1789
Herr Gallen, ein teutscher Gelehrter, hatte die einzige Schwester eines jungen Kaufmanns zu seiner Frau. Er wohnte in dem Haus seines Schwagers, welcher das Vermögen der Frau Gallen in seiner Handlung behielt, und reichliche Zinsen davon bezalte. Gallen und seine Gattin waren äusserst glücklich, da er durch das Vermögen seiner liebenswürdigen Frau in den Stand gesetzt wurde, armen Familien in ihren Rechtshändeln ohnentgeldlich zu dienen, und also mit seinem Geist und Herzen eine Wohlthätigkeit auszuüben, die er sich bey einer minder reichen Frau nicht hätte erlauben können, weil er alsdenn verpflichtet gewesen wäre, zuerst auf die Versorgung der Seinigen bedacht zu seyn. Frau Gallen freute sich über die Tugend ihres Mannes, und hörte ihm mit Vergnügen zu, wenn er ihr mit Entzücken von der gewonnenen Sache eines Armen erzälte, und der Segen, den ihr Mann von den dankbaren geretteten Leuten empfieng, schien ihr mehr werth zu seyn, als die Einkünfte von ihrem Vermögen. Sie hatten von etlichen gutartigen Kindern nur eines bey Leben erhalten, und dieß war eine Tochter, die Sophie genannt ward, welche ohne vorzügliche Schönheit als ein liebliches Mägdchen heranwuchs. Frau Gallen machte sich aus der Erziehung ihrer Tochter die Hauptbeschäftigung ihres Lebens, und da einst von mehrern Personen gesagt wurde, daß die kleine Sophie eine unbeschreibliche Ähnlichkeit der Gesichtszüge und Neigungen ihrer beyden Eltern in sich vereinigte, so sagte Frau Gallen ihrem Mann:
»Der Himmel hat mir in meinen Söhnen die Freude genommen, dich in ihnen erneuert aufwachsen zu sehen, aber jedermann sagt, unsere Sophie habe deinen Geist und deine Augen, so wie man zugleich behauptet, daß sie meinen Mund, meinen Wuchs, und meine Geberden hat. Jede Hofnung auf andere Kinder ist verlohren: – da möchte ich wohl, mein Bester! daß wir die Ähnlichkeit, welche dieses einzige Kind mit uns theilt, auf das vollkommenste machen. Gieb, mein Lieber! dem guten Mägdchen jeden Anbau deines Geists, denn es sollte mich sehr freuen, wenn ich einen Theil deines Verstands von Lippen wiedertönen hörte, die den meinigen gleichen. Ich will sie in allen weiblichen Arbeiten unterrichten: – Unsere Liebe aber soll sich in ihrem Herzen vereinen.«
Herr Gallen war es zufrieden, und sie erzogen Sophie nach diesem Plan zu einem schätzbaren, reizenden Mägdchen auf. Sie war mit siebzehn Jahren nicht nur in blühender Gesundheit mit einer anmuthigen Gestalt geschmückt, sondern mit jeder Tugend der Seele, einem feinen Geist, und allen schönen Talenten begabt. Der Oheim und Tante liebten das Mägdchen eben so sehr; und da sie keine Kinder hatten, so wurde Sophie als Erbin eines großen Vermögens betrachtet, geschmeichelt, gesucht, und in Puz und Bedienung daran gewohnt. Frau Gallen starb, eh ihre Tochter verheurathet war, und nun lebte Sophie unter der Aufsicht ihrer Tante fort, bis auch diese bald darauf in dem ersten Wochenbett mit ihrem kleinen Sohn in die andere Welt gieng. Beyde Schwäger blieben unzertrennlich, und es schiene, als ob ihr beyderseitiger Verlust ihre Freundschaft verstärkt habe.
Sophie bekam eine Gattung Hofmeisterin, oder vielmehr Gesellschafterin, weil sie über den Verlust ihrer zwey Mütter untröstlich war, und in eine stille Schwermuth versenkt wurde. Diese Frau, eine junge Wittwe, war munter, hübsch und listig. Sie bemächtigte sich nach und nach des Herrn Elbe, Sophiens Oheim. Dieser hatte seine Nichte die Englische Sprache gelernt; Madame Bach wollte nun auch mitlernen, und sie brachte nicht nur dieses, sondern viele andre Sachen in dem Haus nach ihrem Sinn, wohin sie es wollte. Man machte Reisen in Bäder und Gesundbrunnen; man gab Gesellschaften, und endlich wurde Mad. Bach – Frau Elbe. Die Handlung fieng an zu wanken – doch reißte man nach Frankreich, und nahm Sophien mit, die natürlicher Weise Vergnügen daran fand. Am allerliebsten aber hörte sie, daß es gar nach Engelland gehen sollte. Doch hatte sie keine Ruhe, bis ihr Vater auch dazu gebetten wurde. Der Brief, in welchen er einwilligte, kam noch nach Paris. Er sagte, daß er mit einem Holländischen Schiff überfahren, und vielleicht bälder als sie in Großbritannien landen würde. Sie schiften von Calais aus, kamen nach London, und fanden dort wirklich Herrn Gallen vor ihnen. Aber bald klagte Frau Elbe wegen ihrer Gesundheit, und man mußte in ein Bad. Alles dieß geschah mit einer Eile und Unruh, die endlich unserm Gallen bedenklich wurde, noch mehr aber, da Herr Elbe immer viele Briefe von Haus erhielt, aber Herr Gallen nicht einen. Er sprach mit seinem Schwager von der Sorge, die er wegen seiner Handlung fühle, und daß er ihm doch von seinen Briefen mittheilen möchte, indem er aus ihm unbegreiflichen Ursachen gar keinen erhielte. Elbe beruhigte ihn, und sagte, da sie gerad eine Lustreise machen wollten, solle er nur bis den andern Morgen Gedult tragen, wo er ihm dann alle nöthige Briefe zeigen würde. Sie reißten auch alle viere nach einem artigen kleinen Ort, wo ein schöner Park und Landhaus zu sehen war. Und da sie ein paar Tage dort bleiben wollten, so kam ein Koffer mit gemeinsamen Weißzeug und leichten Kleidern mit. Sie speißten Abends in dem Park, und blieben lang munter, mußten aber in zwey verschiedenen Häusern schlafen, weil in dem, wo Herr Gallen mit seiner Tochter eingezogen war, nur zwey kleine Betten in zwey eben so kleinen aber netten Zimmern neben dem Speißsaal waren, und Herr Elbe ohne anders wollte, daß Sophie und ihr Vater am besten besorgt seyn möchten. Gallen und seine Tochter schliefen recht wohl; besonders war Sophie sehr glüklich, eine so hübsche Stube, so nettes Weißzeug und einen Baumgarten vor ihrem Fenster zu haben, welches sie offen ließ, um den süssen Duft der blühenden Linden, und das sanfte Rauschen des kleinen, an des Wirths Garten vorbeyfliessenden Bachs zu geniessen. Denn ohngeachtet sie in einer grossen Stadt erzogen ward, und selten etwas anders, als man kann sagen, steife, gezierte Kunstgärten gesehen hatte, so war doch ihre Seele mit dem feinen Gefühl für Wahrheit und Natur durchdrungen; und wenn Herr und Frau Elbe ihre Reisen in England nach dem Sinn von Sophien eingerichtet hätten; so würde zuerst jede Gegend besucht worden seyn, die Thomson besungen hat: Denn würde sie Hagley als einen heiligen Grund und Boden durchgegangen haben, weil sie nichts ehrwürdigers kannte, als den Charakter des edlen Litleton. Aber Sophie sollte in Großbritannien noch manche Trauerstunde durchleben, ehe sie den gewünschten Anblick dieser schönen Anlage genoß.
Ihr guter würdiger Vater schlief sanft und lang den letzten sorgenfreyen Schlaf, und Sophie freute sich, daß sie vor ihm erwacht war, und sich leise angezogen hatte, um bey ihm, ihrem Oheim und Tante die Stelle der Wirthin bey dem Frühstück zu versehen. Es war alles in der Laube des Gartens bereitet. Herr Gallen kam munter und über seinen langen Schlaf scherzend zu Sophie in die grosse Stube, weil sie da an dem Fenster war, und nach dem Laden des Hauses umsah, wo Herr und Frau Elbe wohnten, um ihnen gleich einen guten Morgen zuzuwinken. Da es aber bald eilf Uhr wurde, und sich kein Fenster öfnete, oder jemand sehen ließ, so gieng sie, Thee mit ihrem Vater zu trinken, und schickte jemand aus dem Haus nach ihrem Oheim. Aber, wie staunte ihr Vater und sie, als die Antwort kam, der Herr und die Dame wären gestern Nachts abgereißt, und gar nicht in das Haus gekommen? Stumm und betäubt einander ansehend, giengen sie eilend in ihre Stube, wo der Koffer war, aus welchem Frau Elbe ihr und ihres Mannes Schlafzeug geholt, und er noch, ehe sie weggiengen, ein Buchfuteral hineinlegte, weil es ihn, wie er sagte, in seiner Tasche beschwerte. Sie fanden es noch, und alle ihre Kleidungsstücke. Gallen wollte aus Bescheidenheit das Futeral seines Schwagers nicht öfnen, weil er dachte, diese Abreise wäre nur eine jähe Caprice seiner Schwägerin, und sie würden Abends wieder eintreffen. Aber da auch die Nacht ohne die geringste Nachricht kam, und jemand von den Einwohnern sagte, sie wären in einer leichten Gutsche mit vieren, die auf der Landstrasse gehalten, abgefahren, so nahm er endlich das Futeral, und fand darinn eine Menge eröfneter Briefe an ihn, wo von dem vollkommenen Banquerout seines Schwagers geschrieben wurde, worinn nicht nur das ganze Vermögen von Sophiens Mutter zu Grund gegangen sey, sondern auch Herrn Gallens Ehre, weil man mit Recht vermuthete, er habe von allem gewußt, und deswegen die Reise nach England mitgemacht: daher auch seine Bibliothek und alles Geräthe mit dem Haus an die Gläubiger gefallen sey. Ein mit zitternder Hand geschriebener Zettel seines Schwagers lag dabey, worinn stunde:
»Verzeiht mir, daß ich alles verhehlte, und daß ich flieh. Die hundert Guineen werden euch wieder nach Haus bringen, wo Gallen als guter Advokat leben, und Sophie mit diesem Ring und ihrer liebenswerthen Person gewiß eine Heurath treffen wird. – Mich seht ihr nimmer. Adjeu.«
Ob ein feiner giftiger Dunst in diesem Futeral gewesen wäre, oder diese Papiere, so war die Würkung immer tödlich. Gallen blieb starr und unbeweglich sitzen, die Augen auf den Zettel geheftet, Thränen und Zurufen von seiner Tochter alles war umsonst. Sie schrie um Hülfe. Die Wirthsleute kamen, und versuchten, was sie konnten. Endlich lief die Magd nach dem Pfarrer, der so gleich kam, und erweckenden Geist mitbrachte. Gallen kam zu sich, und konnte sagen, daß sein Herz gebrochen sey. Sophie aber glaubte ihn wieder ganz zu haben, da er wieder reden konnte, und sogar einige Schritte auf und ab gieng. Die Schwester des Pfarrers, welche von dem Zufall des Fremden gehört hatte, und dabey von dem Jammer seiner schönen Tochter gerührt wurde, kam auch in die Stube, um zu sehen, ob sie nicht dem jungen Frauenzimmer in etwas helfen könnte. Gallen stand gerad an dem offenen Fenster, und hatte beyde Arme gen Himmel erhoben. Sophie kniete zu seinen Füssen, und der gute Pfarrer durchlaß die Papiere. Die ehrwürdige Matrone gieng sachte mit einer Thräne im Aug zu ihrem Bruder, und fragte ihn leise, auf Sophie weisend:
Bester! kann ich hier etwas helfen?
