestalt in den Ohren zu stochern, daß ihn dies am Halszäpfchen kitzelte. Auch wenn man die Sohlen gegen einander schlug, oder den Boden kratzte, war nicht ohne! Ein Hochgenuß war es schließlich, sich den Kopf zu kratzen, mit allen zehn Fingernägeln zu gleicher Zeit!

Diesen Genüssen standen aber manche gräßlich widerliche Sensationen gegenüber: sich mit kaltem Wasser waschen zu müssen, zu dulden, daß Pauline einem die Fingernägel beschnitt oder den Kopf mit Eidotter wusch! Brr …

Aber das köstlichste, das vollkommenste und unvergleichbarste Vergnügen war, sich sozusagen den Kopf loszureißen! Man streckte den Kopf mit den brüsken, eckigen und gewaltsamen Gesten, die man an den Hampelmännern sieht, weit vor, man suchte ihn gleichsam vom Halse loszureißen, nickte heftig, zog ihn wieder jäh zurück, warf ihn abermals vor: es war eine Art von trockener Guillotine, ein Vergnügen, das umso köstlicher schmeckte, als es jeden Tag gefährlicher wurde!

Denn Papa und Mama waren auf der Lauer! Man hatte Poum gewarnt! Und da Beschwörungen, Bitten, Drohungen und Strafen nicht imstande waren, Poum in dieser Hinsicht zu bessern, da er sich im Gegenteil bestrebte, diese Grimassen noch teuflischer und abstoßender zu machen, so hatte Papa erklärt: »Nun, jetzt ist's beschlossen, ohne Widerrede! Das erstemal, wenn Poum noch einmal den Hals verdreht – das erstemal! – so wird man ihn nicht etwa dadurch strafen, daß man ihn in die dunkle Kammer sperrt, oder ihn hungrig zu Bette schickt, oder ihn am Sonntag die Wochenkleider tragen läßt, nein, das Strafmittel wäre viel schrecklicher, sein Vater – und es gäbe da kein Bitten und Flehen! – würde ihm, damit Poum nicht mehr den Hals verrenken könne, das große, harte, mit Nägeln beschlagene Halsband des Hofhundes umbinden, und würde ihn so den ganzen Tag dem Gespött und Gelächter der Dienerschaft aussetzen!

Ganz gewiß!

Poum hatte eine große Furcht vor seinem Papa, einem Riesen, dessen Stimme die schwachen Nerven Poums zerriß. Aber selbst diese Furcht war ein Ansporn, das Verbotene zu tun. Gerade durch diese Furcht verkostete er eine beinahe perverse Eitelkeit und eine prahlerische Ironie, die schrecklichsten Grimassen zu machen. Und an diesem Morgen besonders war seine Befriedigung eine so große, daß er im Garten, gerade unter den Fenstern, hinter denen Papa und Mama nach ihm spähten, seinem Gelüste fröhnte.

Bum! Ein Ruck, um sich den Hals auszukegeln! Pan! Ein zweiter! Nein, dieser war nicht besonders gelungen! Bum! Es scheint ihm, als ob ein Knochen geknackt hätte! Bum, Bum! Die Haut wird reißen!

Wenn man gleichzeitig mit den Kinnladen schnappt, ist es noch schöner! Ah, das ist beinahe eine Entdeckung in der Art des Kolumbus, nicht mehr und nicht weniger! Und wenn man dann auch die Stirne runzelt, die Augen hervorquellen läßt und die Nase rümpft, dabei galoppierend … das ist unvergleichlich!

Katastrophe!

Eine schwere Hand saust auf seine Schulter hernieder, hebt ihn hoch, schleppt ihn, wirft ihn in die Sattelkammer unter die Augen des Kutschers, der gerade seinen Wagen putzt, in Gegenwart des Stallburschen, der mit einem Schubkarren hantiert, dem Ordonnanzburschen, der das Geschirr bürstet.

»Das Halsband von Polyphème!«

»Jawohl, mein Oberst!« erwidert der ganz verblüffte Ordonnanzbursche, der von der Mauer ein großes, schweres Halsband herabnimmt.

»Oh, ich werde es nicht mehr tun! Nein, geben Sie mir nicht das Halsband! Oh, ich bitte, Papa!« heult und fleht Poum.

»Das nützt nichts, mein Junge!«

Und der Oberst schnallt das harte Halsband fest, während der Ordonnanzbursche ganz entsetzt zusieht.

»Ducke Dich, noch mehr!« grollt Papa mit seiner rauhen Stimme.

Poum gehorcht. Sein Kinn wird eisig bei der Berührung der Metallplatte, die den Namen des Hundes trägt. Das Halsband tut nicht gerade weh, aber es ist sehr unbequem.

Poum würde gerne den Hals verrenken, aber es geht nicht. Und die harte Faust seines Papa stößt ihn hinaus. Der Kutscher und der Stallknecht brechen in Lachen aus.

»Ducke Dich!« wiederholt sein Papa, halb drohend, halb spöttisch.

Poum ist sehr beschämt, trägt den Kopf steif. Papa läßt ihn stehen. Poum versucht, sehr würdig dreinzusehen, als hätte er sich selbst zu seinem Vergnügen das Halsband umgeschnallt. Aber die Dienerschaft läßt sich dadurch nicht hinters Licht führen, sie lachen hinter ihm her. Der Kutscher ahmt Poum nach: »Bum!« Poum fühlt, wie sich ihm vor Zorn die Brust verengt, wie ihm Tränen in die Augen schießen, und er flüchtet in den Hintergrund des Gartens.

Dort sagt er sich grimmig, daß er den Kutscher von seinen Pferden zerreißen lassen würde, wenn er es könnte. Er berauscht sich an einer roten Wahnvorstellung, er sieht das Haus in Flammen stehen und sein Papa wird darin verbrannt. Nein, das will er im Grunde genommen nicht; aber Papa soll recht viel Furcht ausstehen! Poum befreit sich durch diese unsinnigen Vorstellungen von dem Abscheu, den ihm die Ungerechtigkeit der Großen und die Tyrannei seiner Familie einflößten. Nach und nach schlägt sein Herz minder stark, seine Nerven beruhigen sich. Es sieht ihn ja niemand! Doch, die Katze des Nachbars, die auf Samtpfoten in einer Allee dahinschleicht, ihre gelben, unruhigen und lauernden Augen begegnen dem Blicke Poums, der sich sehr beschämt sagt:

»Die Katze sieht mich, sie hat begriffen, sie verhöhnt mich!«

Poum möchte ihr Furcht machen; da er ein Halsband trägt, ist er nicht ein Hund? Ja, er fühlt, daß er zum Hund wird, er möchte aus einer Schüssel essen, möchte sich zusammengekauert niederlegen, möchte sich die Flöhe abschütteln, möchte hinter den Hasen jagen:

»Uapp! Uapp!«

Poum springt vor, mit gebleckten Zähnen; die Katze erschrickt, springt auf einen Baum und von dort auf die Gartenmauer. Poum lacht aus vollem Herzen und vergißt darauf seinen Schmerz. Hund zu sein – dies ist sehr lustig! Er stellt sich neben das Gitter, bellt Spaziergänger an, die gar nicht da sind. Aber die Hofhunde sind ja angekettet! Poum findet in seiner Tasche eine Schnur, schlingt sie um sein Halsband und befestigt das andere Ende am Baum.

Als ihn seine Eltern endlich im Garten auffinden, bietet sich ihnen ein seltsames Schauspiel. Poum, sehr glücklich, liegt auf dem Boden, zusammengekauert, und kratzt die Erde; er macht mit seinen Vorderpfoten ein großes Loch, während er mit den Beinen die Erde hinter sich wirft! Von Zeit zu Zeit bellt er kläglich und bewegt den Mund, wie ein wirklicher Hund.

»Meiner Treu, dieser Junge wird niemals so sein, wie die anderen Kinder!« sagt Papa ganz entmutigt.

Und er bindet das Halsband los, während Mama entsetzt zurückweicht, vor diesem schmutzbedeckten, gesträubtem Wesen, daß aus seinem Traum aufgeschreckt wurde und nicht weiß, ob es Hund bleiben oder ein artiger Junge werden soll …

 

XII.
Poum als Gast

Die Eltern Poums mußten einer Hochzeit in der Nachbarstadt beiwohnen und hatten Poum allein zuhause gelassen, unter der Obhut von Pauline, mit den dringlichsten Ermahnungen. Der Speisezettel dieses jungen und interessanten Gentleman wurde im vorhinein festgesetzt: ein weiches Ei, ein Milchreis, ein Fingerhut Wein, mit Wasser vermengt, ein Löffel voll Marmelade. Denn alle im Hause wußten, daß Poum sehr empfindliche Eingeweide hat und ein besonderes Regime einhalten muß.

Poum hat mit großem Bedauern zugesehen, wie Papa, Mama, Großpapa Vernobre und Tante Ursula in dem großen Familienbreak fortfuhren, und lange winkte er ihnen mit dem Taschentuch nach, wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel. Einen Augenblick lang schwankte er, als er das Taschentuch sinken ließ, ob er es – nicht an seine Augen, wohl aber an seine Nase führen sollte? Aber er begnügte sich, sehr stark zu räuspern, denn jetzt hatte er dazu volles Recht, da niemand da war, der ihm gesagt hätte:

»Poum, schneuze Dich!«

Er hatte wirklich etwas Kummer, aber es war ein sehr fröhlicher Kummer.

Nachdem er zuerst in Trauermelodie gesungen hatte:

»Tralala, la, la, la, la!
Alle ließen sie mich da!«

begann er zu hüpfen:

»Doch ich wälze mich im Gras,
Denn das macht mir großen Spaß!«

Was er denn auch sofort tat. Dann spuckte er aus Leibeskräften, schielte fürchterlich und schlich sich in das Badezimmer, um aus den Köpfen der kupfernen Schwäne das Wasser mit großem Lärm hervorgurgeln zu lassen. Aber die vorsichtige Pauline hatte die Leitung abgesperrt. Dann versuchte Poum, im Stall mittels eines langen Strohhalms das alte Streitroß von Großpapa Vernobre zu kitzeln und zum Ausschlagen zu bringen. Unglücklicherweise saß der Kutscher auf der Futterkiste und rauchte eine Pfeife, die den Kopf einer Negerin aufwies. Es blieb also der Obstgarten. Aber der Gärtner Crochart, der nie ein Wort sprach, aber höllisch aufpaßte, war eben beschäftigt, Pflaumen zu pflücken.

Poum hätte bald verzweifelt. In diesem Augenblick kam Pauline daher, mit einem Glas, das eine milchige Flüssigkeit enthielt:

»Mister Poum, Ihr Bismut!«

Poum versicherte, daß dies ganz unnötig sei, er nahm seinen Bauch zum Zeugen, stampfte mit den Füßen. Aber Pauline war unerbittlich:

»Ich habe zwei Stücke Zucker hineingetan!«

Poum wurde schwach. Aber noch hielt ihn eine falsche Scham zurück, weil ihn Crochart und der Stallknecht sehen könnten.

»Wenn Sie artig sind und trinken, so werde ich Ihnen erlauben, heute mit uns in der Küche zu essen.«

»Wirklich, Pauline?«

Bei dieser zauberhaften Vorstellung begannen seine Augen zu glänzen, er stürzte den Inhalt des Glases hinunter, schluckte sogar den Bodensatz.

»Aber«, besann er sich, »haben mich auch die anderen eingeladen?«

»Sie werden sich herablassen, Sie einzuladen, wenn Sie sich artig benehmen und nichts darüber ausplaudern.«

»Nein, Pauline, nein, ich werde nichts sagen, ich verspreche es Ihnen, Pauline!«

Da er sich vor Freude wie unsinnig gebärdete, erinnerte ihn eine kleine Kolik daran, ruhig zu bleiben. Aber welches Entzücken! Und wie könnte man einer solchen Einladung widerstehen? Er würde an dem Tische der Dienerschaft sitzen, kein Tischtuch, ein fußloses Glas vor sich … man würde ihm vielleicht vom Ragout zu kosten geben! Ah, er würde sich sehr anständig benehmen, aber auch sehr unbefangen, er war sehr stolz und die Zeit schien ihm bis dahin endlos lang zu sein.

Als es Mittag läutete, sah Poum, der in der Nähe der Küche umherstrich, den Koch Joseph auf sich zukommen, sehr respektvoll.

Joseph war dick und fahl, von der Farbe eines Eierkuchens, das Gesicht mit Sommersprossen besäet. Und dieser wichtige Mann nahm eine beinahe furchtsame Miene an und sagte mit zitternder Stimme:

»Wäre es möglich, Hoheit, daß Hoheit mit Ihrer erhabenen Anwesenheit unseren bescheidenen Tisch verschönern würde? Möge es Eurer Hoheit gefallen« – und dabei ließ sich Joseph auf ein Knie nieder – »den Speisezettel zu genehmigen, den mein schwacher Geist zusammengestellt hat!«

Poum, ein wenig überrascht, aber den Spaß köstlich findend, nahm die Schiefertafel und las:

»Fricassee aus Fliegen – Schnepfenkot – Spargel à la Poum (wahrscheinlich eine Anspielung, weil Großpapa Vernobre die Beine Poums mit Spargeln verglich!) – Rhinozerosscheiben in Aspik – Suppe aus Distelköpfen.«

»Sehr gut!« sagte Poum, von Herzen lachend. »Aber warum die Suppe zuletzt?«

Der Koch legte den Finger an den Mund und flüsterte:

»Psst – Psst!«

Er rollte geheimnisvoll die Augen, winkte beschwörend mit der Hand, dann legte er zwei Finger in den Mund und zog sie blitzschnell heraus, mit einem lauten Knall, als würde man eine Champagnerflasche entkorken.

»Geben sich Eure Hoheit die Mühe, näherzutreten!« mimte er.

Und Poum hielt seinen Einzug in die Küche.

Er sah sofort, wo sein Platz war, an seinem kleinen Besteck und dem Eierbecher aus Silber, ein Geschenk von Großpapa.

Der Stallknecht war bereits da, auch Crochart. Dann kamen Pauline, Firmin, und endlich der Kutscher, ein finsterblickender Dickwanst, den Poum fürchtete. Man nahm Platz. Und während Pauline das weiche Ei köpfte, herrschte eine andächtige Stille.

Firmin nahm zuerst das Wort:

»Hat der Marquis Dekorum heute wieder seine Launen gezeigt?«

Der Kutscher schloß die Faust, die trotzdem noch wie ein Kinderkopf groß war und sagte bitter:

»Cholera!«

Pauline winkte ihnen Schweigen zu, obzwar Poum nicht wußte, daß von seinem Großpapa die Rede war.

Der Koch fragte Poum heuchlerisch:

»Findet Eure Hoheit das Ei frisch und gut? Ich fürchte, daß Hoheit nicht genug Salz nahmen … Fühlen sich Hoheit nicht durch die Hitze des Ofens beeinträchtigt? Hoheit haben ein wenig Dotter auf dem Kinn!«

Der Stallknecht schenkte Poum ein Glas voll Rotwein ein.

Pauline stieß einen Schreckensruf aus.

»Ich weiß nicht«, sagte der Stallknecht beleidigt, »in welcher Art man heute die Kinder aufzieht; mit zwölf Jahren konnte ich drei solcher Gläser hinabstürzen, ohne zu verschnaufen!«

»Sie hätten dabei ersticken können!« bemerkte Poum.

Der Stallknecht sah ihn neugierig an. Dann blickte er zur Decke empor und sagte die rätselhaften Worte:

»Ich? Ah, nein, ich gehöre zu den Rekruten! Frisch, mein Oberst!«

»Und wie benahm sich die Pendule?« fragte Firmin wiederum den Kutscher. »Ich möchte wetten, daß sie Furcht hatte, auf dem Wege umgeworfen zu werden!«

Der Kutscher schnaubte wiederum:

»Cholera!«

Poum ahnte nicht, daß jetzt von Tante Ursula die Rede war und schielte nach dem Ragout, das auf dem Tische duftete.

Pauline legte ihm eine tüchtige Portion auf den Teller.

»Und auch Bratkartoffeln, Pauline!«

»Wenn Sie aber krank werden?«

»Krank!« schrie der Kutscher, während er sich die Haare zu raufen begann. »Glauben Sie, daß seine Hoheit sterben könnte?«

Bei diesem Gedanken begann er sich die Augen mit seiner Serviette zu reiben, zum großen Vergnügen des Stallknechtes, der schallend lachte.

Firmin, der seinen Ideen mit Hartnäckigkeit nachhing, fragte:

»Und wie benahm sich der Herr Marquis?«

Der Kutscher maß ihn mit Bitterkeit und erwiderte:

»Ich ziehe vor, mir die Zunge abzubeißen, wie Crochart!«

Poum, der bereits dreimal vom Sauerampfer mit harten Eiern genommen hatte, besah sich den Gärtner mit großem Interesse. Aha, deshalb war Crochart so einsilbig!

»Der Milchreis für seine Hoheit!« sagte der Koch.

Er gab sich den Anschein, darauf zu blasen, ehe er die Platte niederstellte, und schnalzte mit den Lippen:

»Miam Miam! Es ist köstlich!«

Aber Poum schlug sich gerade mit einer Orange herum, dann aß er eine Birne und hierauf die volle Schüssel Milchreis.

In diesem Augenblick – sei es, daß er zu viel von dem verdünnten Wein getrunken hatte oder es hatte ihn der Tabakrauch benebelt – schien es ihm, als ob sich seine Ideen verwirrten. Es kam ihm so vor, als wenn sich Firmin mit dem Kutscher streiten würde, als ob der Koch hinter seinem Rücken eine stumme Pantomime aufführen würde …

Pauline nahm ihn schnell beim Arm und führte ihn in den Garten.

*

»Es ist unbegreiflich!« sagte am nächsten Morgen die Mama von Poum. »Er hat doch nichts anderes gegessen als ein weiches Ei, nicht wahr, Pauline!«

»Jawohl, Madame!«

»Lassen Sie ihm sofort ein Reiswasser machen, Pauline, sehr dick, mit etwas arabischem Gummi darin. Ich begreife dies gar nicht! …«

 

XIII.
Poum wächst heran

Poum ist sieben Jahre alt. Seit sein kleiner Bruder angerückt kam, wird er weniger überwacht und findet sich mehr als früher in der Gesellschaft der Dienerschaft. Papa und Mama erscheinen ihm gleichsam nur von weitem, etwas geheimnisvoll, und es kostet ihm Mühe, sich genau ihre Gesichtszüge zurückzurufen, denn er wagt es nicht, sie offen und frei anzublicken, weil er sich stets in Gedanken schuldig fühlt, etwas begangen zu haben, was verboten ist.

