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Zur Zeit, als sich die folgende Begebenheit zutrug, sah es im Ghetto ganz anders aus, als jetzt. Die Leute waren damals viel unglücklicher daran als heutzutage, und das rührte hauptsächlich davon her – weil sie keine Zeitungen lasen. Jetzt ist das freilich ganz anders worden. Das Ghetto liest nicht nur, sondern schreibt sich selbst seine Zeitungen, und zur Bundesarmee des gedruckten Wortes stellt es ein gar beträchtliches Contingent. Das Ghetto hat Federn, die bloß in seinem Solde stehen; nur schade, daß es nicht schon damals verstand, sie gehörig in Bewegung zu setzen. Denn dadurch ist manche Geschichte zu Boden gefallen, die jetzt wie eine gestrandete kostbare Beute mit Stricken und Haken ans Land gerettet würde – und nun vergessen bleibt. Wenn aber heutzutage der Vorsteher irgend einer versteckten Gemeinde das Unglück hat, gerade nicht im Besitze der allerschönsten Nase zu sein, so kann man das morgen oder übermorgen ganz sicher überall ausposaunt lesen – der arme Vorsteher und seine Nase!
Wie für so viele andere Dinge muß man aber die Leute im Ghetto auch darum entschuldigen. Sie hatten damals nicht Zeit zu lesen, oder gar zu schreiben. Ein einziger Mensch besaß damals die ganze Zeit, er hieß Napoleon, die andern hatten nur Momente. In solchen Momenten konnten die andern eben nur Atem schöpfen, wenn er ihnen nicht schon früher ausgegangen war. Wie konnte man da schreiben? Die Hand zitterte unter dem Trommellärm und brachte nichts als unleserliche Fliegeneier aufs Papier. Und wie sollte da das arme furchtsame Ghetto, wo alles schwieg, seine heisere Stimme erheben? Noch gab es damals keine Parteien, die das schwere dogmatische Geschütz gegen einander aufführten; die Kugeln, die damals fielen, machten einem Streite sogleich ein Ende, während sie ihn heute gewöhnlich noch mehr entzünden, und das einzige Dogma, das damals galt, war stärker als der ganze babylonische Talmud. Es hieß Brandschatzung; wollten die Leute nicht recht daran glauben, so donnerten die Kanonen dazu die sind von jeher die besten Proselytenmacher gewesen.
Dennoch hat das Ghetto seine Geschichte jener Tage; es flattert dort manch ungeschrieben Stück davon. Die Gestalt, die damals mit Siebenmeilenstiefeln über die Erde ging, war so groß, daß sie auch über die Mauern des Ghettos hinübersah. Aber von dem einen Blicke haben die Leute noch jetzt zu erzählen. Wenn ihr daher ein altes Mütterchen, das noch jetzt rot wird, wie eine Klatschrose, wenn man ihr von der lustigen »Franzosenzeit« spricht, oder einen Dorfgeher nicht verschmähet, der als Knabe mit der Pike eines Baschkiren gespielt hat, oder eine eingemauerte Bombe aus jener Zeit – so wollen wir Euch Folgendes berichten.
Es war kurz nach der Schlacht bei Aspern. Uns erging es damals wie den Helden manches modernen Romans, Tugend und Ausdauer müssen zuletzt vor der einbrechenden Gewalt Kehraus machen. Aspern war nur die Episode, aber Wagram die Katastrophe dazu.
Von beiden Orten hatte man nach Preßburg nur einen Sprung. Man brauchte bloß dem Laufe der Donau zu folgen, so fanden die Kanonen den Weg schon von selbst hin. Also konnte es gar kein Wunder nehmen, da die Franzosen eines Tages vor dem Preßburger Brückenkopf erschienen, in der ganz unverhohlenen Absicht, erst ihn und dann die Stadt selbst zu nehmen. – Ich weiß es im Augenblicke gerade nicht, wie lange da hinüber und herüber geschossen wurde; aber eines Tages als man glaubte, die Kugeln hätte eine momentane Ohnmacht überfallen, kamen sie wieder lustig und lebendiger alsje herangeflogen. Da entstand großer Jammer im Ghetto. Es liegt das so ganz offen nach der F'ußseite und wiewohl ein eisernes Gitter von jeher die zarte Bestimmung hat, die Leute drin vor der Berührung mit draußen zu bewahren, so flogen die Kugeln doch so ohne Scheu hinüber, als wußten sie nicht, daß dort gewöhnlich der Stadttrabant saß, der keine Maus durchließ, ohne ihr auf den Schwanz zu treten. Wo saß aber jetzt der Trabant? Die Leute rannten und flüchteten, begruben ihre besten Sachen in den Kellern und waren blaß wie der Tod. Hie und da flammte ein Haus auf, und die Bomben statt durch diesen Anblick mitleidig zu werden, fuhren noch grimmiger drein und schürten, wie böse Ankläger, das Feuer noch mehr an. – Man kennt das Ende vom Lied. Einige Zeit darauf saßen die Franzosen mit ihren sächsischen Freunden in der alten Krönungsstadt; für das Ghetto fing aber das Lied erst an.
Die Leute hatten ihre guten und schlechten Tage. Man mag sagen, was man will, die Umstände wissen sie ganz prächtig zu benützen. Was sie auf der einen Seite durch Einquartierung und Brandschatzung verloren, das gewannen sie auf der andern durch Klugheit und »Spekulation«. Was man ihnen eimerweise genommen, das schöpften sie wieder in Löffeln zurück. Die Franzosen konnten nicht soviel in die Tasche stecken, als durchfiel, und man kann denken, die Leute im Ghetto waren nicht die Letzten, die sich bückten, um es aufzuheben.
Manchem steht daher die »Franzosenzeit« noch jetzt wie ein voller Geldbeutel vor den Augen.