Er drückte ihre Hand:
Ja – geh hin, und sey Mutter! ich möchte mit dem Manne allein reden.
Frau Sarah faßt Sophien bey der Hand, und der Pfarrer umfaßt Herrn Gallen:
Guter Mann! Sie glauben doch, daß Gott und die Tugend ewig sind?
O ja! aber der Bruder – von Sophiens Mutter – uns so elend machen – Mein Gott! wie littest du das? – sagte er mit Händeringen, und der Pfarrer antwortete freundlich, und eindringend – damit Ihre Tugend sichtbar werde –
Bey wem? – wer kennt mich hier?
Gott und Ihr Gewissen. Kommen Sie, sagte er, Gallen umarmend: – Kommen Sie, wir wollen über Ihre Umstände reden. – Meine Schwester bleibt bey Ihrer Tochter.
Hier sah Herr Gallen um sich, und betrachtete Frau Sarah, die auf einem Stuhl saß, und Sophiens Kopf auf ihrem Schoß liegen hatte, weil diese bey der Annäherung des Pfarrers ihre Arme von den Füssen des Vaters abzog, sie sinken ließ, und die gute Alte sie an sich bog. – Gallen schwieg einige Zeit, umarmte alsdann Frau Sarah:
Ach – ehrwürdige Frau! Werden Sie Mutter dieser Waise –
Gewiß, gewiß – antwortete sie, und Gallen ließ sich, nachdem er wieder in staunendes Schweigen gesunken war, von dem Pfarrherrn wegführen. Seine Schwester ermunterte Sophien, mit ihr in den Garten zu gehen, und Muth zu fassen, ihr Vater würde wieder gesund werden, denn ihr Bruder sey Medikus, so gut als er Seelsorger sey. Sophie gieng an ihrem Arm in die Laube. Die gute Frau bemerkte, daß die einfallende Sonnenstralen eine Bewegung in Sophiens Seele machten, und faltete fromm ihre welke Hände, gegen die nemliche Seite schauend:
Gott der Sonne! und der unsere! Du bestimmest das Weh, und die Freude der Tugend!
O gieb dieser meiner Tochter die Stärke, alles zu tragen, was du willt, das sie tragen soll!
Sie hatte bey dem Wort – Tochter – Sophien an ihre Brust gedrückt, und am End ihres Gebets küßte sie selbige.
O Religion! wie wohlthätig bist du in der Seele des Menschenfreunds, der nicht zufrieden, den Weg seiner ewigen Glückseligkeit in dir zu sehen, auch die thätige Menschenliebe auf Erden mit dir vereinigt! – ach dann bringst du einen Pfarrer Watson, und eine Matrone wie Sarah zum Trost der Leidenden hervor!
Gallen hatte indessen dem Pfarrherrn sein Herz geöfnet, und ihm alles gesagt. Seine jähe Ruhe ängstigte Herrn Watson sehr. Er hätte ihn lieber in Abwechslung gesehen. Am Ende, da Hr. Gallen den Ring für Sophien, die hundert Guineen und sein noch übriges Geld dem Pfarrer vorgelegt hatte, sagte er ihm:
Ich fühle, daß ich diesen Schlag nicht überlebe: Sagen Sie! was wollen Sie mit meiner Tochter thun! – die arme – hat von allen Menschen niemand als Sie – und von grossem Reichthum nichts als das – wobey er mit Schmerz auf das Geld und den Ring zeigte.
Theurer, rechtschaffener Mann! – sagte Watson – Sie sollen leben, und nach dem Wunsch eines Ihrer Freunde in Ihr Vaterland zurück, um Gerechtigkeit zu erhalten, wie Sie es verdienen. Gott und mein Zeugniß werden Sie unterstützen.
Gallen schüttelte den Kopf, wie jemand, der des Gegentheils von dem, was er hört, ganz sicher ist.
Ach – sagen Sie mir, was thun Sie mit meiner Sophie, wenn ich sterbe?
Sie soll meine Tochter und die Gespielin von Mis Kery seyn, die auch ohne Vater und Verwandte, aber mit einem schönen Vermögen unter meiner Sorge steht.
Gallen erhob seine Hände, und sprach mit erhabener Stimme:
Gott! du hast das Versprechen eines deiner Diener gehört! O gieb, daß er es erfülle!
Herr Watson wollte Gallen aus dem Gasthof weg in sein Haus nehmen, aber er sagte:
Nein, mein Freund! ich will hier endigen, damit Sophie in Ihrem Haus nichts, als die Spuren der göttlichen Güte in ihrem neugefundenen Vater Watson erblicken möge, und keine Stube mit dem geheimen Schauer öfnen sehe, wo ihr Herz sagte: – Ach! – hier starb – mein Vater.
Gallen machte einen Aufsatz der ganzen Geschichte seines Lebens, und der Ursache seines Todes, mit einer Eile, die den Herrn Watson zu Thränen brachte. Denn er sah, daß dieser Zustand von Gallens Seele, obschon alles in Ordnung zu seyn schien, der Vorgang einer Zerrüttung oder des Tods wäre. Er betete für ihn, und gieng einen Augenblick in den Garten, seiner Schwester zu sagen, Sophien zu Mis Kery zu führen, daß sie sich kennen lernten. Sophie wollte nicht fort, ehe sie ihren Vater gesehen hatte. Denn sie glaubte, Herr Watson wollte sie nur von seinem Sterbebette entfernen. Als sie ihn aber, wie sie glaubte, aufmerksam und ruhig schreiben sah, und Herr Watson bey ihm blieb, so kam sie gerne mit Frau Sarah nach ihrem Haus. Herr Watson hatte, während Sophie nach ihrem Vater sah, seiner Schwester geschwind gesagt, mit Sophien von Mis Kery recht zärtlich zu sprechen, daß die arme von ihrem vierten Jahr an die Mutter verlohren, und seit sechs Jahren nichts von dem Leben oder Tod ihres Vaters wüßte, welcher aus Traurigkeit über den Verlust seiner Gattin nach Indien gieng. Watson wollte dadurch Sophiens Schmerz über den bevorstehenden Verlust ihres Vaters eine Gefährthin geben, indem die Gemüthsart von Mis Kery ohnehin etwas sehr trauriges hatte. Frau Sarah faßte alles dieses sehr gut, und erzählte es Sophien unterwegs, nur als ob sie ihr die Geschichte von Mis Kery sagen wollte, und überließ es Sophien, eine Anwendung auf sich selbst davon zu machen. Diese Erzählung hatte auch so sehr gewürkt, daß, als Frau Sarah Sophien und Mis Kery einander vorstellte, Thränen aus Sophiens Augen strömten. Sie umarmte die Mis, wie eine Schwester die andre, wenn sie ein gemeinsames Unglück miteinander zu tragen haben. Dieser Ausdruck von Weh, und die von Trauer und Angst ganz verstellte Gesichtszüge unserer Sophie Gallen hatten einen sichtbaren Einfluß auf das Herz von Mis Kery, in welchem von Natur alles tief wurzelte. Und zu ihrem Unglück hatte ein mit Haß vermischter Gram diese Anlage ihres Charakters zuerst beschäftigt. Frau Sarah bemerkte, daß Mis Kery Sophiens Umarmung mit einer Art zärtlicher Bewegung erwiederte, sie dann mit Staunen ansah, und nach ihren Thränen fragte. Nun sagte Sophie:
Ach – Mis! ich bin ganz fremd, und mein Vater wird hier sterben. Dann habe ich nichts mehr auf Erden, als die Barmherzigkeit von Herrn Watson und Frau Sarah.
Wer kennt wohl alle die verschlungene Wege, durch welche Gutes und Böses in unsere Seele kommt? – wer hätte gedacht, daß, nachdem der vortrefliche Mann Watson und die so vollkommen gute Frau Sarah viele Jahre lang jedes Mittel vergeblich anwandten, um den Wachsthum des Neides und der Feindseligkeit in Mis Kery zu hindern, nun auf diesem schwarzen Grund die edelste Gesinnungen aufblühen sollten. Denn Mis Kery sagte sogleich: Frau Sarah wird Ihnen gern zur Mutter dienen, wie sie es bey mir that, und ich will alles mit Ihnen theilen, was ich im Vermögen habe. – Bleiben Sie bey uns, Mis! – ich habe auch keinen Vater mehr. –
Sie faßte Sophien bey der Hand, und sah sie voll Mitleiden und Liebe an. Bald darauf kam eine Bottschaft aus dem Gasthof, die Frauenzimmer möchten doch miteinander hinkommen.
Ich will mit, sagte Mis Kery, ich will Ihren Vater sehen, und ihm sagen, daß wir Sie alle trösten wollen.
Sophie war sehr gerührt, und hielte die junge Mis, welche eben 15 Jahr alt war, für eines der besten Geschöpfe auf Erden. Herr Gallen saß ruhig neben Watson am Fenster. Sophie eilte zu ihm, hieng mit Freudenthränen an seinem Hals, weil sie ihn für ganz wohl hielt. Sie erzählte, wie viele Güte Frau Sarah und Mis Kery ihr bezeugt hätten: die liebe Mis Kery, fuhr sie fort, weiß schon so lange nichts von ihrem guten Vater, und ich – habe Sie noch! –
Ja, Sophie! – wir waren sehr glücklich, in das einsame Rosehill zu kommen, wo mich Rechtschaffenheit und Güte über Bosheit und Betrug trösten, und wo du eine Mutter und eine Schwester fandest. Vergieß nie, mein Kind! daß Geist und Tugend uns unterstüzten, und uns dieser Hülfe würdig machten.
Er zeigte ihr, daß noch ein Brief und ein Kasten von ihrem Oheim gekommen sey, worinn ihre Kleider und Weißzeug wären:
Es sind die Lappen, welche der Räuber uns noch zuwirft, unsere Blösse noch einige Zeit decken zu können.
Herr Watson gab ihm Medicin. Aber des Nachts wurde Gallen sehr übel. Er redete viel mit dem ehrwürdigen Pfarrer, der ihn nicht verlassen wollte, und bey Tages Anbruch mußte Sophie ein Blat unterschreiben, in welchem Gallen seinem Schwager alles beleidigende vergab, und worinn auch sie versichern mußte, ihre Empfindlichkeit zu unterdrücken. Sie that es mit den Worten, die der Vater ihr vorschrieb, und Herr Gallen übergab das Papier dem Pfarrer, wobey er sagte:
Nun, meine Tochter! habe ich das letzte gute für dich gethan. – Ich lehrte dich dem vergeben, der uns elend machte. Die Dankbarkeit gegen den gefundenen Wohlthäter Watson wird dein Herz dich lehren, verlaß ihn nie, und mache keinen Schritt ohne seinen Rath!
Das arme Mädchen war wie betäubt, denn sie hatte sich um zwölf Uhr mit dem Glauben an ihres Vaters Leben und Ruhe schlafen gelegt, und jetzo hörte sie vom Tod und letzten Willen. Denn ihr Vater umarmte sie, und übergab eine ihrer Hände Herrn Watson.
Sie lehrten mich gelassen sterben. – Lehren Sie meine Sophie gedultig leiden und leben.
