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Im Insel-Verlag zu Leipzig
[1933]
Die Geschichte, die ich erzählen will, habe ich von einem befreundeten Kunstgelehrten, der im Weltkrieg verscholl. Er war eine feinsinnige, ganz nach innen gerichtete Natur mit starker seelischer Erlebniskraft, aber schwach entwickelten Organen zur Aufnahme der Außenwelt und besser in den Schätzen der Galerieen als im Naturleben bewandert. Wenn man mit ihm im Freien ging, mußte man scharf auf die Wege achten, denn er hatte die Neigung, im Eifer des Gesprächs ganz unbewußt von der Richte abzudrängen; ging er allein, so geschah ihm leicht dasselbe, weil er sich dann in einsame Gedanken verspann. Die Vermutung liegt nahe, daß ihm diese Eigenheit im Krieg, den er schon in vorgerücktem Alter mitmachte, verhängnisvoll geworden sei. Sein Name war Martin Francke. In jungen Jahren hatte er einmal in Italien einen leichten Sonnenstich erlitten, und seitdem trat die angeborene Zerstreutheit deutlicher hervor. Die Umstände, unter denen jener Unfall sich ereignete, ließen eine tiefe Spur in seinem Leben und waren zugleich in wunderlicher Weise mit einem ihm völlig 4 fremden Schicksal aus längst vergangenen Tagen verknüpft, auf das er mit seinem Denken immer wieder zurückkam.
Martin Francke hatte nach der Universitätszeit vorübergehend eine Hauslehrerstelle bei einer wohlhabenden Familie in Frankfurt eingenommen, wo er einen sonst gut begabten, aber in den humanistischen Fächern zurückgebliebenen jungen Manschen für die Abgangsprüfung vorbereiten mußte. Seinen Zögling, dem der Name Manfred gut zu Gesichte stand, liebte er wie einen jüngeren Bruder und hat ihm zeitlebens das zärtlichste Andenken bewahrt. Denn dieser Jüngling war nach Martin Franckes Zeugnis so etwas wie eine Handarbeit Gottes inmitten der menschlichen Fabrikware, ein alleredelstes Stück deutscher Jugend. Zwischen Lehrer und Schüler war der Abstand der Jahre nicht gar zu groß, wenn auch Francke durch den Vollbart, der ihm schon in frühester Jugend gewachsen war, bei weitem älter aussah, und da ein jeder gerade das besaß, was dem andern fehlte, waren sie als Freunde wie für einander geschaffen.
In dem jungen Manfred kündigte sich auf Schritt und Tritt der Naturforscher an, der er werden wollte. Er beobachtete das Tierleben, sammelte Pflanzen und Steine, und eine Landschaft war ihm ihrer Gestaltung nach beim ersten Schritte durchsichtig. Dagegen fehlte ihm der Sinn für alles Sprachgesetz, und erst als sein 5 Hofmeister den glücklichen Einfall hatte, ihm die Sprache gleichfalls als einen lebendigen, nach ähnlichen Normen wie die Naturgebilde wachsenden Organismus zu zeigen, glückte es ihm, den Geist des Schülers zu fesseln und ihn dann auch heil an den Klippen der Matura vorüberzubringen. Zum Dank schickte die Familie Lehrer und Zögling auf eine gemeinsame Ferienreise nach Italien. Im toskanischen Apennin am Südhang des Monte Giovi lebte dem Jüngling ein italienischer Verwandter, auf dessen ländlichem Anwesen er schon als Knabe die Ferien zu verbringen pflegte. Bei diesem sollte er sich samt dem miteingeladenen Lehrer von den Mühen der Studierstube erholen. Als die Mutter dem älteren Freunde beim Abschied empfahl, auf seinen Zögling gut achtzuhaben, daß ihm nichts zustoße, fügte der Vater lachend hinzu:
Und du, Manfred, gib gut acht auf deinen Mentor, daß auch ihm nichts zustößt.
Das war eine berechtigte Mahnung, denn der Schüler war der lebensgewandtere von beiden, dabei schlank und schön wie ein Olympiasieger, mit Muskeln, die hart und straff waren wie Holz, während der Lehrer schwächer gebaut und nur für geistige Anstrengungen gestählt war, außerdem, wie schon gesagt, in äußeren Dingen ein wenig ungeschickt.
Den beiden schloß sich als dritter Reisekamerad noch ein Studienfreund Martin Franckes an, der Archäologe 6 Dr. Karl Johannsen, der einige Jahre später bei den Ausgrabungen auf Kreta starb. Ihm zuliebe machten die Freunde einen starken Umweg und durchwanderten zu Fuß das Umbrische und einen Teil des Toskanischen auf den Spuren der Etrusker. Manfred ruhte nicht, bis die beiden Älteren ihr kleines Gepäck mit in seinen Rucksack steckten, der schon den eigenen Reisebedarf nebst einem Kodak enthielt, und unter diesem Ballast, den er noch durch mineralogische Funde vermehrte, marschierte er auch bei der Hitze leichtfüßig weg, ohne ihn zu spüren. Seine Gesellschaft kam den zwei anderen wohl zustatten, denn er sprach fließend das Italienische, und seiner munteren Liebenswürdigkeit und glücklichen Erscheinung öffneten sich alle Türen, auch fiel, wohin sie kamen, die Nachtherberge annehmbar und die Zeche billig aus.
Als sie den Consumapaß überschritten hatten und Johannsen sich von den andern trennen wollte, um über Florenz die Heimreise anzutreten, ließ Manfred es durchaus nicht zu. Sein Verwandter sei der gastfreundlichste Mann von der Welt, er liege ordentlich auf der Lauer, um Fußreisende abzufangen und auf sein Gut zu schleppen, wo er oft monatelang gebildeten Umgang entbehre. Herr Parga würde sich für persönlich geschädigt halten, wenn ein Fremder von Belang in seiner Nähe vorbeigereist wäre, ohne bei ihm einzutreten. Und übrigens habe er, Manfred, bereits den dritten Gast angekündigt. Der 7 also Genötigte ließ es sich gern gefallen, und des anderen Morgens brachen die drei wohlgemut nach dem Monte Giovi auf. Nur daß unglücklicherweise die Stunde des Abmarsches durch einen ländlichen Schuster von Pontassieve verzögert worden war, der einem der Wanderer die zerrissene Sohle auszubessern hatte.
Man trat soeben in die Hundstage, die der Italiener Solleone, Löwensonne, nennt, nicht weil, wie das Landvolk meint, die Sonne alsdann Löwenstärke hat, sondern um ihren Stand im Tierkreis zu bezeichnen; doch ein leichtbedeckter Himmel stellte angenehmes Marschwetter in Aussicht. Niemand konnte erwarten, daß dies der heißeste Tag des Jahrhunderts werden würde, wie man später festgestellt hat.
Wie eine Sphinx mit vorgeschobenem Oberleib kauerte der Berg vor ihnen, den eine bestrittene Überlieferung mit dem alten Jupiterkult in Verbindung bringt. Seine tiefzerklüfteten Flanken glichen ungeheuren versteinten Wellen und waren bis zu halber Höhe mit niedrigem Baumwuchs bedeckt. Und wie nun einmal alles, was mit dem klassischen Altertum zusammenhängt, die Seele des Gebildeten in stärkere Schwingung versetzt, glaubten die beiden angehenden Gelehrten sich dem Sitze des Göttervaters zu nähern, obgleich ihr nüchterner junger Kamerad versicherte, daß der Monte Giovi sich weder durch antike Baureste noch durch alte Ortssagen vor den 8 anderen Apenninenhäuptern auszeichne. Bald war der lange schmale Grat mit Kreuz und Kirchlein nicht mehr zu sehen, denn das Felsgebäu des Unterstocks hing schwer über die Wanderer herein und ließ von der Glut des nahenden Mittags einen beschwerlichen Aufstieg fürchten. Dr. Johannsen seufzte und stöhnte, er war ein Koloß auf tönernen Füßen, denn ein zu schwach geratenes Beingerüst hatte bei ihm die Last eines allzuschweren Oberkörpers zu tragen. Aber unvermutet kam auf holprigem Fahrweg, der sich neben dem Fußsteig, doch nicht so jäh wie dieser, zu Tale stürzte, ein mächtiges Gespann weißer toskanischer Ochsen im Schmuck ihrer roten Troddeln in Sicht, behäbigen Schrittes ein abenteuerliches Fuhrwerk hinter sich herschleppend. Manfred schrie vor Vergnügen laut auf und pfiff durch die Hände, worauf ihm ein gleicher Pfiff und ein Knallen mit der Peitsche antwortete.
Bist du's, Dario? rief er dem jungen Bauern zu, der das Leitseil hielt, worauf ein fröhliches Gnorsì (Ja, Herr) antwortete.
Das dacht ich mir gleich, sagte er dann zu den zwei andern, der alte Herr schickt uns seine Staatskarosse entgegen, diese Aufmerksamkeit ließ er sich natürlich nicht nehmen.
Die beiden anderen umgingen und bestaunten das seltsame Gefährt. Auf einem hölzernen Schlitten oder 9 Bergschleife war ein länglich viereckiger Weidenkorb befestigt, in dem drei Stühle bereit standen, und Manfred erklärte den Reisegenossen, daß alle ansässigen Herrschaften sich solcher Equipagen bedienten, weil der Zustand der höheren Feldstraßen und ihre große Steile das Fahren mit Rädern erschwere. Dieses Fuhrwerk war übrigens nicht allein zur Bequemlichkeit der Reisenden gekommen, sondern hatte vor allem aus einer am Berge klebenden Ortschaft den Mundbedarf der Gäste heraufzuschaffen, wie eine mächtige in Tücher und Blätter gehüllte Ochsenrippe und eine ebensolche Hammelkeule verrieten. Die Stühle waren nur mitgeschickt, damit der eine oder der andere der Herren »Alpinisten«, wie der Bauer sich schmeichelhaft ausdrückte, im Notfall davon Gebrauch machen konnte.
Betrachten wir dieses Gespann mit Ehrfurcht, sagte der bärtige Mentor: mit solchen großen weißen, troddelumbaumelten Ochsen sind gewiß schon die Urahnen dieses jungen Landmanns ausgefahren, um auf der Spitze des heiligen Berges dem Göttervater zu opfern.
Und von der klassischen Erinnerung angefeuert, kletterte er eilig über die Deichsel in den Wagenkorb. Die beiden andern folgten, der schwarzäugige Bursche, in dem Manfred einen ehemaligen Spielkameraden wiedergefunden hatte, nahm das Leitseil zur Hand, und nun ging es unter Via! und Va-n-là! bergan.
10 Nach tausend Schritten fühlten sich die zwei Neulinge an allen Knochen zerschlagen, und Manfred, der schon nach einer Minute wieder herausgesprungen war, sah ihnen lachend zu, wie sie sich samt dem Sitz mühsam an Bord hielten, denn solange es steil hinaufging, mußten sie darauf achten, nicht nach rückwärts mit dem Stuhl hinauszurutschen, und bei einer plötzlichen Senkung des Weges waren sie in Gefahr vornüberzukippen. Er selber ging mit seinem Rucksack, den er nur um die Gepäckstücke der Freunde erleichtert hatte, aber durchaus nicht ablegen wollte, lustig daneben. Er freute sich diebisch, so oft die Cibea – so nannte sich jenes urtümlichste aller Fuhrwerke – das eine Mal mitten durch ein Loch rutschte, wobei der eingedickte Schlamm aufspritzte, das andere Mal über einen Steinbrocken weg mußte, der breit im Wege lag. Die Ochsen nahmen jedes Hindernis mit unerschütterlicher Gelassenheit und trugen ihre Last sicher an den Abstürzen hin. Aber die Reisenden wurden unzählige Male mit ihren Stühlen gegen den Rand der Cibea geschleudert und rieben sich bei jedem Stoß schmerzhaft die Kniee. Martin Francke ertrug es nicht länger, er kletterte gleichfalls aus dem Marterstühlchen und nahm den Weg unter die Füße, nur Johannsen erklärte, es sei eine heilige Lebensregel, niemals zu Fuße zu gehen, wo man auch nur zum schlechtesten Fahren Gelegenheit habe, und um seinem Widerspruch Nachdruck zu geben, 11 spannte er den ländlichen grünen Riesenschirm auf, unter dem er sich wie unter einem Baldachin zurechtsetzte.
Manfred hatte sich zu Dario gesellt und vertiefte sich mit ihm in die Erinnerung ihrer Knabenspiele. Martin ging in Gedanken vor sich hin und vernahm nur mit halbem Ohr die Gespräche der beiden.
Sie wissen doch, daß mein Bruder Mario gestorben ist? hörte er den jungen Landmann sagen.
Mein Onkel hat es mir geschrieben. Wie ging es nur zu? war die Antwort.
Vor zwei Jahren hat ihn bei der Ernte ein Hitzschlag getroffen. Sie werden unterwegs die Stelle sehen, wir haben sie mit einem Kreuz bezeichnet. Es war gar kein besonders heißer Tag, noch lange nicht so heiß wie heute, und niemand begriff, wie es geschehen konnte.
Der arme Mario. Ich erinnere mich seiner sehr gut. Er war ein bildschöner Junge und solch ein braver Kamerad.
Ja, Herr, das war er.
Dann gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Aber lange hielt der Ernst nicht vor. Denn jetzt mußte Manfred den Ruf der Goldammer über den gemähten Feldern nachahmen, worauf Dario sein Licht auch nicht unter den Scheffel stellte, sondern um die Wette alle bekannten Vogellieder samt den Texten, die der toskanische Bauer ihnen unterstellt, zum besten gab. Die zwei Älteren wurden von der Fröhlichkeit der Jungen 12 angesteckt und übten sich in der gleichen Kunst. Der Berghang widerhallte von dem Lockruf der Amsel, aus dem das Landvolk die Worte heraushört: Bella mia, ti vedo, sì, sì, sì. (Schönes Kind, ich seh dich, ja, ja, ja!)