Aber nicht alle dachten gleich gut. Da war um diese Zeit Leb Rother der unglücklichste Mensch in ganz Preßburg. Rother hieß er von seinen Haaren; es flammte darunter der grimmigste Haß gegen die Franzosen. Leb Rother war einmal mit den Martinigänsen, die die Preßburger Gemeinde alljährlich an den »Hof« verehrt, in Schönbrunn gewesen, und da hatte er mit dem Kaiser selbst gesprochen. War das nicht hinlängliche Ursache, daß er seit jener Zeit in einem beständigen Begeisterungsrausch lebte? Leb haßte die Franzosen, wie man die Feinde eines Kaisers, der mit »einem« gesprochen, hassen muß. Wenn er im Schemona Esre zu jener Stelle kam, wo man Gott um die Zerknirschung seiner Feinde bittet, dachte er sich immer die Franzosen darunter. Jedes Wort, das er aussprach, hätte sich in eine Kugel verwandeln mögen, um in sie zu stürzen!
Am Tage der Schlacht bei Wagram, man kannte ihr Schicksal noch nicht, da ging dieser Leb Rother wie ein Halbtrunkener in der Gasse herum. Er lief mehr als er ging, und taumelte mehr, als er lief. Jeden hielt er an und fragte ihn, ob der »Franzos« oder der Kaiser gewonnen habe, und da ihm keiner Auskunft geben konnte, so geriet er in heftigen Zorn und ging mit einem schrecklichen Fluch davon. »Verschwarzte Franzosen« hörte man ihn oft rufen, die Leute lachten ihn aus. Oft blieb er mitten in der Gasse stehen, und fing da an zu beten. Wenn man deutlich zuhörte, konnte man Bruchstücke aus den Psalmen des Königs David vernehmen.
Kein Mensch wußte, was mit diesem Leb Rother vorging. Nur er selbst, er hatte in seiner Art einen Entschluß gefaßt, der den Franzosen einen beträchtlichen Schaden zufügen konnte, wenn er zur Ausführung kam. Er war kühn, aber möglich. In der Nacht nämlich wollte er auf das Schlachtfeld hinauseilen, die Kleider, Gewehre und Sattelzeug, und was sich alles auf geheimen Wegen, die er sehr gut kannte, fortbringen ließ, seinem Kaiser nach Ofen zuführen, wo sich damals die Monturmagazine befanden. – Man sieht, der Entschluß Leb Rothers war etwas praktischer Natur, denn er hoffte bei dem »Geschäft« einen recht hübschen Gewinn zu machen, aber für jene Zeit durch und durch patriotisch. Nur brauchte er zur Ausführung einen Gehilfen, der die Gefahr zur Hälfte auf seine Schulter nahm. Das war es eben, was ihn so ruhelos im Ghetto umhertrieb; er fand keinen, dem er Mut genug zugetraut hätte, und allein hatte wieder er nicht Mut genug.
Zum Glück besann sich Leb Rother in seiner Drangsal, daß er einen Freund habe. Es war dies der lange Christoph, Wirt zum goldenen Kreuz auf dem Schloßberge, im Ghetto auch Rebb Christoph zubenannt. Mit diesem Rebb Christoph hatte es ein eigenes Bewandtnis; er war mehr Jud' als Chnst. Im Ghetto geboren und »aufgewachsen« war er mit den Sitten, Gebräuchen und Ceremonien der Leute ganz vertraut. Den Jargon sprach er so meisterhaft, daß man sich's kaum einredete, der Mann könne hinterdrein zur Beichte gehen, oder ein Kreuz schlagen. Überhaupt war dieser Christoph eine gar drollige Natur. Am liebsten verkehrte er mit Juden, und wenn die Leute aus der Synagoge gingen, so stand er gewöhnlich draußen vor seinem Haus und wünschte ihnen: gut Schabbes oder gut Jontef (Feiertag). Das »Rebb« bekam er bei folgender Gelegenheit. Er sah einmal am Freitag abends einen Schnorrer an sich vorübergehen, den fragte er, nachdem er ihn früher mit dem Gruße: Salem Alekem (Friede mit euch) bewillkommt hatte: »Habt Ihr schon ein Balbos, wo ihr zu Schabbes essen könnt?« Der Schnorrer verneinte es. »Nun, so seid Ihr mein Gast auf Schabbes«, sagte ihm der Christoph und führte ihn ins Haus, wo er ihn ganz nach jüdischer Art bewirtete. Ehe er zu Tische ging, wusch er sich die Hände und sprach dann über das Brot die Segnung aus. Nachdem abgespeist war, verehrte er dem Gaste das »Benschen «, d. i. den Tischsegen, und da jener zufällig einen Fehler beging, wurde der Christoph ganz zornig und sagte: »Ihr seid ein Amhoretz (Ignorant), Gast, und nicht wert, daß Euch ein guter Jud' zum Essen einlad't.« Erst beim Weggehen erklärte er dem Schnorrer, bei wem er gegessen! Seit jener Zeit hieß er im Ghetto »Rebb« Christoph. – Zu diesem Christoph ging nun Leb Rother in seiner Not und vertraute ihm seinen Plan. Im Punkte des Patriotismus gab ihm Christoph nichts nach, auch war er gegen einen verständigen Gewinn nicht unempfindlich. Sie hatten eine lange Unterredung mit einander und als Leb Rother fortging, sagte Rebb Christoph im Jargon: »Nu, Leb, die Kalle hat also ihren Choßen « (die Braut hat ihren Bräutigam), womit er sagen wollte, das Geschäft sei abgeschlossen, worauf Leb Rother sagte: »Gut, und heut' nacht ist die Chassne (Hochzeit).« Man versteht schon den mystischen Sinn dieser Worte. –
Wir können hier den beiden nicht durch die Schlangenwindungen ihres Geschäftes folgen; es gelang ihnen vollkommen. Christoph hatte den Mut und Leb die Verschlagenheit – zusammen gab das den Erfolg. Wer in einer solchen Zeit lebte, wie unsere beiden Freunde, wo jeder Tag ein lebendes Beispiel brachte, den wird das nicht in Staunen versetzen. Wem damals nicht der Kopf zufällig »von selbst« herabfiel, der konnte hoffen, ihn bei der nächsten Gelegenheit um so höher aufzusetzen. – In Zeit von einigen Tagen war alles vorüber, mit Hilfe von Bauern hatten sie ganze Massen von Gewehren, Sattelzeug und Kleidern nach Ofen befördert, und kehrten nun von dort, mit dem klingenden Gewinn in der Tasche, jeder einzeln nach Preßburg zurück. –