Um fünf Uhr kam Frau Sarah, nach dem Kranken und nach Sophie zu sehen. Herr Gallen sagte da seiner Tochter:
Du warest immer ein folgsames Kind, und nie hatte ich eine Klage über dein Leben. Gott wird dich erhalten und segnen! gieb mir auch jetzo einen Beweis deines Gehorsams. – Geh mit Frau Sarah nach Haus, und bleibe bey ihr, bis ich dich wieder hieher rufen lasse. Es kommen zwey Ärzte, die für mich sorgen werden. Er drückte sie noch an seine Brust, und Sophie gieng seinem Befehl nach, wurde aber nicht wieder gerufen, denn Gallen starb an einer Operation, die nothwendig an ihm gemacht werden mußte. Aber der Gram hatte sein Herz gebrochen, und sein Ringen nach Gelassenheit vermehrte das krampfige Zusammenziehen der Nerven, welches der Kurart völlig entgegen war. Er schrieb noch an Sophie: Gott ruft mich – murre nicht – folge der Tugend und Watsons Rath – dann werden wir ewig uns glüklich sehen!
Es dauerte lange Zeit, ehe Sophie ruhig und heiter ward. Herbst und Winter giengen sanft traurend vorüber. Doch hatte Watson gleich von ihr erhalten, der jungen Mis Kery ein Beyspiel von gedultiger Unterwerfung ihres Willens nach dem Willen der Vorsicht zu geben. Er erzählte dann der Mis Sophiens Schicksal, und beobachtete dabey den Hauptzug von Mis Kerys Charakter, denn die fürchterliche Idee, welche sie von der Armuth hatte, brachte sie wechselsweise in Bewegung des Mitleidens und Wohlthuns, und gleich darauf in Angst des Geitzes, daß es ihr einst fehlen mögte. Ihr Wohlwollen für Sophie erhielt sich; sie wollte als Schwester mit ihr theilen, und sagte Herr Watson, daß er es gleich mit den Spielgeldern anfangen möchte. Er lobte sie über diese Grosmuth ihrer Seele, und setzte hinzu: dieß will ich Mis Gallen sagen, und da wollen wir sehen, was sie dagegen thun wird.
Sophie hatte während der Zeit, als Herr Watson mit Kery sprach, ihren grossen Koffer ausgepackt, und alles in Schränke geordnet, die ihr angewiesen wurden. Dieses Beschäftigung hatte ihr viele Freude gemacht, weil sie ihre Laute, ihre schöne Zeichnungen und Musik in dem Koffer fand. Denn es war ihr lieb, ihre Talente zu üben, und sie zu zeigen. – Eigenliebe – wird man sagen – Ach! möchte niemand keine andre haben, als Sophie in diesem Augenblick hatte, so würden die Pflichten der Nächstenliebe nie beleidigt! – Herr Watson kam in Sophiens Stube, als sie an ihrer Laute stimmte. Er sagte ihr, wie sehr es ihn freue, noch einmal den Ton einer Laute zu hören, indem der erste Begriff von Musik, und das erste Gefühl von Harmonie durch das Spiel einer Laute in seine Seele gekommen sey, und nie hätte ihm eine andre Gattung Instrument das nemliche Vergnügen gegeben. Sophie sagte ihm mit einer Thräne im Aug, und seine Hand küssend: Auch diese Ähnlichkeit haben Sie mit meinem ersten Vater. O! hören Sie auch, was er so gern mich spielen hörte.
Es war ein schönes Andante. Watson dankte ihr, und sagte: – Ihre Laute wird den Abend meines Lebens doppelt verschönern, denn ich hoffe, sie soll den bittern Haß, der die junge Seele von Mis Kery vergält, völlig besiegen helfen. Sophie sah neugierig ihn an.
Ja – meine liebe Tochter! fuhr Watson fort, ich zähle auf Sie, als auf das letzte Hülfsmittel, durch welches die Liebe Gottes und des Nächsten in die Seele meiner Pflegtochter gebracht werden soll. Mis Kery ist das einzige Kind zweyer vortreflichen Eltern. Ihre Mutter starb, als sie vier Jahr alt war. Sir Kery wurde so traurig, daß er, um sich zu zerstreuen, eine Reise nach Indien vornahm. Aber noch vorher die Hälfte seines Vermögens auf Mis Kery versicherte, und sie seiner einzigen Schwester zur Erziehung und Vorsorge übergab. Da er wenig Zeit vorher Rosehill ausgebaut hatte, welches seiner Schwester Lady Brade wohl gefiel, so schenkte er dieser die Hälfte des Gebäudes mit der kostbaren Einrichtung zu ihrem Landhaus, und mich zog er hieher, um Mitvormünder über seine Tochter zu seyn. Sie wuchs mit Mis Brade recht artig heran, bis in ihr eilftes Jahr. Ich trug für den Unterricht der beyden Mis gleiche Sorgfalt. Lady Brade machte auch keinen Unterschied, den wir bemerken konnten. Sie wurde von Mis Kery Mutter genannt, wie von ihrer Tochter. Nur einmal zankten die Mädchen sich. Mis Kery hatte das Recht auf ihrer Seite, und drohte Mis Brade, alles der Mutter zu sagen. Diese antwortete, – das möge sie thun: ihre Mutter würde wegen einer Bruderstochter, die ihr so viele Mühe mache, ihrem eigenen Kind kein Misvergnügen geben. – Und würklich wußte sie die Sache der Mutter so vorzutragen, daß Mis Kery mit aller ihrer Versicherung, daß sie die Wahrheit sage, zurückgewiesen und gestraft wurde. Ich war den Tag abwesend. Die Leute im Haus wollten nicht gegen die Tochter der Lady reden. Sir Kery war schon sieben Jahr weg, und wir hatten seit zwey Jahren nichts mehr von ihm gehört. Mis Brade war auch einzige Tochter, sehr reich, und ein Jahr älter als unsere Kery, die bald nach diesem Vorgang noch einmal der Unwahrheit beschuldigt wurde, wo sie im Zorn sagte: – Leute, die in meinem Hause wohnen, sollten mir besser begegnen. – Da folgte wieder eine unvernünftige Strafe, und mitten in den Tagen, wo Mis Kery mit Vorwürfen geplagt wurde, brachen bey ihnen die Blattern aus. Es mag seyn, daß die heftige innerliche Verbitterung das Gift der Krankheit verstärkte, oder daß auch in der That die Leute weniger Sorge für Mis Kery, als für die Tochter der Lady hatten. Sie wurde so verstellt, daß man keinen einzigen Zug ihres Gesichts mehr erkennen konnte: es bliebe nichts ungekränkt, als ihr Auge, und ihr Wuchs. An Mis Brade aber hatte der Zufall, oder die Wartung alles artige erhalten, und von dem Augenblick der Genesung der beyden Mis wurde die Seele der Schönen mit Stolz, die von der armen Verunstalteten aber mit Haß und Neid erfüllt, der bey Miß Kery auf das höchste stieg, als ihre Tante von einer Reise nach London sprach, und die Unbesonnenheit hatte, erst lang von allen Ergözlichkeiten und Schönem der Stadt zu sprechen, und dann ihrer Nichte auf einmal anzukünden, daß sie hier bleiben müßte, weil ihr Gesicht gar nicht nach London tauge. Miß Kery wurde halb todt in mein Haus gebracht, weil sie über dieses Bezeugen erst in eine Art Wuth, und dann in Gichter fiel, die sich erneuerten, so oft sie einen Spiegel, eine schöne Person, oder nur ein Bild in dem Haus ansichtig wurde. Da ich nun dieses bemerkte, so bat ich, daß sie bey mir und meiner Schwester wohnen möchte, wo sie nur mich alten Mann, Frau Sarah mit ihren ehrwürdigen Runzeln, und unsere gute, aber auch alt aussehende Magd vor Augen haben würde. Es sind bald vier Jahre, und noch nie hat sie den Namen ihrer Tante ausgesprochen, noch nie einen Fus in das Haus von Rosehill gesetzt, und keine wohlgebildete Person als Sie mit Menschenfreundlichkeit angeblickt. Ich habe alle Beweggründe versucht, die mir für ihr Alter faßlich schienen: keiner däuchte mich gewürkt zu haben. – Nur das Mitleiden mit Ihnen war ein Strahl Hofnung zu moralischer Güte, der durch die finstere Gemüthsart von Miß Kery durchzudringen scheint. – Helfen Sie mir, Sophie! diese junge Seele mit dem Gefühl der Güte bekannt machen. – Sie hat nie Musik gehört, nie einen Bleystift zum Zeichnen in einer Hand gesehen. – Wenn ihr beydes gefiele, o! so sagen Sie gleich, daß Sie es sie lehren wollen. Sie liebt Vorzüge und haßt zugleich alle, die sie nicht besitzt. Sie hat viel Anlage zu Geist – helfen Sie mir alles das benützen, gute, theure Sophie! –
Herzlich gerne, bester Vater! Ach wenn der Verlust meines Glücks der Gewinst der Tugend für Miß Kery würde! – wenn Mitleiden ihr Herz öfnete!
Herr Watson betrachtete Sophien mit Bewegung: –
O meine Tochter! eine Seele, die auf meinen Vorschlag diese Antwort giebt, hat ihr Glück nicht verlohren. Es lebt in ihr, als eine lebendige Quelle. Sey heiter, edles Geschöpf Gottes! und glaube, du bist zu einer schönen Laufbahn berufen.
Sophie war gerührt, und weinte. Miß Kery kam in die Stube. Herr Watson drückte Sophiens Hand, und sagte:
Da ist Miß Kery selbst, dieser können Sie nun gleich für ihre Güte und Liebe danken.
Sophie bemerkte, was er wollte. Watson gieng nach seinen Geschäften, Sophie aber eilte gegen Miß Kery, und umarmte sie: –
Theure, gütige Miß Kery! nehmen Sie den ganzen Dank meines Herzens für alles das an, was Sie für mich thun wollen! – Herr Watson hat mir so eben Ihre großmüthige Gesinnungen entdeckt.
Miß Kery sah freundlich auf Sophie, und fragte:
Freut Sie es dann recht, daß ich Sie liebe?
Ja, beste Miß! es freut mich innig, daß mich Gott die Liebe einer so schönen Seele, wie die Ihrige ist, finden ließ.
Schöne Seele! wiederholte Miß Kery mit einer brennenden Röthe, und etwas Bitterkeit in ihren Zügen verbreitet. Sophie that nicht, als ob sie es sähe, und sagte ihr mit dem süssesten Ton der Liebe und Überzeugung:
Ja, mein Engel! Güte und Edelmüthigkeit sind die Eigenschaften einer schönen Seele vor Gott und Menschen, und jedermann, der hören wird, was Sie für mich thaten, wird mit Ehrfurcht sagen, daß die junge Miß Kery eine schöne edle Seele hat, und die Hochachtung und Liebe aller guten Menschen verdient.
Bey dem Ausdruck – Hochachtung und Liebe, sah Miß Kery ganz fest auf Sophien, mit dem artigen Lächeln, wie dieß, wenn man auf seinem Weg eine schöne Aussicht erblickt, welche man näher zu sehen hoft: Aber da indessen der Wagen weiter rollt, entzieht uns eine Krümme, durch welche ein Wald oder ein Berg vorkommt, diese Aussicht wieder, und nun ändert sich das Lächeln in halben Verdruß und halbe Trauer ab. – So war es mit Kery, die gleich wieder durch die Erinnerung der Vorwürfe von Häßlichkeit ihres Gesichts auch neuen Zweifel und Mißvergnügen in ihrem Auge zeigte. Sophiens Laute und alles lag noch auf dem Tisch.
Miß Kery sah neugierig hin, und fragte endlich, auf die Laute zeigend, was haben Sie da?
Meine Laute, die ich in freudigen Tagen spielte, und dazu sang. – Ich habe sie mit allem, was ich weiß, hervorgesucht, um zu sehen, liebe Miß! ob Sie nicht ein Verlangen zu etwas bekämen, was ich besitze weil ich es Ihnen so gern mittheilen wollte, wie Sie mir von Ihrem Golde geben.
