Die kürzlich stattgefundenen Hinrichtungen erinnern mich an eine ganz ungewöhnliche Geschichte, die ich hier mitteile.
Es war am Abend des 5. Juni 1864, gegen sieben Uhr, als der Dr. Edmond-Desire Conty de la Pommerais, den man vor kurzem erst von der Conciergerie nach la Roquette gebracht hatte, mit der Zwangsjacke bekleidet in der für die zum Tode Verurteilten bestimmten Zelle saß. Schweigend und starren Auges vor sich hinstierend lehnte er sich an die Rücklehne seines Stuhles. Der Schein einer auf dem Tische stehenden Kerze fiel auf sein bleiches, kalt dreinsehendes Gesicht. Zwei Schritte von ihm stand an die Mauer gelehnt ein Wärter, der ihn unausgesetzt beobachtete. Fast alle Gefangenen werden dazu gezwungen, eine bestimmte Tagesarbeit zu verrichten, von deren kargem Lohn die Gefängnisverwaltung zuerst die Kosten für das Leichentuch bestreitet, das sie nicht zu liefern braucht. Nur die zum Tode Verurteilten sind von dieser Verpflichtung entbunden.
Der Gefangene war einer von diesen, die sich nicht in die Karten sehen lassen, man las in seinem Blicke weder Furcht noch Hoffen.
Er war vierunddreißig Jahre alt, brünett, von mittlerer Größe und auffallend schlank gewachsen, das Haar an seinen Schläfen fing in letzter Zeit leicht zu ergrauen an. Seine Augen hatten einen nervösen Ausdruck und waren halb von den Lidern bedeckt, seine Stirn war die eines Denkers. Seine Stimme hatte einen trockenen gedämpften Klang. Seine Hände waren lang und nervös. Sein Gesicht trug den gemessenen Ausdruck eines selbstbewußten Mannes. Seine Manieren waren von einer gewissen einstudierten Eleganz; – so war die äußere Erscheinung des Verurteilten.
Man erinnert sich gewiß, daß bei den letzten, an der Seine stattgefundenen Schwurgerichtsverhandlungen es Herrn Lachaud diesmal nicht gelungen war, den dreifachen Eindruck zu zerstören, den die Anklage, die Debatten und endlich der Strafantrag des Staatsanwaltes, Herrn Oskar de Vallées, auf die Geschworenen gemacht hatten. Herr de la Pommerais war angeklagt worden, aus habsüchtigen Gründen und mit voller Überlegung eine ihm befreundete Dame – Frau de Pauw – durch überstarke Digitalisdosen vergiftet zu haben und da die Geschworenen ihn schuldig befanden, war er nach den Paragraphen 301 und 302 des Code Napoléon zur Strafe der Enthauptung verurteilt worden.
An dem Abend jenes 5. Juni 1864 wußte er noch nicht, daß sein Revisionsgesuch sowie die Bitte seiner Verwandten um eine Audienz bei dem Kaiser, bei der sie dessen Gnade anrufen wollten, abschlägig beschieden war. Sein Verteidiger war glücklich gewesen, und hatte Zutritt bei seiner Majestät erlangt, aber der Kaiser hatte ihn nur zerstreut angehört. Selbst der ehrwürdige Abbé Crozes, der vor jeder Hinrichtung in die Tuillerien eilte, um Gnade für den Verurteilten zu erflehen, war ohne Antwort zurückgekehrt. – Hieß es aber auch wirklich nicht die Todesstrafe abschaffen, wenn man sie unter solchen Umständen nicht zur Anwendung brachte? Es mußte ein Exempel statuiert werden. Da nach der Ansicht des Gerichtshofes von einer Wiederaufnahme des Prozesses keine Rede sein konnte und man die Bestätigung des Urteils jeden Augenblick erwartete, wurde Herr Hendreich davon benachrichtigt, daß man den Verurteilten am neunten des Monats, morgens um fünf Uhr, seinen Händen übergeben würde.