Aber Firmin und Pauline flößen ihm eine Zuneigung ein, die beinahe an Anbetung grenzt: wenn er nur die Augen schließt, so sieht er die kecken Gesichtszüge und den kleinen Schnurrbart von Firmin, oder das hübsche und rosige Gesicht von Pauline, deren Hände gar nicht so rot sind und gut nach Kölnerwasser riechen.

Pauline benützt die Leichtgläubigkeit Poums, um ihn noch mehr an sich zu fesseln. Jedes Dampfschiff, das man von der Terrasse aus im Hafen sieht, enthält einen großen liegenden Riesen. Der schwarze Rauchfang auf dem Verdeck ist sein Hut, er wirft die kleinen Jungen in diesen Rauchfang und läßt sie darin braten! Dies muß ja wahr sein, denn man sieht oft schwarzen Rauch in die Höhe steigen.

Was Firmin betrifft, so erzählt er Poum andere Dinge, die ihm Furcht machen. Die schöne Dame, die gestern auf Besuch war, ist nur deshalb gekommen, um sich mit Poum zu verheiraten. Poum wird sie um ihre Hand bitten müssen, sie ist ganz damit einverstanden und Großpapa Vernobre wird Poum bei dieser Gelegenheit seine alte Kutsche und den alten Rappen schenken. Wenn Poum daran zweifelt, möge er bloß Großpapa Vernobre fragen! Aber Firmin rät ihm dies nicht, denn die schöne Dame will, daß man für jetzt noch nichts über die Sache spricht und sie würde den kleinen Neugierigen mit Ruten streichen lassen.

Poum glaubt es und haßt die schöne Dame!

 

XIV.
Eigenliebe

Poum spielt im Garten.

Seine Mama sucht ihn auf und blickt ihn forschend an.

»Poum, warst Du heute?«

»Ja, ja, Mama!«

»Es ist nicht wahr!«

»Doch, Mama, ich versichere Dir …«

»Nein, Du lügst! Ich werde Dir etwas verabreichen lassen … ich werde Pauline sagen, daß sie das Klystier anwärmt!«

Und sie wendet sich gegen das Haus und ruft:

»Pauline!«

Poum ist ganz beschämt …

Er willigt zwar ein, daß … die … Sache … sich vollzieht, aber er will nicht, daß man es sagt! Er möchte sich die Ohren verstopfen. Er wünscht, daß er nicht französisch verstünde, um sich nicht vor Pauline zu schämen.

Und er klammert sich an den Rock seiner Mama und fleht:

»Mama! Sage es ihr … auf englisch!«

 

XV.
Die Badewanne

Poum soll um vier Uhr ein Bad nehmen.

Da man sich im Sommer befindet, so hat man die Badewanne mit Wasser angefüllt, das im Garten an der Sonne steht und sich langsam erwärmt. Wenn das Wasser die richtige Temperatur haben wird, kommt Firmin und rollt die Badewanne in die Waschküche.

Poum kommt jeden Augenblick und taucht die Finger in das Wasser, um sich zu überzeugen, ob es sich langsam erwärmt.

Dies sieht sich sehr schön an: die Sonne leuchtet bis auf den Boden der Zinkwanne hinab und das Wasser kräuselt sich ein wenig, was man bei einiger Phantasie als Wellen ansehen kann. Poum hat bereits ein Papierschiffchen und zwei Nüsse gebracht, die munter auf den Wogen tanzen. Und dies alles hat einen Anstrich von großer Lustigkeit und scheint zu sagen:

»Man befindet sich sehr wohl in diesem Wasser!«

Poum, sehr aufgeregt, steckt den Arm in die Wanne und näßt sich den Rockärmel bis zum Ellenbogen. Das Wasser ist warm … aber Poum ist sicher, daß er gestraft werden wird. Was geht mit einemmal in ihm vor? Er versichert sich durch einen raschen Umblick, daß ihn niemand sieht, und dann – wahrscheinlich weil er ja auf alle Fälle gestraft werden wird – steigt er angekleidet in die Badewanne und kauert sich bis zum Halse in die lauen Wellen. Er empfindet ein köstliches Vergnügen, zu fühlen, wie sich allmählich seine Schuhe, die Hose und der Rock mit Wasser anfüllen und Säcke bilden, und wenn er auf diese Säcke drückt, so steigen große Blasen auf.

Unterdessen ruft man nach Poum, um sein Bad zu nehmen. Man ruft umsonst … man sucht ihn im Garten, allmählich kommt das ganze Haus in Aufruhr und man läuft dutzendmal an der Badewanne vorüber, ohne ihn zu entdecken.

Es ist Großpapa Vernobre, der ihn endlich auffindet und der ihn ganz versteinert anstarrt, die Arme zum Himmel erhoben, während sein Mund die Form des großen U annimmt …

 

XVI.
Alle diese Füße!

Großpapa, der einen kleinen Fuß hat und darauf sehr stolz ist, hat aus Koketterie in seinem Ankleidekabinett eine ganze Kollektion seiner Schuhe aufgestellt. Reitstiefel, Wasserstiefel, Knopfstiefletten, Schuhe mit Gummizug, braune Jagdstiefel, Lackschuhe, Galoschen, Schneeschuhe, Morgenschuhe; achtzehn Paare im ganzen, der Größe nach geordnet.

Unter dem großen Vorhang, der die Kleider verbirgt, sehen diese Schuhe hervor und man würde glauben, es seien die Füße von Männern, die sich hinter dem Vorhang versteckt halten.

Es ist ganz verwirrend wegen der großen Anzahl, und Poum denkt beständig an die vielen Frauen, die Blaubart in seiner dunklen Kammer verwahrt hielt.

Aber da Poum sehr mutig ist, so betritt er nie dieses Kabinett, ohne sich nicht zuerst mit dem großen Spazierstock Großpapas bewehrt zu haben. Und während er auf den Vorhang losschlägt, der die Formen von Männern zu verstecken scheint, beschimpft er die leeren Schuhe, indem er schreit: »Füße! Füße! Ich fürchte Euch nicht! Ich fürchte alle diese Füße nicht! Ich mache mich über alle diese Füße lustig!«

Aber als er eines Tages wiederum seine Herausforderung brüllte, siehe da: einer der großen Reitstiefel hob sich in die Höhe, dann der zweite, und die beiden Stiefel, auf den Boden stampfend, schrien mit einer donnernden Stimme hinter dem Vorhang hervor:

»Ah! Ah! Was gibts? Das werden wir einmal sehen!«

Poum stößt entsetzte Schreie aus, stürzt aus dem Kabinett und jagt die Treppe hinab, schlägt sich eine Beule an der Stirne und will von da an um nichts in der Welt mehr in das Kabinett eintreten. Umsonst versichert man ihm, daß ihm Firmin einen Schabernak spielen wollte, und umsonst gesteht ihm Firmin, daß er es war, der hinter dem Vorhang stand, und die Reitstiefel bewegte. Poum glaubte es nicht.

Und jede Nacht sah er, wie sich die Schuhe bewegten, und hörte ihre Stimmen, grobe, rauhe, befehlerische Stimmen, die ihm das Ohr zerrissen und ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagten.

 

XVII.
Das Kleingeld

Poum hatte seinen Spartopf entzweigeschlagen. Er zählt neun funkelnagelneue Halbfrancstücke. Die Kupfer- und Nickelmünzen sagen ihm nichts, sie sind gar zu schmutzig. Er schätzt nur die silberweißen, glänzenden Stücke, die Großpapa Vernobre jeden ersten Sonntag des Monats in die Spalte des kleinen porzellanenen Schweinchens steckt.

Poum ist ganz stolz und geht, mit dem Gelde in der Tasche klimpernd, zu den Pferdeställen.

Es gibt da den Stallburschen und den Kutscher, die um Geld spielen, wobei sie mit den Münzen nach einem Korkstöpsel zielen. Firmin macht den Zuschauer und außerdem ein Stallbursche aus der Nachbarschaft, der zu Besuch kam. Um Poum Ehre zu machen, beginnen die beiden Spieler sehr gewählt zu sprechen, wiegen sich in den Hüften, während der fremde Stallbursche gähnt, daß er sich beinahe den Mund verrenkt.

Poum, dem ein plötzlicher Einfall kommt, nimmt eines seiner Silberstücke und wirft es nach dem Korke.

Man ist sehr erstaunt und gibt ihm das Geldstück zögernd zurück. Aber Poum, errötend und großmütig, sagt zu dem Stallburschen: »Behalten Sie es nur!«

Der Kutscher sieht da einen Übergriff seitens seines Untergebenen und entreißt ihm das Geldstück. Die beiden Männer fahren einander in die Haare, und Poum, erschreckt und entzückt zugleich, schreit:

»Da sind noch andere! Hier!«

Und er wirft seine Barschaft Stück um Stück in die Luft. Firmin und der Gast werfen sich auf die Beute und die vier Männer kommen ins Handgemenge, stoßen einander zurück, balgen sich auf der Erde und bedenken einander mit schrecklichen Fausthieben. Die kleinen Geldmünzen wechseln jeden Augenblick den Besitzer, sind mit Schmutz bedeckt. Ein Faustschlag trifft den Kutscher an der Kinnlade und der fremde Stallbursche erhebt sich wimmernd vom Boden, die Hände auf den Bauch gepreßt.

Poum, zu Tode erschrocken, und dem es um sein Geld leid tut, beginnt zu schreien:

»Oh, gebt mir mein Geld zurück!«

Aber der Kampf setzt sich fort, wild und blutrünstig, mit Keuchen und mit Fausthieben, als gelte es, einen Ochsen niederzuschlagen.

Und Poum läuft schluchzend davon.

 

XVIII.
Der lebende Busch

War Großpapa Vernobre, der die Kämpfe in Afrika mitgemacht hatte, wirklich der Heros der folgenden Episode? Wir wissen es nicht, auf alle Fälle ist es sicher, daß er, um die Geschichten, die Poum von ihm hören wollte, etwas dramatischer zu gestalten, sich als handelnde Person darstellte.

»In jener Nacht«, erzählte er, »war ich als Schildwache an einen gefährlichen Posten beordert, hinter einen Felsvorsprung, der mich beschützte. Man sah ringsum nichts anderes als drei unbewegliche Gebüsche, drei Dornsträucher. Und der Sergeant sagte mir mit leiser Stimme:

›Zählen Sie! Wieviel Gebüsche sind es?‹

Ich sagte:

›Eins, zwei, drei, ich sehe drei!‹

Der Sergeant fuhr fort:

›Merken Sie sich genau den Standplatz und die Zahl. Wenn Sie vielleicht während der Nacht ein viertes Gebüsch bemerken sollten, so müssen Sie sofort schießen. Halten Sie die Augen offen!‹

Der Sergeant ließ mich allein.

Ich versichere Dir, Poum, daß mir dies hinlänglich seltsam vorkam.

Ich hatte bereits mancherlei von den Kriegslisten der Araber gehört, und erst einige Tage vorher hatte man eine Schildwache ermordet, die an der anderen Seite des Lagers wachte. Ich sagte mir:

›Achtung! Es handelt sich vor allem darum, nicht einzuschlafen!‹ Und Du kannst mir glauben, daß ich diese verteufelten Gebüsche im Auge behielt! Sie rührten sich nicht. Und meiner Treu, es wäre leicht möglich gewesen, daß sich ein Araber kriechend diesen Gebüschen hätte nähern können, denn es war finster wie in einem Backofen. Ich war unglaublich müde. Wenn ich wenigstens etwas Bewegung gemacht hätte! Aber der Befehl lautete dahin, daß ich mich gar nicht rühren dürfe. Und so ist es nicht erstaunlich, daß sich nach drei Stunden – man hatte wahrscheinlich ganz vergessen, mich abzulösen – meine Augen schlossen. Und Du weißt, Poum, wenn man vor dem Feinde einschläft, kommt man vor das Kriegsgericht. Ich zwicke mich also am Arm, ich reiße mir von Zeit zu Zeit die Augenlider in die Höhe, ich beiße auf meinen Daumen, und ich zähle bis Hundert.

Da plötzlich, Poum, schien es mir, da ich die Gebüsche betrachtete …« Hier machte Großpapa eine Kunstpause und Poum starrte ihn mit offenem Munde an, als wollte er den Mond verschlucken.

»…. da ich die Gebüsche betrachtete, sagte ich mir:

›Es gab deren drei! Sind es jetzt drei oder vier? Drei. Ich bin dessen sicher! Oder sollte ich mich verzählt haben?‹ Und so vergeht wieder eine Weile, die Nacht wird noch schwärzer und die Zeit schleicht so langsam, so schrecklich langsam dahin … Meine Augenlider schließen sich von neuem. Ich nahm die Zunge zwischen die Zähne und biß mich drein, heftig, daß es sehr wehe tat. Ah, zum Kuckuck! Sollte ich nicht mehr gut sehen? Täuschen mich meine Augen? Es schien mir doch, als hätte ich mir den Platz der Gebüsche gut gemerkt.

Und ich zählte: es waren vier! Ich hätte den vierten zählen sollen, ein ganz kleiner, der aber merklich zu wachsen schien. Vielleicht ist es nur eine Täuschung. Aber nun scheint es mir, als wäre er näher gerückt! Achtung! Sollte es einer dieser teuflischen Araber sein, der mir einen Streich spielen will? Aber von den vier Sträuchern sind drei bewegungslos geblieben. Wenn ich auf einen von ihnen einen Schuß abgebe, so schlage ich umsonst Lärm, und dies wäre ernst! Achtung, bei meiner Säbeltasche!

Ah, diesmal brauche ich meine Augen nicht mehr spreizen, ich hielt sie offen, ohne nötig zu haben, eine Prise Schnupftabak zu nehmen, was in solchen Fällen sehr angezeigt ist.

Und ich versichere mich noch einmal des Platzes, an dem die Gebüsche stehen, halte den Atem an, den Finger auf dem Hahn des Gewehres.«

Poum machte alle Qualen eines Mannes durch, der eine Gräte geschluckt hat; es war der Speichel, der nicht hinabgleiten wollte.

»Der vierte Busch – denn es waren ganz entschieden vier! – ah! das beginnt unheimlich zu werden! Hast Du schon Gebüsche gesehen, die sich bewegen, das heißt, die näher kommen? Nein, nicht wahr? Nun, dieser Busch bewegte sich auf mich zu, fast unmerkbar – ah, man mußte höllisch aufpassen, um es zu konstatieren. Aber er kroch auf mich zu! Dies gab mir beinahe Lust aufzulachen! Ah! Lump, Du kriechst? Warte ein wenig. Und leise hob ich mein Gewehr empor, zielte nach dem Gebüsch, und bummufrrrrr! Es war wie ein Donnerschlag, der sich im Echo vervielfältigte, während ich mit gefälltem Bajonett vorstürzte. Ah, Poum, wenn Du das gesehen hättest! Der Strauch war wie hinweggeweht und zur Seite lag röchelnd ein großer Araber, beinahe nackt, einen Dolch zwischen den Zähnen, und wand sich in Wutkrämpfen. Ich habe ihm mit dem Bajonett den Rest gegeben und am nächsten Tage hat man mich zum Korporal ernannt!«

Die Gräte ist beseitigt, denn Poum konnte seinen Speichel verschlucken. Er betrachtet mit Begeisterung den Mann, der so schöne Geschichten weiß, und er ist stolz, daß dieser Mann sein Großpapa ist.

Aber Mama kommt:

»Poum, es ist Zeit zum Schlafengehen!«

Bitten, Beschwörungen, Trotz und Schmollen sind vergeblich. Der Wille der Eltern ist unerschütterlich. Ein Gutenacht in der Runde, eine Kollekte von Küssen, die Frage: »Werde ich gut träumen? Oh, sagt mir, daß ich gut träumen werde!« und Poum findet sich in seinem kleinen Bette. Und das Mondlicht, das durch die Spalten der Persiennen hereindringt, gibt dem Inneren des Zimmers und den Möbeln einen Schein von Leben.

Poum möchte einschlafen und kann es nicht. Der Spiegel flößt ihm Furcht ein, er denkt, daß er sich in diesem fahlen Wasser ertränken könnte. Was ist das Weiße dort? Ein Phantom, oder ein Hemd? Etwas hat geknarrt. Werden vielleicht die Tausendfüßler aus der Mauer hervorkriechen? Da ist vielleicht jemand, der durch das Schlüsselloch schaut? Ist nicht eine Hand unter dem Bett? Oh, die Kommode hat sich gerührt. Ja, ja, die Kommode hat sich gerührt, sie kommt näher. Diese Araber, listig, grausam, blutdürstig … Der lebende Busch! Oder es könnte auch irgend ein böser Zwerg in der Schublade der Kommode verborgen sein, ein grünlicher, grinsender Zwerg … »Der kleine Däumling und der Riese« … ah, dies ist die Stunde, da die Märchen lebendig werden. Es ist gut noch wach zu sein. Schlafen wir!

Und Poum kriecht unter die Bettdecke, kauert sich zusammen und stammelt ein Gebet:

»Guter Gott, ich liebe Dich sehr, aber erlaube nicht, daß man mir wehe tut.«

Aber wenn nun die Kommode inzwischen näher gekommen ist? Poum, schweißbedeckt, wirft die Decke zurück und sieht starr nach den Schubladen, aus denen vielleicht der Zwerg hervorkommen wird.

Und nun kommt wirklich jemand … der Sandmann, der unhörbar die Hand ausstreckt.

 

XIX.
Dreizehn zu Tische

Poum trotzt in seiner Ecke. Man hatte ihm einen dritten Kuchen versagt, nach einem reichlichen Nachtisch mit Schlagsahne und Marmelade. Er hatte überdies vollauf bekommen: ein Ei, ein Stückchen weißes Fleisch vom Brathuhn, grüne Erbsen. Poum schnaufte vor sich hin, mit vollem Magen und schwerem Herzen. Denn er war äußerst empfindlich gegen Ungerechtigkeiten und er empfand es als eine sehr große Härte, daß man ihm den dritten – winzigen! – Kuchen verweigert hatte, der wie ein kleiner Pilz ausgesehen hatte, mit einer roten Haube aus Zuckerguß.

Poum hätte sich mit den Spielsachen vergnügen können, die man ihm zu Ostern beschert hatte – eine Schachtel mit unschädlichen Farben – man konnte also an ihnen lecken? Dieser braune Ocker da sieht wie ein Schokoladeplätzchen aus! Dann war da ein Lederball, ein Clown, der den Dudelsack blies, und ein hübscher Spazierstock.