Während dieser Zeit war dem Leb Rother und seinem Freunde Christoph ein furchtbarer Feind erstanden – in einer alten französischen Grammatik. Man wird das unbegreiflich finden, wenn man nicht weiß, daß Chajim Franzos damals die wichtigste Person in ganz Preßburg war. Dieser Chajim war eine Art Winkellehrer, der um acht Groschen die Woche die Kinder der »Balbatim« im Schreiben, Lesen und Rechnen und auch in der Bibel unterrichtete. In müßigen Stunden lernte er aus einer Grammatik französische Vokabeln; er hatte sie von einem Trödler statt Wochengeldes bekommen. Aber diese Grammatik war jetzt ein Capital, das seine herrlichen Interessen trug. Wer damals die Conversationssprache der Weltgeschichte verstand, der war gut daran. Da kann man sich's nun leicht vorstellen, welch ein Franzosenfreund der Chajim war! Sie verstanden ja seine Sprache! Bei dem Einzuge der großen Armee konnte man ihn sehen, wie er barhaupt vor den Colonnen einherlief und seinen Hut ganz begeistert schwenkte. Er soll auch »vive l'empereur« gerufen haben, was aber noch Bestätigung bedar£ In kurzer Zeit hatte er sich an irgend einen schnurrbärtigen Sergeanten herangemacht, mit dem er nun, Arm in Arm, und noch im Gefolge einiger »Unbesiegbaren«, durch das Ghetto spazierte. War es Zufall oder Absicht: dem Chajim war die Gasse noch nie so merkwürdig vorgekommen, als gerade jetzt. Vor jedem Hause und Gewölbe blieb er mit dem Sergeanten stehen und hielt da eine prächtige Suada, worüber den Leuten buchstäblich das Sehen und Hören verging. Besonders verschwenderisch ging Chajim mit dem »Bougre« und »Sacrebleu« um; tags darauf betitelten sich die Kinder in der Gasse mit Bougre und Sacrebleu!
Bei dem allem war Chajim die wichtigste Person in Preßburg. Wer was bei der großen Armee anzubringen hatte, ging zu Chajim Franzos. Alles ging durch seine Hände; er machte den Unterhändler. Dabei vergaß er sich keineswegs; denn da er der Erste »bei der Hand« war, so handelte er goldene Uhren, Silberbestecke, Geschmeide und was sonst die Unbesiegbaren bei sich als leichte. Beute trugen, um Preise ein über die den ehemaligen Besitzern graue Haare gewachsen wären!
Singend und jubelnd durchzog Chajim mit seinem Sergeanten das Ghetto, Tag für Tag, ja oft auch in der Nacht.
Nur wenn er an einem Hause auf dem Schloßberge vorüberkam, wurde er plötzlich still und die Geister seiner Lustigkeit besänftigten sich auf einen Augenblick.
Denn dort wohnte Blümele, seine Braut, die er nach den Feiertagen heiraten sollte. Chajim liebte das Mädchen, sie war schön und gut; er nahm sie ganz ohne Eigennutz, denn Blümele war eine Waise, der Vater hatte ihr nichts nachgelassen. Und doch, wenn Chajim daran dachte, daß Blümele bald sein Weib sein werde, überkam es ihn stets wie eine unaussprechliche Segnung! Er glaubte sich tief beglückt und gleichsam begnadigt von Blümele, und doch war er es eigentlich, der sie nahm! – Am Abend, wenn er seine Tagesbeute an Uhren, Silberbestecken und Geschmeide beisammen hatte, trug er sie zu Blümele, damit sie es »aufhebe«. Das alles sollte einen schönen Beitrag zu ihrer Mitgift geben. Aber das Mädchen sagte nie ein Wort dazu, sie trug die Sachen an ihren Versteck, aber sie freute sich nicht. Chajim meinte, er bringe nicht genug und darum sei Blümele so traurig, und um ihr zu beweisen, daß er kein Schlemiel sei, bemühte er sich noch mehr. Aber je mehr er brachte, desto verdrießlicher wurde Blümele. Nie sprach sie, aber um so mehr ihre Tränen.
Zuletzt ärgerte sich Chajim ganz gewaltig über diese Teilnahmlosigkeit seiner Braut. Am 9. Tage des Monates Ab kam er, nachdem er früher mit dem Sergeanten und noch andern ganz lustig gewesen war, zu Blümele. An diesem Tage ist Jerusalem zerstört worden und in der Synagoge ertönten die weinend traurigen Klagen darum; die Leute hielten Fasten. Bei seinem Eintreten rief er ganz selig: »Gut Jontef (Feiertag) Blümele! Da bring' ich Dir wieder schöne Sachen.«
Er legte dabei seine glänzende Beute auf den Tisch. Aber das Mädchen schob die Dinge mit einer heftigen Gebärde von sich, daß einige Stücke klirrend auf den Boden fielen. Da wurde Chajim gewaltig böse, er schrie: »Jetzt hab' ich's genug, willst Du nicht, daß ich Geld verdiene? «
Blümele sagte aber mit tränenerstickter Stimme: »Halt's für Dich; es kleben Sünden daran.«
»Narrele«, sagte Chajim lächelnd, »Geld verdienen ist keine Sünd'. Der Mensch muß es ja zu was bringen. «
»Chajim, Chajim, wie redtest Du um Gotteswillen«, rief das Mädchen voll Schrecken aus und schlug die Hände zusammen. »Aus Dir redt ja der Wein!«
»Der Wein?« lallte Chajim, nun selbst erschrocken, »wer sagt Dir das? «
»Am heutigen Tag zu trinken! wehgeschrien«, klagte Blümele, »kann Dir denn das gut ausgehen, Chajim? Weißt Du, was heut für ein Tag ist? «
Dem Chajim klang diese Frage wie ein Donner; er erinnerte sich, daß er heute eigentlich fasten müsse. So untergegangen war er in seinem tollen Treiben! Er bat Blümele um Verzeihung und gelobte Besserung. Der Verbündete der großen Armee zitterte wie ein Espenblatt.
Als er von Blümele weggegangen war, ärgerte er sich gewaltig, daß er sie so viel habe reden lassen. »Ich nehm' sie ohn' Kreuzer Geld zum Weib und sie zankt da mit mir, als möcht' sie mich von der Gass' aufheben. Soll ich das leiden, daß sie mir über den Kopf wachst? « Einen Augenblick darauf hätte er diesen Gedanken gern mit ätzender Lauge aus seiner Seele gebracht!