Unterdessen drang die Sonne mit steigender Kraft durch den lichter und lichter werdenden Baumbestand, Staub und Hitze wurden immer lästiger. Langsam kroch das Fuhrwerk die breiten, schattenlosen Kehren an dem glühenden Gebirgsstock empor. Die beiden Fußgänger aber benützten die steileren Richtwege oder klommen auch weglos im dichten Schatten des Gehölzes bergan, nachdem sich Manfred mit dem Lenker der Cibea über den Ort verständigt hatte, wo sie wieder zusammentreffen wollten, um gemeinsam ihren Einzug in der Villa Parga zu halten. Da sich aber der Jüngling bei jeder Pflanze, die ihm auffiel, verweilte und viel am Geschiebe herumhämmerte, kamen auch sie nur mit Aufenthalten vorwärts. Auf gepflegterem Wege gelangten sie vor eine dicht umbuschte, mit Farn und Frauenhaar behangene Felsgrotte, die ein rohgefaßter Quell tief ins Gestein gewaschen hatte. Hier war Kühle und Schatten. Hohe Buchen und Kastanien stiegen aus dem moosigen Grund und über die Blöcke der Felsenterrasse hinan, alles Pflanzenleben drängte sich gierig um die Feuchtigkeit her. Die steilen Felsenwände umstanden ein künstlich vertieftes und ausgemauertes Becken, das zur bequemen Viehtränke dienen mochte und 13 nur an einer Seite einen schmalen Zugang zu dem Brünnlein freiließ. Ein mäßiger Strahl schoß aus dem Felsen und war überraschend frisch. Es hieß deshalb mit verschönernder Übertreibung die Eisige Quelle, und die Bäuerinnen aus den verstreuten Gehöften scheuten keine Entfernung, um ihre Kupfereimer und Kürbisflaschen für den ganzen Tag zu füllen. Sein unschätzbarer Segen war noch weithin an den blauen Vergißmeinnichtaugen zu erkennen, die in der dürren blumenarmen Jahreszeit den Weg seines Ablaufs in Beeten säumten.
Freund Martin geriet in Entzückung über die Romantik des Ortes und begann von Bergnymphen zu fabeln, die zum Baden hieher kämen und den sterblichen Lauscher mit ihrer Rache bedrohten. Sein Skizzenbuch von jener Reise bewahrt noch die Grotte auf mit einer nackten weiblichen Gestalt, die er auf den Rand des Beckens gesetzt hatte, die Füße im Wasser.
Manfred aber, der seine gesammelten Pflanzen ordnete und an dem Quell erfrischte, äußerte in seiner sachlichen Art auf den Überschwang des Freundes: von Nymphen sei ihm nichts bekannt, aber es schwebe ihm dunkel vor, daß sich irgendeine unheimliche Geschichte an den Ort knüpfe. Wenigstens komme nach dem Aveläuten keine Bäuerin mehr an den Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Es solle einmal vor Zeiten, er wisse nicht, ob ein Unglück oder ein Verbrechen da geschehen sein.
14 Mein Onkel Parga, sagte er, zwang mich als kleinen Jungen, jeden Abend bei einbrechender Dunkelheit an die Quelle herunter zu gehen und ihm einen Krug zu füllen. An der Frische des Wassers erkannte er, daß ich wirklich da gewesen war. Er tat es, um mir die Furchtsamkeit abzugewöhnen, die mir ein paar törichte Bauernweiber eingeredet hatten, und ich bleibe ihm zeitlebens dankbar dafür. Alle Freude an der Schönheit des Ortes verging dem Begeisterten bei dieser Mitteilung. Er streute das gepflückte Vergißmeinnicht zur Erde und sagte:
Die Stelle, wo ein Unglück geschah oder ein Verbrechen begangen wurde, ist verfluchter Grund. Die Blumen, die an einem solchen Orte wachsen, soll niemand zu einem Strauß binden, und wer sich da niederläßt, muß wissen, daß er bei einem Erschlagenen zu Gaste ist.
Sem junger Freund sagte, den Rucksack wieder zuschnürend, kaltblütig:
Mit Dingen, die vorüber sind, kann ich schlechterdings nichts anfangen. Für mich hat sich hier nichts begeben, als daß die kalte Quelle immerzu fließt und ringsumher Vergißmeinnicht blüht. Was vor mir war, ist nicht gewesen. Menschen früherer Zeiten haben nie gelebt.
So hat dich niemals ein plötzlicher Schrecken überkommen, daß zuweilen aus längst verschwundenen Tagen sich etwas Unfaßbares an uns herandrängen will und Schicksal wirken? fragte Martin.
15 Niemals. Aber wenn ich einmal ausziehen sollte, um das Gruseln zu lernen, so müßte mein Herr Hofmeister dabei sein und mich anleiten, denn allein lerne ich es nun und nimmermehr.
Er huckte mit einem Schwung den Rucksack wieder auf, in dem schwere Steine rollten, die er auf der ganzen Wanderung mit Andacht gesammelt hatte und wie Juwelen hütete.
Jeder hat seine Liebhaberei, antwortete er auf das Bedauern seines Mentors, daß er sich an dem heißen Tag mit solcher Last schleppe. Den einen zieht es zu der Kunst, den andern zu altem Gemäuer, die Mehrzahl läuft hübschen Gesichtern nach; ich aber liebe die Knochen der alten Mutter Erde.
Und immer wieder bückte er sich im Gehen forschend nach dem umherliegenden Gebröckel oder löste mit seinem Hämmerchen etwas Glimmerndes aus der Felswand ab. Martin setzte allein den Weg fort, indem sie durch Zurufe die Verbindung aufrecht erhielten. Zuweilen erreichte ihn der Jüngling wieder, um gleich aufs neue über den Abhang hinunterzutauchen. Als Martin ihn einmal ganz verloren zu haben glaubte und seinen Namen überlaut in die Waldschlucht schrie, antwortete Manfred ganz aus der Nähe mit dem Lockruf der Amsel.
Jener hielt es also für ausgemacht, daß ihm der neckende Puck auf dem Fuße folge, und überließ sich dem tiefen 16 Zauber der Mittagsstille im Gebirge. Gedanken spannen ziellos wie beim Einschlafen, die Lockerung des Ichs und seine Auflösung ins Naturweben begann, die den nordischen Wanderer in südlicher Landschaft so gerne überkommt. Er beobachtete nicht, daß sein Weg wieder breiter wurde und sich unmerklich abwärts senkte: er war, einer Karrenspur folgend, abgeirrt und fand sich plötzlich am Rand eines Rübenfelds. Vor ihm lag ein wuchtiges steinernes Bauernhaus mit Tenne und Strohschobern, und hier war der Weg zu Ende. Auf Rufen und Klopfen kam keine Antwort, nur ein Hund brach in lautes Kläffen aus und zerrte wütend an seiner Kette. Umkehren mochte er nicht, so vertraute er sich seinem eigenen, leider so schwach entwickelten Ortssinn an, indem er über geackerte hängende Felder wenigstens die Fahrstraße wieder zu erreichen suchte. Ein kleiner Bauernjunge, der aus einem schmierigen Steintrog zwei schwarze Schweine tränkte, hatte auf seine Frage nach dem Weg zu der Villa Parga schweigend die Arme in dieser Richtung ausgestreckt. Über die Schollen stolpernd, stieß er mitten im Felde auf ein niederes hölzernes Kreuz, das ihn an das Gespräch Manfreds mit seinem bäuerlichen Spielkameraden erinnerte: war dies wohl der Ort, wo den Bruder Darios der Unfall getroffen hatte? Aber das Kreuz war morsch, es mußte weit älteren Ursprungs sein, auch hatte ja ein Colone des Herrn Parga keinen Anlaß, auf einem 17 weit abgelegenen fremden Besitztum zu sicheln. Auf Zickzackwegen arbeitete er sich bergan, die ihm dadurch eingeprägt blieben, daß er im weglosen Höherklimmen über gemähte Wiesen an einem Abhang abermals auf ein Holzkreuz stieß und nach kurzer Zeit auf ein drittes, und daß der Anblick dieser Kreuze inmitten der tiefen Mittagsruhe ihn mit einer seltsamen Traurigkeit überschattete, wofür das Geschick der unbekannten Toten ihm selber keine genügende Erklärung war.
Er stieg und stieg, es gab nirgends mehr Schatten, und die Sonne glühte erbarmungslos.
Das Volk hat doch recht, daß sie löwenstark ist, dachte er und freute sich an der Bildkraft des Wortes. Nach dem Freunde zu rufen, hatte er längst aufgegeben. Zuweilen glaubte er aus weiter Ferne einen Amselruf zu vernehmen, doch gab er keine Antwort, weil der Ton bloß in sein Ohr, nicht in sein Bewußtsein drang, denn der gelehrte Träumer bedachte nicht, daß in dieser Jahreszeit die echten Vögel keine Werbelieder mehr singen. Wie es dann weiter wurde, und wo er noch mit verwirrtem schmerzendem Kopf und halb verdurstend in der Irre umherstieg, wußte er später nicht mehr. Er wußte nur noch, daß ihn am Ende ein schmales Brücklein über eine Schlucht führte, in deren Tiefe ein Wässerlein über die Felsenstufen herunterkam, und daß der Rand dieser Schlucht wie auch der ganze Berghang über seinem 18 Haupte goldgelb von blühendem Ginster war. Eine ganze Weile vergaß er sich dort, um zwei Krebsen zuzusehen, die sich grimmig ineinander verbissen hatten und inmitten ihrer feindlichen Umarmung von dem Bächlein über die weißgewaschenen Kiesel herabgerollt wurden. Es war die Stunde der großen Stille und Schwüle, wo alles Leben zu stocken scheint. Nur die Zikaden saßen allenthalben unter Buschwerk und Steinen versteckt und erfüllten ihren einzigen Lebensberuf, dem glühenden Mittag eine Stimme zu geben, die ebenso grell, geisterhaft und allgegenwärtig ist wie er selber. In ganzen Klumpen saßen sie da und hatten nichts zu tun, als ihre tönenden Leiber so lange zu reiben, bis der Sterbliche, der sie hören muß, dem Wahnsinn nahekommt.
Die Augen des Wanderers hingen noch an dem Kampfspiel der Krebse, als eine weiße weibliche Gestalt im grellsten Sonnenlicht an ihm vorüberging. Er hatte nicht gesehen, woher sie kam. Sie bewegte sich mit nackten Füßen, die ihm viel zarter und weißer schienen als die einer Schnitterin, leicht und behend über den steinigen Boden; ein weißer, gewaltig großer, zottiger Hund von der Rasse der toskanischen Schäferhunde folgte ihr.
Er wunderte sich zuerst nicht einmal besonders über diese Erscheinung, obgleich manches an ihr befremdlich war: wie daß sie in dieser Hitze ohne Kopfbedeckung ging und daß sie eine riesige Sonnenblume an langem strackem 19 Stengel, fast wie ein Sonnenschirm anzusehen, in der Hand trug. Sie sah ihm einen Augenblick ins Gesicht und glitt mit unbegreiflicher Geschwindigkeit vorüber. Ihm schwindelte plötzlich, daß er sich am Geländer halten mußte, ein stechender Schmerz war ihm durch die Schläfe ins Hirn gefahren. Gleich darauf meinte er ein Geräusch wie vom Fall eines Körpers ins Wasser zu vernehmen, wodurch er wieder zu sich kam und sich umsah, ob kein Unglück geschehen sei. Weiter abwärts unterhalb des Brückleins hatte sich der Bach ein rundes Becken gewühlt, worein er sein Wasser sammelte. Das Mädchen war verschwunden, sie konnte nicht hinabgestürzt sein, denn die Wände der Schlucht, die sich tief hinab fortsetzte, waren nahezu kahl und weithin zu überschauen. Wo war sie hingeraten und was suchte sie in dieser Einöde hier? Er hatte die unklare Vorstellung, sie sei vielleicht gekommen, um zu baden, und habe aus Scheu vor ihm nur den Hund ins Wasser geschickt, während sie selbst sich vor seinen Blicken hinter Gestrüpp versteckt halte. Oder hatte er eine Fata Morgana gesehen? Die Gräser flimmerten ja vor Hitze, und alle Gegenstände schwammen vor seinen Augen. Mit wankenden Knieen setzte er seinen Weg fort, immer von den Zikaden begleitet, die ihm mit dem Lärm von tausend rasend gewordenen Kinderklappern die Sinne benahmen.
Gott sei Dank, Menschenstimmen in der Höhe. Das 20 Haupt aufrichtend, erblickte er über sich eine Wegkreuzung mit hohem Kruzifix, daneben zwei weiße gehörnte Häupter von roten Troddeln umpendelt, und Freund Johannsen begrüßte ihn mit lautem Zuruf. Er thronte noch unter dem grünen Sonnendach in der Cibea, die seit einer Stunde und mehr im spärlichen Schatten geduldig auf die Fußwanderer wartete.
Als Martin Francke die Stelle erreichte, war er vor Kopfschmerz und Herzklopfen kaum imstande zu sprechen und konnte die Frage nach seinem Gefährten nur durch ein Achselzucken beantworten. Der junge Bauer meinte, dem Signorino, der die kürzesten Steige kenne und lange vor allen andern den Treffpunkt erreicht haben müsse, werde wohl das Warten zu lang geworden sein, und er sitze nun längst hinter der kühlen Mauer der Villa Parga. Johannsen mußte seinen Freund unter dem Arm fassen und den letzten Rest des Weges führen, denn Martin taumelte.
In üblem Zustand kam er auf der Villa an, und der gastfreundliche Hausherr brachte ihn in ein verdunkeltes, klosterkühles Gemach, wo er sich völlig entkleidet zu Bett legen mußte. Manfred war noch nicht angekommen. Man gab dem Erschöpften gekühlten Tee und Limonade, und sein guter alter Kamerad Johannsen setzte sich neben ihn, um ihm bis zum Einschlummern die feuchten Umschläge zu erneuern, denn er hatte einen leichten 21 Sonnenstich. Das köstliche toskanische Bett, das so breit war wie lang, mit dem derbkörnigen lavendelduftenden Bauernlinnen umfing ihn kühlend wie ein Bad, und er sank schnell in Schlaf.
Plötzlich erwachte er unter dem Eindruck, als habe die weiße Gestalt von der Felsschlucht ihm wieder ins Gesicht geblickt, und auffahrend erkannte er zu seinem höchsten Erstaunen ihr Bildnis an der gegenüberliegenden, sonst kahlen Wand des grobgeweißten Zimmers. Lebensgroß, in verblaßten Farben, die wieder durchgeschlagen waren, trat sie bis zum Knie aus dem herabgefallenen oder abgewaschenen jüngeren Bewurf hervor: eine schlanke Mädchengestalt, noch kaum entwickelt, in der einen Hand eine gelbe Sonnenblume, die andere auf den Kopf eines zottigen weißen Hundes gelegt. Das Gesicht war zerstört, nur ein schmaler Umriß voll Adel war noch zu erkennen und das dunkle, seitlich gescheitelte Haar, das sich in launenhaftem Schwung um eine kurze Stirn legte. Die Malerei stammte nicht von Meisterhand, war aber auch nicht ganz talentlos.
Martin konnte sich in der Entdeckung nicht zurechtfinden. Das Bild in seinem schlecht erhaltenen Zustand deutete um Jahrzehnte rückwärts. Und doch war die Dargestellte ihm vor wenig Stunden ebenso jung und schlank mit Sonnenblume und Hund am Rande der Felsschlucht begegnet. Hatten die Mädchen am Monte 22 Giovi das Vorrecht der ewigen Jugend? Aber sobald er sich Rechenschaft zu geben suchte, fuhr ihm von neuem ein scharfer Stich in die Schläfe. Er mußte sich hüten, über die Begegnung nachzudenken oder davon zu sprechen, wenn er seine Vernunft beisammen halten wollte.
