Detlev von Liliencron
Hetzjagd
Detlev von Liliencron

Detlev von Liliencron

Hetzjagd

Novelle

In dem mir bekannten Waldkrug hatte ich zu Mittag gegessen. Die hübsche Wirtstochter setzte den Kaffee auf den Tisch und sich selbst neben mich, um mir, auf meine Bitte, Gesellschaft zu leisten. Vorhin, als sie an der Schenke hantierte, als ich ihre Hände, ihre Arme, ihre runden Körperformen in Bewegung sah, wenn sie Gläser herunterlangte zum Gebrauch, oder solche hinaufstellte, um wieder den richtigen Platz zu finden – als sie so an der Schenke hantierte, sagte ich plötzlich, ohne irgend welchen Zusammenhang: »Anna, Se sünd dat Glück.« »Wat bün ick,« lachte sie mir zu. Aber nun lachte ich auch, und das Wort wurde nicht wiederholt.

Die junge Bauerntochter strickte emsig neben mir an einem Strumpf. Der alte grüne Papagei, den vor Jahren einer ihrer Brüder, der Seemann, ihr mitgebracht hatte aus fernem Lande, saß in seinem Ring und schlief. Zuweilen, wie im Traume, rief er: »Anna, koch Kaffee,« zuweilen hob er die Deckel von den runden, bösen Augen, um sie gleich wieder zu schließen. Auch kratzte er sich einmal schnell am Schopfe und knabberte an den Krallen seines rechten Ständers, und dann schlief er wieder.

Es war eine heiße Septembermittagstunde. Der große Pan schlief. Alles schlief. Nichts regte sich auf der Dorfstraße. Nur das leise Lied einer jungen Mutter, die ihr Kind wiegte, und das Geräusch der Wiege selbst klang aus einem Nachbarhause, bis auch dies erstarb.

Und der große Pan schlief. Und das ganze Dorf schlief. Und mein Hund schlief, zuweilen im Schlaf mit den Beinen hinter einem Hasen laufend, und der grüne Papagei schlief, und Anna schlief, und, Gott sei's geklagt in solcher Nähe, ich endlich auch.

Aber ich erwachte bald. Alles um mich her war noch still, und still wollte ich mich wegschleichen, das Zehrgeld auf den Tisch legend. Doch während ich mein Gewehr aus der Ecke nahm und mein Hund aufsprang, sah ich das schlafende Mädchen und den derben Strumpf in ihrem Schoß. Ihr Kopf lag ein wenig nach hinten gelehnt.

Ich ging auf den Zehen hin und küßte sachte, sachte die roten, frischen Lippen. Sie aber, wie im Traume und noch im Schlafe, schlug ihre Arme um meinen Nacken und zog mich an ihre Brust.

Und der große Pan war erwacht, und alles wurde wieder wach. Mein Hund dehnte sich, die Vorderbeine streckend, und wollte dann, Hals gebend, an mir heraufspringen. In diesem Augenblick schob auch der grüne Papagei die Deckel von seinen runden, bösen Augen in die Höhe und rief: »Anna, koch Kaffee.« Der Hund erschrak, wollte den Schweif zwischen die Beine stecken und ging dann, als ich ihn ermuntert hatte, vorsichtig ans Bauer, hier nach dem Vogel, der dadurch in Unruhe geriet, schnobernd.

Und der große Pan war erwacht. Ich befand mich seit zwei Stunden wieder auf den Koppeln und zwischen den Kartoffeln, um Hühner zu schießen. Aber so ein heißer Septembernachmittag macht müde. Unter ein Knick legte ich mich nieder, kreuzte die Arme unterm Kopf und sah in die Höhe. Kleine reifende Haselnüsse guckten auf mich nieder, und zwischen den Zweigen erblickte ich den blauen Himmel. Im Begriff, die Augen zu schließen, bemerkte ich noch, wie eine langbeinige Spinne schleunigst über meine Knie eilte, gerade auf die Schnauze meines eng neben mir liegenden Hundes zu, dem sie jedenfalls ein unangenehmes Kitzeln . . . aber schon lag ich im Schlafe.

Wachte ich oder träumte ich. Aber ich sah doch deutlich die kleinen, reifenden Haselnüsse über mir und wie ein Kohlweißling sich auf ein Blatt setzte und die Flügel langsam auf- und zusammen- und wieder auf- und zusammenschlug. Und meine Lider schlossen sich.