Noch an demselben Tage sollte Chajim für seine Franzosenfreundschaft eine neue Wunde erhalten. Er war in die Synagoge gegangen und hatte sich dort unter die fastenden Leute gestellt, als gehörte er zu ihnen. Nach Schul' eilte man schnell nach Hause, denn die Nacht war hereingebrochen und der lange Fasttag hatte ein Ende. Hie und da bildeten sich Gruppen in der Gasse, die nach den drei Sternen am Himmel lugten, denn diese Zahl bildet das gesetzliche Zeichen der angebrochenen Nacht. Auch Chajim blickte hinauf; er wußte selbst nicht warum. Da hörte er hinter sich das heitere Gelächter Leb Rothers, wie der sprach:
»Wer da will sein Wunder erleben, muß sehen den Franzos auf die Sterne gucken. Meint man nicht, die Gedärm' gehn ihm vor Hunger heraus? Sein Fasten soll mir auch nicht schaden.«
Das Blut siedete in Chajinis Adern; aber er hielt an sich. Leb Rother fuhr aber in seinen giftigen Bemerkungen fort.
»Hätt' man nicht gesollt meinen, mit Chajim Franzos könnt' man Jerusalem aufbauen? Da seht's, was aus ihm ist geworden; er kennt sich gar nicht mehr. Keck Wesen gilt aber mehr als bar Geld, und alle Stummen wollen am mehrsten reden.«
»Meint Ihr mich damit, Rebb Leb«, sagte Chajim zitternd vor Zorn und wandte sich um.
»Ein Haar auszieh'n von einem Schwein ist eine große Mitzweh (Gebot) «, schrie Leb Rother und ging, mit einem Stoße in Chajinis Seiten, schnell vorüber. »Da hast Du's Franzos!«
Wenige Tage darauf ging ein ungeheurer Schreck durch das Ghetto. Französische Soldaten waren in die Wohnung Leb Rothers gekommen und hatten da Hausuntersuchung gehalten. Sie wollten Leb Rother verhaften. Dasselbe war auch bei Christoph geschehen. Die beiden hatten aber noch frühzeitig »Wind« bekommen und hatten das Weite gesucht. Offenbar war ihr Geschäft verraten worden und der Patriotismus sollte Buße tun. – Es war dies abgesehen von der Brandschatzung, der erste fühlbare Angriff des strengen Kriegsrechtes und war gegen ein Leben des Ghettos gerichtet. Im Ghetto ist aber jeder wie mit tausend Ketten an das Ganze gebunden. Das Leid hat hier tausend Zungen und wenn hier der Blitzstrahl in eines einzelnen Glück fährt, senken sich tausend Augenwimpern. Darum ging auch ein Schrei über aller Lippen! – Leb Rother und sein Gefährte irrten indes in den Preßburger Gebirgen seit einigen Tagen herum. Sie hielten sich immer zusammen und das war unklug von ihnen; denn dadurch konnten sie leichter bemerkt und aufgegriffen werden. Ihr Leben war ein beständiges Blicken in den Rachen einer Klapperschlange! Bei Tag verbargen sie sich in irgend einem dunklen Gesträuch, bei Nacht suchten sie die öden Winzerhütten auf. Leb Rother betete in einem fort aus einem Thillim-(Psalmen-)Buch, das er bei seiner Flucht vom Hause unbewußt zu sich gesteckt hatte; Rebb Christoph pfiff ein katholisches Kirchenlied dazu. Nur des Nachts schlichen sie aus ihren Verstecken hervor und krochen in die Weingärten, um sich mit den halbreifen Trauben zu erquicken, denn es war erst um die Hälfte des Monates August. Oft sahen sie aus ihren Schlupflöchern Soldaten vorüberziehen, die vielleicht auf ihr Leben fahndeten. Dann hielt Christoph im Pfeifen ein, Lebs Lippen bewegten sich aber schneller und er blätterte sich in dem alten Psalmenbuche den Psalm des Königs David auf, als dieser die Rebellion seines Sohnes Absalon vernommen hatte. »In meiner Not fleh' ich zu dir mein Gott, du bist mein Fels und meine Schutzwehr.«
Eines Tages sprach Christoph zu seinem Freunde: »Mir geht die Geduld aus, Leb, ich bin hungrig wie ein Wolf. Man hört meinen Hunger gewiß bis auf Preßburg.« »Du hast einen langen Hals, Christoph«, sagte Leb Rother gleichgültig, »sieh' mich an, hast Du schon ein Wort über meine Lippen gehen gesehen? «
Christoph schlug ein Höllengelächter auf »Meinst Du«, rief er, »ich bin einer von Deine Leut', ich kann fasten und mich peinigen und kasteien von früh Morgens bis auf die Nacht? Das könnt ihr tun, euch kommt so was zu gut; denn wenn der Mensch sich Essen und Trinken abgewöhnen kann, kann er alles anfangen. Meinst Du, ich weiß nicht, warum ihr das Geld habt? Aber was macht das? Ich sag' Dir, Leb, der Mensch muß essen und Du weißt gar nicht, was euer Herrgott für ein strenger Patron ist, wenn Du z.B. kein Schweinfleisch essen darfst. Bist Du auch so ein Narr, daß Du meinst, ein Stück davon führt gerad' ins Gehennim?«
Dabei schnalzte Christoph mit der Zunge, als läge ihm ein fetter Bissen darauf Leb Rother aber, statt aller Antwort auf die Blasphemien seines Gefährten, fuhr in den Psalmen fort eifrig fort zu »sagen«. Wie Wetterbäche stürzten die alten Laute der Offenbarung über seine Lippen; aber die königlichen Klagelieder machten keinen Eindruck auf Christophs hungrigen Magen.