Aber Poum schmollte, drückte seine Nase an der Fensterscheibe platt und schnitt gräßliche Grimassen.

Er konnte den wunderschönen dritten Kuchen nicht vergessen! Mama, Papa, Pauline, Firmin – dies alles waren Feinde, grausame, heimtückische Feinde, Folterknechte, die einen armen, unschuldigen Jungen quälten. Und er wünschte ihnen allen alles Böse. Er träumte davon, daß eine Explosion das Haus zu Staub machen würde – natürlich nur dann, wenn er im Hintergrunde des Gartens in Sicherheit war! Oder das Meer könnte eine haushohe Welle herüberwerfen, oder sie könnten an einem verschluckten Pflaumenkern ersticken.

Aber diese Verwünschungen blieben auf halbem Wege stecken. Poum blickte auf und ein glückliches Lächeln verklärte sein Gesicht. Diesen Abend gab es ein großes Diner zu vierzehn Gedecken! Poum müßte allerdings allein auf seinem Zimmer essen, aber da es zum Nachtisch Fruchteis gab – ein herrliches Fruchteis! – so hatte man ihm versprochen, daß er davon haben würde!

Sehr viel würde er bekommen, er hob den Arm, ballte die Hand und bog sie bis zum Ellenbogen zurück.

»Oh, ich vertrage sehr viel Fruchteis!« prahlte er.

»Mister Poum, Sie sollen zu Ihrer Mama kommen!«

Pauline hat diese Worte hereingerufen und war sofort wieder verschwunden.

Poum streicht durch den Korridor dahin. Was wird wohl Mama wollen? Hätte sie vielleicht den Einfall gefaßt, seine Rechenaufgaben nachzuprüfen – an einem Ostersonntag!? Oder wollte sie sich erkundigen, ob Poum sein Diktat kopiert hatte? Er war etwas unruhig.

Als er die Salontür aufklinkte, hörte er laute Stimmen. Mama diskutierte mit Papa:

»Wir können unmöglich dreizehn zu Tische sein!« erklärte Mama.

»Es ist zu spät, um noch jemanden einzuladen!« sagte Papa.

Poum schoß herein und seine Ankunft brachte die Lösung der Streitfrage.

»Poum!« sagte Papa, »Du wirst heute mit uns dinieren, als Vierzehnter!«

»Und Du wirst nicht die Ellenbogen auf den Tisch stemmen!« sagte Mama.

»Und Du wirst Deinen Nachbarn keine Fußtritte geben, nicht Herrn Gourd, noch Madame de Falcord!« sagte Papa.

Poum bleibt geblendet stehen, als wenn ihn der herrlich gedeckte Tisch, mit all dem Gefunkel von Kristall und Silber, der strahlende Luster, sprachlos gemacht hätten. Dann erfüllt ihn ein ungeheurer Stolz. Er fühlt, daß er plötzlich unentbehrlich geworden ist, und er fragt sich, in welch schreckliche Verlegenheit seine Eltern stürzen würden, falls er jetzt hochmütig ablehnen würde, ihr Retter zu sein. Aber er hat das Recht, aus dieser Situation Nutzen zu ziehen:

»Ich werde auch viele kleine Gläser vor meinem Gedeck haben wie die anderen Gäste?« fragte er.

»Ja … aber man wird Dir nichts einschenken!«

Das ist ihm gleichgültig, wenn er nur die drei schmalen, ungleich großen Gläser und den Champagnerkelch vor sich gereiht sieht, wie Orgelpfeifen. Er wird keinen Wein trinken, denn er kann ja machen, was er will, nicht wahr? Und er trinkt Wasser, weil es ihm Vergnügen macht, da hat keiner etwas dreinzureden! Aber zu mindestens entehrt man ihn nicht, indem man ihn wie einen Bettler behandelt, der nur ein einziges Glas hingestellt bekommt!

»Ich werde von allen Speisen nehmen!« schlägt er vor.

»Sehr vorsichtig, Poum, sehr vorsichtig! Du wirst keinen Fisch bekommen, wegen den Gräten, und keinen Spargel, weil das erhitzt, auch darfst Du nicht von der Gansleberpastete nehmen …«

»Oh, Mama!!!«

Er würde sich auf die Knie werfen, er würde sich unglaublich erniedrigen! Gansleberpastete, oh, nur einen Mundvoll, und dann sterben!

»Also gut … eine Messerspitze!«

»Und Trüffeln?«

»So groß wie ein Stecknadelkopf!«

»Und Fruchteis!!!???«

»Ja, ja, davon bekommst Du. Man wird Dir den schwarzen Samtanzug anlegen, gib acht, nicht die Manschetten zu beschmutzen!«

»Mama!«

»Was denn?«

Er macht Augen wie ein gebackener Fisch:

»Man wird mir nicht die Serviette um den Hals binden? Ich werde selbst den obersten Zipfel durch das oberste Knopfloch stecken?«

Mama willigt ein. Und Poum, ganz toll vor Freude, stürzt aus dem Salon, tanzend und springend.

Zuerst macht er eine Inspektion in die Küche:

»Marianne,« sagte er zu der Köchin, deren Gesicht wie ein Vollmond aussieht – ein Vollmond, der ein Glas zu viel getrunken hätte! »Marianne, ich diniere heute im Salon, mit den übrigen Gästen!«

Marianne nimmt diese Nachricht sehr gelassen hin. Poum setzt hinzu:

»Nehmen Sie sich recht zusammen, Marianne, damit nichts verdirbt!«

Marianne ergreift einen Küchenlappen und schreit entrüstet:

»Was will dieser Dreikäsehoch? Will er mit seiner schmutzigen Nase meine Kochtöpfe beschnuppern? Marsch in das Dienerzimmer, sieh einmal nach, ob ich dort bin!«

In das Dienerzimmer? Das ist eine gute Idee!

Poum findet dort Firmin, der eben im Begriff ist, die Reste aus den Weinflaschen zu retten. Denn diese Reste würden sauer, wenn man nicht rechtzeitig Abhilfe schafft. Und Firmin schüttet diese Reste in seinen Mund, es ist viel praktischer!

»Firmin!« sagt Poum, »ich diniere heute im Salon!«

Das scheint Firmin gar nicht zu interessieren. Er sieht Poum schief an und wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab.

»Sie werden mir wie allen Gästen vier Gläser hinstellen!«

Firmin reibt aus Leibeskräften eine Servierplatte blank.

»Und Sie werden mir von der Gansleberpastete geben!« Firmin pfeift den »König Dagobert«.

»Und Sie werden mir sehr viel vom Fruchteis geben!«

Firmin schneidet plötzlich ein sehr trauriges Gesicht, seine Augenlider heben und senken sich. Poum wittert einen Spott, eine Subordination. Und er sagt mit größter Autorität:

»Haben Sie mich verstanden, Firmin?«

Firmin legt die Hand aufs Herz, lächelt selig und verbeugt sich bis zur Erde.

Poum ist befriedigt und läuft in die Wäschekammer:

»Pauline! Ich diniere heute im Salon!«

»So, so! Da kenne ich einen, der morgen auf der Nase liegen wird, vor lauter Bauchweh!«

Wer denn? Es ist ja niemand da in der Wäschekammer außer Pauline und Poum. Sollte es sich gar vielleicht um Poum handeln!?

»Und Sie wissen, Pauline, Sie müssen mich sofort ankleiden, ich will meinen Spitzenhalskragen und Manschetten!«

»Es ist noch zu früh, Sie hätten da noch Zeit genug, um sie zu beschmutzen!«

»Nein, Pauline, ich werde achtgeben!«

Aber Pauline weigert sich entschieden, Poum vor fünf Uhr anzuziehen. Poum ist im Grunde genommen darüber nicht unzufrieden – – denn, wenn er auch mit Vergnügen daran denkt, daß er in seinem Samtanzug paradieren wird, so stehen im dabei verschiedene Martern bevor! Und da es fünf Uhr schlägt, kommt auch diese Tortur … Pauline reinigt ihm die Ohren, schneidet seine Nägel, reibt ihm die Finger mit einer Bürste, feilt an den Nägeln … er muß sich die Zähne reinigen, die Zahnbürste macht das Zahnfleisch blutig. Ah, man verdient es sich wirklich hart, bei einem Diner zu sitzen. Ah, da ist endlich der Samtanzug … Poum verrenkt sich beinahe vor dem Spiegel, streckt die Beine aus, um sich zu bewundern:

»Hören Sie doch auf, Mister Poum! Ahmen Sie einen Frosch nach?«

Hier ist die Samtjacke, die sich so gut an die elegante Taille Poums anschließt.

»Nicht wahr, Pauline, daß mir die Jacke gut steht?«

»Ja, wie einem kostümierten Affen!«

Pauline ist heute gar nicht liebenswürdig. Es scheint, daß sie Zahnweh hat. Poum ist nicht besonders zufrieden, weil ihm Pauline zu wenig Pomade auf die Haare gab. Das muß ja glänzen und schmelzen!

»Oh, Pauline! Ein bischen Parfüm auf das Taschentuch!«

Sie zuckt die Achseln und gießt einen Tropfen Kölnischwasser auf das kleine gefaltete Tüchlein.

Poum ist schön, Poum ist zufrieden, Poum stolziert im Zimmer auf und ab.

»Pauline, nicht wahr, Sie werden das Fruchteis servieren? Vergessen Sie mich nicht dabei!«

Mama hat geläutet … Poum ist allein … Er reibt seine Haare mit der Pomade ein – ah! das schmilzt, das glänzt!

Aber, was geht denn im Vorzimmer vor! Und Poum stürzt hinaus.

Man hört geärgerte Stimmen, Mama und Papa stehen im Korridor, Papa hält eine Depesche in der Hand:

»Das ist wirklich ärgerlich! Herr Gourd läßt sich entschuldigen, er ist krank!«

Und Mama jammert:

»Nun sind wir wiederum dreizehn bei Tische!«

Papa sagt:

»Streichen wir Poum! Dann werden wir zwölf sein!«

Mama wiederholt, von diesem Genieblitz erleuchtet:

»Streichen wir Poum!«

Man streicht Poum …

Poum wird allein in seinem Zimmer dinieren.

Pauline muß ihm wieder seine gewöhnlichen Sonntagskleider anlegen. Damit er sich tröstet, verspricht man ihm Spargel und viel Fruchteis!

Ah, Glanz und Ruhm, wie schnell ist dies alles verblichen! Drückende Beschämung! Poum sitzt traurig in seinem Zimmer. Eine armselige Kerze erhellt den kleinen Tisch.

Man bringt ihm, in großen Zwischenräumen, dann und wann eine Kleinigkeit herüber. Unten im Speisezimmer geht es lustig zu, er hört die Stimmen, das Lachen. Das Vorzimmer ist brillant erleuchtet. Firmin läuft hin und her, seine Schuhe knarren stolz. Pauline hat eine neue Haube. Man bringt Poum drei winzige Spargel, in einer halb eingetrockneten Sauce …

Und melancholisch wartet er; er wartet lange, auf das Fruchteis. Und das Fruchteis kommt nicht.

Pauline stellt sich ein, um Poum zu Bett zu bringen.

»Und das Fruchteis, Pauline!?«

»Es gibt keines mehr …«

 

XX.
Die Holzhand

Ein großes Ereignis!

Pauline ist seit einigen Tagen abgereist! Sie hat einen Gendarm geheiratet.

Die neue Bonne, Berta, ist heute angekommen. Es ist eine Elsässerin, aus Kolmar, und soll Poum auch die Anfangsgründe in Deutsch beibringen. Berta hat blaue Porzellanaugen, Flachshaare und wird bei jedem Anlaß feuerrot. Poum denkt an dies alles, aber ziemlich verworren. Denn ein anderes Ereignis beschäftigt ihn. Heute Abend gab es wiederum ein großes Diner, und Poum kann nicht einschlafen!

Er wälzt sich hin und her, die kleinen Schaumtorten verfolgen ihn!

Ah, es ist nicht dies, daß sie ihn vielleicht im Magen drücken, denn er hat davon gar nichts verkosten dürfen! Jawohl, man hat sie ihm verweigert, es ist eine wahre Schande! Das heißt, man hat ganz einfach auf Poum vergessen!

Während er allein dinieren mußte, taten sich die Gäste (Fasanen mit Trüffeln und Krebsensauce!) – auch an den entzückenden Schaumtörtchen gütlich. Es ist himmelschreiend! Und was für ein Schaum? Ah, Nuß und Ananas! Kurz, etwas Köstliches, und man vergaß auf Poum!

Er beklagte sich zu Berta mit großer Heftigkeit:

»Morgen bekommen Sie davon, es sind einige geblieben!« sagte diese unverständige Person.

Morgen! Morgen! Poum lacht bitter, während er sich die Nägel beißt. Ah, diese Berta! Ein Herz von Stein, ein Vogelhirn! Wie kann sie es wagen, von Morgen zu sprechen? Morgen! (Nein, sie ist wirklich gar zu stupid, diese Neue!) Morgen werden die Törtchen zähe wie Pappdeckel sein, und der Schaum wird sauer schmecken …

Er kann nicht schlafen! Er sieht sie vor sich. Wieviel mögen ihrer wohl übrig geblieben sein? Drei, vier, sieben, auf einer Schüssel, die mit einer Papiermanchette geschmückt ist, im unteren Abteil des großen Büffets, im Speisezimmer … Denn dort sind sie, diese Törtchen, dort hocken sie beieinander.

Und was sagen sie?

Nein, wenn man bedenkt, daß sie noch ganz frisch sind, köstlich frisch! … Im Grunde genommen hat man Poum betrogen! Er hat ein Recht auf die Törtchen – oh, nicht auf alle! Nein, aber auf zwei, vielleicht drei. Wem kann es schaden, wenn er sie noch heute abends verspeist?

Poum kann nicht schlafen. Aber es muß schon sehr spät sein … Alles im Hause schläft schon … Ein seltsamer Einfall, wie ein unbestimmter Schein, wie die Morgenröte eines Verbrechens … So muß einem Dieb zumute sein, der mit schweißbedeckter Stirne, mit nackten Füßen einen Schrank aufsperrt, mitten im Dunkeln, oder ein Mörder, der sich heranschleicht und einen Dolch schwingt.

Ah, wie stark dieser Gedanke ist! … Wer wird Poum sehen? Wer wird ihn hören? Niemand! Wenn man die Türe geräuschlos öffnet, im Korridor hingleitet, in das Speisezimmer schleicht … das Buffet ist links, der Schlüssel steckt immer …

Aber was wird man sagen, wenn man die Törtchen nicht mehr findet? Wird man die Katze beschuldigen? Bah! Man wird nichts bemerken! Die Reste vom Diner kommen ja nie auf den Tisch, am nächsten Tage, höchstens dürfte Firmin sehr erstaunt sein. Na, und wenn man an alle derartige Kleinigkeiten denken sollte!

Zwei – sagen wir, drei Törtchen, die Poum von rechtswegen gehören … Ja oder nein? Ja! – also vorwärts!

– Dieb!

He? Hat da jemand gesprochen? Ist's gefällig? Gibt es da jemanden in der Mauer oder unter dem Bett? Es war wie ein Hauch, aber Poum glaubt ganz deutlich gehört zu haben. Dieb, er, Poum? Also – was noch? Gefängnis? Schaffot?! Wird man ihn erschießen? Zu lächerlich! Vorwärts!

Das Schloß kreischt, die Tür knarrt, auch die Stiege knarrt, die Tür des Speisezimmers geht nicht so leicht auf und stöhnt vernehmlich, wie ein Seufzer, der sich in dem Dunkel wiederholt. Hier das Buffet, ah, welche Angst! … hier der Schlüssel auf dem einen Flügel … oh! man könnte sterben vor Schwindel! … ein Tasten, ah, dieses kalte Parkett unter den nackten Füßen! … ah! ah! da sind ja die Törtchen, sechs! zusammengekauert wie die Kaninchen!

Schnell, schnell, wie einer, der nach Luft schnappt, wie ein Sterbender, der wieder frische Hoffnung schöpft! Poum schlingt die ersten drei Törtchen hinab. Ah, Paradiesengel! wie dieser Ananasschaum bis zum Herzen schmilzt! Noch einen. Und hier beginnt das Verbrechen! Drei waren rechtmäßig, aber kann man denn auf der Bahn des Lasters, die ja so abschüssig ist, umkehren? Ein Vierter … ah! Götter! … ein Fünfter! … Poum, Unglücklicher, halt ein, dein Gewissen überwacht Dich! … Nein, nein, nicht den sechsten, er ist so klein, so unglücklich! Es ist ein Waisenkind, nicht den Sechsten! Mitleid für den sechsten, Poum!

Ah, dieser Poum – er hat auch ihn verschlungen!

Ein Geräusch von irgendwo! Poum, halb berauscht, schwankend, zu Tode erschrocken, will fliehen, aber etwas hält ihn zurück, am Hemdzipfel.

Er weiß nicht, was es ist, er ahnt nicht, daß sich der schwere Flügel des Buffets von selbst geschlossen und den Hemdzipfel Poums eingeklemmt hat! Er glaubt, daß eine Hand nach ihm gegriffen hat, eine Holzhand! Und er beginnt zu brüllen. Das ganze Haus wacht auf. Rufe, Getrappel, Lichter, die Treppenflur wird hell, das Speisezimmer ist wie von Licht überströmt. Oh, Schande! Schmach! … Berta, Firmin mit einem Jagdgewehr, Mama, Papa mit einem Knüttel!

Und Poum, im Hemde, vor allen diesen Leuten, ein Gefangener der Holzhand!

 

XXI.
Die herrliche Insel

Poum liest mit glänzenden Augen und glühenden Wangen in einem Buche, das vom Schlaraffenland handelt.