Plötzlich ertönte das Geräusch der von den Schildwachen aufgesetzten Gewehrkolben von den Steinquadern des zu der Zelle führenden Ganges. Der Schlüssel knirschte in dem rostigen Schlosse; die Türe öffnete sich; Bajonette schimmerten in dem Halbdunkel; der Direktor der Roquette, Herr Beauquesne, erschien, von einem Besucher begleitet, auf der Schwelle.
Herr de la Pommerais erhob den Kopf und erkannte bei dem ersten Blick in diesem Gaste den berühmten Chirurgen Armand Velpeau.
Auf einen Wink des Direktors ging der Wächter hinaus. Nach einer stummen Vorstellung zog auch Herr Beauquesne sich zurück, die beiden Kollegen befanden sich allein und blickten einander forschend ins Auge. Schweigend bot La Pommerais dem Arzt seinen eigenen Stuhl an und setzte sich selbst auf die Pritsche, von der die Schläfer meist jäh aus dem Schlafe auffahren. Da es ziemlich dunkel war, trat der große Arzt dicht zu dem... Kranken heran, um ihn besser beobachten und mit leiser Stimme mit ihm plaudern zu können.
Velpeau hatte um jene Zeit das sechzigste Jahr erreicht. Er stand auf der Höhe seines Ruhmes, war Erbe des Sessels Larreys im Institut und der erste und bedeutendste Professor der chirurgischen Klinik von Paris. Seine Arbeiten zeichneten sich durch ihre überzeugende Klarheit und ihre lebendige Darstellung aus und hatten ihn zu einer Leuchte der pathologischen Wissenschaft gemacht, auch als Praktiker galt er für eine der hervorragendsten Autoritäten des Jahrhunderts.
Nach einem Momente frostigen Schweigens begann er: »Mein Herr«, sagte er, »unter uns Ärzten muß man überflüssiges Beileid vermeiden. Außerdem bin ich an einem unheilbaren Drüsenleiden erkrankt, das unfehlbar in zwei, höchstens zweieinhalb Jahren meinen Tod herbeiführen muß. Wenn also die verhängnisvolle Stunde für mich auch etwas später erscheint, wie für Sie, so rechne ich mich nichtsdestoweniger zu den zum Tode Verurteilten. Ich möchte daher ohne weitere Umschweife von dem reden, was mich hierherführt.«
»Nach diesen Worten zu schließen, ist meine Lage – – verzweifelt, Doktor?« unterbrach ihn La Pommerais. »Man fürchtet es«, antwortete Velpeau einfach. »Ist meine letzte Stunde bestimmt?« »Ich weiß es nicht; aber da noch nichts über Ihr Schicksal bekannt geworden, können Sie mit Sicherheit noch auf einige Tage rechnen.« La Pommerais wischte mit einem Ärmel der Zwangsjacke den kalten Schweiß von seiner fahlen Stirn. »Wohlan denn. Ich bin bereit, ich war es schon; je eher, desto besser.«
»Da bis jetzt wenigstens noch nichts über Ihr Schicksal bekannt geworden ist, ist der Vorschlag, den zu machen ich hierher gekommen bin, selbstredend nur ein bedingungsweiser. Wenn Sie begnadigt werden sollten, um so besser! ... Wenn nicht ...« Der große Chirurg hielt inne. »Wenn nicht? ...« fragte La Pommerais.
Ohne zu antworten, griff Velpeau in die Tasche, zog ein kleines chirurgisches Besteck heraus, öffnete es und nahm eine Lanzette daraus, mit der er den Ärmel von La Pommerais Jacke am linken Handgelenk leicht ritzte und dann den Puls des jungen Verurteilten fühlte.