Mis Kery sah auf die artige Zeichnung, auf die schöne Stickerey der grossen Tasche, worinn Sophie ihre Musikalien hatte, auf welcher der Schattenriß ihres Vaters und Mutter mit dem ihrigen, nebst den Noten der kleinen Lieblingsstücke von jedem recht nett gestickt war. – Mis Kery kam wieder zu der Laute zurück, befühlte sie sorgsam mit einem Finger. Denn sie war schön mit Ebenholz und Elfenbein eingelegt. Sophie ergriff sie, und zeigte sie ihr von allen Seiten, legte sie an, und ließ nur äusserst sanfte harmonische Töne hören. Mis Kery staunte, aber die Begierde mehr zu hören, war in allen ihren Zügen. Sophie fragte:
Darf ich Ihnen etwas spielen? Mis? –
Kery sprach nicht. Sie nikte nur eifrig – ja. Nun hörte sie bald die rührendste, bald die stärkste, erhabenste Stimmung. Mis Kery betrachtete bald die eine, bald die andere Hand von Sophien – dann ihr Gesicht und ihre Stellung – dann horchte sie mit niedergeschlagenen Augen. Endlich weinte sie, und umarmte Sophien:
O Mis Gallen! wenn Sie mich dieses lehren könnten, wie würde es mich freuen, denn ich liebe die Musik gar sehr.
Haben Sie niemals Musik gelernt?
Kery sagte erröthend vor sich hinsehend:
Nein! Klavierspielen hätte ich lernen können, aber die Person, die es zuerst spielte, war mir zuwider, und da mochte ich nichts anrühren und nichts haben, was sie angieng.
Hier blickte sie seitwärts nach Sophien hin. Diese sagte ganz theilnehmend:
O das geschieht oft, daß böse Menschen uns auch das angenehme verdrießlich machen. Es ist mir um so viel mehr Freude, daß Sie meine Laute und mich lieben.
Kery sagte dann:
Es ist wohl sehr schwer zu lernen? –
Für Sie nicht, liebe Mis! denn Sie haben Geist, alles zu fassen, und die Begierde zu lernen dabey, da wird alles leicht. –
Nun hieng sie Mis Kery die Laute an, legte ihr die Finger, und machte sie durch alle Saiten rauschen. Kery bebte, fühlte aber, da sie würklich ein sehr feines Ohr hatte, daß sie lauter Einklang hervorgebracht habe, und von der Stunde an hörte sie nicht auf zu lernen, bis sie in der That eben so weit, ja bald geschickter als ihre Meisterin war.
Watson und seine Schwester wurden entzückt zu sehen, daß diese Beschäftigung Sophiens Traurigkeit verminderte, und etwas sehr sanftes und wahrhaft Gutes in Mis Kery hervorbrachte. Die Gemüthsruhe, welche Sophie genoß, da Herr Watson nicht nur alles gütige Bezeugen eines nahen Verwandten für sie hatte, sondern auch durch die Sorge, mit welcher er für den Verkauf des von ihrem Oheim zurückgelassenen schönen Rings, und einem Paar Ohrgehenke, nebst den Spitzen und andern in der Einsamkeit zu Rosehill unnöthigen Kostbarkeiten bedacht ware, hatte Sophie auch einige hundert Guineen erhalten. Denn das Taschengeld ihres Vaters war für die Kosten der Krankheit und des Begräbnisses hinreichend. Sie behielt also auch die hundert Guineen des Oheims für sich, und Herr Watson hatte dabey eine vollkommene Ehrenrettung für Herrn Gallen nach seiner Vaterstadt geschickt; und die Abschrift seines Testaments dabey gelegt. Die Antwort darauf war auch so befriedigend für unsere Sophie, daß sie von dem Tag an wieder heiterer wurde. Denn man hatte darinn ihre Eltern und sie gelobt. Durch alles dieß kam sie wieder in den früh gewöhnten Gang ihrer täglichen Beschäftigungen. Sie übte alle ihre Talente. Sie laß viel, besonders die Geschichte von England, und die Schriften der Poeten und Moralisten. Herr Watson verabredete mit ihr die völlige Heilung der Mis Kery, und bewunderte, daß Sophie den Weg zu diesem Herzen viel sicherer gefunden hatte, als er. Sophie sagte einst darüber:
Sie haben Mis Kery die Strahlen der Wahrheit zu früh ohne Schleyer gezeigt, ich aber habe ihr den Werth des Lichts zuerst in den Farben des Regenbogens an einem noch düsternen Himmel gewiesen. Ihr Verstand konnte nur durch ihre Empfindung erleuchtet werden, und ich war durch mein Geschlecht und Alter näher bey ihr, als der Geist eines Mannes sich herablassen kann.
Mis Kery war mit dem Wort Schönheit ausgesöhnt, und Sophie gab immer der Anmuth den Vorzug. Sie lehrte Kery auch tanzen, und konnte mit Recht von ihr sagen, daß jeder Schritt und jede Wendung, die sie machte, einer Grazie würdig seyen. Darüber entstand zwischen Sophie und Mis ein langes Gespräch, worinn die Gesinnungen von Mis Kery völlig geändert wurden. Denn Kery fragte einst: –
Wie ist es möglich, daß Sie mir so oft schon sagten: – dieß war schön?
Weil ich es so fand, liebe Mis! –
O, ich müßte mich sehr geändert haben, denn vor fünf Jahren wurde ich wegen dem Mangel der Schönheit gehaßt und verachtet, und das machte mich sehr unglüklich: – ich wünschte oft zu sterben.
Arme Kery! Sie dauren mich darüber.
Ach Sie wissen nichts von diesem Kummer, denn Sie sind schön –
Meine theure Mis Kery hat wohl noch nie eine wahre Schönheit gesehen, weil sie mich dafür hält.
Sophie holte das Miniaturgemälde von ihrer Mutter, welche eine der schönsten Frauen gewesen, und in Miniatur es also noch mehr schien. Sie zeigte es Kery:
Sehen Sie, Mis! – das ist Schönheit – nun vergleichen Sie mich damit.
Mis Kery betrachtete Sophien und das Bild Zug für Zug, und sagte freymüthig:
Das ist wahr – bey diesem Bild sind Sie gar nicht schön; aber Sie dünken doch mich und alle Leute hübsch, und gewiß sind Sie in Rosehill auch noch schöner geworden, als Sie anfangs nicht waren.
Sie haben Recht, liebes Kind! daß ich jetzo besser aussehe als damals. Ich war mürrisch gegen die Vorsehung, daß sie mich arm werden ließ, und mir meinen Vater nahm. Ich war voll Zorn und Haß gegen meinen Oheim, der uns in das Elend gestürzt hatte, und mich nun allein, von allen Verwandten entfernt, in dem einsamen Rosehill sah. Es schmerzte meinen Stolz, daß ich, die zu Reichthum geboren und erzogen war, nun froh seyn mußte, daß ein armer Pfarrer mich aufnahm, und ein anderes junges Frauenzimmer meine Wohlthäterin würde. Alle diese Fehler der Seele verstellten mich häßlich. Aber da ich nach und nach die Verfügung der Vorsicht mit kindlicher Gelassenheit ertrug, meinem Oheim alles von Herzen vergab, und meine Talente wieder vorsuchte, um dadurch Ihnen, liebe Mis! meine Dankbarkeit zu zeigen, und dem würdigen Herrn Watson und Frau Sarah meinen Umgang angenehm zu machen, so verschönerten diese gute Gesinnungen meines Herzens auch meine Gesichtszüge immer mehr und mehr. Denn in meiner Jugend wußte man auch nicht ganz, was aus mir werden sollte, und meine Mutter sah viel schönere Mädchen, als ich war. Ich bemerkte es auch, und wollte immer den Putz der schönern Mädchen haben. Da kam ein Freund, und sagte: Sophie, der Putz vom Krämer wird es nicht thun – aber lernen Sie viel schöne und gute Sachen, da werden Sie das schönste Mädchen von der Welt. – O wie fleißig lernte ich alles, was Sie sehen, daß ich weiß? wie gern laß ich gute Bücher, um so mehr, als ich bemerkte, daß ich würklich etwas angenehmes in mein Gesicht bekam, das vorher nicht darinnen war?
Noch nie hatte Mis Kery auf alles so eifrig gehorcht, was Sophie ihr sagte:
Liebe Mis Gallen! es ist sehr viel Ähnlichkeit in Ihrer Geschichte mit mir. Sie haßten Ihren Oheim, und ich meine Tante – Sie waren mit Gott unzufrieden, daß er Ihren Vater nahm – o ich war es auch oft. Es verdroß mich auch bey Herrn Watson zu bleiben, weil ich durch die Blattern häßlich geworden war, so wie es Sie wegen Ihrer Armuth verdroß – und hören Sie – auch ist es wahr, seitdem ich Sie liebte, und mein Vermögen mit Ihnen theilen wollte, da sagten Sie mir gleich etwas von meiner schönen Seele, – und wissen Sie! daß Sie mir dieß auch öfters sagten, da ich die Laute gut spielen lernte, und dann das Französische leicht fort sprach. O Mis Gallen! – lehren Sie mich noch alles – alles was Sie wissen – daß ich Ihnen ganz ähnlich werde. Dann gehen wir einmal nach London, und ich zeige dann meiner Tante, daß ich eben so liebenswerth bin, als Mis Brade.
Frau Sarah, Sophie und Watson dankten Gott, daß das Gift von Haß endlich so weit aus Mis Kerys Seele vertilgt war; denn der kleine Entwurf von Rache und Eigenliebe bey der Reise nach London war ein natürlicher Nachhall aller widrigen Stimmung, die schon so viele Jahre in ihr wohnte.
Noch giengen zwey volle Jahre vorüber, und von Herrn Kery war nicht die mindeste Nachricht gekommen. Herr Watson wurde immer älter, seine Schwester kränklich, und die zwey Mädchen blühten an Geist, Liebenswürdigkeit und schönen Jahren fort. Denn wie bey dem Tod des Herrn Gallen angemerkt wurde, sproßte damals in dem garstigen Grund von Neid, der in Mis Kery lag, Tugend und Anmuth empor. Sie bekannte jezt frey, daß, wenn Mis Gallen an dem Tag ihres ersten Besuchs mit Frau Sarah so heiter und reizend ausgesehen hätte, als jezt, so würde sie eben so neidisch und gehäßig über sie geworden seyn, als sie es über andre war: – aber ihre dickgeweinte Augen und Lippen hätten Mis Gallen so verstellt, daß sie sich mit samt ihren Blatternarben für hübscher gehalten hätte, indem sie niemals über die Würkung der Thränen auf den Gesichtszügen nachgedacht habe: sie hätte Mitleiden gefühlt, weil Mis Gallen ihren Vater verlohr, und auch Freude, einmal eine jüngere Person als Frau Sarah, um sich zur Gesellschaft zu haben: deswegen hätte sie gleich ihr Vermögen mit Sophie theilen wollen. – Auch sezte sie mit Erröthen hinzu, weil sie ganz fremd war, und meiner Tante und Mis Brade nichts von mir schreiben konnte. Jetzo aber, meine Sophie! theile ich mit Ihnen aus Dankbarkeit, weil Sie mein Herz dem Glück der ausübenden Tugend geöfnet haben. Denn was wäre ich nun für ein elendes Geschöpf, wenn mit dem Wachsthum meines Körpers und meiner Jahre alle die widrige Gesinnungen meiner Seele, sich verstärkt hätten. – Sie wandte sich zum Pfarrer: – Ach lieber Herr Watson! wie viel Kummer muß ich Ihnen gemacht haben, da Sie mich so lange bösartig sahen? wie oft weinte meine gute Frau Sarah über mich. Frau Sarah, Sophie und Herr Watson umarmten hier Mis Kery auch mit Thränen: und zeigten ihr die zärtlichste Hochachtung für die edle Offenherzigkeit, mit welcher sie von den Quellen ihrer Fehler und ihrer Tugenden sprach. Herr Watson sagte:
Ich sah diese edle Grundlage immer in Ihrer Seele. Und da nur zufällige Umstände Sie erbittert hatten, so hofte ich, daß die Hand der Vorsehung diese einst wegräumen, und Sie in eine Lage bringen würde, wo Ihr Geist und Ihr Herz ihren ursprünglichen guten Gang nehmen können.