Ah, wie viel herrlicher als die schönsten Landschaften, als die reichsten Goldfelder, als die wunderbarsten Paläste ist doch diese märchenhafte Insel! …

»Nachdem wir lange auf dem Stillen Ozean gefahren waren, bemerkten wir von weitem eine Insel aus Zucker, mit Bergen aus Marmelade, mit Felsen aus braunem Zuckerkand, mit Bächen von Sirup! … Die Bewohner, die sehr genäschig waren, leckten die Straßen und schleckten ihre Finger ab, nachdem sie dieselben in die Bäche getaucht hatten …

Es gab hier auch Wälder mit Süßholzbäumen und von anderen großen Bäumen hingen die herrlichsten Pfannkuchen herab, die der Wind abriß und sie in die Münder der Reisenden wehte, wenn nur diese Münder ein bischen geöffnet waren …«

»Ein bischen geöffnet waren!« Poum sperrte den Mund auf, glaubte das Herannahen der Pfannkuchen zu spüren, schloß die Augen, damit ihm der Staubzucker nicht hineinkäme, blies im vorhinein aus Furcht, daß die Pfannkuchen vielleicht zu heiß wären! …

»Man versicherte uns, daß es zehn Stunden von da noch eine zweite Insel gab, die große Minen von Schinken, Würsten und gepfeffertem Ragout enthielt. Man grub in diesen Minen genau so wie in den Goldminen von Peru … Auf dieser Insel fanden sich auch Bächlein mit pikanter Bratentunke … Die Wände der Häuser waren aus Pasteten gemacht, mit einer herrlichen, goldbraunen Kruste. Es regnete dort Wein, wenn das Wetter ungünstig war, und an schönen Tagen war der Morgentau der köstlichste Likör …«

Poum streckte den Finger aus, rührte an die Wände seines Zimmers, stellte sich die herrliche, goldbraune, knackende Kruste vor, und er sagte mit einer tiefen Stimme, mit der Stimme eines Magiers und Zauberers:

»Mauer! Werde sofort zur Pastetenkruste! Mauer, ich befehle es Dir!«

Aber die Mauer blieb Mauer …

Und nun suchte Poum atemlos in dem Buche, um zu erfahren, wo sich denn diese wunderbare Insel befände. Er entdeckte nur die Adresse des Verlegers. Aber vielleicht würde dieser Herr die Adresse angeben, falls ihn Poum darum sehr höflich bitten würde?

Und wenn es Poum dann erführe, würde er sich auf diese Insel begeben … Ah, diese Pfannkuchen! …

 

XXII.
Poum als Dramaturg

Wunderbare Welt des Theaters! Man hatte Poum bereits mehrmals in eine Nachmittagsvorstellung geführt. Und er lebte und webte in dieser zauberhaften Welt.

Ah, dieses Mysterium des großen, roten Vorhanges, der sich dann über die Entzückungen des Lebens hebt, über goldene und lichtflutende Visionen! Ah, diese Tenöre, die den Mund so großartig aufreißen. Ah, diese Pagen, deren Beine blau oder rot angestrichen sind! Ah, diese herrlichen Frauen. Paradies der Kindheit! …

Poum ist wie berauscht, ob es nun die Oper ist, wo die Musik auf ein Zeichen des Kapellmeisters wie aus großen Röhren quillt, ob es das Hanswursttheater ist, die Comédie Française, woselbst feine Herren und schöne Damen einander beim Sprechen zuhören, oder ein Theater, wo man Ausstattungsstücke spielt und woselbst so viele leicht geschürzte Damen umherhüpfen, ob es nun der Zirkus ist mit den in der Runde gallopierenden Pferden – wenn Poum nur daran denkt, so lebt er wie in einem Fieberrausch.

Er möchte gleichzeitig Schauspieler, Sänger, Page, Heroine, Figurant und Gespenst sein. Er möchte, die Hand auf das Herz gepreßt, dem Publikum brüllend versichern, daß er Elvira anbete, oder er möchte mit gezücktem Dolche und einer grabestiefen Stimme dröhnen: »Und nun, Matteo – für Dich die Reue – für mich die Rache!« Oder er möchte im Ballet mittanzen. Ah, wenn er vielleicht einen Kopf aus Holz und einen Knüttel haben könnte, um den Hanswurst niederzuschmettern! Oder noch besser: er möchte der Souffleur sein! Aber das herrlichste von allem wäre es, der Affe zu sein – der angekleidete Affe, der auf dem Leierkasten hockt, den der Invalide mit dem Stelzfuß, dreht! …

Ja, ja, dies alles träumte er, und dies alles steht jetzt in seiner Macht. Wieso? Ah, dank dieser großen Schachtel, dank diesem Kindertheater, das ihm Großpapa Vernobre bescherte! Ah, diese Schachtel enthält alles und noch viel mehr! Es ist die Oper, das Drama, die Posse, es enthält Tränen, Lachen, Seufzen.

Ah, dieser brave Großpapa Vernobre! Poum könnte ihm die Hände küssen! Poum hat jetzt ein Theater für sich allein, ein Theater, das man aufstellen kann, mit einem roten Vorhang, der auf- und niedergeht, mit Kulissen, die man austauschen kann, und vor allem diese herrlichen Marionetten, die man mit drei Fingern in Bewegung setzt! Ah, da ist zuerst Pierrot, der wie ein Hering aussieht, den man in Mehl gewälzt hätte, da ist Harlekin, mit seiner Riesennase, mit einem Bauch und einem Höcker, da ist Madame Pipelet, die Hausmeisterin, böse und fettleibig – man würde glauben, es sei Madame de Falcord! – da ist der Richter – hat er nicht eine doppelte Zahngeschwulst? – da ist der Gendarm – ah, er rollt die Augen, als hätte er Essig getrunken! – da ist der General – man würde glauben, es ist ein Jaguar, der Watte frißt! – und dann sind noch einige Figuren da, die keine Namen haben, die man nach Belieben benennen kann, denn wozu hätte man Phantasie?

Bereits denkt Poum an ein Stück, an ein Dutzend Stücke, an hunderte von Stücken! Er hat die herrlichsten Ideen, alles, was er bisher in den Märchenbüchern las, wird ihm zum Theater! Wenn man ihm die Hirnplatte abnehmen könnte – so wie man ein weiches Ei köpft! – so würde man da einen wirren Trubel kochender Ideen bemerken. Ah, wenn man ein Baron Münchhausen wäre, der seinen Schädel aufklappen konnte, um die Weindünste verrauchen zu lassen! …

Ah, schnell die Szene hergerichtet! Poum will sich als Dramaturg versuchen, sein Stück wird gleichzeitig ein Drama, eine Komödie und eine Satire sein, denn Poum hat allerlei Rachegelüste und er verfügt über Drolligkeit – man hat ihm dies schon gesagt! – oh, er kann drollig sein, daß man sich vor Lachen biegt! Und er hat auch großartige Ideen …

Also, die Personen zuerst. Wen hätten wir denn da? Wir könnten ja den Geographieprofessor verwenden, den gestrengen Moinot, dann einen Zuckerbäckerlehrling, der die Ware selbst aufißt, dann würde man einen verräterischen Türken brauchen, um ihm im dritten Akt den Kopf abschlagen zu können. Der Tenor würde Pierrot sein, der eine schöne Romanze singen würde, worauf er einen Schlag auf den Schädel bekäme, und alle handelnden Personen würden dann ein Ballet tanzen.

Großpapa Vernobre hat sich sofort bereit erklärt, der ersten Vorstellung beizuwohnen. Poum braucht keine Proben. Denn wenn man Genie hat, nicht wahr?!

Der Vorhang geht auf, bleibt etwas stecken, und nach einem Zwischenfall mit dem Maschinisten verschwindet er endlich am Schnürboden.

Der Dekor stellt eine Waldlandschaft vor.

Poum, mit einer großartigen Bauchrednerstimme, kündigt den Titel an:

»Die Liebe des Generals oder die Krokodiljagd!«

»Von wem ist denn das Stück, Poum?« fragt Großpapa neugierig.

»Von – von Molière!«

Poum imitiert mit Zähnen und der Nase das Vorspiel des Orchesters. Die Klarinette und das Fagott dominieren. Es gibt einen Gickser, dann kommt der Schluß, mit einem prachtvollen Trommelwirbel, und Madame Pipelet taucht auf.

Madame Pipelet: »Sieh einmal! Ich habe mein Taschentuch vergessen! Und gerade heute, da ich einen Schnupfen habe! … Na, gut, ich werde mich in ein Palmenblatt schneuzen!«

(Der General tritt auf.)

Der General: »Madame, Sie sind schön und ich liebe Sie!«

Madame Pipelet (schamhaft): »Oh, mein General!« (Sie geht ab.)

Der General: »Ah, wenn Sie mich auf meinem großen Schlachtpferd sehen würden! Warten Sie, ich werde meinen Ordonnanzburschen rufen!«

(Das Krokodil taucht auf.)

Der General (ohne das Krokodil zu sehen): »Ordonnanz, holen Sie mir mein Streitroß … Es ist die neue Besenstange in der Küche. Ah, großer Gott! Ein Krokodil!«

Das Krokodil (den Rachen aufsperrend): »Uapp! Uapp!«

Der General: »Madame Pipelet, ich wiederhole Ihnen, daß ich Sie liebe! Warten Sie, bis ich das Krokodil getötet habe. Ich will meinen Säbel holen!«

(Er tritt ab.)

Das Krokodil (singt in einem pathetischen Ton):

»In diesen Wäldern, weltvergessen,
Möcht' ich einen Kuchen essen!«

(Der kleine Zuckerbäckerlehrling tritt auf.)

Der Zuckerbäckerlehrling: »Nein, ich glaube, daß ich den Weg verfehlt habe. Man hatte mir gesagt: ›Im fünften Stockwerk!‹ und hier bin ich mitten in einem Walde! Ich bin verloren!« (Er weint.) »Ah, Mama, Mama … Ich habe übrigens meine Mutter nie gekannt. Meine Geburt ist etwas rätselhaft. Vielleicht bin ich der Sohn eines Prinzen und werde eine millionenschwere Engländerin heiraten!«

Das Krokodil (schnappt zu): »Uapp!« (Es faßt den kleinen Jungen und schleppt ihn fort.)

(Der Vorhang fällt.)

Poum schreit mit Stentorstimme: »Zweiter Akt!«

Pierrot erscheint und singt mit etwas näselnder Stimme:

»Mein Freund Pierrot,
Im Mondenschein.«

(Spricht:) »Sieh da, ich habe mein Taschentuch vergessen! Und gerade heute, da ich einen Schnupfen habe! Ich werde mich in ein Papierblatt schneuzen!« (Geht ab.)

Großpapa Vernobre protestiert:

»Du wiederholst Dich, Poum, diese Szene ist schwach!«

»Warte doch!« sagte Poum beleidigt, aber aufgestachelt.

(Der General kommt zurück und spricht mit einer schrecklichen Stimme.)

Der General: »Nachdem Madame Pipelet nichts von mir hören will, werde ich das Kommando übernehmen.« (Er brüllt:) »Habt acht! Schultert das Gewehr! Ah, da ist ja der Herr Richter, der mit mir dinieren wird. Guten Abend, Herr Richter!«

Der Richter (stottert): »Ich ich ich …«

Der General (stottert ebenfalls): »Wa-wa-was ha-ha-ha-ben Sie?«

Der Richter: »Eine Beu-Beu-Beu …«

Der General (erstaunt): »Beubeu?«

Der Richter: »Nein, ei-ei-ei-eine Beu-Beu-Beule! Auf auf der der Sti-Sti-Stirne!«

Der General: »Warten Sie – ich – ich werde – den Apotheker – rufen!«

Der Richter (zitternd): »Oh-oh-oh nein, nein-nein-nein! Er würde würde mir ein – Kly-Kly-Kly-stier ge-ge-ge-geben!« (Er geht ab, wobei er sich die Stirne an einer Kulisse anrennt.)

(Der Vorhang fällt.) Poum brüllt:

»Dritter Akt!«

Harlekin (tritt auf, mit einem Stock, und schlägt auf die Rampe und auf die Möbel): »Taratata! Pan! Bum! Paff! Ich habe meine Frau getötet! Bum! Ich habe den General getötet! Bum! Ich habe den Richter getötet! Bum! Ich habe das Krokodil getötet! Ah, da ist ja Madame Pipelet! Madame, Sie sind schön und ich liebe Sie! Taratatata, Pan! Bum!«

Madame Pipelet: »Frechling!«

Harlekin: »Dann sterbe!« (Er tötet sie.)

Der Gendarm (auftauchend): »Mörder!«

Harlekin: »Bum!« (Tötet ihn.)

(Vorhang fällt.)

Großpapa Vernobre bricht in ein betäubendes Beifallklatschen aus, das einen im Delirium befindlichen Zuschauerraum vortäuscht.

Poum bläht sich geschmeichelt auf.

 

XXIII.
Die Hypotheken

»Herr Gourd hat eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen!« sagte Mama bei Tische. (Ah, dieser Reisauflauf mit Zitrone ist herrlich!)

Poum hat nicht ganz gut verstanden, da seine Aufmerksamkeit durch die süße Speise etwas abgelenkt war. Er legte sich die Sache so zurecht, daß Herr Gourd auf seinem Hause eine Hypothek genommen hätte.

Poum träumt vor sich hin …

Eine Hypothek? Man kann diese also nehmen? Auf einem Hause? Kroch sie, oder flog sie? Es muß also wahrscheinlich eine Art von Eidechse sein, diese feinen Eidechsen, die sich in der Sonne wärmen und deren kleines Herz man schlagen sieht?

Oder war es vielleicht ein unbekannter Vogel? Hatte er ein Nest mit Eiern, die man Hypotheken nannte?

Kann eine Hypothek auch beißen? Ist sie böse? Kann man sie essen? Sind es vielleicht große Fliegen? Verkauft der Apotheker die Hypotheken? Oder ist es vielleicht eine dieser wilden Katzen, deren Fell man hinter der Auslage sieht? Es gibt Leute, die ein solches Fell im Winter auf der Brust tragen, wie beispielsweise Madame de Falcord …

Aber Poum ist darüber nicht ganz im klaren. Es könnte ja sein, daß eine Hypothek eine Pflanze ist. Man sieht ja manchmal auf den alten Dächern verschiedene Pflanzen sprießen. Die Gartenmauer ist hie und da ganz bedeckt mit kleinen roten Blümchen, wie Korallen. Bei der Frau Célestine, der Frau des Straßenräumers, sieht man auf dem Strohdach der Hütte großes Farnkraut. In den Felsspalten sieht man allerlei Gemüse, viel bitterer als ein Salat … Wie mag eine solche Hypothek schmecken? Ißt man sie in Essig und Öl oder gekocht?

Aber am nächsten Tag läßt Papa so beiläufig fallen:

»Herr Gamacet, der Konservator der Hypotheken!«

Poum ist höchlichst erstaunt! Herr Gamacet ist ein kleiner Alter, sehr aufgeputzt, etwas dürr, und der eine graue Perrücke trägt … Herr Gamacet verwahrt also die Hypotheken? Warum? Wieso? Ah, deswegen klappert er auch immer mit einem Schlüsselbund, den er in der rechten Hosentasche trägt! Wo sperrt er die Hypotheken ein? In einem Käfig? In einem Glashaus? In einem Fischbehälter?

Ah, Poum möchte gar so gerne diese seltsamen Hypotheken sehen!

 

XXIV.
Der Unfall

Poum schaukelt sich am Reck. Er schaukelt sich aus aller Kraft, sodaß seine Füße beinahe die Blätter der Platane erreichen. Denn Mama sieht ihm zu. Mama bewundert ihren großen Poum. Aber Mama ist etwas besorgt.

»Nicht so hoch, Poum!«

Poum schaukelt sich noch energischer, aber er ist etwas furchtsam, ohne es zu zeigen. Wird er im richtigen Moment einhalten können? Hauuu! Dies ist wie ein Aufstieg im Ballon … und jetzt das Niedersausen in den Abgrund … und noch höher … und noch tiefer … ah, der Garten scheint seekrank zu sein … und der Himmel ist berauscht …

Ah, wie hoch das geht … aber wird Poum nicht übel?

Pardauz! Poum sauste zur Erde nieder, er hat die Reckstange losgelassen und liegt jetzt auf dem Bauch, halb ohnmächtig … Beim Fallen ist er mit dem Kinn gegen einen Stein angestoßen, er blutet. Mama hebt ihn auf, schreit, sie hat Blut auf ihrem weißen Kleide. Poum sieht, aber wie durch einen Nebel hindurch, er hört, aber es ist, als ob er die Ohren voll Wasser hätte und sein ganzer Körper ist wie aus Watte.

»Schnell! Einen Doktor!«

Man wäscht Poum das Kinn, er schreit, man zankt ihn aus, er brüllt, man tröstet ihn, er weint! Denn er hat auf dem Tische das offene Besteck des Doktors gesehen; die kleinen Messer, die Zangen, die Scheren, und er ist überzeugt, daß alle diese Instrumente dazu dienen werden, um den armen Poum zu zerstückeln!

Ah, dieser Doktor, er sieht zum Fürchten aus! Man hat den braven, dicken Doktor Ripert nicht zuhause angetroffen. Dieser Doktor hier ist lang und dürr, schwarz, mit buschigen Augenbrauen und einem Bulldoggengesicht. Er sucht jetzt in seinem Besteck, zieht ein kleines Messer hervor, trennt einige Stücke Heftpflaster ab und sagt:

»Könnte ich ein Streichholz haben?«

Er zündet es an. Poum reißt erschreckt die Augen auf. Wird ihm der Doktor vielleicht die Wunde ausbrennen? Nein, er bläst die Flamme aus und spitzt dann mit dem Messer das Streichholz zu. Komische Idee!

»Sehen wir einmal!« sagt er.

Und während er Poum mit einer Hand festhält – Poum schreit wie ein Ferkel, das abgestochen werden soll – untersucht er mit der Spitze des Hölzchens die Wunde.

Dann wird die Wunde gewaschen, mit Heftpflaster beklebt und ein Tuch darüber geknüpft. Dies ist alles? Ist's möglich?!

Oh Freude! Der Doktor steckt das Messerchen wieder in die Scheide und schließt das Besteck zu. Und während er Poum betrachtet, sagt dieser schreckliche Mann, der bisher keine drei Sätze gesprochen hatte:

»Damit sich die Wundränder rasch schließen, muß man die Kaubewegung vermeiden; es wird also geraten sein, dem Patienten nur flüssige Speisen zu verabreichen; zum Beispiel ein Fleischgelee – haben Sie ein Gelee gern, mein Freund? (und ob!) und eine Schokoladecrême – haben Sie dies gern, mein Freund?«

Poum könnte ja für eine Schokoladencrême ein Verbrechen begehen!

»Und dann: Hühnermilch mit gut geschlagenem Eidotter – haben Sie Hühnermilch gern, mein Freund?«

Ob Poum dies gern hat! Er weiß zwar nicht, was es ist, aber er bildet sich ein, daß man die Hühner melken wird; das muß köstlich sein! Und Poum ist über seinen Unfall sehr glücklich …

 

XXV.
Das Meerbad

Fünf Uhr … Um an die Küste zu kommen, muß man über das weite Manöverfeld. Die Sonne hat es wie zu einer riesigen Goldlache umgewandelt, an deren Ende das Meer seine blauen Streifen und Arabesken zeichnet.