»Herr de la Pommerais«, sagte er dann. »Ihr Puls verrät mir, daß Sie eine seltene Kaltblütigkeit und Festigkeit besitzen. Die Mitteilung, die ich Ihnen zu machen habe und die unter allen Umständen geheim bleiben muß, betrifft eine Bitte, die selbst einem Arzte von Ihrer Energie und der so tief in die Geheimnisse der Wissenschaft eingedrungen ist, der sich längst von jeder Todesfurcht frei gemacht hat, dennoch wie eine Extravaganz, vielleicht sogar wie ein verbrecherischer Hohn erscheinen könnte. Aber ich denke, wir kennen einander. Sie werden daher meine Worte in reifliche Erwägung ziehen, selbst, wenn Sie sich zuerst davon sehr peinlich berührt fühlen sollten.«
»Ich sage Ihnen meine volle Aufmerksamkeit zu, mein Herr«, antwortete La Pommerais. »Sie wissen«, begann Velpeau wieder, »daß es eine der interessantesten Aufgaben der modernen Physiologie ist, festzustellen, ob, nachdem der Kopf von dem Körper getrennt ist, noch eine Spur von Gedächtnis, von Empfinden oder Gefühl in dem Hirn eines Menschen existiert.«
Bei dieser unerwarteten Einleitung zitterte der Verurteilte, dann sich fassend, sagte er vollkommen ruhig: »Als Sie zu mir hereinkamen, Doktor, beschäftigte ich mich gerade mit diesem Problem, das, wie Sie zugeben werden, für mich ein doppelt interessantes ist.« »Sind Sie bekannt mit den über diese Frage geschriebenen Arbeiten von Seumering, Sue, de Sedillot und de Bichat, bis zu den Modernen?«
»Ja gewiß. Ich habe sogar der Sezierung der Überreste eines Hingerichteten beigewohnt.
»Ach! Gehen wir darüber fort. Haben Sie von dem chirurgischen Standpunkte aus eine ganz genaue Vorstellung von der Guillotine und ihren Wirkungen?« La Pommerais warf einen langen, forschenden Blick auf Velpeau und antwortete dann kalt: »Nein, mein Herr!«
»Ich habe heute noch diese Maschine auf das gewissenhafteste und genaueste untersucht«, fuhr unentwegt Velpeau fort, »und ich muß zugeben, daß sie ein vollkommenes Instrument ist. Das herabfallende Beilmesser wirkt gleichzeitig als Sichel und als Hammer und zerschneidet den Hals des Delinquenten in einer Drittelsekunde. Der Enthauptete kann unter dem blitzartig niedersausenden gewaltigen Schlage ebensowenig einen Schmerz empfinden, wie der Soldat im Felde, dessen Arm plötzlich von einer Kugel weggerissen wird. Der Mangel an Zeit macht jedes Empfinden null und nichtig.«
»Es gibt aber vielleicht einen Nachschmerz. Es bleiben zwei dem gesunden Fleische jäh beigebrachte große Wunden. Ist es nicht Julia Fortenelle, die, indem sie ihre Gründe dafür angibt, fragt, ob nicht gerade diese Schnelligkeit schmerzlichere Folgen hat, als die Hinrichtung durch das Schwert oder das Beil?« »Auch Berard spricht eine solche Vermutung aus«, antwortete Velpeau.
»Ich jedoch habe die feste Überzeugung und ich stütze mich auf mehr als hundert Fälle und meine ganz besonderen Beobachtungen, daß in demselben Augenblicke, wo der Kopf vom Rumpf getrennt wird, sofort jedes Schmerzgefühl vollständig verlischt. Das plötzliche Stocken des Herzschlages, das auf der Stelle durch den jähen Verlust von vier bis fünf Litern Blut eintritt, das oft ein Meter weit im Umkreis herumspritzt, dürfte auch die Ängstlichen nach dieser Richtung hin beruhigen. Was die unbewußten Zuckungen des Körpers betrifft, dessen Lebensprozeß so jäh unterbrochen wurde, so sind die kein Zeichen vorhandenen Schmerzgefühles, so wenig, wie es das Zucken eines abgeschnittenen Beines ist, dessen Nerven und Muskeln sich zusammenziehen, wobei man aber nicht leidet. Ich behaupte, daß das nervöse Fieber der Ungewißheit, die Feierlichkeit der fatalen Vorbereitungen, das jähe Erwecktwerden aus dem Morgenschlummer, das einzig Schreckliche und Quälende dieser Zeremonie sind. Von der Exekution selbst empfindet man nichts, der vermeintliche Schmerz dabei ist ein eingebildeter! Was? Wenn schon ein heftiger Schlag gegen den Kopf nicht nur nicht empfunden wird, sondern sogar keine Erinnerung hinterläßt, wenn eine einfache Verletzung der Wirbelsäule vorübergehende Gefühllosigkeit erzeugt, dann sollte das Abschlagen des Kopfes, das Durchschneiden des Rückgrates, die Unterbrechung der organischen Verbindung zwischen Herz und Gehirn nicht hinreichen, in einem menschlichen Wesen jedes Empfinden, auch das leiseste Schmerzgefühl zu zerstören? Es ist unmöglich, daß es anders sein sollte! Sie wissen das so gut wie ich.«
»Ich hoffe sogar, daß ich es besser weiß, mein Herr«, antwortete La Pommerais. »Auch ist es in Wirklichkeit durchaus nicht der große körperliche Schmerz, der ja bei dieser furchtbaren Katastrophe kaum empfunden, schon durch den jäh eintretenden Tod erstickt wird. Nein, das, was ich fürchte, ist etwas ganz anderes.«
»Wollen Sie versuchen, mir es klar zu machen, was es ist?« sagte Velpeau.