Als er sich, ausgeruht und umgekleidet, in der neuen Umgebung vorstellte, wußte man noch immer nichts von Manfreds Verbleib, und Herr Parga, ein aufgeräumter aber gewalttätiger Mann, erlaubte nicht, daß man ihn suchen ging. Martin mußte zugeben, daß sein Ausbleiben keinen Anlaß zu Befürchtungen bot. Dennoch war ihm nicht ganz behaglich zumute, und als der Hausherr seine beiden Gäste durch die Parkanlage führte, die in einen Pinienhain überging, und ihnen die großen Wein- und Ölpflanzungen um den ganzen Südhang seines Besitzes zeigte, war er nur halb bei der Sache. In seinem Kopf sah es noch seltsam wüst aus, und das deutliche Rückerinnern an Jüngstvergangenes fehlte. Er wußte nur, daß Manfred ihm zuletzt noch zugerufen hatte, weiter zu gehen, während er nach Gott weiß was über den Wegrand hinuntersprang.
Indem er sich diese Einzelheit zurückzurufen suchte, überkam es ihn plötzlich: Wie, wenn er gestürzt wäre und irgendwo mit gebrochenem Fuß hilflos in einem Bergschrund läge? Aber diese Vermutung brachte Herrn Parga in Harnisch.
23 Ein so geschickter Turner und den Fuß brechen. Nichts natürlicher, als daß der Junge froh ist, endlich die Schulbank hinter sich zu haben. Da hat er eben im Rausch der Freiheit vergessen, daß er erwartet wird.
Schon als Manfred noch ein kleiner Junge gewesen, erzählte er mit Wohlgefallen, habe das Bürschlein kein größeres Glück gekannt, als allein in der Campagna umher zu streichen, und nie sei ihm der geringste Unfall zugestoßen. An seinem zehnten Geburtstag, den er mit seiner Mutter auf der Villa Parga verlebte, habe der Knirps auf alle Süßigkeiten und Geschenke verzichtet und sich einzig ausgebeten, daß man ihn einen ganzen Tag frei laufen lasse, ohne zu fragen, wohin – und bei seiner Rückkehr in später Nacht sei die Ersteigung des Monte Giovi, für den kleinen Jungen eine wahre Forschertat, vollbracht gewesen.
Das Gesicht des Hausherrn strahlte, wenn er von Manfred sprach. Sie waren nicht blutsverwandt, aber Manfreds Mutter war die Zwillingsschwester seiner verstorbenen Gattin und dieser so ähnlich, daß man sie oft verwechselt hatte. Darum erschien der Jüngling mit dem raschen Blick und dem bestimmten Willen ihm über den Unterschied der Rasse hinweg wie ein eigener Sohn, in dem er sein Leben noch einmal aufglänzen sah.
Es war nicht des Neuangekommenen Sache, gegen den Nahestehenden und Einheimischen seine Besorgnisse zur 24 Geltung zu bringen, aber beim Imbiß in der kühlen Eintrittshalle saß Martin Francke wie auf Kohlen und blickte immer von Zeit zu Zeit nach der Uhr. Der Gedanke, daß der Jüngling auf der Suche nach dem ungeschickten Hofmeister vielleicht selber verirrt und irgendwie zu Schaden gekommen sei, beunruhigte ihn mehr, als er der Sicherheit des Hausherrn gegenüber zu zeigen wagte. Das Unwohlsein lag ihm noch immer lähmend in den Gliedern, und dazu lähmte ihn noch Herrn Pargas lautes Sprechen, das seine bebenden Nerven schmerzhaft erschütterte. Auch an Johannsen fand er keinen Beistand. Dieser fühlte sich so glücklich in der kühlen Geborgenheit, daß er alle Dinge im günstigsten Lichte sah.
Wer weiß, ob er nicht unterwegs eine Bekanntschaft angeknüpft hat, bemerkte er anzüglich gegen den Hausherrn, es scheint hier oben hübsche Mädchen zu geben, wie man an den Schnitterinnen auf den Feldern sehen kann. Diese Worte erinnerten Martin mit einem erneuten Schläfenstich an die Begegnung vom Mittag, die er gegen niemand erwähnt hatte. Ja, freilich gab es schöne Mädchen hier, nach dieser einen zu urteilen. Aber Herr Parga entgegnete:
Um eines Mädchens willen hat er sich nicht verspätet. Aus dem schönen Geschlecht macht er sich nichts, auf diesem Punkte ist er eigen.
25 Martin hatte schon selbst bemerkt, daß der schöne Jüngling, dem alle Mädchen nachblickten, seinerseits auf der ganzen gemeinsamen Wanderung kaum jemals den Kopf nach einer hübschen Erscheinung gedreht hatte.
Während sie noch redeten, entstand eine Bewegung unter dem Gesinde: ein Bauernweib war mit einem Karren voll gebündeltem Heidekraut angefahren, und obenauf lag Manfreds Rucksack, prall von Steinen und langstengeligen Kräutern, die daraus hervorstachen. Aber sie brachte keine Nachricht von dem Vermißten. Den Sack, der ausnehmend schwer war, hatte sie bei der Arbeit gefunden und in ihrem Stumpfsinn mit aufgeladen, ohne sich nach dem Eigentümer umzusehen.
Er hat den Rucksack abgelegt und ist irgendwo eingeschlafen, sagte Herr Parga, aber sein Ton war nicht mehr halb so zuversichtlich wie zuvor.
Laß dein Heidekraut stehen, gebot er dem Weibe, und führ uns an den Ort, wo du das Ding gefunden hast.
Es ist ja Unsinn, sagte er unterwegs zu den Freunden. Wir könnten ebensogut umkehren. Bis wir nach Hause kommen, sitzt er dort und lacht uns aus.
Aber gleich darauf schrie er die Frau an, rascher zu gehen.
Den armen Martin trugen seine Füße kaum; seit er den Rucksack gesehen, war die überwältigende Gewißheit über ihm, daß dem jungen Freunde ein Leides 26 widerfahren sei. Mit zitternden Knieen folgte er dem Weib, das die drei Herren an dem Kruzifix vorbei und über die Schlucht führte, wo er am Mittag die seltsame Begegnung gehabt hatte. Als sie die Halde zu ersteigen begann, wo sie das Heidekraut geholt hatte, wurden die beiden Hunde, die Herr Parga an der Leine hielt, unruhig und begannen zu schnuppern. Losgelassen, sausten sie den Hang hinauf, die Suchenden folgten so rasch sie vermochten. Unter einem Wacholderbusch lag Manfreds sandgraue Jacke am Boden. Jetzt entfärbte sich sogar Herrn Pargas braunes Gesicht. Die Angst, welcher Anblick ihnen aufgespart sei, versetzte allen den Atem.
Endlich nahe der Schlucht unter gürtelhohem weißblühendem Heidekraut fanden sie ihn selber bewußtlos und halb entkleidet, das Gesicht leichenhaft fahl mit blutigen Schaumbläschen auf den Lippen und der Puls kaum noch zu fühlen. Erschlagen und beraubt, war der erste entsetzte Gedanke, der auf aller Mienen schwebte. Sie untersuchten ihn genau, doch von Verletzung war keine Spur zu sehen; das Hemd stand offen, und auf dem bloßen braunen Hals flammte ein blutrotes, von der Sonne hineingebranntes Mal. Die Kleidungsstücke hatte er augenscheinlich selber abgeworfen, und eine tiefe Erschöpfung mußte ihn niedergestreckt haben, bevor er das Wässerlein erreichte.
27 Sie schleppten den leblosen Körper die steinige Schlucht hinunter in den mageren Erlenschatten und ließen ihn vom Wasser überrieseln, das weder reichlich noch kalt genug war, um ihn zum Bewußtsein zu bringen. Doch atmete er tief auf, und auf lautes Zurufen öffnete er sogar die Augen, aber die erweiterten Pupillen vermochten nichts zu erkennen, und er fiel gleich wieder in Betäubung zurück.
Ganz mit Zweigen bedeckt zum Schutz gegen Sonne und Mücken, trugen sie ihn auf einem durch die Bäuerin beschafften Bettuch, von dem wie auf Raffaels Grablegung ein jedes einen Zipfel hielt, nach Hause, und die Willkommkränze am Portal, die noch frisch waren, blickten seltsam auf den Einzug des jungen hingewelkten Körpers nieder.
Schwere Stunden folgten, in denen man alles aufbot, das fliehende Leben festzuhalten. Herr Parga erlaubte nicht, nach Florenz um Ärzte zu telegraphieren, sie wären freilich auch kaum rechtzeitig eingetroffen. Er brachte aus einer der kleinen Ortschaften einen medico condotto zur Stelle, auf den er mehr als auf viele Universitärprofessoren hielt. Es war ein wissenschaftlich gebildeter Mann von etlichen fünfzig Jahren mit Namen Marchi, in dem der Ausspruch des Herrn Parga: die gescheiten Leute sitzen nicht allemal auf dem Katheder, seine Bestätigung fand. Der eigenwillige Mann unterwarf 28 sich auch dankbar allen seinen Maßnahmen, die zunächst darauf ausgingen, die Körperwärme des Kranken herabzusetzen.
Aber die glühende atemlose Luft, die noch immer über der Berglehne lag, war dem Kampf mit einem so gefährlichen Feinde nicht günstig. Wohl waren die Zimmer hinter sechs Fuß dicken Mauern klosterkühl, aber alles Wasser war lau und an die Beschaffung von Eis nicht zu denken. Nur die Blutegel taten ihre Schuldigkeit, und die Besinnung kehrte auf Augenblicke zurück, aber gegen Abend entwickelte sich starkes Fieber mit Delirien. Der Arzt blieb zur Stelle, seine Gegenwart erhielt die Hoffnung und führte Umsicht und Ordnung ein. Dem Menschenzudrang zum Krankenzimmer, der sonst in Italien vom Kranksein unzertrennlich ist, hatte er ohne weiteres ein Ende gemacht. Nur er und der Hausherr überwachten abwechselnd den Kranken. Nie in seinem Leben kam sich der arme Martin Francke so überflüssig vor wie in jenen Stunden. Sein Freund Johannsen hatte den Kopf völlig verloren, er wollte helfen und störte jedermann, bis ihn der kluge Doktor bewog, sich der gesammelten Schätze des Kranken anzunehmen. Da erklärte er, in solchen Fällen dürfe keiner müßig bleiben, und schüttete im Hof den ganzen Inhalt von Manfreds Rucksack auf den Boden, um mit einem Eifer Pflanzen zu pressen und Steine zu ordnen, als ob 29 ein Werk für die Nachwelt zu retten wäre. Der unglückliche Hofmeister hatte nichts zu tun, als die Sonne sinken zu sehen und in seinem Hirn die unfruchtbare, aber von allen aufgeworfene Frage hin- und herzuwälzen, was Manfred bei seiner Ortskenntnis um die gefährlichste Tagesstunde in jene Feueresse verlockt habe.
Nach Sonnenuntergang wurde der halbwüchsige Aldo fortgeschickt, um ein paar große Steinkrüge an der Eiskalten Quelle zu füllen. Er kam mit einer für die Länge des Weges auffallenden Geschwindigkeit und außer Atem zurück, konnte jedoch nur einen einzigen Krug aufweisen, die andern hatte er an der Quelle zurückgelassen, um schneller wieder da zu sein, wie er sagte. Aber es war ihm etwas Ängstliches anzumerken, und die ländlichen Dienstmägde, die hilfeleistend ab und zu gingen, machten bedeutungsvolle Gesichter. Man fühlte mehr als man sah ein Raunen und Köpfezusammenstecken.
Der Hausherr schien die Stimmung seiner Leute zu verstehen, denn man hörte ihn ingrimmig zu dem Doktor sagen:
Das ist wieder Wasser auf die große Mühle der Dummheit. Aber ich will dem Bürschlein das Fürchten austreiben, – worauf der Doktor ruhig erwiderte:
Mit dem Aberglauben ist nicht zu streiten.
Die beiden Gäste suchten im Hause zusammen, was es an tragbaren Wassergefäßen gab, dann holten sie sich 30 den furchtsamen Jungen zum Wegweiser, der nunmehr in Gesellschaft von zwei Erwachsenen und durch die Aussicht auf ein gutes Trinkgeld Mut gewann. Er führte sie über Steingeröll auf rauhen natürlichen Felsenstufen den kürzesten aber beschwerlichsten Weg zu der Grotte hinunter. Verschüttetes Wasser an den holprigsten Stellen erzählte von Aldos überstürztem Aufstieg und bezeichnete von selbst den Pfad.
Während die Krüge sich an der Quelle füllten, hörten die Freunde schweigend dem Abendläuten aus dem Tale zu und dachten an den jammervollen Ausgang des schönen Tags. Kaum war der letzte Schlag verklungen, so platschte es hinter ihnen im Wasser, daß beide erstaunt herumfuhren, während Aldo, der die Krüge zum Volllaufen halten sollte, mit einem Sprung das Quellhaus verließ. Darauf erscholl ein langer banger Seufzer, der aus dem Grunde des Beckens zu kommen schien. Nach einer kleinen Pause, während deren sie vergeblich den Ort nach der Ursache dieser Geräusche absuchten, ein Gurgeln oder Glucksen, dem noch bänglicher als zuvor jenes Stöhnen aus der Tiefe folgte. Es machte den armen Aldo, der nicht wußte, ob er allein davonlaufen oder sich in der Angst an die Gegenwart der andern klammern sollte, beinahe toll, bis es Martin einfiel, einen daliegenden mächtigen Felsbrocken zu erklimmen, der die Aussicht nach der Fahrstraße bot. Seine Vermutung wurde nicht 31 getäuscht: ein Wagen, der mit gesperrtem Rad die Steile herunterkam, brachte die Jammertöne hervor, und gewiß wäre auch die Ursache der anderen Geräusche aufzufinden und die Quelle zu entzaubern gewesen, wenn sie die Zeit dazu gehabt hätten. Während sie mit ihren vollen Krügen die moosigen Steige und Stufen hinaufeilten, jammerte ihnen noch eine ungepaarte Zwergohreule, die irgendwo in der Nähe der Quelle verborgen saß, ihr einsames Leid nach, und mitten durch ihr süßflötendes Kiuh! Kiuh! scholl das grelle widerliche Lachen des Käuzchens. Es waren die bekannten Laute, die man allabendlich in der toskanischen Campagna zu hören bekommt, aber in jener Stunde gingen sie den Hörern durch Mark und Bein.