Poum trägt in einem kleinen Korbe Kirschen und Brot. In seiner Tasche hat er eine kleine Tafel Schokolade verborgen, die in der Wärme schmilzt. Er überzeugt sich von diesem Unglück, indem er von Zeit zu Zeit die Schokolade betastet und hierauf seine Finger abschleckt.

Die Palmbäume sehen aus, als ob sie aus Zink wären, das Manöverfeld will gar kein Ende nehmen. Poum stellt sich vor, daß er einer Karawane angehört und daß man die Sahara durchquert. Die Oase ist glücklicherweise ganz nahe. Diese Oase ist das Körbchen mit den Kirschen und man wird sich im Schatten der Badehütte installieren, auf dem heißen Sande, vor dem man sich aber trotzdem hüten muß, weil manchmal schwarze Käfer hervorkrabbeln.

Woran denkt Berta, die mit der Badewäsche und dem Klappsessel für Mama belastet ist? Woran denkt Mama, die ein wenig müde zu sein scheint und langsamer geht, während sie den Sonnenschirm in drehender Bewegung erhält? Woran denkt Louis, der kleine Bruder, der sich von Berta schleppen läßt?

Oh, für Poum herrscht darüber gar kein Zweifel! Sie alle denken an die Kirschen, jawohl! Und Poum berechnet mit wahrer Verzweiflung, daß für ihn kaum fünf oder sechs bleiben werden … und dann muß noch das eine erwogen werden, daß vielleicht unter diesen armseligen sechs Kirschen eine oder zwei verkümmert und saftlos sein werden …

Poum wird ganz trübsinnig und blickt nach seinem Schatten, der sich wie ein Gummifaden dehnt und zusammenzieht.

Wenn Poum wenigstens dem Bad entgehen könnte! Dann gäbe es vielleicht Gelegenheit, mit den Kirschen allein ein Wort zu reden! Aber er wird baden müssen; und er haßt das Baden, er fürchtet sich vor diesem unangenehmen Schauer.

Aber das Meer ist so ruhig, die Luft ist so heiß, daß er diesmal der Tortur nicht entgehen wird …

Man kommt endlich bei den Badekabinen an. Ein Schauer kriecht über den Rücken Poums. Er blinzelt nach dem Meer, das wirklich unbegreiflich ist. Überall dehnt es sich wie ein glatter Spiegel aus und nur dort, wo man badet, schlägt es Wellen! Du lieber Gott, es sind keine großen Wellen, sicherlich! Aber sie sind hinlänglich stark, um Poum emporzuheben, als wollten sie ihn hinwegtragen. Ah … es ist so heimtückisch, eine Welle! Und dann gibt es auch Strömungen da … sicherlich … denn Poum hat es irgendwo gelesen, solche gefährliche Wirbel, die den kühnen Schwimmer hinabziehen. Und hat er nicht auch von dem Maelstrom gelesen, diesem schrecklichen Wirbel mitten im Meere, der ganze Schiffe verschlingt und sie auf den Grund hinabzieht? Und könnte es nicht möglich sein, daß sich dieser Maelstrom bis hieher verlängert?!

Ah, zum Glück gibt es da einen Strick, an den man sich in höchster Not klammern kann … Und dann bleibt Poum auch ganz nahe dem Strande, wo ihm das Wasser nur bis an die Knie reicht … und er lugt scharf umher … um sich zu flüchten, wenn sich eine der Wellen auf ihn stürzen will …

Sieh da! Da sind ja die Falcords … und seine kleine Freundin Zette! Er ist sehr glücklich, läuft auf sie zu, streckt ihr seine braunen Finger hin – die Schokoladefinger – und kratzt sich dann höchst verlegen die Nase … Ah, Zette wird wahrscheinlich auch ihren Teil von den Kirschen abbekommen! Und vielleicht auch am Ende Herr und Frau de Falcord!? Das wäre schön … es blieben dann für Poum vielleicht zwei Kirschen!?

Ah, es gibt wirklich manchmal ecklige Ungerechtigkeiten in der Welt!

Poum zieht sich aus, in der kleinen Kabine, wobei er ängstliche Blicke nach dem Plafond wirft. Es gibt da allerlei schwarze Käfer, und einmal sah er sogar eine riesige Spinne! Er schnürt sich fröstelnd die Badeschuhe fest, mit dem seltsamen Gefühl, daß sich seine Fußsohlen furchtsam zusammenziehen. Der Strand ist ganz schwarz von nassen Algen, und in diesen Algen ist es lebendig, Mücken und allerlei Getier, Brrrr!

Ja, da kann man nichts machen. Poum muß in das Wasser hinein! Glücklicherweise ist Zette in seiner Nähe! Wie drollig sie aussieht, mit ihrer Mütze aus Wachsleinwand! Es scheint, als hätte sie unter dieser Haube nicht ihre Haare, sondern einen großen Schwamm verborgen. Poum hat ein großes Verlangen, die Haube zusammenzupressen, denn er ist sicher, daß das Wasser herausspritzen würde. Dieser Gedanke belustigt ihn. Vlan! Da hat er Wasser geschluckt! Prrr! Cröchhhh! Das ist scheußlich! Zette lacht und spritzt ihm Wasser ins Gesicht … Na, warte nur!

Poum wird lebendig, rächt sich an Zette, läßt mit beiden Händen den Strick los … Ah, Unglücklicher! Und wenn ihn nun das Meer hinwegziehen würde!? Denkt er denn gar nicht an den Maelstrom!?

Er klammert sich schnell an, die Fäuste geballt, mit angstflackernden Augen und einer schrecklichen Grimasse. Ah, dieser Glückspilz von Louis, sein kleiner Bruder, der nicht zu baden braucht, weil er einen Schnupfen hat … und der friedlich neben Berta sitzt, und dabei beständig nach dem Korb mit den Kirschen schielt!

Aber Berta kommt jetzt mit einem Bademantel näher und macht Poum ein Zeichen. Na, es war höchste Zeit!

Poum hat es so eilig, aus dem Wasser zu kommen, daß er nicht sieht, wie eine große Welle hinter ihm her ist und ihn gerade auf seinen Sitzteil klatscht. Er stürmt kreischend dahin, die Beine hochhebend, um den Algen auszuweichen … ah! er würde vor Furcht schreien, wenn er sich nicht schämte! Gefolgt von Berta, rennt er auf die Kabinen zu und stößt die seine mit dem Kopfe auf.

Ein Schrei gellt aus dem Innern. Poum, ganz versteinert, rollt irrsinnig seine Augen, während man ihm die Tür vor der Nase zuschlägt!

Ah … das ist unbegreiflich! Poum, von einer Panik ergriffen, wirft sich auf Berta, die ihn scheltend nach der Kabine Poums zieht (diese Kabinen sehen ja einander alle aufs Haar ähnlich!) – Was hat er denn gesehen? Warum zittert er so? Warum starrt er ins Weite, als würde er eine schreckliche Vision verfolgen? … Warum läßt Poum zähneklappernd diese Antwort von seinen Lippen fallen? …

»Ah, Berta, es war ein fürchterliches Tier in der Kabine, ein dickes Tier! Und es hat geschrieen! Es wollte mich beißen!«

»Sie sind ein kleiner Dummkopf, Herr Poum! Es war Madame de Falcord, die Sie erschreckt haben!«

»Nein, Berta! Nein, Berta! Ich kenne doch Madame de Falcord! Es war ein Tier, wie ich noch keines gesehen habe!«

Und Poum weigert sich, eine andere Erklärung zu geben. Seine Augen scheinen noch diesen großen Schrecken zu widerspiegeln, diese blitzartig geschaute Vision der ungeheuer dicken Madame de Falcord, die im Evakostüm war …

Und Poum beruhigte sich erst dann, als er wiederum an den Korb mit den Kirschen dachte.

Aber als er an den Strand zurückkehrte, hatte der kleine Louis, den man sich selbst überlassen hatte, alle Kirschen verschlungen! …

 

XXVI.
Die Füße der kleinen Zette

Heute badet man nicht, weder Poum noch Zette, weil beide etwas müde sind. Poum hatte eine kleine Kolik und Zette hatte mehrmals geniest. Aber man hat ihnen auf vieles Bitten hin erlaubt, die Schuhe auszuziehen und mit nackten Füßen auf dem warmen Sande umherzulaufen.

Das Meer erstirbt sanft; es ist ein blauer Teppich, mit weißen Fransen, der sich nähert und sich wieder zurückzieht. Der nasse Sand ist grau, der trockene Sand ist gelb, der eine kühlt, der andere brennt. Dies ist sehr lustig, mit dem einen Fuß auf dem trockenen, mit dem anderen auf dem nassen Sand dahinzulaufen, genau über der gewundenen Linie, die diese zwei Länder trennt. Und welch' angenehmes Schmeicheln, wenn das Wasser sich herandrängt und den Fußknöchel netzt! Zette flüchtete schreiend. Poum zappelte vor Freude und Schrecken.

Man ruft sie zurück, denn Berta fürchtet, daß sie in Schweiß geraten. Da man ihnen befiehlt, sich niederzusetzen, so wählen sie einen kleinen Felsvorsprung, der mit seinen Löchern wie ein riesiger Schwamm aussieht. Sie bleiben da regungslos stehen.

Poum betrachtete seine Füße, dann die Füße seiner Freundin, dann das ungeheure Meer und den endlosen Himmel. Und etwas singt in ihm, etwas, das sehr wohltuend ist.

Wenn Poum die kleinen Füße von Zette betrachtet, so sieht Zette ihrerseits auf die Füße Poums. Sie hat sogar den Einfall, den warmen Sand auf sie zu werfen. Warum? Um sie zu verstecken?

Poum ist zuerst etwas beleidigt und zieht seine Füße zurück. Sollten sie irgendwie abstoßend sein? Nicht doch, die Nägel sind geschnitten und sein weißer Fuß gleicht – Berta hatte es ihm gesagt – einer kleinen Maus … Wenn seine Füße Zette mißfallen, so möge sie es nur sagen! Aber sie sagt es nicht, … sie lacht fröhlich, ohne Grund, sie lacht zur Sonne hinauf, auf das Meer hin, auf den blitzenden Strand, und Poum lacht ebenfalls.

Eine lange, trockene Alge streift seine Hand, er greift danach und wagt es, den Fuß von Zette zu kitzeln. Sie schreit auf, während sie lachend die Zehen einzieht. Wie hübsch sie sind, die Füße von Zette! Man würde meinen, sie sind aus Zucker! Und die Zehen haben eine Farbe wie blaßrote Rosen und kleine, beinahe unsichtbare blaue Äderchen kreuzen sich auf dieser feinen Haut. Poum wirft die Alge weg und begnügt sich, die Füße seiner Freundin zu bewundern. Es ist schade, daß man die Füße von Zette in Strümpfe und Schuhe einsperrt. Warum behandelt man die Füße so strenge?

Warum verbirgt man sie, wie arme Verwandte? Die Füße von Zette scheinen so fröhlich zu sein, sich in Freiheit zu befinden! Die kleinen Zehen bewegen sich, als würden sie eine Tonleiter auf dem Klavier spielen. Do, re, mi … und die Fersen reiben sich an einem weißen Kieselstein. Oh, diese kleinen, geistreichen, intelligenten Füße? Es sieht aus, als würden sie Poum herausfordern, ihn zum Narren halten …

Und Poum weiß nicht, ob er Verlangen hat, diese Füße zu küssen oder zu beißen …

 

XXVII.
Die drei russischen Feen

Die Eltern Poums waren nach Paris übersiedelt und bewohnten ein großes Appartement in einem schönen Hause. Sie logierten im zweiten Stockwerk. Im ersten Stock wohnte eine russische Familie, woselbst es drei junge Mädchen gab. Ihre Namen endigten alle drei auf a. Sie trugen im Rücken lange und schwere Zöpfe, die eine hatte sie von maisgelber Farbe, die andere biergelb, die dritte wie gebranntes Brot. Obzwar die Älteste erst siebzehn und die Jüngste erst vierzehn Jahre alt war, überragte eine die andere um Kopfeslänge. Man unterschied sie auch an ihren Kleidern, die niemals gleich waren, grün, blau und braun. Als Poum sie näher kannte, sah er auch, daß die Augen verschieden waren, die eine hatte blaue Augen, die zweite wassergrüne, die dritte solche, die an die Farbe welker Veilchen gemahnten.

Man hatte die Gouvernante der drei Mädchen fortgeschickt, und da die Nachfolgerin auf sich warten ließ, weil sie aus dem innersten Rußland kommen sollte, so waren die Mädchen sich selbst überlassen. Und sie waren töricht, glühend, phantastisch, wechselnd, heiter, schmollend, zornig, fielen aus tollem Lachen in konvulsivisches Weinen, hopsten auf das Piano, sprangen über die Stühle, und sie hatten Poum zu ihrem Spielgefährten adoptiert! Sie kamen unaufhörlich in den zweiten Stock, um ihn abzuholen, um ihn an ihren Spielen teilnehmen zu lassen, wie eine lebendige Puppe, diesen armen, leichtgläubigen Poum, mit dem sie sich in ganz außerordentlicher Weise belustigten, ihn mit Süßigkeiten vollstopften, ihm grausige Geschichten erzählten, ihn zur Strafe in eine dunkle Kammer einsperrten, ihn als Mädchen anzogen, ihn bald singen, bald weinen ließen, und ihn vor allem, mit dem slavischen Instinkt ihrer angeborenen Grausamkeit, durch die Drohung terrorisierten, daß man ihm eines Tages für irgend ein Vergehen die Knute geben würde, auf den nackten Leib!

Die Tage, die Poum bei seinen drei Freundinnen verbrachte, waren wie ein Zaubertraum, wie ein Feenmärchen. Er kam fiebrig nachhause, und des Nachts konnte er lange nicht einschlafen. Er war nicht ganz sicher, daß die drei Mädchen nicht Feen waren, oder vielleicht gar Hexen! Und der Kopf tat ihm weh, von all den bizarren, drohenden, wundervollen, komischen Dingen, die man ihm vorgesagt hatte. Seine Gefühle gegen diese Freundinnen waren widersprechend, er liebte sie und haßte sie wiederum, und obzwar er die Älteste vorzog, weil sie ihm die Sanfteste schien, fühlte er sich trotzdem niemals ganz sicher, wahrscheinlich wegen der Knute!

Und diese Drohung wurde so oft wiederholt, daß Poum sichtlich kälter wurde. Und wenn die Mädchen an der Tür läuteten und in ihrem drolligen Akzent sagten: »Wir wollen unseren kleinen Freund Poum abholen, damit er uns belustigt!« so versteckte er sich sofort an ganz unauffindbaren Orten, beispielsweise in dem Kleiderschrank seiner Mama oder in der Badewanne.

Aber eines Tages, als er ahnungslos hinter seiner Bonne die Treppe hinanstieg, öffnete sich im ersten Stock leise die Tür, drei Paar Arme schnappten nach ihm, und er wurde in die Wohnung gezogen, geschleppt, entführt, in einem Augenblick! Er sah sich in dem großen Zimmer der Mädchen, die ihn mit ihren spöttischen und rätselhaften Katzenaugen ansahen. »Ah, wirklich, Poum«, sagte die Älteste, »bist Du krank gewesen, daß man Dich so lange nicht sah?« – »Er ist etwas blaß!« sagte die Zweite. – »Wir müssen ihn schnell zu Bett bringen und den Arzt rufen« sagte die Dritte.

Poum wurde sofort in ein Bett gesteckt, mit drei Daunenpolstern auf dem Leib, sechs Decken, und dazu hatte man ihm noch eine Schlafhaube aufgestülpt!

»Er hat etwas Fieber!« sagte die Erste.

»Er hat eine belegte Zunge!« versicherte die Zweite.

»Sollen wir ihm zur Ader lassen? Sollen wir ihm ein Abführmittel geben? Oder ihm Schröpfköpfe setzen? Oder ihm einen bitteren Tee einflößen? Oder ihm ein brühendheißes Fußbad verabreichen? Oder ihm die Nasenspitze abschneiden, damit er sich leichter räuspern kann?« fragte die Dritte.

»Zuerst muß er ein Brechmittel einnehmen!« sagte die im grünen Kleid, »er hat wahrscheinlich eine Kröte verschluckt, die ihn im Magen kitzelt. Da, Poum, nimm diese Pastille, es ist ein vorzügliches Brechmittel! Schnell, Mascha, bring die Waschschüssel her!«

»Wenn dies getan ist,« sagte die im blauen Kleid, mit einer hydraulischen Spritze erscheinend, die Poum nur gar zu gut kannte, »werden wir ihm ein anderes Mittel geben … Poum, Du mußt Dich jetzt ausziehen …«

Poum faltete bittend die Hände und schrie mit jämmerlicher Stimme:

»Ich bin nicht krank, ich habe keine Kröte verschluckt. Oh! Lassen Sie mich gehen! Lassen Sie mich gehen! Oder ich werde es meiner Mama sagen!«

»Ah! Ah!« schrien die Drei mit zorniger Stimme. »Ah, Monsieur ist ein Klatschmaul! Wera, schnell, bringe die Knute her!«

»Oh! Nein, nein, nein,« wimmerte und flehte Poum, »ich werde Mama gar nichts sagen!«

»Poum,« sagte die im braunen Kleid, »es tut mir sehr leid, aber ich sehe gar keine Möglichkeit, um Dir die Knute zu ersparen! Du wolltest die Medizin nicht einnehmen. Du wolltest uns verklatschen.«

»Nein, nein« stammelte Poum.

»Laß mich ausreden, Poum! Die Frage ist, zu wissen, ob Du die Knute vorziehst, oder die Rute, die man vorher in Essig getaucht hat.«

»Aber«, warf die Zweite ein, »es gäbe vielleicht ein Mittel, um ihm diese Strafe zu schenken. Willst Du mich heiraten, Poum? Ich werde Deine Frau sein, dann darf Dich niemand schlagen!«

»Ja, ja, heiraten Sie mich sofort!« flehte Poum.