»Sag' Du nur fort«, meinte er lachend, »und gib mir keine Antwort, von dem allem wirst Du doch nicht satt. Und gerad aus dem Buch! Euer König hat in ein' Muck (Wink) mehr Sünden begangen, als Du an tausend Jom Kippurs verantworten kannst. Und hat er nicht auch die Schaubrote gegessen? Deßwegen kannst Du Schweinefleisch essen!« – Da Christoph bemerkte, daß er dem Leb mit seinen philosophischen Gründen nichts anhaben könne, dachte er auf andere und solche, die ihn mehr erschütterten. Einstweilen streckte er sich auf den Boden hin und pfiff ein Kirchenlied, bloß um den Leb zu ärgern.
Am andern Morgen, als Leb bei kaum herandämmernden Morgenlicht wieder in seinem Psalmenbuche betete, sagte Christoph mit einer Bewegung in der Stimme, als hätte er an Leb ein Ungeheures entdeckt: »Wie kommt das, Leb, daß ich Dich nicht seh' die Tefillin (Gebetriemen) umbinden? Leb, Leb, Du wirst mir ein großer Posche Jisroel! « (Abtrünniger von Israel.)
»Narr«, sagte Leb, »siehst Du denn nicht, daß ich bin in Not? Ich hab' sie zu Haus vergessen und unsere Gelehrten sagen auch, wenn man in einem Zustand ist, wo man seine Pflicht nicht tun kann, so ist man davon frei. Und das weißt Du nicht, Christoph? Rebb Christoph, Du wirst mir ein großer Amhoretz. « (Ignorant.)
»Gut gesprochen, Rebb Leb «, rief Christoph mit schrecklichem Gelächter, »soll ich leben, gesprochen wie der erste Rebbe von ganz Ungarn. Wenn der Preßburger Rabbiner stirbt, so müssen sie Dich dazu machen; sie können einen andern gar nicht brauchen! So soll ich leben, gut gesprochen! Also Deinen Gott kannst Du eher abspeisen als Deinen Magen? Da irrst Du Dich gewaltig, Rebb Leb! Ist Dein Magen nicht jetzt auch in Not? Kannst Du mit ihm nicht dasselbe tun, was Du mit Hand und Kopf tust, wenn Du keinen Gebetriemen umlegst? Ich sag' Dir, Leb, das muß auch im Talmud stehen, daß nämlich der Mensch, wenn er in Not ist und hungrig dazu, überall und alles darf essen. Es muß dort stehen, und Du wirst's nur überschluppert (überblättert) haben. Ist's wahr oder nicht?«
»Du bist ein Goi« (Christ), sagte Leb, »Du verstehst mich nicht. Jed' Wort, das ich mit Dir red', ist verloren. Laß mich in Ruh!« – Die folgende Nacht war der Vorabend des Sabbats. Da es zu dunkel war, um noch zu beten, saß Leb in seinem Verstecke still und sinnend, und seine Gedanken flogen wie Leuchtkugeln nach Preßburg. Da sah er in seinem Geiste, wie der holde, duftende Sabbat überall einzog; er fühlte gleichsam das Wehen seines Kommens, den leisen Flügelschlag seines Herannahens. Uberall war Friede, Seligkeit und Lust. Er kam aus der Synagoge nach Hause, da strahlte die siebenzinkige Lampe so freundliches Licht; sein Weib stand im reinlichen Sabbatkleid vor ihm; auf dem Tische glänzte das weiße Linnen. Seine Kinder, das schwarzhaarige Jossevel und die gescheitere, sanfte Vögele kamen ihm entgegengesprungen und stritten um die Wette, wen der Vater früher benschen (segnen) würde, und gaben ihm ihre Köpfe zu gleicher Zeit hin. Da legte er, um den Streit zu vermeiden, die rechte Hand auf Jossevels und die linke auf Vögeles Kopf; er bedachte nicht, daß er jedem einen eigenen Segen schuldig war. – Dann hörte er die frommen Tischgesänge der Leute und diese uralten Melodien weckten wieder andere in ihm. In seiner Stimmung fiel ihm das Lied ein, worin man die Ankunft des Sabbats mit einem Bräutigam vergleicht, der seine Braut überrascht. Die ganze Synagoge sang das Lied in ihm mit lauter, freudiger Stimme; aber seine Lippen blieben stumm und bewegten sich nicht.
Auch so eine arme, verlassene Judenseele hat ihre Träumereien und Gedankenblumen, und ihr Duft legt sich nicht weniger weich an den Himmel, als von denen, die ihn in Pacht zu haben meinen! – Dann gedachte er seiner jetzigen Lage: so fern von Weib und Kind, dem Tode entgegensehend, und den höhnischen Bemerkungen seines Gefährten ausgesetzt. Da mußte er tief aufseufzen.
»Bist Du hungrig, Leb?« fragte ihn sogleich Christoph, diesmal aber in einem ungewöhnlich ernsten Tone.
Leb antwortete nicht.
»So komm' Du Narr«, sagte Christoph, »und laß uns essen gehen. « Er zog den Leb von seinem Sitze auf, und der, als übte Christoph eine dämonische Macht über ihn aus, folgte ihm. Hätte Christoph sich noch besser auf Seelenkunde verstanden, als er sich ohnehin verstand, er hätte nicht so innerlich aufgejauchzt über die gelungene Bekehrung seines Gefährten, er hätte bemerken können, daß Lebs Entschluß nicht das Resultat seiner Überredung war, sondern viel tiefer und inniger lag, dort nämlich, wo der Verstand seinen Boden an das Gemüt überläßt. Der Sabbat hatte es ihm angetan. – Sie gingen nun in die weiche sommerwarme Nacht hinein, vielleicht zwei Stunden lang. Auf dem Wege sprach Christoph von nichts anderem, als den Genüssen, die ihrer warteten, Lebs ahnungsvolle Seele aber, die sich zwischen dem Dufte des Sabbats, dem er entgegen zu gehen meinte, und der Gefahr entdeckt zu werden, wie zwischen Himmel und Hölle auf und nieder bewegte, hatte bei den lauten Ausbrüchen seines Freundes nur das tiefste Stillschweigen.
Hie und da lag eine einsame Schenke auf ihrem Weg; aber Leb zog den hungrigen Christoph jedesmal zurück. Es war ihm keine einsam und entlegen genug. Er glaubte die Franzosen säßen in jedem Glase und auf jeder Gabelspitze. Endlich fanden sie im tiefen Gebirge ein Wirtshaus, das selbst Leb für unverdächtig erklärte.