»So hören Sie denn«, sagte La Pommerais nach kurzem Schweigen. »Es steht fest, daß die Organe des Gedächtnisses und des Willens, falls sie sich in denselben Gehirnflügeln befinden, wie wir dies z. B. bei dem Hunde konstatiert haben, von dem durchschneidenden Messer nicht berührt werden. Ich weiß von einer ganzen Reihe zweifelhafter und höchst beunruhigender Fälle, die dies bestätigen und die es mir unmöglich erscheinen lassen, daß ein Enthaupteter sofort nach der Hinrichtung das Bewußtsein vollständig verlieren könnte. Die Legende erzählt, daß der vom Rumpfe abgetrennte Kopf, wenn er gleich nach der Exekution angeredet wird, den Fragenden anschaut. Und das sollte eine unwillkürliche Bewegung der Nerven, eine sogenannte Reflexbewegung sein? Eitle Worte! Erinnern Sie sich jenes Falles, wo in der Klinik in Brest der Kopf eines Matrosen fünf Viertelstunden, nachdem er vom Rumpfe abgetrennt war, durch eine heftige Bewegung der Kiefer einen dazwischen gesteckten Bleistift entzwei biß? Das aber ist nur ein Beispiel unter tausend. Die einzige Frage, um die es sich hier handeln könnte, wäre also doch nur, festzustellen, ob nach dem Aufhören der Hämatose (Blutbereitung) das, was ich das Ich des Menschen nennen will, noch auf die Muskeln des ausgebluteten Kopfes wirken könne?«
»Das Ich lebt nur in dem ganzen ungeteilten Körper des Menschen«, sagte Velpeau.
»Das Rückenmark ist nur eine Verlängerung des kleinen Gehirnes«, erwiderte Herr de la Pommerais. »Wo also ist der Sitz des menschlichen Geistes? Wer vermag es zu enthüllen? Ehe acht Tage vorüber sind, werde ich es gewiß erfahren – und wieder vergessen haben.«
»Es hängt vielleicht von Ihnen ab, daß die Menschheit ein- und für allemal über diesen Punkt aufgeklärt wird«, antwortete Velpeau langsam und sein Auge fest auf den Verurteilten richtend. »Um gerade heraus zu reden, ist das der Grund, weshalb ich hierher gekommen bin. Ich bin hier als Abgesandter unserer bedeutendsten Kollegen der Fakultät von Paris. Sie sehen hier ein vom Kaiser gezeichnetes Schreiben, das mir freien Zutritt zu Ihnen verschafft hat. Es enthält eine weitgehende Vollmacht, die sogar, wenn es notwendig sein sollte, hinreichen würde, Ihre Hinrichtung aufzuschieben.«
»Erklären Sie sich deutlicher, ich verstehe Sie nicht mehr«, antwortete La Pommerais bestürzt.