»Gut, aber Du mußt wissen, daß ich einen sehr tapferen Mann haben will, und es scheint mir, daß Du etwas feige bist, das paßt mir gar nicht! Deshalb will ich Dich zuerst auf die Probe stellen: die erste Prüfung besteht darin, in unsere Kohlenkammer eingesperrt zu werden, woselbst unser große braune Bär Grrrroudibucharrrofff eingesperrt ist, den Du schon so oft hinter der Tür brummen hörtest. Die zweite Prüfung ist, unseren großen Wolfshund auf die Schnauze zu küssen. Du mußt ihm die Hände um den Hals legen und ihm sagen: »Friß mich nicht auf, Bruder!« Und er wird Dir bloß das Ohr abbeißen.«

»Er hat Furcht! Er hat Furcht! Er fürchtet sich vor dem Bär und vor unserem Wolfshund!« schrien die zwei anderen.

»Dann«, fuhr die Älteste fort, »bleibt nur mehr die dritte Prüfung. Hier siehst Du einen Apfel! Nimm das Messer und schneide ihn in zwei Stücke«.

»Oh! Nein!« wimmerte das Mädchen mit den blauen Augensternen, »oh mein kleiner Poum, tu es nicht, oh! Welch ein Unglück, wenn er den Apfel zerschneidet!«

»Es ist der Apfel einer Fee!« schluchzten die beiden anderen.

»Wenn der Apfel zerschnitten ist, wird so viel Wasser herausströmen, daß wir alle darin ertrinken.«

»Und in diesem Wasser«, fügte die Dritte hinzu, »schwimmen eine Menge von Krokodilen und schwarzen Meerschlangen, die von Poum nur die Schuhe übrig lassen würden.«

»Gut, dann soll mich Poum küssen! Er ist jetzt mein Mann. Hast Du gehört? Küsse mich! Wie! Mir scheint, daß Du mich gar nicht liebst!? Umarme sofort Deine beiden Schwägerinnen, sie werden Dir dann ein Geschenk machen!«

»Hier, Poum!« sagt die eine, »hier ist ein Bonbon! Iß es sofort!«

»Hier hast Du eine Kupfermünze!« sagt die andere, »aber Du darfst sie nicht essen!«

»Komm nun, mein lieber Mann!« sagte wiederum die Erste, »auch ich will Dir ein Geschenk machen. Mascha, bring doch einen kleinen Topf mit Essig, und dann – ah, ich besinne mich nicht mehr auf den Namen«.

»Die Feuerzange?«

»Den Besen?«

»Die Rute?«

»Nein. Poum, mein teuerer Mann, ich muß Dir jetzt Deine kleine Hose aufknöpfen.«

»Willst Du vielleicht gar die Knute?« erraten die beiden anderen.

»Ja, ja,« schrie sie, »die Knute!«

Und alle drei tanzen wie besessen:

»Die Knute! Die Knute!«

Aber Poum, rot wie ein Paradiesapfel, setzte sich mit Todesverachtung zur Wehr, zerriß das grüne Kleid, riß dem maisgelben Zopf ein Büschel Haare aus, kratzte die veilchenäugige Fee blutig, gluckste wie eine irrsinnig gewordene Henne, warf die Stühle um und hetzte durch die Zimmer, verfolgt von den drei Schwestern. Zum Glück stand die Küchentür offen, er flitzte hinaus und jagte die Dienertreppe keuchend hinan, wie ein verfolgter Hase, verlor dabei einen Schuh und niemals mehr, niemals mehr verzieh er den russischen Feen! Er wollte sie nie mehr wiedersehen, wollte niemals mehr mit ihnen sprechen. Ah, man wollte ihm die Knute geben? Einem Poum, der schon so alt war! Beinahe acht Jahre!

 

XXVIII.
Der Andere Großpapa

»Poum,« hatte die Mama gesagt, »Du wirst Deinen Großpapa Ambroise begleiten! Du mußt sehr auf ihn achtgeben!«

Seitdem man in Paris lebt, hat Poum ausgiebige Bekanntschaft mit Großpapa Ambroise gemacht, dem Papa von Mama. Poum ist entzückt, jetzt zwei Großpapas zu besitzen. Bisher war Großpapa Vernobre sein einziger wahrer Großpapa. Poum hatte zwar von dem andern sprechen gehört, hatte ihn aber bis dahin nie gesehen. Denn Großpapa Ambroise war sehr alt und konnte Paris nicht mehr verlassen.

Und Poum, der acht Jahre alt ist, hält gravitätisch Großpapa Ambroise bei der Hand und bahnt ihm einen Weg durch die Spaziergänger in den Champs-Elysées. Großpapa Ambroise ist so alt, daß Poum lange Zeit braucht, um es an den Fingern abzuzählen. 75 Jahre! Eine Ewigkeit!

»Warte doch!« sagt er etwas herrisch, »Du siehst doch, daß wir nicht überqueren können, solange der Wachmann nicht seinen weißen Stock hebt. Gib doch acht, man könnte Dich überfahren! So, jetzt!«

Sie gehen zum »Guignol«, dem Hanswursttheater. Es hat den Anschein, als hätte Poum seinen Großpapa großmütigst eingeladen. Er sagt zu ihm:

»So, jetzt wollen wir uns Polichinelle ansehen!«

Er zieht ihn mitten unter die jugendlichen Zuschauer, heißt ihn in der ersten Reihe Platz nehmen und befiehlt:

»Zahle!«

Der Großpapa macht ein unglückliches Gesicht und sucht lange mit seinen mageren und zitternden Fingern in seiner Geldbörse.

»Madame!« sagt Poum zu der Sesselverleiherin, »geben Sie mir eine Stange Gerstenzucker!«

Er reicht ihr zwei Sous und scheint gar nicht zu sehen, daß Großpapa begehrlich auf die Zuckerstange schielt, vor Begierde hüstelt, rot wird und endlich Poum am Rockärmel zupft.

»Gib mir ein kleines Stück!« seufzt er.

Poum beißt ein ganz kleines Stückchen ab und reicht es Großpapa Ambroise, der es mit Entzücken beriecht und es dann in den Mund steckt.

»Und nun, höre gut zu!« kommandiert Poum.

Und während Guignol den Hausmeister prügelt, dem Richter einen Nachttopf aufsetzt, den Gendarmen mit der Nase zwischen eine Tür einklemmt und dem Krokodil eine Matratze zum Verschlingen gibt, stößt Poum seinen Großpapa fortwährend in die Seite und sagt:

»Verstehst Du das? Verstehst Du?«

Und dann fragt er entrüstet:

»Warum lachst Du denn nicht, lache doch!«

Aber Großpapa ist durch all diesen Lärm der Schläge, durch dieses Wirrsal, in dem man den handelnden Personen Möbel auf die Köpfe wirft, in dem man köpft, spießt, schindet und rädert, so entmutigt, daß er zu Poum murmelt:

»Gehen wir, Poum! Gehen wir!«

Aber Poum, ganz aufgeregt und entzückt, erwidert:

»Ah, sieh einmal, wie Guignol den Alten behandelt! Oh lala! jetzt nimmt er den Besen, und jetzt reibt er ihm das Gesicht mit dem Schwamm, er steckt ihm den Kopf in das Wasserschaff!«

Großpapa ist darüber sehr entrüstet, er wackelt mit dem Kopfe, er brummt etwas vor sich hin.

Aber dann sieht man, wie auf der Bühne der »Alte« sich wieder aufrichtet, wie er Guignol den Stock entreißt und ihm eine großartige Tracht Prügel verabreicht, die wie ein Beifalldonner rollt.

Und Großpapa Ambroise hat sich triumphierend aufgerichtet, er nickt zufrieden mit dem Kopfe und meckert ein hohes, grelles Lachen. Ah, die Revanche! …

 

XXIX.
Die andere Großmama

Poum überlegt …

Es gibt keine Großmama Vernobre mehr … sie ist seit langem tot. Poum hat sie nie gekannt. Er erinnert sich bloß an ein Pastellbild, das er in dem Arbeitszimmer von Großpapa Vernobre sah. Aber es war das Bildnis einer sehr jungen Dame, während Großmama Vernobre schließlich so alt wurde, daß man sie in einer Truhe aufbewahrte. Dies hat ihm zum wenigsten Firmin erzählt und Firmin mußte es wissen!

Man nahm sie nur einigemale im Jahr aus der Truhe heraus. Sie sah ungefähr so aus, wie die Damen aus Wachs, die man in den Auslagen der Haarkünstler sieht, und an Stelle der Haare trug sie eine kleine weiße Haube. Man öffnete nie die Vorhänge ihres Zimmers, in das nur ernste und schwarz gekleidete Herren eintraten, Doktoren und Notare. Sie aß nichts, sie trank nichts, sie schlief nicht. Also, wozu diente sie eigentlich? Poum fragte sich dies öfters, aber er zweifelte nicht, daß Firmin die Wahrheit gesagt hatte.

Firmin wußte sehr viel!

Nun war Großmama Vernobre tot, im Paradies! Wohin hatte man sie dort gelegt? Wahrscheinlich in die Truhe der Engel.

Aber Poum hat eine andere Großmama, Großmama Theodosie, die Frau von Großpapa Ambroise. Seit man in Paris lebt, sieht man sie. Sie gleicht einem Papagei. Sie hat ein Haarbüschel auf dem Kopf, sie hat eine gebogene Nase, sie trägt einen grünen Schal, und sie schnupft! Sie stopft sich Tabak in die Nase, wobei sie den Kopf abwendet! Ah, Großmama Theodosie ist nicht sehr bequem. Sie hat da so allerlei Ideen über die Erziehung von Kindern. Vor allem die eine: man muß ganz aufrecht sitzen und man muß seine Fabel wissen!

»Poum, kennst Du Deine Fabel?«

Welche Fabel?! Vielleicht »Der Rabe und der Fuchs«, oder »Das Lamm und der Wolf« …? Großmama Theodosie sagt es nicht … das ist ihr ganz gleichgültig – oder sie spricht vielleicht von irgend einer geheimnisvollen Fabel, die Poum gar nicht kennt? Deine Fabel! Wahrscheinlich ist es eine Fabel, die man eigens für Poum fabrizierte? Wer fabriziert sie denn eigentlich, diese gräßlichen Fabeln, die Poum auswendig lernen muß? Poum wünscht diesen Fabrikant zu allen Henkern. Nein, er hat keine eigene Fabel! Er will keine haben, er haßt die Fabeln!

»Poum, sitze aufrecht!«

Poum sitzt steif, als wäre er gepfählt. Seine Knie sind wie versteinert, es scheint ihm, als würde Gras unter seiner Nase wachsen, als würden ganze Jahrhunderte verstreichen! Warum muß man so aufrecht sitzen? Könnte man sonst bucklig werden? Er fühlt Ameisen in den Beinen. Das ist seltsam, Ameisen, die man nicht sieht. Aber man spürt sie, au!

Großmama hat einen kleinen Finger, der alles weiß. Dieser Finger ist wie ein Orakel. Er drückt sich, genau wie ein Orakel, in feierlichen und unbestimmten Phrasen aus:

»Poum, Du warst genäschig!«

Und Poum wird feuerrot. Es ist wahr! Irgendwann, irgendwo, es ist zweifellos, daß Poum genäschig war.

»Poum, Du hast gelogen!«

Und Poum wird blaß. Ja, er hat ein klein wenig, ein bißchen gelogen. Gestern, vorgestern, oder im vergangenen Jahr? Ah, dieser kleine Finger von Großmama weiß alles!

Und er sieht trotzdem gar nicht danach aus, es ist ein Finger wie jeder andere, weiß, trocken, beinahe dürr, mit einem spitzen Nagel; an diesem Finger steckt ein Ring aus Kornalin, mit einer eingeschnittenen Figur, ein Kopf mit einem Helm. Ist es vielleicht ein Feuerwehrmann? Wahrscheinlich ist er es, der alles weiß und der alles verrät.

»Poum, weißt Du Deine Fabel auswendig? Poum, sitze aufrecht!« …

 

XXX.
Im Jardin des Plantes

An diesem Tage wurde Poum seinem Cousin Step anvertraut. Step ist um sechs Jahre älter. Poum liebt ihn sehr und fürchtet ihn. Step sollte Poum in den Jardin des Plantes führen, um die Menagerie zu besichtigen.

Kaum waren sie in der Straße, so zündete Step eine große Zigarre an, und da ihm dies seine Eltern streng verboten hatten, so forderte er Poum sein Ehrenwort ab, damit das Geheimnis gewahrt bliebe.

»Es ist nicht – wie Du vielleicht glauben könntest – daß ich das geringste Vergnügen empfinde, diesen Rauch einzuatmen! Aber es ist ein Mittel gegen eine seltsame Krankheit, von der ich befallen bin und die meine Eltern nicht ahnen, denn sie würden sich sonst schwere Sorgen machen. Denke Dir, Poum, wenn ich nicht rauche, so packt mich ein solcher Schwindel, daß ich Lust habe, mich unter die Räder der Trambahn zu werfen! Du begreifst, Poum, die Schwere eines solchen Unglücks! Denn wenn ich tot wäre – was würdest Du tun, um Dich allein in Paris zurechtzufinden? Du wärst verloren! Und die Hundediebe, die auch kleine Jungen stehlen, würden Dich in einen tiefen Keller bringen, woselbst man aus Deinen Knochen Stiefelwichse fabrizieren würde.«

»Ich werde nichts sagen, Step, ich verspreche es Dir!«

»Wir werden also den zoologischen Garten besuchen, mein kleiner Poum, und werden daselbst die große Zahl fremder und interessanter Tiere bewundern. Versäume nicht diese Gelegenheit, um Dich zu instruieren. Ich muß Dir zuerst einige Winke geben. Hast Du vielleicht einige Stückchen Zucker mitgenommen? Nein? Glücklicherweise habe ich nicht darauf vergessen. Wir werden auch bei dieser Frau einige Brote kaufen.«

Step erstand einige Kleienbrote, die Poum andächtig beroch, und deren zähes Innere er bewunderte. Der große Garten, von Tiergebrüll und Flügelschlagen vibrierend, roch nach dem Odem der wilden Tiere. Man sah hinter den Drahtgittern und auf den kleinen Rasenflächen, verschiedene helle oder dunkle Flecken: Gefieder, Behaarung, gestreifte Felle, funkelnden Federschmuck.

»Diese Tiere dort, die wie dicke Weiber in schwarzen Seidenroben aussehen, heißen Robben!« erklärte Step. »Sie würden Dein Brot nicht verschmähen, Poum. Aber besser wäre es, wenn Du ihnen einen Fisch zuwerfen würdest!« Poum beichtete, daß er keinen Fisch zu sich gesteckt hatte. »Das ist betrüblich, sehr betrüblich! Und ich lese in den Augen der Robben einen grimmigen Vorwurf: »Wie!« sagen sie sich, »da ist ein kleiner Junge, der uns zum erstenmal einen Besuch abstattet und der uns nichts mitbringt!« –

»Bist Du sicher, daß Du nicht eine frische Sardine in der Tasche hast? Nein?! Nicht einmal ein Stück Walfischfleisch?!«

Poum duckte sich beschämt.

»Daß Du in einem solchen Grade die Robben schnöde behandelst, Poum, wäre schließlich nicht so schlimm. Aber wisse, daß es auch Tiere gibt, die außerordentlich rachsüchtig sind.

Rachsüchtig, empfindlich und grausam; sie sind unfähig, irgend etwas zu verzeihen. Ich will nur ›ihn‹ nennen, den grausamsten, den schrecklichsten, den blutdürstigsten von allen. Vorgestern noch las ich in der Zeitung, daß ›er‹ einen kleinen Jungen verschlungen hatte, weil dieser nicht schnell genug vor ›ihm‹ den Hut zog.«

Die seltsame Phrase Steps gab Poum die Meinung, daß dieses fabelhafte Tier einen Hut trug, und seine Verwirrung wurde umso größer!

»Wer – wer ist dieses böse Tier?« stammelte er.

»Ich ziehe vor, den Namen nicht zu sagen, Poum, denken wir nicht mehr daran! Ich hoffe, daß man ›ihn‹ in seinen Käfig gesperrt hat – großer Gott, hoffentlich ist jetzt nicht die Stunde, da ›er‹ in Freiheit umherläuft. In diesem Fall täten wir vielleicht besser …«

»Ja, ja, Step, gehen wir!«

»Beruhige Dich, Poum … ich erinnere mich: ›er‹ ist krank. Denke an jenen Tag, da Dir die verschluckten Kirschkerne so weh taten, nun – ›er‹ konnte die Hosenknöpfe des kleinen Jungen nicht verdauen.«

»Ist es ein – ein Bär?«

»Oh nein, mein armer kleiner Poum! Der Eisbär ist ein gutmütiger Bursche gegen ›ihn‹. Sprechen wir nicht von den Bären, dort siehst Du sie ja! Mache ihnen ganz kleine Kügelchen aus der Brotkrume, denn so lieben sie es, wirf es ihnen nicht zu heftig zu, damit Du nicht hinabfällst!«

»Aber, Step, die Bären kümmern sich ja gar nicht um die Kügelchen!«

»Das kommt daher, weil sie ihre Brillen nicht aufgesetzt haben. Sie ziehen übrigens trockenes Brot vor … Gehen wir nun zu den Krokodilen! … Wirf dieses Stück Zucker in das Wasser, sie zeigen ein großes Vergnügen, sieh doch einmal, wie sie den Rachen aufsperren, das würdest Du nicht nachmachen können!«

Poum renkt sich beinahe die Kinnladen aus und schlägt dann seine Zähne klappernd zusammen. Aber die Erinnerung an ›ihn‹, an dieses sagenhafte, schreckliche Ungeheuer, verfolgt ihn unablässig; er wird plötzlich bleich.

»Step, wie heißt er?«

»Ein Krokodil, mein Freund.«

»Nein Step, der andere, ›Er‹!?«

»Ah, daran dachte ich nicht mehr! Aber ich kann Dir den Namen nicht sagen, es klingt gar zu schrecklich, wie ein düsteres Bellen in der Finsternis!«

Poum zerbrach sich den Kopf, angstbebend.