Sie traten ein, wie ein gehetztes Wild sah sich Leb in der Stube um, während Christoph mit lauter Stimme nach dem Wirten riel, und Braten und Wein begehrte. Er wollte seinem Freunde sogleich die praktische Anwendung seiner verführerischen Lehren geben. Leb, als der Klügere setzte sich schweigsam an den Tisch. Sobald aber Christoph das Verlangte vor sich stehen hatte, geriet er in eine ausnehmende Lustigkeit, er war wie selig.
»Sag's selbst, Leb«, rief er, »hat der Preßburger Rabbiner heut' nacht so ein gutes Schabbesessen? Greif zu, Bruder, ich versprech Dir's, der Talmud soll kein Wort davon hören, greif zu.«
Während er aber selbst so wacker zugriff, daß er kaum Zeit zum Aufsehen gewann, hatte er nicht bemerkt, daß sich Leb indessen mit Zwiebeln und Brot begnügte. Uber ihn war der Geist des Sabbats gekommen und bewahrte ihn vor dem Falle. Christoph wurde aber immer lustiger und lauter, er begann Lieder zu singen, vor denen Lebs Haare sich aufsträubten, sie klangen in die Nacht hinaus und weckten die tückischen Luftgeister. Schon mehrmals hatte Leb zum Aufbruch gemahnt, aber Christoph war nicht fortzubringen, und je mehr er zu sich nahm, desto näher rückten ihm die Erinnerungen der ausgestandenen Leiden auf den Leib. Er hatte auch die Zukunft vor Augen.
Da entstand plötzlich Geräusch von Männertritten vor der Türe, eine furchtbare Ahnung durchzuckt Lebs Seele, er wollte fliehen, aber es war schon zu spät.
Gleich darauf traten französische Soldaten herein; es dauerte nicht lange, so waren die beiden erkannt. Den Leb verrieten seine Haare, einer zog das Signalement der Flüchtlinge hervor, es lautete auf beide.
Auf dem Wege, den sie nun zwischen Bajonetten gingen, sagte Christoph zu dem vor tiefem Schmerz ganz gebeugten Leb: »An dem allem bist eigentlich nur Du und Dein teuflischer Talmud schuld. Hättest Du mit mir gegessen, so wär' ich zeitiger fertig geworden. Jetzt wird der Kopf herunter, Rebb Leb; Du verlierst eigentlich nichts dabei, denn Du hast keinen, sonst hättest Du mit mir gehalten, aber für mich ist ewig schad! Es kommt sobald nicht wieder ein Christoph auf die Welt. Für mich ist schad!«
Des andern Tages wurden die zwei nach Preßburg gebracht. Sie saßen in Ketten geschlossen auf einem Wagen, um sie herum Soldaten mit geladenem Gewehre. Als hätte es jemand den Franzosen verraten, daß Leb Rother damit das tiefste Weh bereitet wurde, wenn er seine Schmach und Erniedrigung vor seinen Glaubeusgenossen zur Schau tragen mußte, wurden sie gerade durch das Ghetto gefahren.
Es gibt Lagen, wo die menschliche Seele, durch Not und Drangsal getrieben, all das Ursprünglich-Große ihrer Entschlüsse vergißt und nur das momentane Leiden mitsprechen läßt. So vergaß Leb Rother, daß er im Grunde eine patriotische Tat begangen, deren er sich nicht zu schämen brauchte; er vergaß, daß er unter glücklichen Umständen vielleicht ein gepriesener Name geworden wäre. Aber er sah nur auf seine Ketten, die brannten ihn wie Feuer. Verzweifelt schlug er sich die Hand über die Augen, als sie den Schloßberg hinanfuhren, damit er sich und seine Schmach und die Welt nicht schaue.
Christoph wurde aber immer lustiger, je näher er dem Ghetto zu kam; er war nun in seinem eigentlichen Element. Es war Sabbat und die Leut' kamen gerade aus Schul'. Als Leb ihrer ansichtig wurde fing er an laut zu weinen, daß man es weit und breit hören konnte. Christoph verwies ihm diese Weichmütigkeit und grüßte mit kecker Gebärde die Leute vom Wagen herab. Selbst im Angesicht des Todes ließ er seine gewöhnliche Lebensfarbe nicht.
»Gut Schabbes Leut«, sprach er wie sonst, »wie ist heut' die Derascha (Predigt) vom Rebbe ausgefallen? Haht ihr gut acht gegeben, daß ihr's euern Weibern wieder erzählen könnt, wenn ihr nach Haus kommt? Ich könnt euch eine andere Predigt vorpfeifen, bei der mein Compagnon Leb Rother so gut zugehört hat, daß er darüber Essen und Trinken vergessen hat.«
Als er aber durch einen Soldaten zum Schweigen gemahnt wurde, sagte er: »Nu, im Geheimen kriegt man den Ochs um einen Kreuzer. Der Christoph ist doch mehr wert. Gut Schabbes Leut, und laßt euch das Essen gut schmecken.«
Sein eignes Haus stand ihm jetzt vor Augen; da wurde auch er still; man sah ihn nach dem goldenen Kreuz mehrmals zurückblicken.
Damals in der strengen französischen Zeit, wo Leute, die einmal in königlichen Windeln gelegen, in stiller Nacht aus ihren Betten gerissen und hinter irgend einem Schloßgraben erschossen wurden, konnten die sechs Kugeln, die so einer vergessenen Judenseele das Licht ausbliesen, keinen Knall machen. Wer sollte sich Leb Rothers annchmen? Sein eigener Kaiser, für den er in den Tod gehen sollte, irrte als Flüchtling herum, und der Feind saß in der Burg seiner Väter. Das Ghetto selbst konnte nichts tun, es sah sich hier einer Macht entgegen, mit der sich weder »im Guten noch im Bösen« unterhandeln ließ. – Lebs Weib kam mit ihren Kindern auf Kohlshaus (Gemeindehaus) und beschwor da den Vorsteher und die Beisitzer, sich ihres Mannes anzunehmen. Sie meinte, das stünde in ihrer Macht!, Aber die Umstände hatten sich gewaltig geändert. Was hatte man nicht früher mit Rebb Koppel, dem Vorsteher, alles durchgesetzt! Er war bei allen Ämtern und Gerichten angesehen; er war so zu sagen die Hand und das Ohr der Gerechtigkeit! Als der Kaiser die Juden zu Soldaten konscribieren wollte, war Rebb Koppel, der darin eine Gefahr für die Religion erblickte, zur Audienz nach Wien gegangen. »Majestät«, hatte er gesagt, » wenn wir Soldaten werden sollen, so lassen Sie uns alle nur gleich erschießen.« Der Kaiser war böse geworden aber die Maßregel unterblieb und dadurch blieben Tausende von jüdischen Kindern von den Kugeln der Schlachten frei.