»Nun denn, Herr de la Pommerais, im Namen der Wissenschaft, die uns beiden so unendlich teuer ist und deren Märtyrer nicht zu zählen sind, spreche ich hier zu Ihnen. Obwohl die Voraussetzung, daß das zwischen uns zu vereinbarende Abkommen ausführbar sein sollte, mir wenigstens mehr als zweifelhaft erscheint, komme ich dennoch, um von Ihnen den größten Beweis von Energie und Mut zu erbitten, den ein Mensch zu leisten fähig ist. Wenn Ihr Gnadengesuch verworfen werden sollte, werden Sie als Arzt in der Lage sein, sich der peinlichsten Operation unterwerfen zu müssen, die es überhaupt gibt. Es würde eine unschätzbare Bereicherung des menschlichen Wissens bedeuten, wenn ein Mann wie Sie in den Versuch willigen wollte, uns nach der Exekution eine Mitteilung zukommen zu lassen, obwohl, selbst wenn Sie den besten Willen dazu hätten, diese Probe abzulegen, es beinahe gewiß ist, daß das Resultat ein negatives sein würde. Aber – vorausgesetzt, daß ein solcher Versuch Ihnen nicht schon im Prinzip lächerlich erscheint – wäre damit immerhin eine Chance gegeben, die moderne Physiologie in wunderbarer Weise aufzuklären. Solche Gelegenheit müßte ergriffen werden und in dem Falle, daß es möglich wäre, daß Sie nach Ihrer Hinrichtung noch ein Zeichen der Intelligenz mit uns wechselten, würden Sie sich einen Namen machen, vor dessen wissenschaftlichem Ruhme die Erinnerung an Ihren sozialen Fehltritt völlig verlöschen würde.«
»Ach«, murmelte La Pommerais, der leichenblaß geworden, mit entschlossenem Lächeln, »ach! Ich fange an zu verstehen. Wirklich! Michelot lehrt uns, daß durch die Hinrichtungen das Geheimnis der Verdauung enthüllt worden sei! – Also – welcher Art würde das von Ihnen versuchte Experiment sein? Galvanische Strömungen? Reiz der Augenwimpern? Blut-Injektionen? Aber aus all diesem läßt sich wenig schließen.«
»Es versteht sich von selbst, daß, sobald die traurige Zeremonie vollzogen ist, Ihre Überreste friedlich in der Erde ruhen werden und daß keines unserer Skalpelle sie berühren würde. Nein, aber sobald das Messer herabgefallen, werde ich Ihnen gegenüber an der Maschine stehen. Der Henker wird so schnell wie möglich Ihren Kopf meinen Händen übergeben. Dann aber – das Experiment ist eben seiner Einfachheit wegen von so großer Bedeutung – werde ich Ihnen in das Ohr rufen: Herr de la Pommerais, eingedenk der zu Ihren Lebzeiten zwischen uns getroffenen Verabredung, können Sie in diesem Augenblick dreimal das Lid Ihres rechten Auges aufheben und wieder senken, während Sie das andere Auge weit geöffnet haben? Wenn in jenem Momente, abgesehen von etwaigen anderen Zuckungen Ihres Gesichtes, Sie uns durch dieses dreimalige Augenzwinkern beweisen könnten, daß Sie mich gehört und verstanden, daß kraft Ihrer Energie und Ihres Gedächtnisses Sie Herr der das Augenlid in Bewegung setzenden Muskeln, des Nervs des Jochbeins und der Bindehaut sind, so würden Sie hierdurch der Wissenschaft einen wesentlichen Dienst leisten und unsere bisherigen Erfahrungen umstoßen. Und ich bitte Sie, nicht daran zu zweifeln, daß ich Sorge dafür tragen werde, daß Ihr Name der Nachwelt nicht als der eines Verbrechers, sondern als eines Helden der Wissenschaft erhalten bleibt.«
Herr de la Pommerais schien von dieser ungewöhnlichen Bitte tief ergriffen zu sein; er blickte den Chirurgen ernst und mit weit geöffneten Augen an und verharrte einige Minuten in tiefem bewegungslosem Schweigen. Dann erhob er sich, ging in Nachdenken verloren langsam in seiner Zelle auf und nieder und schüttelte dann traurig den Kopf. »Die furchtbare Gewalt des Schlages wird es mir unmöglich machen. Mir scheint, daß die Verwirklichung Ihres Planes die menschliche Kraft übersteigt«, sagte er. »Außerdem behauptet man, daß die Lebenskraft der Guillotinierten nicht die gleiche sei. Indessen kommen Sie am Tage der Hinrichtung wieder, mein Herr. Ich werde Ihnen dann darauf antworten, ob ich bereit bin, diese schreckliche und vielleicht trügerische Probe abzulegen. Wenn nicht, so rechne ich auf Ihre Diskretion und, nicht wahr, Sie werden Sorge dafür tragen, daß mein Kopf in dem dazu bestimmten zinnernen Eimer ruhig verbluten kann.«
»Auf baldiges Wiedersehen, Herr de la Pommerais«, sagte Velpeau, ebenfalls aufstehend, »überlegen Sie sich die Sache.«
Beide grüßten einander. Einen Augenblick später verließ Dr. Velpeau die Zelle, der Wächter trat ein, und der Verurteilte streckte sich resigniert auf seiner Pritsche aus, um zu schlafen oder nachzudenken.