Mis Kery war gerührt, und fragte:
Ist es gewiß, daß Sie immer ein edles Herz in mir sahen?
Ja, theure Mis! denn ich sahe die Keime des Guten in Ihrem vierten Jahr, und ihr erster Unmuth entstand über ein starkes Gefühl von Unrecht, so Ihnen geschah, so wie Ihre Menschenliebe auch wieder bey der Überzeugung erwachte, daß Mis Gallen Ihrer Güte Gerechtigkeit erzeigte.
Nun breitete sich das angenehmste Lächeln über Mis Kerys Gesicht. Sie sah zugleich nach dem Fenster, und sagte dann:
Ich bin jetzo mit allen Menschen ausgesöhnt, und da will ich auch mit den leblosen Sachen wieder Freund werden. Es ist schön Wetter: wir könnten diesen Nachmittag meiner lieben Sophie mein Haus in Rosehill zeigen.
Dieser Vorschlag wurde mit Freuden bewilligt, und es war seit sechs Jahren das erstemal, daß Mis Kery ihr Haus nannte und zu sehen verlangte. Sie kleidete sich sorgfältig und äusserst artig dazu an. Niemand that, als ob man diese Sonderheit bemerkte, und sie begehrte, Herr Watson möchte den Weg durch das Stück des Gartens nehmen, das sie auch aus Eigensinn so lang nicht betretten hatte, weil es das vorzüglich geliebte Stück ihrer Tante war. Sophie, welche mit einer unendlichen Fühlbarkeit jede kleine, und jede grosse Schönheit der Natur betrachtete, wurde über diesen würklich schönen Theil des Gartens von Rosehill, da alles in Blüthe war, ganz entzückt. Mis Kery beobachtete es, und sagte ihr mit Trauer:
O vergeben Sie mir, liebe Gallen! daß ich Sie des Vergnügens, welches Sie wirklich empfinden, so lang beraubt habe, weil ich meinen unartigen Widerwillen erst jezt überwand.
Seyn Sie ruhig, liebe Mis! denn, wenn ich es nun schon so oft gesehen hätte, als die übrigen Stücke des Gartens, so würde mein Vergnügen nicht so neu, und nicht so stark seyn, wie es diesen Augenblick war.
Mis Kery fiel Sophien um den Hals, und sagte ihr zärtlich:
Geliebtes Vorbild jeder Tugend! wie werth machen Sie mir den Platz, da Sie mir zeigen, wie alles – alles zu unserer Ruhe in einem guten Sinn genommen werden kann?
Sie durchgiengen alle Zimmer des kostbaren edlen Gebäudes, das für Mis Kery eben so neu schien, als für Sophie selbst, welche diesen Flügel des Hauses nicht gesehen hatte. Da sie in dem grossen Saal waren, ließ Mis Kery alle Fenster aufmachen, und sagte dann zu Sophie:
Kommen Sie mit vor diesen Spiegel, den ich vor sechs Jahren mit einem Hammer zerschlagen wollte, nachdem mich meine Tante bey meinen anhaltenden Bitten nach London zu kommen, herführte, und mir alle Flecken und Masern meines Gesichts zeigte. Mis Brade stand neben mir, wie jezt Mis Gallen. Aber sie war bey dem Anblick ihrer Vorzüge nicht so bescheiden, als Sie es sind; denn sie sagte, was ich mit meinen Rissen und Flecken in Hydepark und Ranelagh thun wolle.
Nach diesem sah Mis Kery stillschweigend nach sich und Sophie in dem Spiegel, der so groß war, daß man die ganze Figur darinn sehen konnte. Herr Watson und Frau Sarah waren nun auch näher gekommen, Mis Kery küßte beyden die Hände, und umarmte Sophien:
Haben Sie Dank, alle drey! – für alles, was Sie an Gedult und Güte für mich gethan haben. – Ich bin in dem innersten meiner Seele mit allem zufrieden, was ich bin, und bekenne jetzo frey, daß ich mich heut wegen diesem Spiegel so hübsch kleidete, weil ich fürchtete, daß ich ohne sorgsamen Putz neben Mis Gallen zu tief herunter sinken würde. Aber Sie haben mich so umgebildet, daß ich nun meine Gestalt recht gerne behalten will.
Watson antwortete ihr: –
Sagten wir dann nicht immer, daß Sie Ihrem edlen schönen Vater ähnlich sind und artig aussehen?
Ja, aber ich fühlte dann auch immer mit meinen Fingern die Backengruben in meinem Gesicht. Deswegen mochte ich nie in einen Spiegel sehen. Nur gefiel mir mein Schatten im Teich, und dann auch im Gehen schien ich mir angenehm zu seyn, wie Mis Gallen es sagte. Dann ich habe oft, wenn wir gegen Abend auf dem breiten Gang spazieren giengen, Ihren Schatten und den meinigen gegen einander betrachtet, wie ich jetzo Ihr Gesicht und meines im Spiegel ansah. Ich machte mit kindischer Eigenliebe manche Bewegungen der Arme und des Kopfs, wenn ich allein gieng, um zu sehen, ob es mir gut stünde. Nach und nach wurde ich immer vergnügter, weil ich mir liebenswürdig schien, und Sie wurden mir alle lieber, weil ich überzeugt war, daß Sie mich in nichts betrogen hatten, und alles thaten, um mich zu verschönern: – denn – ich kann mir nicht helfen – ich wollte liebenswürdig seyn. –
Theure Mis Kery! sagte Watson, Sie zeigen uns heut eine so schöne Seele, welche die größte Zierde einer jeden Gestalt seyn würde. Bleiben Sie bey den jetzigen Gesinnungen, und – glauben Sie mir – jeder geistvolle Kenner des wahren Schönen wird Sie hochschätzen und lieben.
Mis Kery dankte mit vieler Anmuth durch eine Verbeugung voll edler Würde: –
Ich freue mich über diese Versicherung. Aber, lieber Vater! wie konnten Sie meinem unartigen Eigensinn, dieses Haus nie zu betretten – jede schöne Person, ja das Wort selbst zu hassen, so viel nachsehen?
Weil ich überzeugt war, daß Mis Kery einmal ein sehr kluges Frauenzimmer seyn, und sich in einer Stunde von allem diesem losmachen würde. Der Besuch in diesem Haus war nicht nöthig. Er hätte Sie auch durch den Anblick der Bildnisse Ihrer Eltern noch auf einer andern Seite betrüben können, wie der Spiegel mit Ihrem eigenen Wiederschein es that. Sie müssen selbst fühlen, ob irgend ein Zwangsmittel bey Ihnen gefruchtet hätte, und ich kannte die menschliche Seele zu wohl, um nicht überzeugt zu seyn, daß bey einem Kind von eilf und zwölf Jahren, in welchem Anlage zu Stärke der Seele ist, jeder gewaltsame Bug etwas verderbt. Ich sprach Ihnen von gelehrten Damen, und unterrichtete Sie im Lateinischen, um dem Stolz Ihrer Seele eine Aussicht auf edle Vorzüge zu öfnen. Ich wollte Sie auf den Weg der Wissenschaften führen. Die Geschichte und das Rechnen besonders freute Sie –
Hier fiel Mis Kery ein:
O Vater Watson! warum sagen Sie, daß das Rechnen mich besonders freute? – nicht wahr, weil ich immer mir Guineen rechnen wollte?
Watson lächelte, und sagte:
Ja, Mis! – es war eine schmerzliche Entdeckung für mich, in Ihrer Seele einen Hang zu Geiz zu sehen – in der Blüthe des Lebens, wo man sonst alles mit vollen Händen wegwirft.
Die Schuld lag nicht in mir, sondern in der Person, die meine Tante mir und Mis Brade zugegeben hatte. Diese erzählte uns immer von dem Glück und Vergnügen, welches schöne und reiche Ladies genössen. Wir waren beyde Erbinnen und hübsche Mädchen; und so jung wir waren, so machten wir doch Entwürfe zu prächtigen Kleidern, und Aufzügen bey Ball und in Bädern. Die Blattern raubten mir jede Hofnung zu Schönheit: die Person suchte mich durch den Reichthum zu trösten, den mein Vater aus Indien bringen würde. Und da nach so vielen Jahren keine Nachricht von ihm kam, verlohr ich auch diesen Trost, und wollte also nichts mehr weggeben, um zu sparen, damit der Ruhm von Reichthum mir einmal ein Ansehen gebe.
Warum sagten Sie mir dieses nicht, Mis Kery? wie nützlich wäre es für Sie und mich gewesen, wenn ich die verkehrte Art gewußt hätte, womit diese unglückliche Person Ihnen und Mis Brade das Herz verdarb, und beunruhigte.
Sie wissen, lieber Vater! daß ich einigemal wegen Klagen über diese Person vielen Verdruß hatte. Ich wollte sie also nicht mehr nennen, um keines Hasses beschuldigt zu werden, und dann redeten Sie oft gegen die Belustigungen der Reichen, die mir doch so angenehm vorgestellt waren, daß ich sie immer wünschte. Da dachte ich nur reich und groß zu werden, wo ich thun könnte, was ich wollte, um mir Freunde zu machen.
Watson faltete die Hände:
O Gott! wie höchst wichtig ist das erste Bild des Glüks und Vergnügens für eine junge Seele! Möge es jeder Wärterin von einem Engel eingegeben werden, weil der verkehrte Begriff davon in dem ersten Umriß dieses Bildes besteht, den diese Leute den Kindern geben!
Sophien war der Gedanke des Lateins aufgefallen. Sie drohte Mis Kery mit dem Finger. –
Sie wissen das Lateinische? und haben mir nie etwas davon gesagt?
Mis Kery war würklich betretten, und sah, indem sie Sophiens Hand faßte, mit Verlegenheit nach Herrn Watson, der auch das Wort nahm und sagte:
Liebe Sophie! Sie müssen mir und Mis Kery vergeben, und die Ursache unseres Schweigens hören. Sie wissen, auf was für eine edle Art Sie unserer Kery alle Ihre schöne Kenntnisse mittheilten, und wie begierig sie alles faßte und trieb, weil sie an dem Ende die gewünschte Änderung ihrer Züge zu sehen hofte. Diese Aussicht konnte ich ihr bey meinem alten Latein nicht geben, und Sie hatten bey dem, was Sie von ihrer Erziehung sagten, nichts davon angemerkt, sondern nur bey einem Anlaß erhoben Sie die Kenntniß dieser Sprache, als einen Vorzug der Männer. – Mis Kery bat mich, Ihnen nichts davon zu sagen, weil sie keinen ausgezeichneten Vorzug vor Ihnen haben wollte, und ich schwieg auch aus der Ursache, weil würklich das Latein nichts zu der Liebenswürdigkeit und Sanftmuth des weiblichen Charakters beyträgt.