Zu Hause empfing sie die Sorge mit ihrem düstersten Gesicht: Manfred war in völlige Bewußtlosigkeit zurückgefallen und schrie vor Schmerz, die Hände an die Schläfen pressend. Die Blasenpflaster auf Hals und Nacken, die ihm unterdessen aufgelegt waren, versagten alle Wirkung. Mit dem kalten Quellwasser, das die Freunde brachten, wurden Abwaschungen und Wicklungen gemacht, auf die der Arzt noch einige Hoffnung setzte. Sobald nach dieser Behandlung etwas Ruhe eingetreten war, führte der verständige Mann alle Anwesenden aus dem Zimmer, indem er sagte:
Wir wollen ihm nicht die Luft beengen. Kommen Sie 32 und nehmen Sie ein paar Bissen zu sich. Sie werden heute nacht Ihre Kräfte noch brauchen.
Herr Parga war ganz verstört, er mochte sich Vorwürfe machen, daß er durch seinen Eigensinn die Auffindung des Kranken so lange verzögert hatte.
Um ihn ein wenig abzulenken, erzählte Martin von dem scheinbaren Spuk an der verrufenen Quelle und fragte nach Art und Ursache des Aberglaubens, der sich an diesen Ort zu knüpfen schien.
Es soll da so etwas wie ein weibliches Gespenst umgehen, antwortete Herr Parga mit Widerstreben. Ich habe der Sache niemals nachgeforscht, denn Hirngespinste sind mir zuwider, auch fällt es schwer, unseren Bauern, die gegen Höhergestellte sehr verschlossen sind, die Würmer aus der Nase zu ziehen. Aber unser Doktor hier ist aus der Gegend gebürtig und weiß in allem, was das Landvolk angeht, Bescheid. Er wird vielleicht Ihre Frage beantworten können.
Dr. Marchi war, wie sich herausstellte, Sohn eines Müllers an der Argomenna und hatte schon seine Jugend in der Umgebung verlebt, in die ihn später sein Beruf zurückversetzte. Er besaß neben einem kräftigen und gewinnenden Äußeren das ruhig erfassende Auge des Italieners aus dem Volke, worin sich der starke Wirklichkeitssinn dieser einfachen Naturen offenbart. Man fühlte, bevor er zu reden anhob, daß seine Worte Hand und Fuß hatten. 33 Während Herr Parga an der Tür des Krankenzimmers lauschen ging, sagte er halblaut zu den beiden Gästen:
Sie werden wohl beim Heraufkommen die hölzernen Kreuze bemerkt haben, die da und dort am Wegrand und in Stoppelfeldern aufragen. Es sind Wahrzeichen der in hiesiger Gegend nicht selten vorkommenden Fälle von Hitzschlag oder Sonnenstich, wofür das Landvolk nicht die ziemlich verbreitete Neigung, dem Wein auch zur Erntezeit gut zuzusprechen, verantwortlich macht, sondern sich ein eigenes Phantom erfunden hat, – man könnte es, grob ausgedrückt, eine Verkörperung des Sonnenstichs nennen. Dieses Phantom gab es freilich auch schon in meiner Jugend, nur hatte es damals noch keine bestimmten Züge, es glitt vorüber und hauchte einen an, daß er umfiel, aber gesehen hatte es keiner. Vor etlichen dreißig und mehr Jahren aber geschah drunten an der kalten Quelle ein Unglücksfall – ich will ihn so nennen, obgleich die öffentliche Meinung von einem Verbrechen munkelte. Ein junges Mädchen von edler Herkunft wurde in dem Becken tot aufgefunden, unter sehr eigentümlichen Umständen, die den Verdacht nahelegten, sie sei nicht, wie die Familie zu glauben vorgab, ertrunken, sondern gewaltsam ertränkt worden. Da aber jeder Anhalt fehlte und kein Kläger sich erhob, so blieb der Tatbestand unaufgehellt. Seitdem knüpft sich 34 der Fluch an den Ort, daß er nach Sonnenuntergang nicht mehr betreten wird. Sie würden zwar schwerlich einen Landbewohner finden, der Ihnen das zugäbe. Auch über das Verbrechen und seinen Urheber, wenn die Annahme eines solchen zutrifft, wurde nie gesprochen. Unser Landvolk hat eine ganz besondere Art, seine Gedanken durch Schweigen auszudrücken, und diese Gedanken waren überall, ein jeder fühlte sie und gab sie schweigend weiter. Von da an war, wie gesagt, der Quell verrufen. Von da an hatte aber auch jenes Phantom, von dem ich sprach, eine Gestalt gefunden. Wenn am überheißen Sommertag ein junger hübscher Bursch bei der Feldarbeit vom Hitzschlag betroffen wurde, so wußten die Leute, was sie zu denken hatten: es war der ruhelose Geist der unglücklichen Contessina, die um die Erntezeit aus der Familienkapelle in Florenz, wohin man sie gebracht hatte, entwich, um auf den Feldern, die sie liebte, ihrem ungestillten Liebesdrang ein Opfer zu suchen. Immer auf die Schönsten und Stärksten unter den jungen Burschen sollte sie es abgesehen haben, und jedem sollte sie ein flammend rotes Mal auf Hals oder Brust hinterlassen. Die Volksphantasie vergaß, daß es auch schon vor der Zeit der armen Contessina in hiesiger Gegend Sonnenstiche gegeben und daß sie auch damals schon von einem umgehenden Mittagsschemen gewußt hatte.
Hier unterbrach Dr. Johannsen den Erzähler mit der 35 Bemerkung, daß nach mythologischen Gesetzen örtliche Sagen sich gern einmal in einer neueren Gestalt verjüngen, worauf der Arzt antwortete:
Das mag sein. Aber Sie begreifen, daß es eine seltsame Erfahrung ist, ein Wesen, das man gekannt und, ich darf es wohl gestehen, mit scheuer Knabenliebe aus der Entfernung verehrt hat, sich in eine mythologische Figur verwandeln zu sehen.
Da der Zustand des Kranken sich zu bessern schien und auch Herr Parga, ruhiger geworden, sich zu der Gesellschaft setzte, gab der Doktor, der zurzeit nicht am Krankenbette nötig war, dem Drängen der Freunde nach und erzählte mit Unterbrechungen, wessen er sich von der dunklen Geschichte, die durch das Gespräch angeregt war, noch erinnerte.
Die Contessina, begann er, war einige Jahre älter als ich, sie lief mit den Bauernkindern barfüßig über Steine und Dornen. Die hochgräfliche Großmutter, die sie aufzog, eine sehr bigotte und sehr hochmütige alte Dame, erklärte, barfuß gehen mache die Füße schön, worin sie gewiß recht hatte, aber die Dienstboten munkelten, daß es aus Sparsamkeit geschehe, und sie hatten ebenfalls recht. Denn die gräfliche Herrschaft, die ehedem zu den reichsten Adelsfamilien des Landes gehört hatte, war jetzt eine der ärmsten, Schloß Castelnero mit seinen herrlichen Parkanlagen, wo noch der junge Graf Folco das Licht 36 erblickt hatte, war seit langem wegen Überschuldung an einen Herrn Carpi aus Florenz übergegangen, der die baufälligen Zinnen abgetragen und den Besitz wieder in die Höhe gebracht hatte, ihn auch noch ständig zu erweitern suchte. Die gräfliche Familie selber bewohnte ihre eigene ehemalige Faktorei, die in noch früheren Zeiten zu den Schloßbefestigungen gehört hatte und gleichfalls mit Zinnen versehen war. Darum hieß sie seit dem Verschwinden der Schloßzinnen als allein noch zinnentragend: die Villa Merlata. Sie stand an der Stelle der heutigen Villa Parga, in die sie verbaut ist, nur daß sie nicht so umfangreich war und in so gutem Stand wie diese. Die trotzigen Zinnen über dem verkommenen Anwesen waren recht ein Sinnbild für die ahnenstolze Armut, die darin wohnte. Einen Fattore hatten sie längst nicht mehr nötig, der Bauer Catasta bewirtschaftete den wenigen Grundbesitz, der ihnen geblieben war.
Sie selber lebten nicht besser als ihre Bauern, wenn auch der alte Kammerdiener Nando die dürftigen Gerichte noch immer mit Handschuhen herumreichte. Aber Gräfin Eleonora wickelte sich die Stirnlocken wie in den Zeiten ihres Glanzes und ging in Haus und Hof mit Handschuhen umher, von denen sie die Spitzen abschnitt, um das »Gesinde« anzuleiten, das aus besagtem Nando und einem kleinen Bauernmädchen, der einarmigen Faustina, bestand. In der Messe erschien sie feierlich in einem 37 ganz aus der Mode gekommenen raschelnden Seidenkleid, das Kind an ihrer Seite im weißen Kleidchen mit gelbem Gürtel und einer Bernsteinkette um den Hals. Jeden Nachmittag machte sie den gleichen Spaziergang auf die Höhe, wobei die Enkelin sie begleiten mußte. Sie ging aber seit zwölf Jahren niemals weiter als bis zur Grenze der Pinienwaldung, wo sie sich auf einer rohen Steinbank unter dem vorspringenden Felsen niederließ. Noch ein paar Schritte weiter um den Felsenvorsprung, so wäre ihr Castelnero zu Gesicht gekommen, und gar von der Höhe des Felsens herab hätte sie Park und Schloßterrasse mit der mächtigen Libanonzeder und den steinernen Riesenfiguren des Gian Bologna gerade unter sich gehabt. Diese Schritte machte sie aber nie, denn der Anblick der dunklen Schloßmauern und der hohen Zypressenwipfel nährte die Bitterkeit gefallener Größe. Währenddessen mußte die Contessina im Wald nach Pilzen suchen, die oft den einzigen Gang der gräflichen Tafel bildeten, oder, wie es die Jahreszeit mit sich brachte, an den glühenden Hängen Lavendel pflücken, der hernach zu wohlriechenden Kolben verarbeitet und in die Stadt verkauft wurde. Die Armut hinderte also die gräfliche Familie nicht, ausnehmend hochmütig zu sein, ja ihr Hochmut nahm noch immer zu, je mehr sie verarmte. Auch die Contessina war hochmütig und bildete sich gewiß nicht weniger als die Großen auf ihren 38 Ahnherrn Gualtiero ein, der sich in der Schlacht von Lepanto unter Don Juan d'Austria ausgezeichnet hatte und von Cosimo I., in dessen Diensten er stand, zum Stephansritter ernannt worden war. Seit dem 16. Jahrhundert hielt die Familie den Brauch aufrecht, daß jeweils der älteste männliche Sproß zu seinem Rufnamen hin den Namen Gualtiero empfing, wie man noch jetzt an dem Stammbaum drüben auf Castelnero sehen kann, der von den neuen Besitzern, die jetzt auch schon angestammte sind, als geschichtliche Merkwürdigkeit gehütet wird. Der alte Graf Camillo Gualtiero hatte sich's zum Lebensziel gesteckt, die Geschichte dieses hochgelobten Ahnherrn zu schreiben, er verbrachte darum jede Woche einige Tage in Florenz, um dort in Bibliotheken und Archiven seine Spuren aufzustöbern und dann hier oben in der ländlichen Ruhe die gesammelten Belege zu verarbeiten. In seinem leichten Eselkarren ließ er sich von dem Bauern zu Tale führen, stieg in Pontassieve in die dritte Klasse, in Compiobbi aber nahm er eine Fahrkarte erster und fuhr standesgemäß in der Stadt, wo er von seinesgleichen gesehen werden konnte, ein. Auf der Rückfahrt beobachtete er dieselbe Vorsicht in umgekehrter Reihenfolge. Der Allerhochmütigste aber war Graf Folco Gualtiero, des alten Grafen Sohn aus erster Ehe, der in irgendeiner vornehmen Anstalt erzogen wurde und selten zu Besuch nach Hause kam. Er hatte ein 39 Ohrfeigengesicht, dessen bloßer Anblick unsereinem die Galle regte.
Als ich der Contessina zum erstenmal ansichtig wurde, dürfte sie zwölfjährig gewesen sein. Die Erscheinung des seltsamen Mädchens wirkte auf den acht- oder neunjährigen Müllerjungen mit solcher Gewalt, daß er vor Bewunderung fast ins väterliche Mühlrad getaumelt wäre. Sie trug das weiße Kleid mit der Bernsteinkette und eine Sonnenblume im Gürtel und saß auf besagtem Eselwagen neben dem Findling Ezio, der die gräflichen Kornsäcke in die Mühle führte, um das fertige Mehl dagegen einzutauschen; ein großer weißer Schäferhund, mit Namen Colombo, der dem jungen Mädchen überallhin folgte, umsprang das Fuhrwerk. Dieser Ezio diente bei dem Bauern Catasta und wurde von dem Grafenkind vor allen ihren andern bäuerlichen Spielkameraden bevorzugt. Er war ein bildschöner Junge, ein Innocentino, – die Herren wissen, daß man so die Findlinge aus dem Florentiner Hospiz nennt – und war als Pflegesohn des Bauern Catasta aufgewachsen, sah aber kaum weniger fein aus als seine kleine Herrschaft und war vielleicht – wer kann es wissen? – dem Blute nach nicht weniger als sie. Er wurde von dem Bauern sehr gut gehalten, der ihn sogar seinen leiblichen Kindern vorzog; wenn er ihn gelegentlich im Zorn einen Bastard schimpfte, so dachte er nichts Schlimmes dabei, er nannte 40 seine eigenen ebenso. Denn das Hospiz hat ein wachsames Auge auf seine Zöglinge und duldet nicht, daß sie in schlechte Hände kommen. Es gibt wohl kaum eine menschenfreundlichere Anstalt als diese, die so viele Kindsmorde verhindert und den ledigen Müttern, die bei der Abgabe des Kindes gar nicht gesehen werden, Schande und Opfer erspart. Eine ländliche Amme nimmt das Kind mit sich und zieht es in frischer Luft mit den eigenen auf, wo es bald die Pflege durch Arbeit vergilt und häufig ein wertvoller Zuwachs der Familie wird. So war es mit Ezio, der alle seine Ziehgeschwister an Fleiß und Brauchbarkeit übertraf. Eine Wiese, die er gemäht hatte, kannte man von weitem, so gleichmäßig lief der Schwung der Sense durch die Stoppeln, daß es einer Handschrift glich. Zu allem hatte er Geschick, man wußte nicht, wo er die vielen Handfertigkeiten her hatte. Auch im Grafenhaus, wo es genug der Schäden auszubessern gab, wollten sie ihn immer haben. Aber bei all seinem Talent zeichnete er sich doch nicht sowohl durch geistige Strebsamkeit aus als durch eine seltene, für seinen Stand geradezu einzige Feinheit der Empfindung, die ihn besonders bei Höhergestellten empfahl. Seine schönen blauen Augen unter langen dunklen Fransen hatten etwas Willenloses wie die eines zahmen Tieres. Der Gedanke lag nahe, daß dieser zarte, windverwehte Keim von einem edlen 41 Stamme gefallen sei, und niemand würde sich gewundert haben, wenn eines Tages ein gebildeter oder vornehmer Herr erschienen wäre, den Findling als seinen Sohn zurückzufordern. An der Contessina hing er mit der Inbrunst eines Sklaven. Da war aber noch ein anderes, kleineres Kind, das dieses Umgangs gewürdigt wurde oder vielmehr sich mit der Gewalt eines Naturzwangs an die beiden herangedrängt hatte: die kleine Lisa vom Ulmenhof drunten, der zum Besitz des Herrn Carpi gehörte und von dem Bauern Renai bewohnt wurde. Diese war seit ihren frühesten Kinderjahren von dem Findling unzertrennlich, obschon er sie wenig freundlich behandelte und sie trotz seiner sonstigen Friedfertigkeit oft genug anschrie und wegpuffte. Es half nichts, sie lief dem Ezio nach, seitdem sie gehen konnte, und wurde schließlich als fünftes Rad am Wagen geduldet. Sie war auch jenes Tages dabei, als die beiden auf dem Eselkarren zur Mühle fuhren, die kleine Lisa in ihrer blauen Schürze und den schmutzigen braunen Füßchen. Wer aber niemals in die Kinderfreundschaft aufgenommen wurde, das war die mit der Contessina gleichaltrige Flora Carpi, die in dem ehemaligen Grafenschloß drüben im Überfluß aufwuchs, von Erzieherinnen betreut und von Dienstboten umgeben, die mit einem eigenen Ponywägelchen, dem ein Bedienter hinten aufsaß, in der Gegend umherfuhr und die gewiß gern einen Teil ihres 42 Glanzes geopfert hätte, um zu der hochmütigen Contessina, an der sie heimlich doch emporsah, und zu ihrem barfüßigen Hofstaat Zugang zu finden. Aber wie sie sich auch bei jeder Begegnung die Augen aus dem Kopfe sah, die andere wandte das Gesicht zur Seite, denn die Verachtung für die Emporkömmlinge war ihr von der Großmutter ins Blut geimpft.