»Lat mi doch man eenmal,« hörte ich deutlich – und es war die hübsche Anna aus dem Waldkrug – »Du büst ja ok min Schwester. Lat mi doch man eenmal din ganzes Heer, all din Sünden un Leiden un Kummer un Krankheit . . . giv mi dat man eenmal . . . un ick vörup upn Schimmel . . . man een Dag . . .«

Und eine tiefe, mißmutige, heisere Stimme, daß mich ein Grauen überlief, antwortete langsam: »Nimm es denn auf einen Tag, und hetz, hetz, hetz die Menschen.«

Mir aber war es klar: das Glück hatte ihre Stiefschwester, das Unglück, gebeten, ihr auf einen Sommertag das ganze Heer der Menschenplagen zu leihen.

Ich lag noch unter den Haselnußsträuchern. Aber dicht mir vorüber zog sich eine breite Landstraße, die jenseits von einem Tannenwald begleitet wurde, daß ich keine Fernsicht hatte.

Neben meinem Kopfe saß, in Narrentracht, ein Zwerg. Der Zipfel seiner Kappe fiel ihm auf die unförmliche Nase. Die Knie hatte er mit den Armen umspannt.

Plötzlich kam ein wirres, zunehmendes Geräusch an mein Ohr. Dazwischen hörte ich Pferdegetrappel.

Und der widerwärtige Zwerg grinste, als ich ihn stumm mit den Augen fragte, und dann sagte er: »Paß auf.«

Immer lauter erklang das unerklärliche Geräusch.

Da plötzlich näherte sich auf der Landstraße ein großer, berittener Zug. Ungeordnet drängte alles durcheinander. Er kam in dichter, unabsehbarer Menge. Und alle Pferde griffen aus in lebhaftem Schritt.

Ah, vorneweg, auf einem kräftigen Rotschimmel, saß das Glück. Es war, der Himmel fällt ein! die hübsche Anna aus dem Waldkrug. Wie ein Mann auf ihrer Stute sitzend, hatte sie die linke Faust im Mähnenschopf vergraben; die Rechte, in der sie eine Gerte trug, stützte sich auf die Kruppe des Pferdes. Sie schaute nach rückwärts und lachte, lachte, lachte, daß das güldene Krönlein auf ihrem Haupte gleißte und glitzerte. Die langen, blonden Haare fielen ihr über den Nacken. Zwischen den Ohren des Gaules, in einer Höhe von zwei, drei Fuß, flog mit ihren sanften Schwingen eine Turmeule. Neben ihr rechts und links trotteten zwei Bulldoggen, die die Schnauzen auf der Erde hatten, als suchten sie Witterung.

Und dann folgte in dichtem Gedränge der unermeßliche Zug der Leiden und Leidenschaften. Alles das, was dem Menschen durch sich selbst und durch andere geschieht, Krankheit und Kummer, Elend und Not, alles, alles, die Pferde immer in lebhaftem Schritt, webte sich an mir vorüber. Eine solche Farbenpracht hatte ich im Leben für unmöglich gehalten.

Links rückwärts, in halber Pferdelänge nah dem Glück, ritt auf einem dürren Klepper die Armut, die Geldnot, als die schrecklichste aller Plagen. Sie beugte das entstellte, verzerrte, verhungerte Haupt. Rechts rückwärts, in einer Linie mit der Geldnot, sah ich die Sorge: ein winziges Persönchen. Sie hatte den Kopf der lästigen, nicht nachlassenden Schmeißfliege.

Dann folgten die Tausende.

»Ich bitt' dich, der! der! wer ist es?« fragte ich fiebernd den Zwerg.

»Beschreib ihn mir. Wie kann ich wissen, wen du meinst in dem Gewimmel.«

»Der dort, der im scharlachroten Wams, mit dem diamantenbesetzten Dolch im goldenen Gehenke; mit den glühenden schwarzen Augen, die stier geradeaus schauen, sieh, sieh, wie er das Haupt vorbeugt.«

»Das ist der Haß,« grinst der Zwerg.

»Aber hinter ihm, die, die da; es raucht um sie über ihr, das ist dampfendes Blut, so sieh doch.«

»Die Rache,« grinst der Zwerg.

Und eine gelbe Gruppe, immer die Pferde im lebhaften Schritt, zog vorbei. Gelb in allen Schattierungen.