War nun Rebb Koppel, der Vorsteher, nicht vollkommen berechtigt zu glauben, er werde den einzigen Leb Rother vor den sechs Kugeln bewahren können?
Am Nachmittage sah man Rebb Koppel im feierlichen Staat, seinen Schameß (Diener) voraus, sich zum französischen Kommandanten begeben. Er machte wirklich eine ganze vornehme Figur; er war ein starkgebauter Mann und sein Gesicht hatte etwas Kühnes und Gebieterisches. Die Leute sahen ihm voller Ehrfurcht nach. Als er an dem Wachthause, das dort beim Gitter ist, vorüberkam, präsentierte der französische Soldat sein Gewehr! Die Ehrfurcht der Leute steigerte sich bis zum Staunen. Sie sagten: Wenn's keiner durchsetzt, der setzt's durch. Sie wußten nicht, daß der Soldat durch den Schameß Geld bekommen hatte, damit er das Gewehr präsentiere. Rebb Koppel wußte sein Ansehen zu behaupten.
Schon nach einer halben Stunde kam der Vorsteher zurück. Sein Gesicht war blaß und schmerzlich aufgeregt; er ging gebeugten Ganges. Der Soldat präsentierte nicht mehr und die Leute sagten sich nichts Gutes voraus. Rebb Koppel hatte auch wirklich nichts ausgerichtet; er hatte den General bestechen wollen, der vielleicht morgen ein Herzogtum besaß, und war schmählich abgewiesen worden. – Es bestätigte sich immer mehr, das Ghetto hatte nicht mehr seine frühern Richter. – Weil man aber nun etwas haben mußte, auf das man sein
Weh wälzen konnte, fiel aller Haß wie auf ein verabredetes Zeichen auf Chajim Franzos und seine Braut. Viele waren bei der Scene gegenwärtig gewesen, wo Leb Rother auf Chajims regelloses Leben so tückisch angespielt hatte, und nun meinte man, kein anderer könne ihn angegeben haben als Chajim. – Anfangs getraute man sich nicht dieser Anklage Worte zu geben, denn Chajim war noch eine zu gefürchtete Macht; wenn er aber durch die Gasse ging, sah er, wie man die Köpfe zusammensteckte, und unverständliche Worte flüsterte. Seit dem zerstörungsfeste Jerusalems hatte Chajim ein schlechtes Gewissen; er fühlte es also gleich, daß von ihm die Rede sei. Eines Tages kam kein Schüler in seine Wohnung, denn er hatte sein altes Handwerk wieder ergriffen. Er konnte sich schrecklicher Ahnungen nicht erwehren, und um ihrer los zu werden, ging er auf die Gasse hinaus, nachsehen, wo denn die Schüler blieben.
In der Gasse fand er die meisten mit Spielen beschäftigt; als sie den Lehrer kommen sahen, liefen sie mit großem Geschrei davon, nur einer, sonst sein liebster, hielt ihm stand.
»Warum kommt keiner in die Schul'?« fragte ihn Chajim. Erst sah der Knabe verlegen zu Boden, dann sagte er schluchzend: »Der Vater hat's verboten.«
»Und warum?« Chajim zitterte vor banger Ahnung. »Weil der Lehrer ein Moßerer (Denunziant) ist«, sagte der Knabe nach langer Pause, »der Lehrer hat Leb Rother angegeben; Leb Rother wird werden erschossen, ein Moßerer darf mit kein' jüdisch Kind lernen.«
Vor Entsetzen ließ Chajim den Knaben los. Und wie er dann durch die Gasse zurückging, stand die furchtbare Anklage auf allen Lippen und Augen; wie funkelnde Messerspitzen sah sie zu allen Häusern und Fenstern heraus. Die Steine schienen ihm nicht aus dem Weg gehen zu wollen, bis sie ihm das schreckliche Wort zugeschrien hatten, die Gasse dehnte sich ins Unendliche aus, damit die Luft Raum gewönne, ihre dunklen Anklagelaute ihm entgegen zu tönen. Er lief zu Blümele, um sich wenigstens vor ihr zu reinigen.
»Weißt du, Blümele, was die Leut' von mir reden?« sagte er mit fahlen Lippen, »sie heißen mich Moßerer und sagen, ich hätt' Leb Rother angegeben. Sein Blut wird über mich kommen; wehgeschrien!«
»Ich weiß das alles«, sagte darauf Blümele, »die Leut' speien vor mir aus, weil ich deine Kalle (Braut) bin. Heut früh', wie ich über die Gasse bin gegangen, hat mich Leb Rothers Weib schier umgerissen, sie ist auf mich gefallen und hat geschrien: Du und Dein Choßen (Bräutigam) bringt's meinen Mann um. Man hat mich nur mit Gewalt von ihr losgebracht.«
Im tiefsten Schmerz war Chajim auf den Boden gesunken. Er weinte und seine Braut stand bleich und aufgeregt neben ihm. Da sagte sie: »Deine Sünden, Chajim, kommen Dir bald nach, Gott hat Dich bald gestraft.«
Da sprang Chajim ganz wild auf und schrie: »Hältst Du mich auch für ein' Moßerer? « Er schlug die Türe auf und stürzte fort. Blümele rief ihm umsonst nach. – Zu Hause angekommen, sperrte sich Chajim ein; kein menschliches Auge sollte auf seinen Jammer schauen. Hier verlebte er grauenvolle Tage und wuchs beinahe in seinen Schmerz hinein. Oft war er überzeugt, kein anderer könne Leb Rother angegeben haben, als er; dann griff er sich in die Brust, nannte sich selbst Moßerer und spie giftig vor sich selbst aus.