»Es ist doch nicht ein Löwe, Step!«

»Ein Löwe? Du bringst mich zum Lachen, ein Löwe ist ein Löwe, das heißt ein hinlänglich furchtbares Tier, aber aufrichtig, großmütig. Ich sage dir offen, Poum, ich würde es lieber vorziehen, mich in einem Käfig zwei Löwen gegenüberzufinden, als mich Nase an Nase mit – ›ihm‹ zu sehen …«

»Aber, Step, wem gleicht er denn?«

»Man kann ›ihn‹ mit nichts vergleichen, dies ist eben das Merkwürdige. Stelle Dir einen grimmigen Pferdekopf vor, einen sehr langen Hals, einen unglaublich geformten Rücken, zuerst ein Berg, dann ein Tal, dann wieder ein Berg, dann die Füße eines Ochsen und den Schwanz eines Elefanten. Aber sprechen wir nicht von ›ihm‹ – sieh einmal diesen Reiher! Er ist ganz steif, ich glaube, daß er ausgestopft ist. Doch nein, er kratzt sich rückwärts mit seinem Schnabel, es ist ein seltsamer Brauch bei diesem Volke. Nicht wahr, Poum, Du wärst nicht imstande, so lange auf einem Bein zu stehen?« Poum versucht es und muß sich nach kurzer Zeit besiegt erklären.

»Hier sind wir bei den Affen. Findest Du nicht, Poum, daß sie eine gewisse Familienähnlichkeit mit Dir haben? Meiner Treu, bist Du sicher, daß Du nicht einige Vettern hast, die sich in diesen Käfig verirrt hatten? Sieh einmal, der Graue dort, der Dir Grimassen schneidet, als würde er Dich erkennen! Gib ihm ein Stück Brot … Sieh einmal, wie er Dich anfleht, wie er sich an einem Orte kratzt, den zu nennen mir meine gute Erziehung verbietet. Und dieser große Bursche da mit den roten Augen! Vielleicht hättest Du gut daran getan, ihm eine Flasche Rosenessenz mitzubringen, dies hätte nicht geschadet … Was tust Du, Unglücklicher?! … Du hast ihnen das ganze Brot zugeworfen! Alles, ohne ein Krümchen übrig zu behalten, für …«

»Oh, kaufen wir schnell ein anderes, Step!«

»Nein, wir könnten etwas Besseres tun, er liebt Schokolade, oder auch eine Zuckerstange. Ah, Barmherzigkeit! Es ist zu spät. Poum, da kommt er schon! Ah, wie er mit dem Kopf wackelt, wie er den Rachen aufsperrt, er wird schreien. Er rollt die Augen, er hat Dich erkannt, Poum! Er ist's, der grausamste, blutrünstigste –«

Step konnte nicht vollenden. Poum, zu Tode erschrocken, bahnte sich heulend einen Weg durch die Menge, er schrie, als ob er am Spieße stecken würde und er warf sich blindlings in die Beine eines Wächters.

Dieser bog sein rotes Gesicht zu dem Jungen herab und schüttelte ihn:

»Was hast Du denn, mein kleiner Freund?«

Ein Kreis von Neugierigen formte sich im Nu. Step galoppierte keuchend herbei:

»Er fürchtet sich vor dem Kameel!«

Und Poum, dessen Haare sich sträubten, hörte die Leute in ein donnerndes Gelächter ausbrechen. Dies beruhigte ihn und machte ihn sehr beschämt. Aber er war deshalb auf Step nicht böse; so groß war die Macht, die sein Protektor und sein Folterknecht auf ihn ausübte.

 

XXXI.
Ostern

Poum ist neun Jahre alt. Er ist schon eine Persönlichkeit.

Berta, seine Bonne, sagt jetzt, wenn sie von ihm spricht: »Monsieur Poum« (sie spricht aber mit ihrem elsässischen Dialekt »Boum«).

Und heute, da sie in das kleine Zimmer Poums tritt und die Vorhänge zurückzieht – ah! man sieht die Sonne! – fragt sie respektvoll:

»Will Monsieur Poum seine Schokolade nehmen?«

Ja, Monsieur Poum willigt ein … Wenn man auch groß ist, so schmeckt eine Schokolade trotzdem herrlich. Und war Poum gestern abends nicht in der Küche gewesen, um mit Marianne eine Besprechung zu haben? Er hatte ihr eingeschärft:

»Marianne! Morgen ist mein Geburtstag. Sie werden drei Täfelchen für die Schokolade nehmen, nicht wahr?«

Und Marianne hat es versprochen.

Poum schlürft schon im Geiste den köstlichen Duft ein – und da kommt ja auch Berta! Die Tür öffnet sich leise, die Wundertasse erscheint, es steigt aus ihr ein leichter Dunst und Poum sieht auf der Platte einige geröstete Brötchen. Ah, ganz entschieden, nichts läßt sich mit der Schokolade vergleichen, wie sie Marianne zu bereiten weiß, eine dicke, schaumige, süße Schokolade … ah, welch ein Duft!

»Geben Sie schnell, Berta! Schnell!«

Entsetzen! Es ist eine grüne Brühe aus Gemüsen! Wer hat den Einfall gehabt, dieses gräuliche Mischmasch Poum zu schicken?

»Ihre Mama! Deshalb brauchen Sie mich nicht mit den Augen eines abgebrühten Stichlings anzustarren, Monsieur Poum! Monsieur Poum verträgt die Schokolade nicht, sie erhitzt ihn zu sehr. Monsieur Poum hat einen unreinen Teint, eine belegte Zunge (Poum streckt ihr in seiner Wut wirklich die Zunge heraus) und was sehe ich an der Nasenspitze von Monsieur Poum? Einen Mitesser, einen großen Mitesser Es ist der Frühling, Monsieur Poum wird gut daran tun, die Suppe zu trinken, sie ist sehr gut.«

Und Poum schluckt mit schrecklichen Grimassen wirklich die Brühe hinunter. Es gibt keine Gerechtigkeit! Die armen Söhne werden martyrisiert. Aber Poum wird wenigstens zeigen, daß er Mut und Selbstverachtung besitzt; stoisch, stillschweigend trinkt er die Tasse leer, er ist edler als seine Henker; die Tasse ist leer – Puahhh!

»Nun, Monsieur Poum, auf! Heute ist Festtag. Sie werden die schönen Kleider anlegen, um zur Messe zu gehen.«

Poum nickt mit dem Kopf. Ja, ja, er weiß. Heute ist Palmsonntag. Seine Mama hat es ihm vor einigen Tagen erklärt. Und er erklärt nun der unwissenden Berta:

»Wissen Sie auch, Berta? Das Fest des Heilandes, Königs der Juden, als er in eine Stadt einzog, die – wie hieß sie denn: Mathusalem?«

»Nein, Jerusalem!«

»Das ist ja dasselbe! Er saß auf einem Esel, einem kleinen, grauen Esel, ganz ähnlich unserem alten Mustapha, und alle Leute, die feinen Herrn und Damen, die Offiziere und auch die Stallburschen, hatten Palmzweige und schrien: Oh! La la la.«

»Nein, Hosiannah!«

»Ja, und deshalb heißt es Palmsonntag.«

Poum hält ein und wartet bescheiden auf ein Kompliment.

»Wenn sie so mit den Beinen strampeln, kann ich ihre Schuhe nicht zuknöpfen!«

Poum lächelt nachsichtig. Berta hat gar nichts begriffen! Es war zu hoch für sie. Er schweigt stolz, aber dann taucht ihm doch ein leiser Zweifel auf.

»Sagen Sie, Berta, ist es derselbe Jesus, der zu Weihnachten die schönen Sachen im Kamin niederlegt?«

»Ganz sicher, Monsieur Poum!«

»Und ist es auch derselbe, der in der kommenden Woche sterben wird und für den man in der Kirche singt, die ganz violett ausgeschlagen ist?«

»Ja, Monsieur Poum!«

»Ich wußte es!« (Poum wird unruhig. Kann denn Berta diese Schuhe nicht endlich fertig knöpfen?!)

»Heute ist Palmsonntag« fährt sie fort. »Morgen beginnt die heilige Woche, Donnerstag fliegen die Glocken fort, Samstag kommen sie wieder und nächsten Sonntag – ah, Monsieur Poum!«

»Nächsten Sonntag bekomme ich ein Osterei!«

Und Poum hüpft durch das Zimmer, in die Hände klatschend. Aber Berta verdirbt ihm die Freude.

»Sie vergessen, Monsieur Poum, daß der liebe Gott nur die artigen Kinder beschenkt!«

Poum lächelt ungläubig. Und während ihn Berta kämmt, sagt er in einem entschiedenen Ton:

»Der liebe Gott kann diese Geschenke nicht ganz allein besorgen, er gibt seine Aufträge den Eltern. Großpapa Vernobre weiß, daß er mir ein Schaukelpferd kaufen muß.«

»So ein Frevel!« entrüstet sich Berta. »Sie würden verdienen, daß Sie zu Weihnachten nichts im Kamin vorfinden. Wenn die Glocken dies gehört hätten, würden sie Ihnen nichts mitbringen. Nichts! Nichts!«

Was schwätzt denn diese Berta? Poum sieht sie von der Seite an. Für wen hält sie ihn denn? Die Glocken … das ist doch schon lange nicht wahr, das war gut genug, als er sieben Jahre zählte, aber heute ist er aufgeklärt!

Aber Poum ist trotzdem seiner Sache nicht so sicher, man hat es ja erlebt, daß …

Berta fährt fort:

»Vorwärts, ziehen Sie die Hose an. So, wenn sie erst dreitausendsiebenhundertfünfzig Tassen mit Gemüsebrühe getrunken haben, dürfen Sie etwas reden!«

»Es ist wahr, Berta? Die Glocken gehen fort?«

»Natürlich, Monsieur Poum! Donnerstag müssen sie sehr früh aufwachen, dann werden Sie die Glocken in langen Reihen davonfliegen sehen, die kleinen, die mittleren, die großen, sie gehen nach Rom. Aber man muß gut aufpassen, denn sie fliegen ganz geräuschlos.«

Das ist ja möglich. Poum sagt sich, daß es ja so viel geheimnisvolle Dinge gibt, die man sich nicht erklären kann. Hat man ihm nicht erst gestern gesagt, daß ein umgestürztes Salzfaß Unglück bringt? Und nichts ist so schrecklich wie ein Spiegel, den man zerbricht …

Poum wird nachdenklich.

»Sie haben wiederum an den Nägeln gekaut, Monsieur Poum« sagt Berta. »Ich glaube, daß Ihnen die Glocken diesmal einen Topf mit Senf mitbringen werden, in den man Ihre Finger stecken wird!«

»Und warum fliegen sie denn fort, die Glocken?«

»Weil sie traurig sind, wegen dem Tod des Heilandes. In Rom beten sie fleißig; dann, als sie es wissen, daß Gott wieder auferstehen wird, kommen sie zurück und singen dabei: Bing! Bang!

Jede findet ihren Turm wieder und wenn sie über die Gartenbeete fliegen, so schütteln sie sich und man findet dann gefärbte Eier.«

Dies ist ja wahr! Aber die Glocken konnte er damals nicht sehen, weil er gar zu eifrig mit dem Eiersuchen beschäftigt war.

»Und warum beeilen sich denn die Glocken so sehr?« fragt er.

»Man weiß es nicht genau, die einen behaupten, daß sie sich ihrer nackten Beine schämen, die anderen, daß sie sich fürchten, sich auf der Reise zu verkühlen.

So, nun sind Sie fertig! Neun Uhr! Sehen sie sich einmal in den Spiegel!«

Und während Berta die Fensterflügel weit öffnet, betrachtet Poum seinen weißen Kragen, das Samtkostüm, dann läuft er zum Fenster und lacht fröhlich zum blauen Himmel hinauf. Ein fröhliches Glockenklingen kam von unten herauf, aus der Richtung, wo die Kirche steht, und auf dem Boulevard sieht man die jungen Blätter der Bäume und die Händler mit den Palmkätzchen, deren bittersüßen Duft Poum bis zu sich herauf zu spüren vermeint.

 

XXXII.
Poum ist Verliebt!

Poum ist seit einigen Tagen sehr träumerisch.

Berta sagt ihm jedesmal, wenn sie ihn entkleidet: »Monsieur Poum, Sie sind verliebt!« Und es ist wahr! Poum verschlingt nicht mehr mit der früheren Gefräßigkeit die guten knusprigen Sachen, die Marianne zu fabrizieren weiß. Poum läßt sich geduldig die Nägel feilen. Er stampft nicht mehr mit den Füßen, wenn ihn Berta kämmt, er verlangt sogar, daß sie ihm den Scheitel haargenau zieht – und er schmiert sich bei jeder Gelegenheit, wenn er sich unbeachtet sieht, Pomade auf die Haare.

Mit einem Wort: Poum will gefallen!

Zette ist die Zauberin, die diese Wandlung bewirkt hat. Poum hat vor einer Woche entdeckt, zum erstenmale, wie teuer ihm seine Freundin ist. Bis dahin war sie für ihn nur eine Spielgefährtin, ein Kamerad, mit dem man sich nicht geniert, ein Freund in Mädchenkleidern, etwas mehr kindisch, mehr phantastisch, weniger intelligent – nun ja, ein Mädchen! – aber ein nettes Ding trotz alledem! Es ist ja schon so lange her, daß Poum sie kennt, die Kleine der Familie de Falcord! Aber niemals, auch nur im entferntesten, hatte er sich einfallen lassen, wahrzunehmen, daß Zette mit ihren neun Jahren ein wirkliches Fräulein geworden ist, daß sie eine so sanfte Haut, so herrliche weiche und honigblonde Haare, so braune Augen hat – Augen wie Kastanien, deren Blick einen ganz drollig macht …

Es war eines Vormittags bei Großmama Theodosie, daß Poum diese Entdeckung machte. Und in welcher Weise? Ganz einfach – so eine lange Spargelstange, die sicherlich nur Möhrensaft in den Adern hat, der junge Gaston du Trasoir, wich Zette nicht von der Seite! Ah, wie Poum diesen Dummkopf verachtet, der den Adeligen spielt, weil er vor seinen Namen ein »du« setzen kann und weil seine Eltern durch den Verkauf von Flanellhemden eine Million jährlich verdienen! …

Und diese Zette! Sie sprach beständig nur mit Gaston, sie gab sich den Anschein, als würde sie Poum gar nicht kennen, sie hat ihm sogar den Rücken gedreht, als er ihr den Teller mit kleinen Kuchen anbot! Und dies alles nur aus dem Grunde, weil sich Poum geweigert hatte, mit Zette »verheiratetsein« zu spielen! Ein Spiel, das Zette erfunden hatte und das darin bestand, daß Poum die Bestellungen ausführen mußte, die Lieferanten auszahlte, die Schleppe von Zette trug, Zette einen neuen Hut kaufte.

Seit jenem Tage ist Poum sehr traurig. Alles langweilt ihn. Es mag draußen noch so schön und sonnig sein, der Himmel erscheint ihm grau und düster, düster sind auch die Bäume im Schmuck ihrer frischen Blätter, grau erscheint ihm auch die Sonne … Sein Herz drückt ihn, es quillt über von Groll, Sehnsucht und Bitterkeit. Seine Spielsachen liegen verlassen in einer Ecke. Sein neues Kleid als Kavallerieleutnant hängt unbeachtet im Kasten. Und selbst die Bücher, in denen sich Poum für gewöhnlich an wunderbaren Abenteuern berauscht und auf alles um sich her vergißt, sie verstauben in der Tischlade!

Noch nie hat Poum derartiges empfunden. Niemals, selbst in jener Zeit, da er sich in dem großen Garten, dem Garten seiner Kindheit, an die Röcke von Mad klammerte. Ah, Cousine Mad! Die gute Fee, die ihn tröstete, wenn er traurig war, die durch ein Wort seine Betrübnis in Lachen wandelte, die seine Tränen durch einen Kuß trocknete! … Auch Mad hatte eine zarte Haut, hatte so feine, goldige Seidenhaare, blaue Augen, deren Blick wie eine Schmeichelei war … Cousine Mad! Die erste Frau Poums, die er heiraten sollte, wenn er einmal groß war! Aber Poum hatte sich damit nicht allzusehr beeilt und Mad hatte einen anderen geheiratet! Und sie ist heute nicht mehr in Paris, sie ist mit ihrem Manne fortgezogen! Zette hat gar keine Ähnlichkeit mit Mad. Zette ist ein böses Ding. Aber sie kann einen so nett ansehen, wobei sie lächelt, daß man weinen könnte. Poum betet sie an und Poum haßt sie.

*

Vier Uhr … Zette wird bald kommen. Es ist Empfangstag bei der Mama Poums. Madame de Falcord wird Zette zum Tee mitbringen und man erwartet auch – Poum träumt von einem Mord! – den jungen Gaston du Trasoir. Ah, wenn diesen Jungen die Cholera hinwegraffen könnte! …

Alles ist bereit. Das Personal des Marionettentheaters, neu gekleidet, ist gegen eine Kulisse gereiht. Kolombine scherzt mit dem Gendarm, Pierrot betrachtet den Richter mit spöttischer Miene. Es gibt da auch noch ein neues Spiel, der Gänselauf, wobei man sich köstlich amüsieren kann, und dann ein Paar neuer Pferdezügel aus gelbem Leder, mit Glöckchen aufgeputzt.

Die Klingel schrillt … Ah, da ist ja Zettel Poum stürzt in den Salon. Sapristi! Es sind die drei alten Fräuleins Hermenet! Sie sind der Schrecken Poums, weil sie ihn alle drei der Reihe nach abküssen, und sie haben so spitze Nasen, so dünne und kalte Lippen! Er begrüßt Madame de Falcord. Ah, wie rot sie heute ist! Es ist sicher, sie wird eines Tages zerspringen wie ein Ballon!

Poum hat Zette bei der Hand genommen und beide gehen davon, ohne etwas zu sagen, wobei sie einander verstohlen betrachten.

Zette trägt ihre hübsche Robe aus violetter Seide. Sie hat auch einen Hut und lila Strümpfe und feine Lackschuhe. Was riecht denn gar so gut? Sind es die Kleider von Zette oder die Seife, mit der man sie gewaschen hat? Ah, lieber Gott! Welch feiner Duft! Es ist parfümiert wie das frische Heu auf den Wiesen, so süß, so durchdringend, daß einem das Herz schlägt.

Zette ist heute gut aufgelegt. Sie nimmt ihren Hut ab und erklärt sich bereit, mit Poum zu spielen, welches Spiel er auch wünsche. Nur das eine macht sie zur Bedingung: sie will ihr neues Kleid nicht zerdrücken, sie will weder laufen, noch sitzen, noch Poum bei irgendetwas helfen, aber sonst ist sie zu allem bereit!

Na, das ist ja gut, Poum hat verstanden. Er weiß ganz gut, was Zette will. Er wird die Ehre haben, vor ihr eine neue Komödie aufzuführen, eines dieser Stücke, das sein fruchtbares Genie ersonnen hatte. Achtung! Der Vorhang hebt sich, Zette braucht nur zuzuhören!