Vier Tage später, um fünfeinhalb Uhr morgens, kamen die Herren Beauquesne, der Abbé Crozes, Herr Claude und Potier, Beamte des kaiserlichen Gerichtshofes, in die Zelle. Jäh aus dem Schlafe auffahrend erkannte Herr de la Pommerais sofort, daß die verhängnisvolle Stunde gekommen sei; sehr bleich erhob er sich von seinem Lager und kleidete sich rasch an. Dann sprach er etwa zehn Minuten lang leise mit dem Abbé Crozes, der ihn schon öfter im Gefängnisse besucht hatte. Es ist bekannt, daß dieser heilige Mann eine begeisterte Frömmigkeit und eine hingebende Menschenliebe besaß, durch die es ihm gelang, den Verurteilten in ihrer letzten Stunde Trost und Beistand zu bringen. Als La Pommerais dann Dr. Velpeau eintreten sah, wandte er sich ihm zu und sagte leise: »Ich habe mir's eingeübt, sehen Sie her.«
Und wählend das Urteil verlesen wurde, hielt er das rechte Auge geschlossen, während er mit dem weit geöffneten linken den Chirurgen fest anschaute.
Die Toilette war rasch beendet. Man bemerkte, daß das bei andern Verurteilten beobachtete Phänomen des Weißwerdens der Haare, sobald die Schere sie berührte, sich nicht vollzog. Als dann der Geistliche ihm mit leiser Stimme einen von seiner Frau an ihn gerichteten Abschiedsbrief vorlas, stürzten heiße Tränen aus den Augen des Verurteilten, die der Abbé mit zarter Hand mit dem aus dem Hemde des Verurteilten geschnittenen Fetzen abtrocknete. Als er dann mit über die Schultern geworfenem Überrocke zum Gehen bereit stand, hörte man seine Handfesseln. Er wies das ihm angebotene Glas Branntwein zurück, und die traurige Eskorte setzte sich in Bewegung. Als man das Portal des Gefängnisses erreicht hatte, fiel der Blick des Verurteilten auf seinen Kollegen, Dr. Velpeau; er grüßte ihn und sagte sehr leise:
»Sogleich! und – leben Sie wohl.«
Die eisernen Türflügel öffneten sich plötzlich und rollten weit auf.
Ein frischer Morgenwind wehte in das Gefängnis. Der Tag hatte eben zu grauen begonnen; der große Platz des Gefängnishofes streckte sich weit hin, er war von einem doppelten Kordon Kavallerie umgeben. Gegenüber, auf zehn Schritte Entfernung, sah man einen Halbkreis berittener Gendarmen, die beim Erscheinen des traurigen Zuges den Säbel aus der Scheide zogen. Im Hintergrunde stand das Schafott. In einiger Entfernung davon bemerkte man die Vertreter der Presse, die achtungsvoll den Hut abnahmen. Aber ganz in der Ferne, hinter den den Raum abschließenden Bäumen, bemerkte man das unruhige Hin- und Herwogen und das Murmeln des neugierigen Volkes, das die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, um Zeuge des schrecklichen Schauspiels zu sein. Auf den Dächern und an den Fenstern der Wirtshäuser und Kneipen sah man Mädchen in zerknitterten farbigen Seidenkleidern, mit blassen verwachten Gesichtern; einige von ihnen hatten noch das Champagnerglas in der Hand. Neben ihnen tauchten übernächtig aussehende Herren im Abendanzug auf; sie alle beugten sich weit vor und ließen keinen Blick von dem traurigen Vorgange.