Seit dem Besuch der Contessina hatte ich nichts mehr im Kopfe als sie, und wenn gelegentlich von der Mühle etwas bei der gräflichen Herrschaft zu bestellen war, so gab es keinen eifrigeren Botengänger als mich. Auch bei Ezio suchte ich mich wohlgelitten zu machen, denn nur auf diesem Umweg wagte ich mich an die Contessina heran. Da teilte mir eine gemeinsame Betrübnis ganz unerwartet die Rolle eines Vertrauten zu.
Eines Morgens fanden sie den Colombo traurig neben seiner Hundehütte stehend, und beim Herankommen seiner Herrin wedelte er nur schwach statt ihr entgegenzuspringen. Sein Futter stand unberührt, und als man ihm eine Schale mit Wasser vorsetzte, wendete er den Kopf ab. Alsbald lief ein ängstliches Raunen durch das Haus: Colombo hat die Hundswut. Es war Hochsommer und solche Fälle keine Seltenheit. Der junge Graf, der gerade anwesend war, wollte den Hund ohne weiteres vom Fenster aus erschießen, aber seine Schwester warf sich schreiend vor das treue Tier, und auch Gräfin 43 Eleonore widersetzte sich der Tötung, weil der Colombo seinen Geldwert hatte und ein unvergleichlicher Wächter war. Dagegen verlangte sie, daß er zur Sicherheit angebunden werde, allein die Hausgenossen, die in vorsichtiger Entfernung herumstanden, drängten sich nicht zu dieser Aufgabe, und schließlich mußte Ezio vom Felde geholt werden. Dieser ging unbedenklich auf den wutverdächtigen Hund zu und führte ihn am Halsband zu der Hundehütte, wo er ihn festband, dann entfernte er sich unter den Lobsprüchen der Alten wie ein Held, indem er triumphierend mit der Peitsche knallte. Was hätte ich darum gegeben, so unter den Augen der Contessina lorbeergekrönt hinweg zu spazieren. Weil niemand abkömmlich war, um den Tierarzt zu rufen, erbot ich mich zu diesem Gang, um doch auch etwas zu bedeuten, und ich war sehr stolz und glücklich, daß ich dem Gesuchten auf seinem Wägelchen unterwegs begegnete und gleich wieder mit ihm zurückkam. Der Mann stellte sich außer Schnappweite vor dem Hunde auf und orakelte: Achten Ew. Gnaden nur vor allem sorgsam darauf, ob der Hund sich leckt. Solange ein Hund sich leckt, braucht man nicht um ihn zu sorgen. Wenn sich aber der Hund nicht mehr leckt, so kann ihm auch kein Mensch mehr helfen. – Mit dieser Weisheit empfahl er sich, und die Hausgenossen begaben sich wieder in die Wohnung. Nur die Contessina hockte sich auf einen Eckstein des 44 Hoftors, um ihrem Liebling zuzuschauen, ob er sich lecke. Und ich kleiner Knirps hockte mich unbeachtet auf den anderen, weil es mich aus ihrer Nähe nicht losließ. Wie manches Mal habe ich in späteren Jahren, wenn Berufspflicht mich heraufführte, nach den zwei Steinen umgeschaut und im Geiste die beiden Kinder noch darauf sitzen sehen.
Als die Sonne hochstieg und das kranke Tier bei seiner Hütte zu belästigen begann, hielt das kleine Fräulein sich nicht länger. Sie sah sich um, ob niemand vom Hause zugegen sei, dann ging sie furchtlos hin und koppelte den Colombo los. Ich gestehe, daß ich diesen Mut nicht gehabt hätte, so sehr war ich benommen von der Weisheit des Tierarztes. Sie bückte sich über ihren treuen Kameraden, streichelte sein wolliges Fell, wobei er schmerzhaft zuckte. Da tat sie einen leisen Schrei, sie hatte unter blutverklebten Zotteln drei tiefe Löcher in seiner Flanke gefunden, die nur von den Zinken einer Heu- oder Mistgabel herrühren konnten. Die herbeigerufenen Hausgenossen waren sofort darüber einig, daß nur der Bauer vom Ulmenhof, der für seine Roheit gegen Tiere und Menschen bekannt war, der Täter sein könne. Er besaß eine sehr schöne weiße Hündin von der gleichen Rasse wie Colombo, die zufällig auch Colomba hieß. Diese lockte, wenn es Abend wurde, ihre vierbeinigen Verehrer aus der ganzen Nachbarschaft 45 zusammen, daß man um die Dämmerstunde vor Hundegebell fast taub wurde. Seit einiger Zeit war der Colombo wie besessen auf die Colomba. Gleich beim Abendläuten, wenn rings um den Ulmenhof das vielstimmige Geheul begann, verließ der treueste Wächter seinen Posten und raste mit Riesensprüngen den anderen Besessenen nach. So war er auch am vergangenen Abend davongestürmt, und der Bauer Renai, der längst geschworen hatte, daß er den ersten Ruhestörer, der ihm in den Weg komme, kalt machen wolle, hatte offenbar an ihm seine Wut gekühlt. Solche Dinge werden ja unter den Landbewohnern gar nicht mit Worten verhandelt, ein jeder fühlt sie und weiß sie; ich fühlte sie ebenfalls, so klein ich war. Es litt mich jenes Abends gar nicht daheim in meiner Mühle; sobald der Tag sank, ersann ich mir einen Vorwand und lief allein über die Richtsteige wieder herauf. Der Hund lebte noch, aber sein mächtiger Körper lag kraftlos zusammengesunken und atmete schwer. Die Contessina hockte zärtlich neben ihm und wehte ihm mit einem Papierfächer Kühlung zu, während sie ihn mit zärtlichen Vorwürfen überhäufte: O Colombo, wie oft hab ich dich gewarnt: geh nicht auf den Ulmenhof, aber du wolltest nicht hören. Und der Hund blickte sie aus seinen halbgebrochenen Augen beweglich an, als ob er verstünde und um Verzeihung bäte. Ezio kühlte ihm mit feuchten Lappen die Wunde. Ich 46 setzte mich als leidtragender Dritter daneben, denn auffallenderweise fehlte Ezios Schatten, die Lisa, an jenem Abend. Wahrscheinlich hatte ihr Vater ihr aus schlechtem Gewissen zu kommen verboten. Die Hausgenossen warfen ab und zu teilnehmende oder neugierige Blicke auf den sterbenden Hund, Graf Folco gab ihm gelegentlich im Vorbeigehen einen Fußtritt, daß die Schwester zusammenfuhr. Die beiden liebten sich nicht, und er tat ihr bei seinen Besuchen auf Villa Merlata zuleid, was er konnte. Die Flanken des Tieres arbeiteten immer qualvoller, es schien jeden Augenblick, daß er verenden werde, denn er lag mit der Schnauze am Boden und hatte alle viere von sich gestreckt. Aber jetzt geschah etwas, das sich mir mit der Wucht einer menschlichen Tragödie in die Seele geprägt hat. Die Sonne war gesunken, wir glaubten schon, Colombo habe ausgelitten, denn sein starkes kurzes Atmen hatte aufgehört und seine Augen waren geschlossen. Plötzlich erscholl Hundegebell am Ulmenhof; von Castelnero, wo eine große Dogge frei lief, kam Antwort, auf allen Bauernhöfen wurde es laut, und bald zog sich das Geheul wie eine Kette von einem Gehöft zum andern. Colombo, der wie tot gelegen, erhob die Schnauze und seine Ohren spitzten sich.
Da huschte draußen in der Campagna auf geringe Entfernung eine weiße vierfüßige Gestalt geschmeidig hin.
47 Die Colomba. rief das Mädchen, und Ezio schickte dem Tier eine Verwünschung nach.
Aber gleichzeitig hatte auch der sterbende Colombo sie erkannt, ein Zucken lief durch seine Glieder, er reckte sich, er stand. Wie durch ein Wunder schien er sich dem Tode zu entwinden. Wir wollten ihn zu dreien aufhalten, aber er schüttelte uns mit einem Ruck von sich, daß wir taumelten, und setzte sich gegen die Campagna in Bewegung. Er kam nur langsam fort, aber er ging unaufhaltsam, und als wir uns aufs neue von rechts und links an seine weißen Zotteln hängten, schleppte er uns mit unwiderstehlicher Gewalt nach, bis wir ermattet abließen.
Colombo! Colombo! schrie die Contessina dem Hunde nach, der weiß in der Dunkelheit eines Grabens hinschwand. Geh nicht zu der Falschen. Du hörst ja, wie sie den andern ruft. Komm zurück, Colombo!
Da sprach der Findling ein seltsam feierliches Wort, seltsam in seinem Munde und für meine Ohren, die es noch nie vernommen hatten. Er sagte: Die Liebe ist stark wie der Tod.
Wie zu erwarten, kam das Tier nicht mehr zurück. Am anderen Tage, der ein Sonntag war, half ich in aller Frühe den zwei Betrübten die ganze Umgegend absuchen. Ezio ging voran und peitschte mit einem Zweig den Tau von Büschen und Gräsern, daß er die Contessina nicht netze. Wir durchstöberten jeden Busch und jeden 48 Graben, in dessen Richtung sich das Hundegebell am Vorabend hingezogen hatte. An einer Ecke fanden wir die Lisa in ihrer gewöhnlichen Haltung, stumm, den Finger im Mund, aus halb gesenkten Augen unverwandt auf Ezio schauend. Wir waren gleich mit Fragen über ihr her, aber sie gab nach ihrer Art keine Antwort. Erst als Ezio sie wütend anschrie, zu gestehen, was sie wisse, kam es wie ein eingelernter Spruch in weinerlichem Ton aus ihrem Munde:
Colombo ist nicht bei uns gewesen, Vater hat den Colombo nicht mit der Gabel gestochen.
Da gab Ezio, der Sanftmütige, ihr einen Stoß, daß sie in den Graben flog. Sie kroch wieder heraus, schüttelte ihr beschmutztes Röckchen aus und ging wie ein geschlagenes Hündchen hinter ihm her.
Auf einem Stück Heideland, über das heute der Fahrweg läuft, neben einem Wacholderbusch, lag ein Stein und neben dem Stein ein weißer Fleck, im blendenden Lichtglanz kaum von diesem zu unterscheiden. Es war der arme Colombo, der dalag, den Kopf und die Vorderfüße bergwärts gerichtet, wie im mühseligen Aufstieg hier zusammengebrochen, und es sah aus, als ob er noch immer nach seiner Treulosen hinaufschaue und horche. Das Mädchen wollte sich auf ihn stürzen, aber als sie erkannte, daß dies nicht mehr ihr Getreuer war, sondern eine vom Tau durchfeuchtete, von der Sonne versengte 49 Masse, da setzte sie sich ein paar Schritte entfernt am Berghang nieder, die Kniee heraufgezogen, und starrte auf das tote Tier, ohne ein Wort zu sagen. Wir beiden Knaben aber gruben unter dem Wacholder ein breites und tiefes Loch, in das wir den schweren Körper senkten. Der Findling wollte mit dem ihm eigenen Feingefühl durchaus nicht leiden, daß ich Erde auf ihn häufte, sondern brach eine Lage breiter Blätter, womit er ihn bedeckte, bevor wir das Grab zuschaufelten und den großen Stein darauf wälzten, um es vor der Habgier des Renai zu bergen, der das schöne Fell zu ergattern hoffte. Daß die Lisa uns nicht verraten würde, waren wir sicher. Ein paar Wochen später lag dann an Stelle des rohen Steines eine halbaufgerichtete Grabplatte, darauf die grobgemeißelte Inschrift: Povero Colombo, und in kleineren Lettern der Spruch: Die Liebe ist stark wie der Tod. Der geschickte Ezio hatte selber seiner Herrin zuliebe den Denkstein heimlich ausgehauen und den Spruch, der ihm Gott weiß woher zugeflogen war, darauf gesetzt.