»Und der dort, mit dem grämlichen, verbissenen Gesicht?«

»Der Neid.«

Und hinter ihm, und um ihn her begleitete ihn die Schmähsucht, der Hohn, die Scheelsucht.

»Aber nun die mit den gelben Hundeblumen im Haar?«

»Die Eifersucht.«

»Und das alte Totengesicht im Lilakleide und mit der grasgrünen Haubenschleife; sie sitzt auf dem kleinen dicken Nordländer und schiebt sich in steter Unruhe, bald hier, bald da in die Reihen?«

»Die gedankenlose Klatschsucht; ein infames Weib.«

»Ah, da kommt Gambrinus, der Gott der Deutschen. Er hat einen Brauereigaul bestiegen. In der Linken hebt er ein schäumendes Bierglas hoch. Aber wie kommt denn der in diese Gesellschaft?«

»Jawohl, jawohl, das ist Gambrinus, der Gott der Deutschen; nun denn, ich führe ihn dir vor,« und der Zwerg brachte die wulstigen Lippen unangenehm nah an mein Ohr, »das ist dein deutsches Volk selbst.«

»Narr, Narr, rühre mir nicht an meinem Heiligtume.«

». . . das oft durch seine Verständnislosigkeit seine Dichter und Maler ins Grab gebracht hat. Denn dein Volk, das muß ich dir sagen, sieht und liest nicht gerne Ursprüngliches; es muß alles fein nach der gewohnten Leier gehen. Dein Volk, ja, die biederen Schützen- und Sängerfeste.«

»Höre auf, Narr, schmähe mir mein Vaterland nicht. Ich mag nicht mehr sehen, mir schwinden die Sinne über die unbeschreibliche Farbenpracht. Aber jene dort, mit dem strengen Gesicht, mit der Stachelkrone und mit dem Stachelgürtel und der Knute in der Hand. Jetzt winkt sie mir zu.«

»Das Gewissen.«

»Aber das Gewissen gehört doch nicht in den Zug der Laster und Leiden?«

Der Narr lachte boshaft: »Nun, nun, ich ließ sie erscheinen. Ich dachte . . .«

»Mach ein Ende, Narr.«

»Wenn du willst?«

»Aber die dicke Dame im Lehnsessel auf dem Esel?«

»Die Trägheit.«

Und dann erschien als Schluß ein Elefant. Auf seinem Rücken, unter knallrotem Baldachin, im feuerroten Stuhl, saß ein verlebter, blasser, blonder, junger Mann. Er schaukelte auf seinen Knien zwei geschminkte Huren. Zwischen den plumpen Ohren des mächtigen Tieres kraute sich der grüne Papagei den Schopf. Als Führer der Bestie klemmte sich über den kurzen Hals ein Affe. Der Rüssel des Ungetüms stieß fortwährend den Esel, der nicht vorwärts wollte.

»Erkläre mir, Narr.«

»Es ist der Satan mit seinen beiden Liebsten, der Lüge und der Gemeinheit.«

Es war der Schluß.

»Wie lange hat das Vorüberziehen gedauert, Narr?«

»Durch die Ewigkeit.«

»Du lügst! Die Ewigkeit hat keinen Anfang und kein Ende.«

»So wünschest du weiter; ich gab dir einen Schluß.«

»Nein, nein, genug, genug.«

Ich schlug die Augen auf. Über mir hingen noch immer die kleinen reifenden Haselnüsse mit leisem bräunlichem Auflug. Auf meine Brust hatte sich eine schillernde Fliege gesetzt und putzte und strich emsig die Vorderbeine. Neben mir zeigte sich ein Feldmäuschen: kurze, rasche Bewegungen, dann Halt und Schnuppern in der Luft. Plötzlich lief sie an einen nicht weit von mir entfernten Pflug und versuchte die scharfen Zähne, reizend sah es aus, an der eisernen Pflugschar. Dann erschrak sie grenzenlos vor einem Blatte, das neben ihr zu Boden fiel, und war eiligst verschwunden.

Und nochmals schlief ich ein. Der Narr saß wieder neben mir in seiner alten Stellung. Aber nicht die breite Landstraße lag vor mir. Ich schaute auf ein weites, fernliegendes Brachfeld. Jene herrlichen, tiefpoetisch klingenden, preußischen Reitersignale tönten mir ins Ohr. Kommandorufe wehten zu mir her. Eskadron Tr–aaaab. Was war das? In Schwadronen geordnet, trabten die Laster und Leiden in der Ebene. Voran bemerkte ich deutlich das Glück. Wie das glitzerte und glänzte und blitzte und blendete.