Sophie antwortete:
daß sie dieses gerne glaube. Denn sonst würde es mit ihrer und so viel tausend anderer Mädchen ihren Hofnungen auf Liebe und Achtung sehr übel aussehen. Mis Kery aber würde durch die Aufopferung eines schon erworbenen Talents zu viel thun. – Ich wüßte nicht, ob ich dieser Grösse der Seele zu Schonung der Eigenliebe eines andern fähig gewesen wäre. Mis Kery sollte doch das versäumte nachholen, und mir erlauben, daß ich ihr Gesellschaft leiste: es könnte eine schöne Winterarbeit werden.
Kery sagte: ja – dadurch theilen wir den Vorzug der Männer, auf den sie so stolz sind.
Würklich setzten sie dieses Vorhaben durch, und es gab Herrn Watson manchen angenehmen Tag. Bey Mis Kery aber entstunden zwey neue Bewegungen der Seele, von welchen sie durch keine Vorstellung abzubringen war. Die eine kam ihr bey Erklärung der so genannten Steinschrift, wo alle Grabmäler in der Westmünster Kirche durchgegangen wurden. Da mußte Watson ein Denkmal für Herrn Gallen ausarbeiten lassen, welches in einer Piramide bestund, mit der Aufschrift:
Dem Andenken eines edlen und rechtschaffenen Mannes, Johann Gallen, aus Niederteutschland, dem unverdientes Unglück das Leben raubte – von der Freundin seiner Tochter Sophie, welche das Erbtheil seiner Tugend und Kenntniß mit mir theilte. Anna Kery.
Es wurde in einem schönen Theil des Parks, welchen Sophie am meisten zu lieben schien, aufgestellt. Der ganze Gedanke war so edel, daß es Herr Watson gerne eingieng, und nur wünschte, daß jedes heftige Verlangen eines reichen Jünglings oder Mädchens auf Gegenstände gerichtet seyn möchte, die ihrem Geist und Herzen eben so viel Ehre und Vergnügen geben könnten, als dieser Wunsch für Mis Kery hervorbrachte. Sophie wurde von diesem Beweis der Liebe und Achtung ihrer Freundin äusserst gerührt, bat aber, daß man sie das erstemal allein hingehen lasse. Herr Watson fand es billig, weil die Ergiessung der innersten Gefühle unserer Seele ein Heiligthum ist, welches allein von dem Allerheiligsten gesehen werden solle.
Sophie gieng früh, da alles noch ruhte, hin. Aber Kery und Watson hatten der menschlichen Neugierde nachgegeben, und sich in das nahe zwischen den Bäumen versteckte Kabinet geschlichen, von wo sie unbemerkt alles sehen konnten. Sophie war in einem weissen Leibrok, ohne Hut, ihre braune Haare nachläßig geordnet, keine Handschuh, keinen Stock. – So gieng sie, erst eilend durch den verwundenen Gang, in den man aus dem Kabinet zwischen den Ästen der Bäume sehen konnte. Als sie aber aus diesem Gang heraus kam, und die Piramide erblickte, blieb sie mit Zusammenfaltung ihrer Hände stehen, und näherte sich dann langsam, bald nach dem Himmel, bald nach der Piramide sehend. Je näher sie aber dem Denkmal kam, je stärker flossen die Thränen über ihre Wangen herunter. Sie kniete auf der ersten Stufe nieder, betete leise mit gegen die Piramide ausgebreiteten Armen, stund auf, und wankte die vier Schritte, welche sie über die Platte des Fusgestells machen mußte, laß die Aufschrift, und heftete ihren Mund auf den Namen ihres Vaters, weilte lang mit vielen Thränen und geschlossenen Augen auf diesem Platz, laß dann weiter, und küßte innig den Namen Anna Kery mit vieler Zärtlichkeit, umfaßte dann, so weit ihre Arme reichten, den Stein, küßte Kerys Namen wieder: –
Gott segne dich! edle – edle Seele! – rief sie aus: – und auf ihre Knie sinkend, erhob sie ihre bittende Hände:
Ewiger Gott! lohne Kerys Güte durch das Wiedersehen ihres Vaters!
Dann gieng sie um das ganze Denkmal, betrachtete es, fühlte es an. Ein Zug Gefälligkeit und Vergnügen schimmerte in ihren Augen und Mienen. Sie berührte jeden Buchstaben, legte ihr Gesicht an die Aufschrift, küßte sie noch, und eilte hinweg. Mis Kery war froh, weil sie nun laut schluchzen konnte. Denn Sophiens Gebet für sie, ihre Küsse auf ihren Namen hatten sie unendlich gerührt. Aber es entstund auch eine neue Bildidee in ihr. Sie sagte Herrn Watson:
Wie schön würde dieser Platz, wenn Sophiens Gestalt so wie sie war, als sie die Piramide umfaßte, in weissem Marmor da stünde, und auf der Seite ein Altar, an dessen Stufen ich kniete, und die Aufschrift sagte, da meine Freundin mich, und ich sie anschaute. »Bey dem Denkmal deines verstorbenen Vaters bete ich um Erhaltung des meinigen.«
Watson versprach ihr, Erkundigung nach den Kosten und den Anstalten einzuziehen, die man machen müßte, um die Bilder ähnlich zu haben. Denn er hatte sich vorgenommen, in Kerys empfindlicher Seele keinen entstehenden Gedanken zu bestreiten, von dem ihr Verstand und Gefühl ihr sagte, daß er schön und gerecht sey, wie es in der That dieser Einfall war. Er dachte, »wenn ich ihr nun zu dem Ausmalen dieses Entwurfs helfe, so genießt sie die Schönheit der Blüthe eines Wunsches, dessen Erfüllung möglich ist, und den sie um so mehr liebt, weil die Hofnung auf den Beyfall jeder schönen Seele mit dabey ist. Der Zufall führte den Anlaß der Entstehung her, er kann auch ihrem Verstand die Hindernisse der Ausführung deutlich zeigen, und sie hat sich indessen an dem schönen Bild ergözt, und halb gesättigt.« Er urtheilte ferner, daß Miß Kery von diesem Entwurf eher abgehen würde, als sie von Gallens Denkmal zurück wäre, weil dieses vielmehr auf sie träfe, weil eine edle Seele immer eher einen Wunsch, der sie angeht, aufopfert, als das Verlangen, welches für das Wohl eines andern in ihr liegt.
Mis Kery heftete sich nun mehr an Sophie als vorher. Aber sie gieng nun auch beynah alle Tage in Rosenhills Zimmer, wo die Bildnisse ihrer Eltern waren, und sog gleichsam an dem Bild ihres Vaters neues Verlangen nach ihm, und nach ihrem gedachten Altar ein. Herr Watson mußte einmal mit ihr zu diesem Bild, und sagen, welche Züge ihr Vater wohl noch so ganz kenntbar mit zurückbringen würde; denn, daß seine Gesichtsfarbe braun seyn werde, sagte sie selbst. Herr Watson sagte ihr darüber alles, was muthmaßlich dreyzehn Jahre vermehrtes Alter, die Beschwerden der Seereisen, vielleicht auch Reisen zu Land in diesem Welttheil würken konnten. Wenige Tage nachher traf es sich, daß etwas in Ovids Elegien gelesen wurde, und gerad die Stelle vorkam, wo der Dichter die Beschreibung eines Schifs, und die Sorgen des Untergangs in einem Sturm malt. Herr Watson hatte es erst vorgelesen, und Mis Kery war so durchdrungen, daß der Gedanke, ihr Vater sey auf dem Meer umgekommen, sie nicht mehr verließ: sie wollte auch den Altar nicht mehr haben, sondern sagte zu Sophie:
Jetzo, Liebe! kannst du mich zu dem Denkmal deines Vaters mitnehmen. Ich bin eben so unglücklich als du.
Sie nahmen ihre Lauten mit, und Sophie mußte nach ihrer vorzüglichen Kenntniß in der Musik auf der Laute einen Gang finden, wozu Ovids Verse über den Schifbruch gesungen werden konnten. Sophie jammerte bey Herrn Watson darüber, daß sie an einem der schönsten Tage diese traurige Stimmung in Mis Kery unterhalten müsse: Er sagte ihr eben so gerührt, aber ruhiger:
Gehen Sie immer mit hin, liebe Tochter! es wird aufhören, und gewiß kommen eben so glänzende Freudentage für Sie beyde. Lassen Sie Mis Kery alles sagen, alles thun, was in ihrem Herzen liegt. Nur singen Sie auch, wenn heut die Idee von Ovids Klaglied wieder mitgehen sollte, die Verse der Landung etwas munter nach, und sehen, was sie würken!
Sophie folgte Herrn Watsons Rath. Mis Kery horchte ihr zu, lächelte:
Ach Sophie! Landung – ja, was nüzt es mich, daß mein Vater in Indien landete, wie er uns schrieb? – mich dünkt, in Engelland landet er nimmer.
Liebe Kery! von den Todten ist wohl keine Wiederkehr. Aber so lange Gott den Körper und Seele vereinigt läßt, so muß Hofnung auf jedes Vergnügen beybehalten werden. Halten Sie Ihre Hofnungen wachsend und zunehmend, wie es die schöne Anlage des Parks vor uns ist.
Sophie zeigte ihr dann die schöne Aussicht, die man von den Stufen von Gallens Denkmal, auf denen sie sassen, von zwey Seiten hatte. Kery sah hin und sagte:
Ich fühle wohl, daß es schön ist – dieses abwechselnde Grün, und die Blüthe der mannigfaltigen Stauden und Bäume. – Ich sehe mit Theilnehmung die erneute Freude in der ganzen Natur. Aber bald, meine Sophie! geht es in meiner Seele, wie in der Seele des guten Amerikaners, der über den Verlust seines Sohnes die Sonne und das Grüne der Felder nicht mehr achtete. Die innere Trauer um meinen Vater sagte mir schon oft, wenn ich den Park ansähe: – »diese von ihm so sorgsam gepflanzte Bäume blühen nicht für ihn.« und wenn ich dieses denke, so verliehren die Blumen ihre Schönheit, und alle Anmuth des Gartens dünkt mich nichts, als die Verzierung seines Grabs zu seyn.
In dem nemlichen Augenblick hörten sie hinter der Pyramide gehen, und deutlich – Liebe Kery! ausrufen. Herr Watson kam mit drey Fremden hervor, wovon einer die Arme ausstreckte, und mit der nämlichen Stimme – Kery! rief. Die Mädchen waren gleich bey dem Geräusch aufgestanden, Mis Kery schaute schreckhaft nach dem Fremden hin, warf sogleich ihre Laute weg, und sank auf ihre Knie. – »Mein Vater! Er war es« – Herr Watson hatte ihn hingeführt, damit er die Liebe seiner Tochter sehen möge. Herr Kery warf sich zu ihr, umfaßte sie. Sophie gab ihr Geist zu riechen. Sie erholte sich, und hing dann sprachloß an seinem Hals. Sophie, Watson, und die zwey Fremde hatten Thränen in den Augen. Mis Kery bemerkte einen Blick, den Sophie auf die Pyramide heftete, und die von Natur höchst edle Seele von Mis Kery fühlte diesen Blick. Sie reichte mit einem Arm nach ihr: –
O Sophie! vergieb dem Schicksal, daß ich meinen Vater bey dem Denkmal des deinigen wieder finde. – Komm! – Er soll auch dein Vater seyn.
Theure Mis Sophie! sagte Herr Kery, da er ihre Hand nahm, welche seine Tochter ihm darbot – ich will alles für Sie seyn, was ich kann!
O mein Vater! ohne Mis Gallen verdiente ich nicht Ihr Kind zu seyn.