Eine so ausgiebige Gelegenheit, der Contessina nahe zu sein, fand sich für mich nicht wieder, denn ich war zu schüchtern, um unaufgefordert meinen Besuch zu wiederholen, aber ich trieb mich manchen Abend in der Nähe herum und sah mit Sehnsucht den dünnen Rauch aus den Schloten der Villa Merlata steigen. –
Hier machte der Doktor eine Pause, um nach seinem 50 Kranken zu sehen, der wieder unruhiger geworden war. Der Hausherr hatte Sorge getragen, daß immerzu frisches Wasser von der Quelle heraufkam und die Wicklungen fortgesetzt werden konnten. Aber die beruhigende Wirkung war immer nur von kurzer Dauer. Als der Arzt aus dem Krankenzimmer zurückkam, fuhr er mit noch leiserer Stimme in seiner Geschichte fort:
Bald nach der Liebestragödie des Colombo kam ich in das Lizeum zu Florenz und von da auf die Universität, und über all der Neuheit traten mir die heimatlichen Gestalten in den Hintergrund. Bei meinen Ferienbesuchen sah ich zuweilen die gräflichen Damen aus der Ferne: die Alte immer stolz und würdevoll in den abgetragensten Kleidern, die Enkelin wie ehedem mit der Bernsteinkette um den Hals, nur daß sie jetzt Schuhe trug und sich merklich in die Länge streckte. Im übrigen streifte sie noch immer allein über die waldigen Hänge, um Pilze zu sammeln, und ein großer neuer Schäferhund, der seinem Vorgänger zu Ehren Colombo genannt wurde und weiß und wachsam wie der erste war, begleitete sie. Noch immer liebte sie die Sonnenblumen, von denen Ezio ihr an sonnigen Rainen, da wo jetzt die neuen Wirtschaftsgebäude stehen, lange Reihen zwischen die Schwertlilien säte. Noch immer war der Findling das Faktotum des Hauses: bald mußte er die Uhren in Gang bringen, bald 51 eine neue Fensterscheibe an Stelle einer zerbrochenen einsetzen; an den Namenstagen der Herrschaften verteilte er herrliche Blumen, die er selber zog, durch das ganze Haus. Man konnte sich das arg verkommene gräfliche Anwesen ohne diesen hilfreichen Geist nicht vorstellen. In der ganzen Gegend verbreitete sich der Ruf des geschickten und liebenswürdigen Findlings. Und eines Tages kam auch ein fein aussehendes älteres Paar im Wagen heraufgefahren, das nach einem im Hospiz verschollenen Knaben forschte. Aber die Erkennungszeichen stimmten nicht, und Ezio blieb bei den Bauern.
Die Contessina in ihrer herrischen Art, die doch nicht ohne Lieblichkeit war, behandelte ihn wie einen Leibeigenen, mit dem sie machte, was sie wollte, den sie aber nicht entbehren konnte. Allmählich begannen die Bauern selber die Köpfe zu schütteln, daß der Graf und seine hochmütige Mutter die ungleiche Freundschaft so lange duldeten. Aber die beiden Alten merkten überhaupt nicht, daß das Kind heranwuchs, sie lebten rückwärts in den Zeiten ihres Glanzes. Sie ahnten nicht, auf was für Sprünge das unbewachte Mädchen geriet. Die Nachbarschaft jenes anderen Mädchens jenseits der Mauer von Castelnero, auf das sie herabzusehen vorgab, das sie aber doch heimlich aus der Entfernung beobachtete, erweckte durch ihr Beispiel die schlummernden Triebe. Eines Tages kam sie zu dem Findling 52 und erzählte ihm geheimnisvoll, daß sie in den Parkwegen die Flora Carpi in Gesellschaft eines Kadetten gesehen habe.
Es ist ihr Vetter, ich weiß es von der Lisa, sagte dieser gleichgültig.
Aber die Contessina hatte von ihrem erhöhten Standort noch mehr gesehen: hinter den Zypressen hatten sich die beiden geküßt.
Das ist schändlich. rief Ezio, ehrlich entrüstet, wie es unsere Bauern bei jedem Bruch des Herkommens sind.
Warum schändlich? fragte die Contessina.
Ich weiß nicht.
Dann rede auch nicht, wenn du's nicht weißt.
Ich meine, es schickt sich nicht.
Warum schickt sich's nicht?
Ich weiß nicht.
Du bist ein dummer Junge, antwortete die Contessina und sah ihn seltsam lächelnd an.
Wenn du mich küßtest, Ezio? sagte sie nach einer Weile.
Er erschrak, als ob der Blitz neben ihm eingeschlagen hätte.
Das würde ich niemals wagen, sagte er ganz verwirrt.
Warum nicht, Ezio?
Der Herr Graf würde mich peitschen.
Du bist ein Feigling, sagte das Kind, indem es 53 verächtlich den Mund verzog. Wenn ich ein barfüßiger Findelknabe wäre und ein hochgeborenes Fräulein erlaubte mir, sie zu küssen, meinst du, ich würde mich vor ihrem Vater fürchten?
Ich fürchte mich auch nicht vor Ihrem Vater, stammelte er.
Sondern?
Vor Ihren Augen, war seine Antwort.
Die Contessina lächelte überlegen und schloß die Augen halb, indem sie nach dem Findling hinblinzelte. Da hatte er sich schon ein Herz gefaßt und sie auf den halboffenen Mund geküßt. Erstaunt sahen sie sich beide an, dann versuchten sie es noch einmal, ganz ernsthaft wie ein wohlzuüberlegendes Geschäft. Darauf entfernte sich das Mädchen, augenscheinlich zufrieden, daß sie den Vorsprung der Flora Carpi eingeholt hatte. Der Findling aber warf sich ins Gras und wälzte sich wie ein Verzweifelnder. Das Süße und Grausame, was da plötzlich über ihn gekommen war, zerriß ihn ganz. Auch Schuldgefühl war dabei, sich an der Herrschaft vergangen zu haben. Von da an verrichtete er seine Arbeit nur wie im Traum und starrte verloren vor sich hin, bis die rauhe Hand seines Bauern ihn zurecht schüttelte. Die Contessina aber tat, als wäre nichts geschehen. Sie lag im Grase und sah den Vögeln nach oder pflückte ungeheure Blumensträuße, die sie band, wieder auflöste und anders band, und 54 niemand beschäftigte sich mit ihr und ihrer Zukunft. Die ländlichen Sibyllen, die in der Mühle zusammenkamen, prophezeiten ihr wenig Erfreuliches: es werde schwer halten, war die Meinung, sie zu verheiraten, denn die jungen Leute ihres Standes fragten vor allem nach der Mitgift, einen bürgerlichen Bewerber aber würde der Herr Graf gar nicht über die Schwelle lassen.
Unterdessen diente Ezio bei den Soldaten, und als er nach drei Jahren zurückkam, war er einer der hübschesten Burschen geworden, die man sehen kann.
Da hatte ich einmal während meines ersten Wintersemesters in Florenz eine Überraschung. In der Nähe des Pitti fuhr ein Wagen hart an mir vorbei, in dem ich die Gräfin Eleonore und ihre Enkelin erkannte. Ein schmucker, sehr formgerechter Diener in Livree saß neben dem Kutscher – ich riß die Augen weit auf: es war Ezio.
Er erkannte mich auch und blickte zur Seite; an der dunklen Röte, die sein Gesicht bedeckte, überzeugte ich mich, daß er es wirklich war. Man muß wissen, mit welcher Geringschätzung der freie, auf seine Unabhängigkeit so stolze toskanische Bauer auf den Livreebedienten heruntersieht, um mein ganzes Erstaunen zu ermessen. Ich war auch gleich darüber im klaren, daß kein Gewinn, nur die innigste, selbstloseste Hingabe den armen Jungen zu dieser Selbsterniedrigung vermocht haben 55 konnte. Später erfuhr ich durch ihn selber den Zusammenhang.
Während seiner langen Abwesenheit war in dem gräflichen Hause eine Veränderung vorgegangen. Donna Eleonora mußte plötzlich entdeckt haben, daß ihre Enkelin sich zu einer Schönheit entwickelte, denn sie faßte den Plan, die Familie durch eine glänzende Heirat wieder in Flor zu bringen. Der Graf verkaufte abermals ein Grundstück unter Wert an den ewig lauernden Nachbar Carpi, um die Kosten für ein adliges Fräuleinsinstitut aufzubringen; und während der Findling zum Soldaten gedrillt wurde, erhielt seine Spielkameradin den Weltschliff. Gerade im Spätherbst, wo Ezios Dienstzeit um war, zog die alte Gräfin nach Florenz, um die Enkelin in die Gesellschaft einzuführen. Der Vater blieb auf dem Land, sparte, rechnete, schrieb an seinem Geschichtswerk und lebte weitaus schlechter als seine Bauern.
Bei Beginn des Karnevals trug ihm seine Mutter auf, einen der Colonen als Diener in die Stadt zu schicken, weil das standesgemäße Auftreten eine männliche Bedienung erheische. Es gab zur Zeit keine Arbeit, die Olivenernte war vorüber, und die Bauern saßen müßig um ihren rußigen Herd, als der Graf mit dem Briefe seiner Mutter hereintrat. Weil aber das Dienen in einem Herrschaftshaus dem toskanischen Bauern wenig 56 zusagt, so entstand auf den Vorschlag des Grafen ein verlegenes Schweigen. Da sagte Ezio, der kerzengerade aufgestanden war, mit erbleichtem Gesicht:
Wenn Ew. Gnaden glauben, daß ich die Stelle ausfüllen kann, so schicken Sie mich.
Einen Besseren konnte der Graf sich nicht wünschen, so kam der arme Junge nach Florenz.
Er betrübte sich fast, als er die Contessina wiedersah, denn ihre große Schönheit war wie ein Schrecken über ihm. Von dem barfüßigen Kinde war nichts mehr übrig als eine seltsam bestrickende Herbigkeit. Herkunft und Beispiel hatten ihr schnell die Formen der großen Welt gegeben. Sie fand beim Empfang ein paar freundliche Worte für ihn, die ihn beseligten, denn er wußte sich ja nichts Höheres, als ihr zu dienen. Aber schon der nächste Tag riß ihn aus seiner Wonne. Er hatte vom frühen Morgen an gescheuert und geklopft, um der kleinen Mietwohnung ein herrschaftliches Ansehen zu geben, als ihm die Portiersfrau einen alten Bortenrock überbrachte mit dem Auftrag der Frau Gräfin, nie anders als in Livree die Besuche zu empfangen. Er wurde rot und blaß und warf mit Tränen der Empörung die Livree zu Boden.
Aber nun mischte sich die alte Gräfin ein, und weil sie nicht befehlen konnte, bat und schalt und schmeichelte sie und stellte ihm vor, daß Glück und Zukunft der 57 Contessina von einem standesgemäßen Haushalt abhingen. Die Alte war trotz ihrem Hochmut unwiderstehlich, wenn sie etwas durchsetzen wollte, der arme Findling wehrte sich aber dennoch gegen die beschämende Zumutung, bis ein Wagen vor der Türe hielt und die Contessina selber heraustrat und mit vorwurfsvollem Tone: Ezio! sagte. Da hob er schnell den Rock auf, und als der Besucher die Treppe heraufstieg, fand er den feinsten, tadellosesten Lakaien am Eingang.
Ezio wußte nicht, welcher von den jungen Kavalieren, die im Hause ein- und ausgingen, der Contessina zum Gatten bestimmt war, aber er sah sie alle daraufhin an und haßte alle. Am meisten haßte er den Herrn Giorgio Varese, einen glänzenden Löwen der Gesellschaft, der nicht von altem Adel, aber reich genug war, um über die dürftige Mitgift wegsehen zu können, und der die Damen von ihrem ersten Erscheinen an mit Aufmerksamkeiten umgeben hatte. Donna Eleonora dachte aber jetzt, da sie schon beim Ehestiften war, zwei Fliegen auf einmal zu treffen. Deshalb hatte sie auch die früher gemiedene Flora Carpi herangezogen, die in gemeinsamen Institutsjahren sich an die Contessina angedrängt hatte. Reichtum, Luxus und Schliff gaben der Tochter des Geldes die Ebenbürtigkeit. Flora sollte dem jungen Grafen Folco Gualtiero, den ein guter Wuchs und eine schmucke Uniform bei den Damen empfahlen, nahe 58 gebracht werden und Castelnero auf diesem Weg in die Hände der angestammten Besitzer zurückkehren.
Die Alte machte zwar keinen Versuch, ihren Gästen Sand in die Augen zu streuen, das wäre auch unnütz gewesen, da ihre Vermögensumstände allen bekannt waren, sie scherzte sogar gelegentlich über ihre Armut, aber sie hielt den Reiz hochadliger Lebensformen aufrecht, und dazu war ihr der flinke, gewandte, immer bereite Diener unentbehrlich. Was in diesem vorging, bekümmerte sie nicht. Auch die Contessina ging mit freundlicher Gleichgültigkeit an ihm vorüber, als hätten sie nie gemeinsam um den Colombo getrauert, von bedenklicheren Vertraulichkeiten ganz zu schweigen. Der Arme fühlte sein Herz wie eine große eiternde Wunde in seinem Leib, und wenn er allein war, griff er zuweilen unbewußt nach der schmerzenden Stelle, um sich zu überzeugen, ob sie noch nicht nach außen gebrochen sei. Er wollte sich ja gern zum Schemel ihres Glückes machen, aber warum mußte es um den Preis seiner Erniedrigung sein. Wenn er die Erfrischungen herumreichte, so zitterte das Tablett in seiner Hand, sobald er den Varese mit der Contessina sprechen sah, und eines Abends goß er bei einer solchen Gelegenheit ein Täßchen Kaffee auf ihr neues Kleid. Graf Folco, der von seinem alten Geschlecht nur die Anmaßung, nicht die Haltung geerbt hatte, fuhr auf und nannte ihn einen Tölpel. Jetzt war das Maß voll. Der 59 arme Junge rannte aus dem Zimmer, riß sich draußen die Livree vom Leibe, zertrat und zerstampfte sie mit den Füßen und verließ dann ohne Abschied in den Bauernkleidern, mit denen er gekommen war, das Haus. Er wußte nicht, wohin er lief, es zog ihn nach dem Flusse, aber als er einen Augenblick an der Brüstung Halt machte, sah er sich gleich von lärmenden Masken umringt und rannte weiter. Im Laufen stieß er zuweilen einen Schrei aus und streckte die Arme in die Luft, wie von einer plötzlichen Kugel getroffen. Unerwartet trat er in eine Lücke des Pflasters, denn der Laternenschein hatte aufgehört, und schlug zu Boden.