Aber Zette protestiert. Nein! Sie will keine Marionetten! Sie kennt schon alle Stücke Poums! Sie findet diese Stücke langweilig und idiotisch! Poum ist ein schlechter Schauspieler, ein mittelmäßiger Autor. Nein, nein, kein Theater! Etwas anderes!

Etwas anderes? Gut, nach Belieben! Poum ist furchtbar gekränkt, aber er stellt sich ungemein erhaben und gleichgültig gegenüber solchen Launen. Aber er weiß, was sich gehört, er ist der Sohn des Hauses und er muß Zette sehr höflich behandeln.

Man wird sich nicht in ihm täuschen, er kennt seine Pflichten.

Man wird also Pferdchen spielen, die Zügel liegen bereit. Zette wird sich die Zügel anlegen lassen, Poum nimmt die Peitsche und »clac! clac!« Man möchte glauben, daß man sich auf dem Jahrmarkt befindet, man dreht sich im Zimmer rundum im Kreise, es ist furchtbar lustig! Hü, Schimmel!

Diesmal wird Zette zornig. Poum ist wirklich stupid! Wie kann man nur an ein so törichtes Spiel denken, bei dem einem heiß wird und bei dem man sich das Kleid verknittert! Poum möge allein Pferdchen spielen, wenn es ihm beliebt! Etwas anderes! befiehlt sie sehr kühl. Dies ist ein Spiel für die kleinen Jungen, aber nicht für ein Fräulein! …

Etwas anderes? Zette ist wirklich sehr anspruchsvoll.

Vergeblich schlägt Poum, der sehr beleidigt ist, sich aber beherrschen will, ein anderes Spiel vor. Und er sagt sich auch im stillen eine Phrase, die er gestern von Berta gehört hatte: »Ein Verliebter muß galant sein!« Ist es wirklich notwendig? Berta kann sich ja täuschen. Dann ist es ja nicht der Mühe wert, ein Mann zu sein, wenn man immer den Launen der jungen Mädchen nachgeben muß!

Und beide beginnen zu schmollen. Zette greift mit großer Würde nach einem Buche, Poum, mit überlegener Miene, ordnet die Marionetten in ihrer Schachtel.

Jeder gibt sich den Anschein, die Anwesenheit des andern zu ignorieren. Zette vertieft sich in ihre Lektüre, Poum pfeift vor sich hin.

Von Zeit zu Zeit wirft Zette ihrem Opfer einen listigen Blick zu. Sie ist ganz bereit, in Lachen auszubrechen, wenn Poum sie auch ansieht, aber er blickt von seiner Beschäftigung nicht auf. Er leidet, er ist sehr unglücklich. Zette fühlt dies und sie ist ihm deshalb nicht mehr böse.

Dzing! Die Glocke! Das muß die Spargelstange sein! Und in der Tat! Nach einer Weile tritt der junge Gaston ein. Poum und Zette blicken gleichzeitig nach ihm.

Zette ist sichtlich sehr schmeichelhaft berührt. Auf der Schwelle macht Gaston eine tiefe Verbeugung, sehr korrekt, die Beine geschlossen, den Oberkörper nach vorne gebogen. Er ist blau gekleidet. Ah, wie eingebildet er dreinsieht! Seht euch einmal diese Spargelstange an! Ein Gesicht wie aus Kartonpapier, mit Sommersprossen besäet … und dieses Flachsbüschel auf dem Kopfe, man denkt an einen Vogel Strauß! Poum schnaubt vor Entrüstung.

*

Hat Zette diese Entrüstung gefühlt, oder ist sie für den Vogel Strauß von einer plötzlichen und unwiderstehlichen Sympathie erfaßt? Sie steht auf, läuft auf Gaston zu, klatscht in die Hände, kann sich nicht genug tun an Freudesprüngen und Liebenswürdigkeiten. Poum macht eine sehr komische Figur, aber er kann doch als Sohn vom Hause nicht hinter Zette zurückbleiben! Er verneigt sich, er sagt mit Zungengeläufigkeit einige verbindliche Phrasen, aber es schmeckt wie Honig mit Essig!

Übrigens hört Gaston gar nicht auf ihn! Er hat bloß kühl und herablassend gelächelt, was die Wut Poums unsagbar steigert. Und Zette hat die Grausamkeit, wiederum gänzlich zu vergessen, daß Poum ebenfalls anwesend ist. Sie wendet sich ausschließlich an Gaston, sie hat nur Augen für ihn … die Kokette! Sie wirft ihm diese kurzen, zärtlichen und bewundernden Blicke zu, die bisher für Poum aufgespart waren, und Poum fühlt, wie sein Herz bricht. Seine Verzweiflung ist grenzenlos. Es ist also alles aus! Zette hat ihn verraten! Ah, das Leben, ein schreckliches, empörendes Los! Aber man muß sich beherrschen. Und trotzdem Poum eine Beute der düstersten Gedanken ist, lächelt er, ein krampfhaftes Lächeln.

Aber was geschieht jetzt? Poum glaubt zu träumen. Zette zieht die ecklige Spargelstange zum Fenster! Sie setzen sich Seite an Seite. Sie nehmen ein Bilderbuch zur Hand. Sie drehen die einzelnen Blätter gemeinsam um, und Poum erblickt das verhaßte Gesicht seines Rivalen ganz dicht an der Wange von Zette. Der Flachsbusch mengt sich mit den goldigen Seidenhaaren! …

Dies ist zu stark! Poum ist zu Mute, als würde er durch einen blutigen Nebel blicken … Man stiehlt ihm also sein Hab und Gut? Man betrügt ihn!? Ah – und mit einem wütenden Satz springt er auf die Gruppe los, reißt das Bilderbuch an sich … wirft es weit weg … und greift wie ein Rasender den verblüfften Gaston an … Feuerrot im Gesicht, mit zusammengebissenen Zähnen, die Lippen vor Wut eingezogen, klammert sich Poum stillschweigend an seinen Nebenbuhler. Er schüttelt ihn, er pufft ihn, er bedenkt ihn mit Fußtritten. Unter diesem unerwarteten Ansturm wehrt sich die Spargelstange aus allen Kräften. Zette sieht zu, erschreckt, stumm …

Der Kampf ist im vollen Gange. Ein blutdürstiger Wahnsinn hat sich beider Gegner bemächtigt. Sie sind eng umschlungen, rücken vor, weichen zurück, stoßen sich an den Wänden. Und Poum schlägt wie rasend zu. Bum! Eine auf die Nase! Bum! Eine in den Magen! Bum! Bum! Er schlägt immer zu. Gaston wehrt sich, die kleinen Fäuste heben sich, sausen nieder, aber die Spargelstange ist im Nachteil. Poum, wie siegberauscht, packt seinen Rival beim Schopf. Ah! Der Flachsbusch! Verkoste einmal! Da! Da! Endlich bekennt sich Gaston besiegt. Er beginnt zu schreien, und Zette quiekt zum Erbarmen, schluchzt und schreit.

Die Mütter stürzen herein. Die dicke Madame de Falcord gluckt wie eine aufgescheuchte Henne. Madame du Trasoir sieht furchtbar beleidigt drein. Und die Mama Poums? Natürlich ist sie sehr zornig. Und schließlich, inmitten von Tränen, abgebrochenen Worten, trotzigem Schweigen klärt sich alles auf: Poum ist der Schuldige, er wollte mit seinen Freunden nicht spielen! Ah, das ist schön! Er wird eine Woche hindurch kein Dessert bekommen. Aber man bittet für ihn: »Oh, liebe Freundin, ich bitte Sie.« – »Nein Madame, wirklich.« Aber Poum muß sich entschuldigen! Und man trocknet die Gesichter der drei, und man empfiehlt ihnen, sich schön zu vertragen. Und die Mamas gehen wieder …

Und in dem Zimmer, das der Schauplatz dieses Kampfes war, verkostet man eine Viertelstunde später ein erhebendes Schauspiel.

Inmitten der umgestürzten Stühle sind Gaston und Poum, die sich versöhnt haben, als Pferde aufgezäumt, stampfen und wiehern, die glöckchenbesetzten Riemen um den Hals. Jeder hat eine Springschnur um die Mitte gebunden, was ihnen ermöglicht, einen Stuhl zu ziehen, in dem Zette thront, triumphierend. Sie hält mit einer Hand die Zügel und die Peitsche, in der andern ihren aufgespannten Sonnenschirm, und sie lacht, ein silbernes Lachen, voll von Freude und einer unbewußten Grausamkeit …

 

XXXIII.
Die Berufswahl

Poum ist sehr traurig. Seitdem ihm Papa gesagt hat: »Mein lieber Poum, Du wirst in das Lyzeum eintreten, es ist höchste Zeit, daß Du ernstlich an das Studium denkst und Dich für den Beruf vorbereitest, den Du später wählen wirst!« – seit dieser Stunde träumt Poum von lauter niederdrückenden Dingen. Er hat Lust zu weinen. Es ist September, es regnet, und es scheint ihm, als ob September für ihn weinen würde; die großen Regentropfen, die an den Fensterscheiben niederrollen, sind lauter Tränen von Poum.

Warum muß er einen Beruf wählen? Es war so schön bisher, nichts zu denken, außer Spiel und Vergnügen und Essen! Und nun muß er einen Beruf ergreifen. Man hat ihm erklärt, daß er sich später eine Position schaffen müsse.

Zu diesem Behuf müsse er im Lyzeum seine Studien machen. Wenn er damit fertig wäre, so könnte man ja überlegen, was aus ihm würde: Offizier, Ingenieur, Advokat, Arzt. Dies ist doch zu dumm, daß man deshalb ins Lyzeum muß!

Poum kennt es ja, dieses Lyzeum. Es sieht aus, wie ein Gefängnis: Große Mauern, breite Gänge, kahle Höfe. Studiersäle, mit schwarzen Bankpulten, die den Anschein haben, als würden sie sich grimmigst langweilen.

Papa hatte ihn mitgenommen, als er dem Direktor einen Besuch machte. Als man in das große Arbeitszimmer eintrat, woselbst es grünbezogene Mahagonimöbel gab (es roch alles so eigentümlich nach Spinat!) war der Direktor eben dabei, einen kleinen, verbissenen Herrn abzukanzeln, der sich aber nichts gefallen ließ und ihm grimmig widersprach. Es war der Lyzeumsverwalter, wie Papa später erklärte.

Als der Direktor die Ankommenden sah und den Papa Poums erkannte, hatte er sich in der beunruhigendsten Art verwandelt: er lächelte, als wenn er das duftigste Sommerlüftchen verspüren würde, sein Lächeln war so breitspurig, als hätte er türkischen Honig im Munde! Er hatte Poum in einen Stuhl gedrückt, er hatte ihn mit einer Zärtlichkeit betrachtet, als hätte ihm Poum eine Erbschaft von hundert Millionen überbracht. Sofort hatte er nach dem Klassenvorstand geschickt und hatte ihm Befehl gegeben, den Besuchern das Lyzeum zu zeigen.

Poum, durch solche Höflichkeit sehr gerührt, hatte sich umgedreht, als der Direktor hinter ihnen die Tür schloß und er hatte einen Blick erhascht, der an einen Tiger gemahnte, den man im Zerfleischen seiner Beute gestört hatte … Es war eine schreckliche Grimasse, aber als der Direktor den Augen Poums begegnete, grinste er wiederum in scheußlicher Freundlichkeit. Ah, daß mußte kein sanfter Herr sein! …

Man folgte jetzt dem Herrn Klassenvorstand. Das roch immer mehr nach Spinat! Man sah die Schlafsäle, den Arbeitssaal, das Refektorium, die Wäschekammer. Man zeigte Poum alles, man öffnete sogar die kleinen Schränke, in denen jeder Schüler seine Kleider und Wäsche verschließt, man öffnete sogar ein Nachtkästchen. Aber der Herr Professor schloß es schnell wieder, denn ein Schüler hatte augenscheinlich vergessen …! Und man besucht auch den Krankensaal. Und überall riecht es nach Spinat. Dies ist auch nicht erstaunlich, denn als man in die Küche kommt, sieht Poum, daß zwei dicke und schrecklich schmutzige Köche in einem riesigen Kessel eine grüne Masse umrühren und quirlen.

»He? Poum, wenn man dies alles essen sollte!« scherzte Papa.

Er drehte sich zu dem Professor und erklärte ihm: »Er liebt Spinat gar nicht.«

Der Herr Professor hebt die Augen zum Himmel, mit einem ungläubigen Lächeln: »Wie ist es möglich, daß man Spinat nicht lieben kann?!«

Und dann versichert er: »Er wird sich schon gewöhnen, er wird Spinat sehr gerne essen, man liebt den Spinat des Lyzeums!«

Poum, sehr düster, beißt die Zähne zusammen, schließt hermetisch den Mund. Das sollte Spinat sein! …

Und zwischen diesen Mauern soll er aufwachsen! Hier soll er mit anderen Kameraden leben! … Werden sie nett sein mit ihm? Man hatte in einem der Korridore einen Trupp begegnet, unter der Führung eines Aufsehers. Als die Jungen an Poum vorbeikamen, hatte ein Großer gegrinst, ein Kleiner verdrehte die Augen, ein Dritter hatte den Mund verzerrt. Die anderen sahen ebenfalls nicht gutmütig drein, und der Letzte sah ihn an, als wollte er ihm die Nasenspitze abbeißen! …

Dies alles, um sich eine Position zu schaffen?! … Was für eine Position? Was könnte Poum werden? Oberst? Kaufmann? Krämer? Schneider? Orgelmacher? Maler? Das letztere wäre lustig, beständig mit Farben zu hantieren …

Und Oberst zu sein, wie Papa, dies wäre ebenfalls nicht ohne! Man kommandiert sehr viel und alle Leute antworten:

»Jawohl, mein Oberst! Sicherlich, mein Oberst!«

Poum erinnert sich an andere Träume, die er hegte, als er klein war. Dies war zum Lachen! Er wollte Kaiser sein, so mir nichts, dir nichts … oder Zuckerbäcker …

Aber heute muß Poum an erreichbarere Dinge denken.

»Poum, möchtest Du Professor sein?«

Ah, nein! Tausendmal nein! Poum denkt an seinen Privatlehrer, an den Papa Moinot. Beständig die Vokabeln wiederholen lassen, oder das Einmaleins, dabei Tabak schnupfen, ein Tröpfchen an der Nase baumelnd, wird es fallen? Wird es nicht fallen? Da, es ist schon gefallen.

Nein, Poum sieht sich nicht als Professor!

»Poum, was würdest Du sagen, wenn Du Arzt würdest?«

Da hätte er eine Menge kleiner Messer und Scheren, um in dem Fleisch der Patienten herumzuschneiden, um Pillen zu verschreiben, um den Puls zu fühlen, dabei rufend: »Zeigen Sie die Zunge!«, wie es der rosige und dicke Herr Ripert tat. Das ist höchstens gut, um sich eine Viertelstunde lang zu belustigen, und vielleicht hätte man Gelegenheit, dem ekligen Gaston einige Arsenikpillen und zerstoßene Kröten zu verschreiben. Aber sein ganzes Leben Arzt zu sein, Brrr!

»Warum solltest Du nicht Ingenieur werden, Poum?«

Das vielleicht, das stimmt zu seinem Geschmack an Erfindungen, man könnte Gärten anlegen, Festungen, Brücken, könnte Berge durchbohren, Viadukte errichten, Schiffe konstruieren. Aber ist das nicht ein bischen zuviel auf einmal? Poum bricht in Schweiß aus, da er nur daran denkt.

»Ein Matrose vielleicht, Poum? Ein Admiral?«

Sicherlich, aber nicht auf dem Meere, denn das Meerwasser ist allzu salzig. Und dann muß man schwimmen können. Und Poum dürfte sicherlich die Seekrankheit bekommen. Und dann müßte man zu den Wilden gehen, die einen spießen und braten, man riskiert auch, von einem Haifisch verschlungen zu werden – nein, nein, dies ist gar nicht drollig!

Poum wäre gerne ein kanadischer Trapper, ein Bisonjäger, aber er hat Furcht, daß ihn ein Siouxindianer skalpieren könnte.

Er möchte Soldat sein, aber unter der Bedingung, daß er die Feinde tötet, daß man ihn aber am Leben läßt.

Was ihn erstaunt, ist, daß manche Leute Bankiers sein wollen. Was hat man denn von dem vielen Golde? Das glänzt bloß, dies ist alles!

Was wird also aus ihm werden? Man weiß es nicht, er befindet sich sozusagen noch im Ei, er kann alles oder nichts werden: ein Enterich oder ein Adler! Er betrachtet sich vergeblich im Spiegel, stellt sich vor, wie er mit Schnurbart, Augengläsern und einem Zylinder aussehen würde. Er wird dann auch Zigarren rauchen. Wird er verheiratet sein? Und mit wem? Mit Zette? Das wäre lustig!

Und während sich Poum dergestalt an ferne Horizonte verliert, tritt seine Mama in das Zimmer, gefolgt von einem alten häßlichen Mann, der einen neuen Anzug in einer grünen Leinwandhülle trägt:

»Deine Lyzeumuniform, Poum!«

Man probiert den Anzug. Poum ist sehr stolz, die Knöpfe blitzen, der Stoff ist weich, die Hose hat einen roten Streifen an der Naht. Die Jacke hat einen militärischen Zuschnitt und das Käppi ist beinahe so, wie das eines Artillerieoffiziers. Aber die Ärmel zwicken ihn etwas unter der Achsel, die neue Hose ist zu unbequem, Poum fühlt sich sehr beengt durch diesen schönen neuen Anzug.

»Marschiere ein wenig!« sagt Mama.

Poum geht auf und ab und möchte Augen auf dem Rücken haben, um sich zu bewundern.

Die Anprobe ist beendigt. Poum legt seine gewohnten Kleider an. Ah, wie wohl er sich darin fühlt! Wie sie sich an ihn schmiegen! Eine unbekannte Traurigkeit durchdringt ihn, wie eine schmerzende Lanze. Er muß so vieles verlassen … er wird so viel verlieren, Mama, Zette, Berta, das Puppentheater, die Spielsachen …

Seine Brust hebt sich stürmisch, es ist ihm, als müßte sein Herz brechen, und er beginnt zu schluchzen:

»O, Mama, warum muß ich ins Lyzeum gehen!?«

Sie nimmt ihn in ihre Arme, sehr gerührt:

»Damit Du ein Mann wirst, Poum! Deine Kindheit ist zu Ende! …«

 

Ende