»Was bedeutet das, Narr?«

»Du sollst es bald erkennen.« Er schlug mich mit einer Distel, die er in der Hand hielt, an die Stirn: und ich befand mich im Hochwalde. Unter einer säuleuartigen Buche stand ein Mensch.

»Wer ist das, Narr?«

»Jedes Kind würde deine lächerliche Frage unterlassen haben. Kennst du ihn nicht? Du bist es selbst; oder wenn du willst: das ist Adam.«

Ganz, ganz fern, in unendlicher Entfernung, klang ein Tönen und Rufen in den Wald hinein, das jeden Jägersmann, wenn er es hört, vor Freude zittern läßt: »Horido, do, do! Horido, do, do! Hep, hep, Horido! Do, dodo! Horido, do–dooo–do.« Das Geschrei näherte sich: »Horido, do, do! Horido! Do, do, Horido–do, dooo–do!« Keine Kavalleriesignale klangen mehr; die Treiber gingen vor: »Horido, do, do . . . Horido . . . do, dooo! Do! . .« Einzelnes Wild flüchtet schon; der Wald geriet in Aufregung. Durch knackende Zweige über Graben und Pfützen, alles flüchtete. Ein Fuchs erscheint. Er macht kehrt, setzt sich auf die Hinterbeine und hält den Kopf schief. Er überlegt. Endlich macht auch er die Wendung und eilt den anderen nach.

»Horido, do, do–dooo–do, do . . .« Der Mensch unter der Buche horcht. Er hat das Haupt vorgestreckt und horcht, horcht . . .

»Horido, do, do–doooo, horido–do, do . . .«

Mit Todesangst in den Zügen macht er kehrt und eilt zurück. Er weiß, die Jagd gilt ihm. Aber so schnell er läuft . . . immer näher, immer näher: »Horido, do, do–doooo, do, do! . . .«

Einmal macht er keuchend Halt. Die Brust fliegt ihm. Die Hände hat er an die hämmernden Schläfen gelegt.

»Horido, do, do–Horido, do, do–do–doooo–do, do!«

Und wieder wendet er sich zur Flucht.

Aus der Treibjagd ist die Hetze geworden. . .

Da öffnet sich ihm eine Lichtung. Diese führt in rasch steigender Steile zu einem Felsblock hinauf. Vielleicht ist dort die letzte Rettung.

Schon zeigt sich hinter ihm das bunte Feld. Von allen Seiten bricht's heran und heraus, den Hügel heran. Voraus, weit voraus hetzt das Glück.

Nun – nun ist er verloren . . . Er will vom Felsen springen, aber unter ihm gähnt eine unsichtbare Tiefe.

Immer näher ist ihm die Hetze auf der Spürbahn. »Halali, Halali . . .«

Er läßt sich von der Kante gleiten und strauchelt. Noch hält er sich mit den Fingern am Rande.

Das Glück springt vom Pferde, läuft auf ihn zu und trampelt mit den Füßen auf seinen Händen, bis er losläßt und ins Bodenlose sinkt. Einmal im Stürzen, greift er nach einem Ginsterstrauch, der vorragt. Aber die Wurzelchen sind zu schwach.

Das Glück schaut ihm nach in den schwarzen Schlund, bis eine Stille eingetreten war. Dann hob es den Arm, und wie auf Kommando erhebt sich ein grausiges Siegesgeheul, daß Wald und Fels tausendfach widerhallen.

Der Elefant und der Esel mit der lieben Trägheit waren zurückgeblieben. Der Teufel hat es auch nicht nötig, sich zu ereifern.

Als ich nach einigen Tagen wieder im Waldkrug erschien, erzählte ich der schönen Schenkin, während sie sich bei den Gläsern und Flaschen zu schaffen machte, was ich geträumt, und wie ich sie als das Glück auf dem Rotschimmel gesehen habe, ein güldenes Krönlein auf dem Haupte, die langen blonden Haare am Rücken hinunterfallend.

»Ach wat, dat ol Tüch versta ick nich,« antwortete sie mir, den Kopf zu mir über die Schulter wendend.

Aber ehe ich meine Flinte unter den Arm genommen hatte, um weiter zu jagen, waren wir schon wieder gute Freunde geworden.