Als er den Kopf erhob, überraschte ihn ein Anblick, den er zuvor im sinnlosen Vorsichhinstürmen gar nicht beachtet hatte: rechts und links vom Flusse, so weit das Auge sah, flammten unzählige Lichterreihen in eiliger Bewegung durch die dunkle Campagna, und vieltöniger Gesang erreichte in verlorenen Schallwellen sein Ohr. Da fiel ihm ein, daß es der letzte Abend des Karnevals sei, an dem die Bauern mit brennenden Strohwischen ihre Felder umgehen, um sie mit einem Liede zu besprechen, und wie oft er selbst als Kind mit der Contessina diesen Brauch geübt. Er blieb liegen, wo er lag, und drückte sein heißes Herz gegen den übereisten Boden. Er sah sie wieder, wie sie neben ihm den brennenden Strohwisch schwang, und hörte ihr durchdringendes 60 Kinderstimmchen singen. Ein grenzenloses Heimweh überkam ihn, er stand auf, besann sich und merkte, daß er schon den rechten Weg eingeschlagen hatte. Also wanderte er weiter in der kalten dunklen Nacht dem Schein der Lichter entgegen, und mit anbrechendem Morgen war er wieder zu Hause. Der Graf schalt nicht, als er ihn wiedersah, und fragte auch nicht nach dem Grund seiner Rückkehr. Der alte Catasta war froh, den besten Arbeiter wieder zu haben, denn jetzt mußte der Boden umgegraben werden und die Sommersaat gesät. Ezio arbeitete mit einer wahren Wut und zuweilen, wenn er eine gebrochene Scholle umlegte, zertrat er sie unter den Füßen wie einen gestürzten Feind.
Auf dem Ulmenhof schaffte und wirtschaftete die Lisa mit dem gleichen Feuereifer. Der Catasta hätte sie wegen ihres großen Fleißes gern in der Familie gehabt, aber sein Ältester war schon beweibt, und den Jüngeren hatten sie eben auf das Frühjahr einberufen. Über den Findling aber hatte er keine väterliche Gewalt, und Ezio nahm jede dahin zielende Anspielung unwirsch auf; er hatte überhaupt sein freundliches Wesen verloren. Der Lisa konnte er aber doch nicht ausweichen. Sie hatte sich mit der jungen Frau angefreundet und wußte sich immer irgendwie im Hause des Catasta nützlich zu machen, so daß Ezio sie wie in der Kinderzeit ständig um sich hatte, schweigsam, aber verlockend anzuschauen mit ihrer zwar 61 zu kurz geratenen, aber sonst wohlgebauten Gestalt und dem silbernen Pfeil im dichten schwarzen Haar.
Da kam eines Tages unerwartet Gräfin Eleonora mit ihrer Enkelin, beide in schlichten Kleidern, auf einem zweirädrigen Wägelchen angefahren. Ihre schönsten Aussichten waren durch das Laster des Grafen Folco in die Brüche gegangen. Der Unglücksmensch hatte Spielschulden gemacht, die von der Familie auf unbekannte Weise getilgt wurden. Um den Verlust wieder einzubringen, spielte er falsch und wurde gezwungen, seinen Abschied zu nehmen, ohne Aufsehen zwar, um den alten Namen zu schonen, aber doch vernichtend für den doppelten Heiratsplan der Großmutter. Der alte Carpi dankte für einen solchen Schwiegersohn, und der Varese dankte für einen solchen Schwager. Die Freundin Flora aber benützte diesen Augenblick, um den hübschen Kavalier für sich zu angeln.
Diesen Doppelschlag überlebte die alte Gräfin nicht lange. Sie ging noch ein paar Wochen mit ihren Haarwickeln und den abgeschnittenen Handschuhen umher, schlank und aufrecht wie ein Pappelstamm, aber als die Nachtigall sang, legte sie sich zum Sterben nieder. Vor ihrem Ende faßte sie noch einmal ihr Ich mit allen seinen Ansprüchen und Überlieferungen zusammen und wollte wie die Ahnfrauen ihres Hauses aus der Welt scheiden. Man mußte ihr ein verschossenes Brokatgewand mit 62 vielen reichen Stickereien anlegen, in diesem empfing sie aufrecht sitzend, trotz des schmerzhaften Leidens, das sie ins Grab führte, zum Abschied ihre Getreuen. Nando, der alte Kammerdiener, der im Hause das Gnadenbrot aß, steckte sich noch einmal in Livree und hielt mit zitternder Hand den hohen silbernen Leuchter neben dem Ruhebett. Dann wurde das Hausgesinde in Person der einarmigen Faustina vorgelassen, die ganz verwirrt von dem ungewohnten Glanz bei ihrer sterbenden Herrschaft niederkniete, um ihr die Hand zu küssen, ihr folgte die Familie Catasta mit Schwiegertochter und Enkelkindern, sowie ein paar junge Mädchen aus der Nachbarschaft, die zuweilen zum Putzen und Nähen gekommen waren. Zuletzt erschien auch Ezio, der angesichts des Todes seinen Groll vergaß. Alle nahmen ehrfurchtsvoll Abschied, und jedes erhielt ein paar wohlwollende, mit verlöschendem Atem gesprochene Worte, die Zuletztgekommenen, da schon die Stimme versagte, wenigstens noch ein huldreiches Kopfnicken. Inmitten dieser Zeremonie, die bei den Augenzeugen einen würdigen und feierlichen Eindruck zurückließ – denn wem die Überlieferung zur Seite steht, der erscheint auch im gesunkenen Zustand, und da erst recht, noch ehrwürdig, – entfloh die Seele der Gräfin Eleonora.
Was die Contessina beim Tode der Großmutter empfand, weiß ich nicht, jedenfalls wurde er für ihr 63 Schicksal entscheidend. Denn an Stelle der Verstorbenen waltete nun Donna Beata, eine verwitwete Schwester des Grafen, die noch bigotter und noch engherziger war als jene und ohne Herz für das verwaiste Kind. Die Gevatterinnen in der Mühle orakelten jetzt, daß die arme Contessina wohl den gleichen Weg gehen werde wie verschiedene ihrer Tanten, nämlich in ein gewisses Kloster, das zum Entgelt für früher empfangene Stiftungen den Töchtern des gräflichen Hauses unentgeltlich offen stand. Denn nach den jüngsten Taten des Grafen Folco, worüber die Familie noch einmal einen Mantel geworfen hatte, meinten sie, würde es dem alten Herrn schwer fallen, über das bißchen mütterliches Vermögen der Contessina einem etwaigen Schwiegersohn Rechnung abzulegen.
Unterdessen hatte sich Ezio unter allseitigem stummem Druck, dem er nicht widerstehen konnte, doch mit der Lisa verlobt. Mit der Hochzeit sollte bis zur Ernte gewartet werden, denn der alte Bauer war zu berechnend, um einen weiteren Mund mitzufüttern, bevor zwei weitere Arme für ihn schafften. Der Findling war kein verliebter Bräutigam, aber er hielt sich, wie es die Sitte erfordert, und kam jeden Mittwoch abend zur »Veglia« auf den Ulmenhof. Dort saß er auf der Tenne, wo einst das Blut des armen Colombo geflossen, mitten unter der Familie Renai, einen Arm vorschriftsmäßig um den 64 Leib der Braut gelegt, die ihre Augen gesenkt hielt, stumm und glühend.
Eines Abends war die ganze Gegend in Bewegung, denn aus der Villa Carpi stiegen mit einbrechender Dunkelheit Raketen und Leuchtkugeln in die Luft, um die Hochzeit der Flora mit dem Varese zu feiern. Die vom Ulmenhof durften bei dem Feste ihrer Herrschaft anwesend sein und hatten die Familie Catasta mit hinüber genommen. Nur Ezio, der nicht neugierig war, hatte sich ausgeschlossen und machte sich noch bei den Ställen und Scheunen zu schaffen. Da stand mit einemmal die Contessina vor ihm. Sie trug den Zopf im Nacken wie in ihren Kindertagen und eine seiner Sonnenblumen auf der Brust.
Ist es wahr, daß du die Lisa heiratest, Ezio? fragte sie.
Der Bauer hat sie mir ausgesucht, antwortete er finster.
Du wirst nun bald sehr glücklich sein, Ezio. Die Lisa ist ein schönes Mädchen geworden.
Ein hoffnungsloser Blick war die Antwort.
So glücklich wie der Mann der Flora drüben, fuhr sie fort.
Ich weiß nicht, ob er glücklich ist, brummte der Findling fast barsch und hantierte wild in der Scheune herum.
Sie fragte wieder: Weißt du noch den Spruch, den du auf das Grab des Colombo setztest: Die Liebe ist 65 stark wie der Tod –? Liebst du die Lisa mit einer solchen Liebe?
Er bebte.
Warum haben Sie eine Freude daran, mich zu quälen? Bald werden auch Sie so einen reichen schönen Kavalier heiraten, und ich werde zusehen, wie man für Sie das Feuerwerk abbrennt.
Nein, Ezio, sagte sie und trat ganz nahe zu ihm heran. Um mich wirbt keiner. Ich bin zu vornehm und zu arm. Auf mich wartet das Kloster, und es ist doch etwas so Furchtbares, wenn man jung ist und nicht lieben soll.
Was wollen Sie, das ich für Sie tue? fragte er. Soll ich dem Herrn Varese das Messer in den Leib stoßen? Oder dem Grafen Folco, der Sie um die Heirat gebracht hat? Befehlen Sie. Für Sie tu ich alles.
Aber damit war ihr nicht gedient, ihr Blut trieb sie zu einer anderen Rache an Familie und Gesellschaft.
Laß, Ezio, sagte sie. Mein Bruder ist keinen Messerstich wert, und der Varese kann heiraten, wen er mag.
Was also kann ich sonst für Sie tun? beharrte er.
Mich sollst du lieb haben, und nicht die Lisa.
Er kam zitternd einen Schritt auf sie zu und sagte:
Ein Bauer ist doch viel zu schlecht für Sie.
Da öffnete sie die Arme, in die er sich hineinstürzte wie in den Tod. Und sie nahm ihn an sich wie eine Tigerin ihre Beute.
66 Von diesem Augenblick an war das Schicksal über ihnen. Es gab keine Lisa mehr, keine Familie, keinen Stammbaum, kein Herkommen, keine Furcht vor den Folgen. Hart vor den Pforten der ewigen Klausur klammerte sich die Verzweifelte am Leben fest, das man ihr rauben wollte, sie faßte es in Gestalt des Findlings, mit dem sie von je gemacht hatte, was sie wollte. Um die Mittagsstunde, wo alles Leben auf den Feldern schläft, trafen sie sich, so oft sie konnten, in einer Vogelhütte nahe der Scopeta, die halb in die Erde gebaut war. Ezio hatte dort in der Nähe das Heidekraut auszusengen, um den noch unbebauten Boden stückweise für die Saat zu gewinnen. Er schaffte mit Wut, den ganzem Tag sah man die Flamme mit bläulichem Rauch über das Feld rasen. Aber noch wilder raste ein anderer Brand, der nicht mehr zu dämpfen war. Die stolze Enkelin des Stephansritters hatte alle Scheu und Menschenfurcht von sich getan, mochte es jetzt gehen, wie es konnte. Den armen Findling aber ängstete die Gefahr, worin sie schwebten, und er sah nicht mehr, wo aus noch ein. Ich war seit langem sein Vertrauter, denn seine Seele hatte nicht die Kraft, das schwere Geheimnis allein zu tragen. In jenem Sommer sah ich ihn des öfteren, weil ich meinen Amtsvorgänger, den alten Bezirksarzt, der erkrankt war, zu vertreten hatte, aber ich konnte dem Unglücklichen weder raten noch helfen. Seine Heirat mit der Lisa war 67 ohne das größte Aufsehen nicht rückgängig zu machen, und Aufsehen hatten sie doch vor allem zu scheuen, wenn sie nicht entdeckt werden wollten, was ohnehin auf die Dauer unvermeidlich war. Die Contessina hatte ihm auch nicht verboten, seine Braut heimzuführen, aber er hatte ihr schwören müssen, sie nicht zu berühren. Wohin das bei der Hochspannung der Lisa führen würde, ließ sich voraussehen. Daneben marterte den armen Jungen eine seltsame Eifersucht: da er sich so tief unter seiner Geliebten fühlte, war es ihm auch völlig klar, daß ihre Liebe in nichts der heiligen, opferbereiten Hingabe glich, mit der er seit seinen frühsten Jahren an ihr hing, und daß er nur der Spielball einer Leidenschaft war, die jeden Augenblick auch auf einen anderen überspringen konnte. Denn was hatte er in seinen eigenen Augen vor den anderen voraus, da er doch auch nicht ihresgleichen war.
Die Hochzeit fand also statt, nachdem die Bauern eigenhändig noch ein Zimmer für das junge Paar an ihrem Hause angebaut hatten. Die Lisa, die klug war, ließ sich nichts merken und zeigte allen ein heiteres Gesicht. Sie konnte ja nicht zweifeln, wohin das Herz Ezios neigte, aber sie ahnte nichts von den Beziehungen der beiden und hoffte im stillen, daß es ihr doch gelingen werde, den Gatten an sich zu ziehen.
Unterdessen ballte sich das Unheil mehr und mehr über 68 der Villa Merlata zusammen. Graf Folco, der sich jetzt mit der Hoffnung auf eine amerikanische Heirat trug, aber von der Miß in der Schwebe gehalten wurde, hatte sich, unbeschäftigt, wie er war, und mittellos, in das väterliche Haus zurückgezogen und wurde von Tante Beata gefüttert und gehätschelt. Aus Mißmut und Langerweile belästigte er die ganze Umgebung und warf sich zum Tyrannen der Gegend auf; er brachte den kleinsten Wildfrevel zur Anzeige und ließ arme alte Weiblein einsperren, wenn sie einen Karren voll Reisig in der gräflichen Pineta aufgelesen hatten. Es hieß, er leide an epileptischen Krämpfen, und auch die Wutanfälle, von denen er bisweilen heimgesucht wurde, mögen krankhaften Ursprungs gewesen sein. Es war alsdann nicht ungefährlich, ihm zu begegnen, denn er ging immer mit der Flinte und feuerte, wenn er schlecht gelaunt war, ins Blaue ab.
Um jene Zeit machte das Schicksal noch einmal einen Rettungsversuch an dem gräflichen Hause, allerdings einen schmerzhaften. Der Nachbar Carpi erbot sich, dem jungen Grafen ein anständiges Unterkommen im Ausland zu verschaffen, wenn er einwillige, seinen Titel abzulegen, seinen Namen zu ändern und niemals wieder in die Gegend zu kommen. Titel und Namen hatte er für seinen eigenen Sohn im Auge: Graf Camillo sollte den Knaben, der wohlgeraten war, durch Adoption in 69 das alte Geschlecht aufnehmen und in ihm seine Linie fortsetzen. Dafür wollte sich der Antragsteller des weiteren verbindlich machen, die Villa Merlata stattlich herzurichten, wie auch dem alten Grafen einen standesgemäßen Unterhalt und der Tochter eine angemessene Mitgift auszusetzen. Aber er stach in ein Wespennest. Graf Camillo runzelte die Stirn und erklärte, daß seine Ahnherren nicht verkäuflich seien, und Graf Folco, der keineswegs die Absicht hatte, sich für das Wohl der Seinen zu opfern, bebte vor Entrüstung. Als gar Herr Carpi, dem seit der neuen vornehmen Verschwägerung der Kamm geschwollen war, sich im Wortwechsel einen verdeckten Hinweis auf die bewußte kleine Trübung des gräflichen Wappens entschlüpfen ließ, durch die sich sein Wert denn doch etwas verbilligt hatte, mußte er sich schleunigst davonmachen, sonst hätte ihn der junge Herr erschlagen. Von da an hatten sie auch noch ihren gewichtigsten Hypothekengläubiger zum Todfeind.