Mit den beiden drohend emporgestreckten Armen, zwischen denen man das Funkeln des letzten Sternes erblickte, hob sich die Silhouette der Guillotine scharf und schwarz gegen den Horizont ab.
Bei diesem schrecklichen Anblicke zitterte der Verurteilte, er faßte sich jedoch sehr rasch wieder und ging festen Schrittes der Maschine zu. Ruhig bestieg er die auf die Plattform führenden Stufen. Den versinkenden Stern verdunkelnd, schimmerte das furchtbare dreieckige Messer in seinem schwarzen Rahmen. Vor dem verhängnisvollen Brette angelangt, küßte La Pommerais zuerst das Kruzifix und dann eine seiner eigenen Haarlocken, die der Abbé Crozes aufgehoben hatte und ihm nun entgegenhielt. »Für sie!« sagte er leise. Die Umrisse der fünf auf dem Schafott befindlichen Personen waren deutlich erkennbar. In diesem Augenblicke herrschte eine so fürchterliche Stille, daß das Geräusch eines zerbrechenden Astes, der ganz in der Ferne der Last eines Neugierigen nachgab, und ein häßliches Lachen bis zu der traurigen Gruppe vernehmbar wurde. Als dann die Uhr, deren letzten Schlag La Pommerais nicht mehr vernehmen sollte, die sechste Stunde verkündete, bemerkte La Pommerais, ihm gerade gegenüberstehend und sich mit einer Hand auf die Plattform stützend, seinen Kollegen Velpeau, der ihn scharf beobachtete. Er sammelte sich einen Augenblick und schloß die Augen.
Rasch spielte der Hebel, der Knopf gab nach, das Messer stürzte herab. Ein furchtbarer Stoß erschütterte die Plattform. Die Pferde der Gendarmen bäumten sich. Das Echo des entsetzlichen Schlages vibrierte noch in der Luft, als sich der Kopf des Enthaupteten bereits in den unerbittlichen Händen des Chirurgen befand und seine Hände, seine Manschetten und Kleider mit Blut überströmte.
Es war ein finsteres, entsetzlich bleich aussehendes Antlitz, das mit drohend zusammengezogener Stirn, weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Munde Velpeau anstarrte. Das Kinn am äußersten Ende der unteren Kinnlade war beschädigt worden. Velpeau beugte sich rasch über den Kopf und rief ihm die verabredete Frage in das rechte Ohr. So abgehärtet dieser Mann auch war, so erfaßte ihn doch ein kalter Schauder, als das Lid des rechten Auges sich senkte, während das linke ihn weit geöffnet anschaute.
»Im Namen Gottes«, rief Velpeau, »wiederholen Sie dieses Zeichen noch zweimal!« Wie unter einer kolossalen Anstrengung zuckten die Wimpern, aber das Augenlid erhob sich nicht zum zweiten Male. In wenig Sekunden war das Gesicht kalt, steif und unbeweglich geworden. Es war vorbei.
Dr. Velpeau gab das tote Haupt in Herrn Hendreichs Hände zurück, der es, wie dies die Sitte ist, zwischen die Beine des Verurteilten legte.
Der große Chirurg badete seine Hände in einem der großen zum Abwaschen des Schafotts bestimmten Wassereimer. Die Menge um ihn verlief sich, ohne ihn zu erkennen und Notiz von ihm zu nehmen. Schweigend trocknete er sich die Hände. Dann, langsamen Schrittes und mit ernster nachdenklicher Stirn begab er sich zu seinem Wagen, der am Eingang des Gefängnisses auf ihn wartete. Als er hineinstieg, bemerkte er den Armen-Sünder-Karren, der in scharfem Trabe den Weg zum Mont-Parnasse entgegenrollte.