Mit unaussprechlichem Ausdruck bei Erhebung ihres Kopfs fuhr sie fort mit gefallenen Händen zu sagen: –
Ewiger Vater! ewigen Dank für –
Sie konnte nicht ausreden, sondern umfaßte den Arm des Herrn Kery mit einem Gefühl, das man in ihrer ganzen Stellung laß. Endlich weinte sie, und wurde ruhiger, um Fragen zu machen, und zu beantworten. Ihre Laute war auf dem Stein in Stücke zerfallen. Sie sah bey dem Weggehen darauf, und sagte lächelnd:
Es ist recht – du sollt nicht mehr tönen – Trauerlaute!
Sie küßte auch Watsons Hände:
O Vater Watson! was Glück haben Sie mir gegeben! – Sie – Sie haben mein Leben für diese selige Stunde erhalten. O Vater Watson! was Glück haben Sie mir gegeben! – Sie – Sie haben mein Leben für diese selige Stunde erhalten. Bald darauf ertönte ganz Rosehill von der Freude der Einwohner, über die Wiederkunft des Herrn Kery. Alle Pächter, Weiber und Kinder liefen zu. Alle Gänge des Parks wimmelten von alten und jungen Leuten. Alle hatten ihre Arbeit und ihre Häuser verlassen, und liefen mit der Frage: – wo – wo ist er? – Segen, Freudenthränen, Willkomm rufen – Glück für Mis Kery, die an ihres Vaters Hand gieng, alles das war ein Schauspiel für Engel.
O Menschen, die ihr Herrn über andre Menschen seyd! – Ach! liebt eure Gewalt und euren Reichthum um des Wohlthuns willen, – um der Liebe willen, die der gemeine Mann so gern giebt, wenn er Güte sieht!
Herr Kery hatte bey seiner Abreise seinen Pächtern zu einem Andenken von ihm ein halbes Pachtjahr geschenkt, nachdem er immer sehr liebreich mit ihnen umgegangen war. Sie bekamen wieder das nemliche Geschenk bey der Ankunft. Sie sagten aber alle, »sie würden gerne die Abgaben zahlen, wenn er nur jetzo da bliebe.«
Frau Sarah war in Rosehill, und hatte schon angeordnet, wo die zwey Fremde wohnen sollten. Auch hatte sie das Abendessen besorgt. Herr Kery fragte seine Tochter, wie sie ihn denn gleich erkannt habe:
Ach! weil Sie das Kleid von Ihrem Bild, und die ganze Stellung davon hatten, und weil Herr Watson mir vor acht Tagen alles von Ihren veränderten Zügen so deutlich vorsagte.
Herr Kery umarmte sie, und erzählte nun, daß er denselben Nachmittag schon in Rosehill gewesen sey, und alles gehört habe:
O mein Vater! das sind ja schon so viele Tage – wie konnten Sie mich noch seufzen lassen?
Ich mußte meine zwey liebe Pflegsöhne abholen, und war mit der Freude zufrieden, dich vorbereiten zu lassen. Vater Watson und seine Tochter Sophie haben es gut gemacht, obschon Sophie nichts wußte. – Ich hatte in London von einem Bedienten meiner Schwester, der mich nicht kannte, gehört, daß du in Rosehill geblieben, weil dich die Blattern so häßlich gemacht hätten. – Das schmerzte mich sehr – (sagte er, einen von den zwey Fremden ansehend) denn meine kleine Kery war ein so schönes Mädchen, als ich abreißte.
Mis Kery erröthete, und schien verlegen, aber ihr Vater fuhr fort: –
Sey zufrieden, Liebe! du bist mir das schönste Geschöpf, und hier mein Sohn Reland sagte mir, daß du mit Anmuth übergossen seyest.
Der junge Mann bückte sich mit dem edelsten Anstand gegen Mis Kery, die bescheiden ihre Augen niederschlug, und von ihrem Vater herzlich umarmt wurde.
Sie verschwazten mit unterbrochenen Fragen und Erzählungen die halbe Nacht, bis Herr Kery sagte: »Ich hoffe, meine Lieben! noch Jahre lang von meinen Reisen zu sprechen. – Ich will nun schlafen, und Morgenfrüh meines Watsons Tagbuch auslesen, damit ich meine Anna und ihre Freundin Sophie ganz kennen möge.« Die zwey Fremde begleiteten die Frauenzimmer nach Hause, die sich dann vieles zu sagen hatten von der Rückkunft des Herrn Kery, und von den zwey Fremden, die sie sehr artig fanden, ob sie schon nicht auf Europäischen Boden gewachsen wären.
Herr Kery kam mit ihnen zu frühstücken, und umarmte beyde mit gleicher Zärtlichkeit, indem er sagte: »Nun weiß ich und meine Söhne alles, was seit meiner Abreise hier vorgieng. Ihr habt beyde viel gelitten, und viel schönes gethan. Kery! dein Herz sagt dir selbst, wie viel du Mis Sophie schuldig bist. Ich möchte wohl, daß sie meine zweyte Tochter würde.« – Mis Kery faßte gleich Sophien bey der Hand:
Komm! Knie dich mit mir zu unserm Vater! – Laß dich von ihm segnen! – Sey gern meine Schwester, wie du meine Freundin warest!
Herr Kery segnete beyde herzlich, und nach dem Frühstück erzählte er ihnen, Herrn Watson und Frau Sarah einen Auszug seiner Begebenheiten in Indien, besonders aber von der Freundschaft, welche er von den Eltern der zwey jungen Relande genossen hätte: »Wenn meine Briefe alle richtig eingekommen wären, so müßte euch diese Familie schon bekannt seyn. Ich habe dem redlichen Vater dieser zwey vortreflichen Jünglinge alle das große Glück zu danken, das ich mitgebracht habe. Er sorgte als Bruder für mich, und dem Himmel sey Dank! daß ich es ihm noch vergelten konnte.«
Herr Kery sagte dieses mit einer Rührung, die alle um so aufmerksamer machte, und er fuhr fort:
»Mich freut, meine Anna! daß du so ganz meine Tochter bist, daß alles so fest in dir haftet, wie in mir. Doch mein Kind! ist es Glück, daß dieses Festhalten auf lauter Gutes verwendet wurde, sonst könnten wir die Qual der besten Menschen geworden seyn. Die Trauer um deine Mutter riß mich aus meinem Vaterland. Ich mußte ein großes Gegengewicht haben, um den Schmerz zu überwiegen, den ich fühlte. Die Mühseligkeit und Gefahr der Seereise schien mir kaum so viel Stärke zu haben, als die Empfindungen, welche in meiner Seele waren. Aber endlich drangen so viel neue Gegenstände um mich, daß mein Geist erweckt wurde, und ich wollte nun das Land und die Leute nach meiner Art kennen lernen. Reland bot mir die Hände zu allem, was ich thun wollte, und gab mir zugleich jede Süßigkeit der Freundschaft zu geniessen. Vor fünf Jahren machte ich eine große Reise in das Innere des Lands, nachdem ich zwey von ihren Sprachen vollkommen gelernt hatte. Ich blieb beynah zwey Jahre aus, und war in meinen Bemerkungen und meinem Handel für mich und Herrn Reland sehr glücklich, freute mich ohnendlich, als ich sein Haus wieder erblickte. – Aber – wie erschrack ich, ihn und seine Frau elend aussehend, und in voller Verzweiflung zu finden. Vier Sklaven hatten ihre beyde Söhne entführt, und sie wußten seit einigen Monaten nicht, wo ihre liebe Kinder waren. Mein Herz zerriß auch um die Eltern und die holde gute Knaben. Ich wußte nichts als Thränen zu geben, aber der Entschluß folgte gleich nach: ›Ich will eure Söhne suchen. – Wir müssen doch wissen, ob sie todt oder lebend sind.‹ Sie wollten es nicht zugeben, ob es sie schon freute. Da gieng ich Nachts mit sechs der treuesten Leute fort, brauchte aber noch einige Monate, bis ich sie fand, und loskaufte. Sie waren von dem einen Bösewicht sehr mißhandelt, und noch dazu voneinander getrennt worden. Und kaum erkannte ich noch die Gestalt der Söhne meines Freunds, weil sie nur als Gerippe mit Narben bedeckt in meine Arme kamen. Richard der ältere hatte am meisten gelitten, weil er dem grausamsten der Entführer zu Theil geworden. Er wurde auf einer Matte zu mir getragen, denn er hatte den Morgen noch unmenschliche Schläge erhalten. O was litte ich bey dem Anblick der noch träufelnden Wunden des guten Jünglings, der sich kaum bewegen, kaum sprechen konnte, und nur mit einem sterbenden Äug seine staunende Freude und Hofnung ausdrückte, als ich zu ihm auf die Erde kniete, ihn küßte, und über ihn weinte.
Sein Bruder warf sich neben ihn, und schluchzend sagte, Richard! wir sind frey!«
Mis Kery und Sophie weinten bey dieser Erzählung, und küßten die Hände ihres Vaters. – O Gott! segne Sie ewig! sagte Sophie, edler, wahrer Freund! –
Herr Kery, der zwischen seinen Töchtern saß, lächelte sanft auf beyde, und küßte sie:
»Ich ließ, fuhr er fort – den armen Richard durch meinen Bedienten verbinden, und bat Gott, ihn zu erhalten, denn er war äusserst schwach und entkräftet. Der Vorgesetzte der Maratten, so bey der Verhandlung war, bot mir eine Strafe gegen den grausamen Sklaven an. Ich verwarf es, nachdem ich Richarden gefragt hatte, ob er sich zu rächen wünsche? Er sah gen Himmel, und sagte: ›Nein – nein – aber fort – in Sicherheit, bey meinem Vater sterben.‹« Armer, guter Jüngling! – sagte Sophie.
Herr Kery drückte ihre Hand mit einem bedeutenden Blick auf sie, und endigte seine Erzählung:
»Ich gab meine Geschenke, und erhielt meine junge Freunde, die ich tragen ließ, und mit meinen Leuten abwechselte, als die acht Maratten den zweyten Tag von uns giengen, die der Vorgesetzte mir als Träger mitgegeben hatte. In der Nacht kam ein schöner junger Mann von ihnen zu uns, und rief nach John Reland, der schlief, aber geweckt wurde, und den Maratten umarmte, der ihn auf den Knien bat, ihn mitzunehmen, und mit ihm zu thun, was er wollte. John bat mich, es zu thun. Denn dieser Jüngling habe Sorge für ihn getragen, und ihn, nachdem er das viertemal grausam geschlagen wurde, loßgebeten, mit zerkauten Kräutern bedeckt, geheilt, und geschützt. Er kam mit, und wurde gut belohnt. Ihr werdet ihn sehen, denn er ist Johns Bedienter.«
O das freut mich! sagte Mis Kery.
»Denke dir, meine Tochter! die Freude der Eltern, und den Segen, den sie auf ihren Knien über mich ausschütteten, und lasse dir es lieb seyn, daß dein Vater diesen Segen erwarb.«
Mis Kery kniete sich, küßte seine Hände, und versicherte, daß sie sich glücklicher achtete, seine Tochter zu seyn, als die eines Fürsten.