Nur einmal noch sollte ich die Contessina wiedersehen. Ich war nach der Villa Merlata gerufen worden, wo Donna Beata sich den Fuß verrenkt hatte und gleichzeitig der alte Nando im Sterben lag: der Ärmste war nur noch Haut und Knochen und ging augenscheinlich an den noch verschärften Fasttagen der gräflichen Küche zugrunde.
Als ich wieder aus dem Hause trat, saß die Contessina 70 im leichten Sommerfähnchen unter der dichten Gruppe hochgewachsener Sonnenblumen, eine davon hielt sie auf dem Schoß und zupfte den reifen Samen heraus, den sie in den Mund steckte, wobei ihr der neue Colombo andächtig zuschaute. Sie schien mir noch wunderbarer als sonst, aber die knospenhafte Herbheit war weg. Eine der Sonnenrosen von riesenhaftem Umfang mit ungeheuren Blättern stand am hohen Stengel gerade über ihrem Haupt und glich mit den langen gelben Fransen einem Sonnenschirm; sie war so schwer von Reife und Fruchtbarkeit, daß sie den Kopf tief heruntersenkte wie in Scham und Gram. Das war unsere letzte Begegnung. Die Contessina erwiderte gelassen meinen Gruß und zeigte keine Befangenheit, obgleich sie wissen mußte, daß ich wissend war. Ich war auch nicht der einzige Wissende, allmählich lag es wie ein öffentliches Geheimnis in der Luft; die ganze glühende, zikadendurchschrillte Campagna schwieg von dem, was ich wußte. Der Augenblick konnte nicht ausbleiben, wo sie reden würde von dem tiefen Fall des Grafenkindes.
Wer zuerst die Lisa auf die Heimlichkeiten der Vogelhütte aufmerksam machte, weiß ich nicht. Es kam zu einem wilden Auftritt zwischen ihr und Ezio. Dieser leugnete natürlich, wie er mußte. Danach diente die breit und dicht gewordene Wacholdergruppe, die ihre Äste über das Grab des ersten Colombo senkte, den zweien als 71 Zuflucht. »Die Liebe ist stark wie der Tod« war dort noch immer zu lesen, wenn man die Zweige aufhob.
Aber ach, es war nicht die Liebe, die der Spruch meint, was das schöne herrische Mädchen in die Gefahr dieser Zusammenkünfte riß, ihre Hemmungslosigkeit glich der, die den armen Colombo in den Tod geführt hatte. Bald war es auch bei der Wacholdergruppe nicht mehr sicher, denn die Lisa spionierte überall. Noch wußte sie nichts Bestimmtes, denn Ezio blieb undurchdringlich, und an die stolze Gelassenheit der Nebenbuhlerin wagte sie sich nicht heran. Die beiden mußten ständig den Ort des Stelldicheins wechseln, Ezio, der alle Vogelrufe mit solcher Vollkommenheit nachahmte, daß sich die Vögel selber täuschen ließen, hatte eine ganze Signalsprache bereit, um die Contessina, wenn sie sich näherte, vor Späheraugen zu warnen. Aber das Gerücht, daß das stolze Mädchen die Geliebte des Findelknaben geworden sei, war nicht mehr zurückzuhalten, und am Ende brachte doch einmal eine Unvorsichtigkeit die Entdeckung.
Die ganze Familie Renai spie Feuer, und die sonst besonnene Lisa geriet ins Rasen. Sie stürzte augenblicklich zu der Gräfin Beata, um die sofortige Entfernung der Frevlerin zu fordern, doch die Gräfin hatte noch Schmerzen am Bein und empfing sie nicht. Nun drang sie bei dem alten Grafen ein und fand dort auch den Sohn, 72 was nicht in ihrer Absicht gelegen war, aber sie wollte und konnte nicht mehr zurück, sondern sprudelte alles heraus. Wie diese zwei es aufnahmen, läßt sich denken. Sie lebten ja beide noch im Mittelalter, wo bei einem weiblichen Fehltritt der Familie das Richteramt zufiel. Unbegreiflich war nur, daß sie selber so gar nichts bemerkt hatten. Sie nahmen der Lisa das Versprechen ab, zu schweigen und auch die ganze Familie Renai zum Schweigen zu bewegen, wogegen sie sich verpflichteten, das Ärgernis zu beseitigen und ihr zu ihrem Rechte zu verhelfen. Etwas getrösteter ging die Lisa.
Am andern Abend kam Ezio nicht vom Feld nach Hause. Die Lisa stand wartend unter der Tür, und so oft die alte Bäuerin, Ezios Ziehmutter, sie hereinrief, sie regte sich nicht. Sie stand wartend bis zum Morgen. Aber der Ezio kam nicht, – kam niemals wieder. Ihr erster Verdacht war, daß er von der Absicht, die Contessina wegzubringen, Wind bekommen habe und mit ihr entflohen sei. – Wohin? Mit was für Mitteln? Die Eifersucht machte sie blind, daß sie an diese Möglichkeit glaubte. Aber als sie trotzdem ruhelos umherlief, nach ihm rufend und suchend, begegnete sie der Contessina, die gleichfalls suchte. Jähe Angst und eine brennende Reue, daß sie den, der ihr auf der Welt das Liebste war, vielleicht in Gefahr gestürzt habe, trieb sie zu der Verhaßten hin, und sie suchten nun beide zusammen. Alle 73 Waldungen und Schluchten widerhallten von dem gellenden Ruf der Lisa: Ezio! Ezio!, als ob er sich wie ein kleiner Junge irgendwo versteckt halte. Der Bauer Catasta erstatte Anzeige von dem Verschwinden des Findlings, die Carabinieri kamen, forschten, verhörten und suchten ihrerseits, ohne jeden Erfolg: seitdem er sich zum letztenmal entfernt hatte, um das Heidekraut abzusengen, war er von niemand mehr gesehen worden. Ebensowenig fand man aber eine Spur, die auf ein Verbrechen hingedeutet hätte, und allmählich gewann das von dem alten Renai genährte Gerücht die Oberhand, daß Ezio nach Amerika verduftet sei: ein Mann aus Pontassieve wollte ihn im Hafen von Livorno gesehen haben, und irgendein unbekannter Gönner, vielleicht der natürliche Vater des Findlings, hatte, wie jener zu verstehen gab, die Hand im Spiel. Die Lisa ging mit starren Augen umher wie eine Verhexte und redete nicht mehr.
Nur wenige Tage vergingen, da mußten die Carabinieri eine neue Untersuchung anstellen: die Contessina war, wie ich schon erzählte, in dem Wasserbecken unterhalb der Eiskalten Quelle tot gefunden worden. An diesen entlegenen Ort, zu dem sie den kürzesten Zugang kannte, hatten sie in den letzten Tagen vor Ezios Verschwinden ihre Zusammenkünfte verlegt, denn im geisterhaften Mittagsglast kam nicht leicht jemand an die Stätte. Wenn irgendwo, so mochte sie dort noch seine 74 Wiederkunft erwarten, und dort war es, wo das Schicksal sie ereilte. Der Augenschein ließ die Annahme zu, daß sie beim Wassertrinken auf dem glatten Rande des Beckens ausgerutscht und mit dem Kopf an der Steinwand aufgeschlagen sei, denn sie hatte eine Wunde auf der Stirn und lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Ihre Bernsteinkette war zerrissen, und auf der Oberfläche schwamm – seltsam anzuschauen – eine Sonnenblume.
In der Gegend wurde viel gemunkelt über dieses Ende. Die einen meinten, sie habe sich aus Verzweiflung über das Verschwinden ihres Geliebten ertränkt, andere, daß sie aus Schreck über die beginnenden Folgen ihres Verkehrs in den Tod gegangen sei, noch ein weiteres ungreifbares Gerücht hing mit der Jähwut ihres Bruders zusammen, der ihr aufgelauert haben sollte, um uneingedenk der eigenen Verirrung das befleckte Wappenschild reinzuwaschen. Aber niemand fühlte das Bedürfnis, den Schleier zu lüften, der über dem tragischen Ende der Contessina lag, denn wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Und es war kein Kläger da als der neue Colombo, dessen jammervolles Heulen nicht zur Ruhe kommen wollte, bis ihn der junge Graf – aus Barmherzigkeit, wie er sagte, – erschoß. Ob der steinerne Stephansritter auf seinem Sarkophag errötet ist, als diese Enkelin bei ihm einzog, ist mir nicht bekannt geworden. Ich 75 weiß nur, daß es ihr in der kalten Gruftkapelle nicht zu gefallen scheint, denn so oft die Hochsommersonne über unseren Feldern glüht, soll sie unruhig werden und umhergeistern, um junge Burschen zu verführen.
Noch ein Nachspiel bleibt mir zu berichten. Graf Camillo hatte sich lange gewehrt, das Stück Ödland zu verkaufen, auf dem das Grab des Colombo lag, obschon sich ein Käufer gefunden hatte, der dort einen Sommersitz errichten wollte und der eine ganz ansehnliche Summe dafür bot. Es fiel nicht weiter auf, denn der alte Herr war greisenhaft grillig und sonderbar geworden, seitdem sich Graf Folco nach Entgang der amerikanischen Brautschaft seinen Gläubigern durch einen Revolverschuß entzogen hatte. Vor dreizehn oder vierzehn Jahren aber kam die Gemeinde und enteignete das Grundstück, um einen Weg hindurchzulegen. Als die Wacholdergruppe umgegraben wurde, fand man unter dem Inschriftstein, der noch immer lag, ein zerfallenes menschliches Gerippe mit den Hundeknochen vermengt. Nun erinnerten sich viele wieder des Findlings, der vor langer Zeit in so rätselhafter Weise aus der Gegend verschwunden war und nie wieder ein Lebenszeichen gegeben hatte. Aber wie in dem Falle der Contessina begnügte man sich mit einer amtlichen Feststellung, denn niemand legte Wert auf eine Untersuchung längst vergangener Dinge: der Catasta, der seinen Pflegesohn nie verschmerzt hatte, 76 war tot, die Lisa befand sich als unheilbar im Irrenhaus, und die übrigen Glieder der Familie Renai nannten den Namen des Verschollenen niemals.
Als die Nachricht von dem düsteren Funde den Grafen Camillo erreichte, blieb er mit offenem Munde sprachlos: ein Schlagfluß hatte ihn getroffen. Er kam wieder zu sich und fand auch noch einmal die Rede. Aber nur, um nach dem Geistlichen zu verlangen. Als dieser das Haus verließ, standen die neuen Bauern am Wege und blickten ihm schweigend nach. Es war, als ob jeder die schreckliche Gewissenslast, die er unter dem Beichtsiegel mit hinweg nahm, in seiner Seele lese. – – –
Als der Doktor schwieg, erkundigte sich Martin Francke, wer das Bild der Contessina auf seine Zimmerwand gemalt habe, denn daß sie die Dargestellte sei, konnte er nach dem Vernommenen nicht mehr bezweifeln.
Der Doktor hatte das abgelegene Gastzimmer, das sich in einem Seitenbau befand, noch nie betreten und wußte gar nicht, daß dort beim Abblättern des alten Bewurfs ein Wandgemälde zum Vorschein gekommen und von Herrn Parga in der Hoffnung auf einen wertvollen künstlerischen Fund vollends bloßgelegt war.
Ja, sie ist es, sagte er betroffen, als ihn Martin vor die Bildwand führte und sie durch emporgehaltene Kerzen beleuchtete. Dann fiel ihm auch wieder ein, daß einmal ein wandernder Maler auf der Villa Merlata 77 während eines Gewitters Unterschlupf gefunden und auf Ezios Bitte die Contessina samt dem Hund an die Wand einer Kammer gemalt hatte. Als Herr Parga einzog, war der Bau verwahrlost und von dem Bilde nichts mehr zu sehen, eine mehrfache Schicht von weißer Tünche verdeckte es ganz. – –
Der Doktor schickte die übermüdeten Gäste zur Ruhe und wachte allein mit dem Hausherrn bei dem Kranken. Martin Francke, in dem sich nachträglich die Ermüdung des Tages fühlbar machte, sank schnell in Schlaf und sorglosen Traum aus vorigen ungetrübten Tagen. Tief in der Nacht erwachte er an einem ländlichen Geräusch unter seinem Fenster, das ihm wie das Dengeln einer Sense klang. Er stand auf und sah hinaus. Auf der höher gelegenen Wiese seinem Fenster gegenüber stand im Schein des abnehmenden Mondes eine schattenhafte Gestalt, die die Sense schwang. Mit keinem Hintergrund als Luft und ohne Baumwuchs zum Vergleich erschien sie von außermenschlichen Maßen, mythisch. Ihm wurde kalt am Rücken, er blieb stehen, ob der gespenstische Mähder nicht verschwinden wolle. Aber dieser mähte gleichmäßig weiter. Da rief Martin Francke mit gedämpfter Stimme hinüber: Bist du es, Dario?
Gnorsì, kam es ebenso zurück.
Warum mähst du denn in der tiefen Nacht?
78 Weil es am Tag zu heiß ist, Herr.
Aber du könntest den Kranken stören.
Sein Zimmer liegt auf der anderen Seite, Herr.
Martin Francke wankte auf sein Bett zurück, seine ganze Fassung war mit einem Male gewichen. Er brach in hemmungslose Tränen aus, während gleichzeitig drüben im anderen Flügel des Hauses ein junges blühendes Leben einem anderen, größeren Schnitter erlag.
Der Tod Manfreds hat ihm den Rest seiner Tage verdüstert. Immer quälte er sich mit der Frage, ob er nicht durch sein Irregehen an jenem glühenden Augusttag das Unglück mit verschuldet habe. Aber die dämonische Gestalt der Verderberin war ihm eine Wirklichkeit, an der er keinen Zweifel zuließ. Denn niemals gab der auf anderen Gebieten streng und kritisch denkende Gelehrte der naheliegenden Vermutung Raum, daß er zuerst in seinem verwirrten Zustand vor dem Einschlafen ihr Bild unbewußt an der Wand wahrgenommen und dann erst die Begegnung an der Schlucht geträumt, in der Erinnerung aber die Reihenfolge umgedreht habe. Nein, mit den Schritten einer gesättigten Tigerin war sie an ihm vorübergegangen, nachdem sie den schönen Jüngling gewürgt, und hatte ihn noch mit einem Blicke gestreift, von dem er siechte.