Herr Watson freute sich, daß Gott des Herrn Kery Bemühung gesegnet habe, und Frau Sarah sagte: Sie wundere sich jetzo nicht über die Liebe, welche die zwey junge Männer für Herrn Kery hätten. Er wäre wohl mehr als Vater für sie gewesen. – Herr Kery erwiederte:
»Ach! ich wurde es nur zu bald. Die Mutter hatte sich so sehr gegrämt, daß die Freude, über das Wiedersehen ihrer Söhne nicht mehr hinreichte, ihre Gesundheit wieder herzustellen. Sie beschwor ihren Mann und mich, daß wir nach Europa zurück sollten, und ihre Kinder in England festsetzen möchten. Die Söhne mußten ihr versprechen, Indien nie wieder zu betretten. Mein Freund war es auch zufrieden, und wir machten alle Anstalten, uns und unser Vermögen glücklich überzubringen. Aber es verzog sich bis jetzo, weil Herr Reland bald krank bald gesund war, und endlich auf der Reise, die er ohne anders antretten wollte, starb, da er mich zum Vater und Vormund seiner Söhne machte. Ich erzählte ihnen unterwegs, daß ich hofte, ihnen in meiner einzigen Tochter eine liebenswerthe Schwester zu zeigen, ja, daß ich wünschte, zwey recht gute Töchter zu haben, die sie lieben könnten, so würde ich sie beyde recht gerne noch näher mit meinem Herzen verbinden.«
Beyde Mägdchen errötheten hier, weil Herr Kery auf beyde blickte, aber fortsprach:
»Richard sagte nichts, aber John wollte, daß ich ihm von meiner kleinen Anna erzähle. Ich that es als Vater. Er hörte mit Vergnügen zu, und zählte nach, wie alt meine Kery nun seyn müßte, – er wolle mich an mein Versprechen erinnern, wenn wir in England seyn würden. Denn gewiss werde Mis Kery liebenswürdig seyn, und er würde sich bemühen, ihr zu gefallen, um ganz mein Sohn zu werden. Er sah darüber seinen Bruder ernsthaft an, und sagte ihm: ›Richard! wenn du sie liebst, wenn du von ihr geliebt wirst, so mußt du der Glückliche seyn.‹ – Aber mein Richard wieß ihm die zwey starke Narben über seiner Stirne. – ›Ein artiges Mägdchen, sagte er mit trauriger Stimme, wird einem verunstalteten Gesicht nicht viele Achtung gönnen.‹ – John erwiederte gleich: ›Ja, wenn sie keinen Verstand hat.‹ So vergiengen die letzten Tage meiner Überfarth, und eh wir aus dem Schiff stiegen, begehrten beyde Brüder noch allein mit mir zu reden. Jeder faßte eine meiner Hände, und kniete sich. – Richard sagte: ›Vater Kery! eh wie unser neues Vaterland betretten, nehmen Sie noch unsern Dank für alles, was Sie für uns gethan haben! – Segnen Sie uns, und versprechen, unser Vater und Führer zu bleiben, und uns nie von sich zu entfernen!‹ Ich war sehr gerührt, und umarmte beyde, indem ich ihnen bey Gott schwur, in allen Fällen ihr treuer redlicher Pflegvater zu seyn.
Sie verdienen es, – sagte Sophie – die zwey gute Leute. Ich danke Gott, daß sie auf Englischen Boden, und bey Vater Kery sind. Er lächelte zufrieden nach Sophie hin:
»Ich bekenne, liebe Anna! daß ich in dem Augenblick, wo Richard sprach, herzlich wünschte, daß einer von den zwey Brüdern durch dich mein Sohn werden möchte. Denke aber, wie ich erschrack, als mir in ihrer Gegenwart von deinen verstellten Zügen gesprochen wurde. Ich war mein ganzes Leben der beste Bruder. Nun fühlte ich Haß gegen Frau Brade, und eilte hieher, wo Gott meiner Anna in Watson und Sophie mehr gab, als Frau Brade und ich nie hätten seyn können.«
Er endigte, und umarmte Herrn Watson und Frau Sarah mit Dank.
»Wir wollen jetzo, meine Freunde! unsere übrige Tage miteinander geniessen.«
Die zwey junge Frauenzimmer standen mit so viel Ausdruck eines gerührten Herzen neben ihm, daß er diesen Augenblick benützte, ihnen zu sagen: –
Meine würdige, edle Mägdchen! es freute mich, während meiner Erzählung zu bemerken, daß meine Söhne Reland euren Herzen theuer geworden sind. Ihr wißt, daß ich mir zwey Töchter wünschte, um das Glück dieser Söhne zu machen. – Anna! mein John wurde von deinem Anblick und von dem, was er in Watsons Tagbuch laß, ganz für dich eingenommen, wie es Richard für Sophie ist. Edlere Männer werdet ihr nie sehen. – Doch, meine Kinder! sollt ihr frey seyn. – Laßt nur meine theure Söhne mit euch reden, und hört sie selbst.
Nun gieng er mit Watson nach seinem Haus, und die zwey Mägdchen sahen sich an. Mis Kery redete zuerst:
Sophie! warum bist du so nachdenkend? möchtest du, daß John dich liebte? –
Nein, meine Liebe! nein – Richards Freundschaft ist mir theurer, als mir Johns Liebe nie seyn würde. – Bedenke aber, wie jäh alles auf mich stürmte, ob es schön lauter Gutes ist – einen edlen Vater, einen würdigen, theuren jungen Mann zum Gemal, in einem Tag, und dieß durch meine Kery, die nun meine doppelte Schwester wird.
Sie umarmten sich, und sagten dann ihre Gesinnung der Frau Sarah, daß sie weder ihren guten Vater, noch seine Söhne lang auf ihre Entschliessung warten lassen wollten, sondern sie würden es freymüthig sagen, daß es sie freuen werde, die gute Brüder alles Weh vergessen zu machen. Frau Sarah lobte sie deswegen, und Herr Kery hatte ein großes Vergnügen, als die zwey Mägdchen Hand in Hand zu ihm kamen, und sagten:
Lieber Vater! bestimmen Sie, was wir thun sollen. – Ihre Söhne sind uns beyden sehr lieb, und wir wollen vereinigt den besten Vater unser ganzes Leben lieben und ehren.
Er dankte ihnen herzlich, verbot aber, daß sie noch nichts davon zeigen sollten. Nur, da man zu dem Essen in den Saal wollte, sagte er zu den Brüdern:
Da, meine Söhne! – sucht euch diesen liebenswerthen Schwestern angenehm zu machen.
Aber sein Aug und seine Stimme war so bewegt, daß die junge Leute fühlten, ihr Glück sey sicher, und daß sie also mit vieler Freudigkeit zu Tisch giengen. Nach dem Essen besuchten sie Gallens Denkmal. Richard blickte auf Sophien, und küßte den Namen ihres Vaters und den ihrigen. Herr Kery sagte: »Anna! ich werde deinen Altar bauen lassen, und er soll der Liebe geweiht werden.« Einige Wochen nachher stattete er seine Anna und Sophie als seine Töchter aus. Sir John mußte den Namen Kery annehmen, – und Herr Richard behielt den von Reland. Dieser kaufte ein Stück Land in der Nachbarschaft, baute sich ein schönes Haus, und nahm noch mehr Pächter an. Denn er wollte nur Feldbau und Viehzucht haben. Aber der artige Hügel ohnweit seinem Haus wurde angelegt, und dieses, um das Denkmal, welches er Herrn Kery errichtete, mit schönen Spaziergängen zu umgeben. Es stund auf der Höhe, in Gestalt des Tempels der Minerva; aber anstatt der Göttin war das Brustbild des Herrn Kery aus schönem Marmor auf einem erhöhten Altar. Eine Hand aus herrlich gearbeiteten Wolken hält den Sternenkranz über ihn: auf dem Altar steht: »Nur der Ewige kann dich lohnen.« Auf beyden Seiten sind vier Tafeln in halberhobener Arbeit, wo in einer Sklaven gebildet sind, die mit wilder Geberde zwey Knaben nach einem Gebürge schleppen; in der zweyten eine traurende Frau und Mann, die einen andern bey der Hand halten, und ihm die Gebürge weisen, auf der dritten der nemliche Mann, unter einem Haufen Wilden, denen er Geschenke giebt, und sie ihm die Knaben; auf der vierten das Gebürg in der Ferne, und der Mann, der den Eltern die Jünglinge zuführt: – überall eine simple Unterschrift, und über dem Eingang des Tempels: – »dem edlen Kery geweiht.« Von den Marmorbänken, die auf beyden Seiten dieses Tempels stehen, übersieht man eine große von Reland angebaute Strecke Lands, seine zwey Pachthöfe, und einen Flügel von Rosehill, den Herr Kery bewohnet. Er wurde gebetten, nicht zu dem Bau zu gehen, bis er geendigt seyn werde. Aber alsdann gab Reland ein Fest, und Herrn Kery bey der Hand fassend, sagte er: »nach sechs Jahren, die als Tage verflossen – was für eine glückliche Stunde! da ich an der Hand meines Erretters und Wohlthäters fruchtbare Gefilde voller Wohlthaten der Natur übersehe!« Als sie aber gegen den Tempel kamen, ertönte eine vortrefliche Musik, und verschiedene Kinder von den Pächtern des Herrn Reland, niedlich gekleidet, mit Blumen bekränzt, und schönen Körbchen voll Blumen, hüpften zwischen den Rosenhecken hervor, und streuten mit lieblicher Freude der Unschuld Blumen auf den Weg des Herrn Kery. Je näher dieser zum Tempel kam, je sanfter wurde die Musik, und endlich hörte man nur eine süß tönende Flöte, und das Spiel von zwey Lauten. – Anna Kery und Sophie waren in dem Tempel als Priesterinnen gekleidet; – Sophie in einem weißseidenen Gewand, einen blaßgelben Schleyer von Flor halb zurückgeschlagen, und bis auf die Erde hängend, eine Krone von Rosen auf dem Kopf, ihr Kleid mit einem gelben Gürtel gebunden, mit ihrer völlig von Gold und Silberstreifen schimmernden Laute stand an dem Altar – Anna Kery in feinem roth, einen weißen Schleyer, und wie Sophie mit Rosen bekränzt, kniete auf einer Stufe des Altars auch mit ihrer Laute. Ihre zwey Knaben und Sophiens kleine Anna mit ihrem Bruder, in den Farben der Mütter gekleidet, eilten mit Händen voll Blumen Herrn Kery entgegen. – Sophie sang: »Vater! nur der Ewige kann dich belohnen.« – Dann fiel ein Chor viel schöner Stimmen ein, und wiederholte abändernd:
Ja, nur der Ewige kann Kerys Tugend lohnen,
Die er in entfernten Zonen
Als ein Menschenfreund geübt.
Beyde Brüder sangen dann, neben ihn trettend, ein jeder eine Hand von ihm fassend –
Edler! der für unser Leben
Gold und Ruhe hingegeben. –
Nimm was unser Dank dir giebt.
Der Chor sang wieder:
Allen Söhnen wahrer Britten,
In Pallästen und in Hütten
Soll der Tempel heilig seyn,
Den wir Kerys Tugend weihn.
Welche Feder sollte die Gefühle beschreiben, die des edlen Kery Seele durchdrangen? – und wer soll erzählen, was für eine Empfindung von Wahrheit und Schönheit der Tugend allen Zuschauern eine heilige Ehrfurcht einflößte? – Nicht ein Auge blieb ohne Thräne der Rührung, als Herr Kery seine Arme ausbreitete, und seine theuer erworbene geliebte Söhne an seine Brust drückte, und die edle junge Männer sich an ihn schmiegten. O! wie verschönerte das sympathetische Gefühl der Tugend jedes Menschengesicht? – Denn es war nicht eines von allen, in welchem nicht die Züge eines zur Seligkeit geschaffenen Wesens hervorglänzten. Alle wurden bewirthet, allen die Geschichte der Marmortafeln erklärt, und Abends baten auch alle um Erlaubniß, eine Blume von den Gewinden der Säulen und des Altars zum Andenken mitzunehmen. Herr Watson sagte:
Nehmt sie, meine Kinder! aber nehmt auch das Andenken des Bilds der Menschenliebe mit, die ihr hier sahet!