Indessen schien der Schlag, der die schuldigen Häupter Leb Rothers und seines Gefährten treffen sollte, noch lange zögern zu wollen. Sie saßen schon seit einigen Wochen in festem Gewahrsam und außer mehrern Verhören, worin Leb oft zugestand, was Christoph geradezu ableugnete, war noch nichts geschehen, was auf einen gewaltsamen Richterspruch hätte schließen lassen.
Da kam zwei Tage vor Jom Kippur die Weisung an die Preßburger Rabbiner, Männer seines Glaubens zu Leb Rother zu schicken, damit sie ihn zum Tode vorbereiten sollten, denn das sei sein Wunsch und man habe ihn nicht abschlagen können.
Um die bestimmte Stunde begaben sich zehn Männer aus der »Gesellschaft der Totengräber« aufs Schloß. Wie sie durch die Gasse gingen, erscholl lautes Weinen; man schloß die Gewölbe und ein großer Menschenhaufen begleitete die Totengräber. Mit Leb Rother wurde wie mit einem Sterbenden verfahren. Man sprach die gebräuchlichen Gebete mit ihm, wie sie im »Maiverjabok« stehen; Leb sagte Wort für Wort nach. Dann wollte er die Avide oder das Sündenbekenntnis ablegen; er tat es mit vielen Tränen; bei jedem Worte schlug er sich an die Brust und stöhnte wie ein von wahrhafter Todesangst Umfangener!
Zur selben Zeit breitete eine andere Religion auch in Christophs Gefängnisse ihre letzten Spendungen aus. Und wunderbar! als der Priester mit dem Glöcklein, das Allerheiligste hoch in den Händen haltend durch die Gasse kam, wo seine Erscheinung sonst Furcht und Groll verursacht hatte, sah man ihm jetzt mit Art gläubiger Ehrfurcht nach. Vielleicht rief das Glöckehen in manchem Gemüte den Gedanken wach: wie es doch nur der Todesweg sei, auf dem sich die beiden Religionen begegneten, und daß es gerade eine blutige Leiche sein mußte, über der sich die Nieversöhnlichen die Hände reichten! – Am Tage, wo das geschah, fühlte sich Chajim von einer furchtbaren Unruhe gequält. Leise Stimmen schienen an die Fensterscheiben wie mit unsichtbaren Fingern zu pochen und ihm das Todesurteil Leb Rothers zuzurufen. Entsetzt sprang er auf und wollte auf die Gasse. Aber da er den dumpfen Lärm, der beim Weggehen der Totengräber entstand, zu sich heraufdringen hörte, kehrte er wieder um.
In der Nacht, als er weinend auf dem Boden saß und zu sterben meinte vor ungeheurem Jammer, ging plötzlich die Türe auf. Blümele trat herein. Bei ihrem Anblick überfiel ihn ein banges Zittern; er meinte, sie komme ihm Vorwürfe zu machen. Darum hielt er sein Angesicht abgewandt und wagte nicht sie anzublicken. Aber wie ward ihm, als Blümele leise mit ihrer Hand ihm über die Stirne fuhr und sprach: »Was weinst Du, Chajim? Und wenn Dich die ganze Welt anspeit, und wenn Dir keiner glaubt, ich bleib bei Dir, ich glaub', daß Du hast nicht schlecht sein können.«
Wie Frühlingsschein dämmerte es in Chajims Seele. Er faßte die Hand Blümeles, sie zitterte in seiner; er blickte ihr in das schöne liebe Antlitz, und da war es ihm, als stünde da die Lösung seines Jammers mit großen Buchstaben geschrieben. Die Welt, flog es ihm durchs Gehirn, kann doch nicht so schlecht sein, wenn Blümele drin herumgeht, dem Gesichte müsse sie Glauben schenken.
»Ich weiß erst jetzt«, sagte er ganz fröhlich, »daß ich Leb Rother nicht hab' angegeben. Du glaubst nicht, Blümele, was ich dadurch hab' ausgestanden. Kein Judenkind soll solche Tage erleben.«
»Und ich, und ich?« schrie das Mädchen mit überquellendem Gefühl. Chajim bemerkte nicht, welche Blässe über Blümeles Antlitz zog, als dieser gewaltige Aufschrei aus ihr tönte. Chajim aber meinte in seiner Lustigkeit:
»Sind wir beide nicht Narren, ich und Du, daß uns Leb Rother was angeht? Weiß ich, wer schuld ist an seinem Tod? Das Feuer, was mich nicht brennt, lösch' ich nicht.«
»Schmahjisroel«, rief Blümele erschrocken, »wie redt'st Du, Chajim. Vergißt Du, daß man Dir Leb Rother immer, und wenn Du hundert Jahr noch lebst, wird vorhalten? Du wirst in seinem Blut herumwaten müssen, so lang Du in der Welt bist; es wird Dir über den Kopf zusammenschlagen. Denk' Dir, wenn Du Kinder hast und die Leut' sagen von ihnen: Der Vater ist n' Moßerer gewesen, was kann da Guts sein? – Und das ist alles nichts. Leb Rother ist eine Judenseel', willst Du die zu Grund' gehen lassen?«
Das stürzte Chajims Seele wieder in Traurigkeit. Er rief: »Gott, Gott, warum hast Du mir das zugeschickt? Was soll ich tun?«
Nach einer langen Weile sprach Blümele: »Sag', Chajim, wär' das ein Unglück für Dich, wenn ich nicht Dein Weib werd'?«
Chajim lächelte ungläubig. »Schöne Frag' das«, meinte er.
»So hör' mich an, Chajim«, begann Blümele in einem ungewöhnlichen Ton; »ich komm' Dir etwas sagen; Du wirst ausspeien vor mir, wenn ich nur ein Wort gesagt hab'. Du wirst mich dann hinausstoßen, Du wirst mir ins Gesicht schlagen, denn das was ich tun will, hast Du Dir nicht vorgestellt; ich kann dann nicht mehr Dein Weib werden.«
Chajim horchte in Angst auf.
»Ich will zum französischen General gehen«, sagte Blümele ganz tonlos.
»Was dort?«
»Ich will bitten für Leb Rother und Christoph.«
»Du? «
Dem Chajim kam dieser Entschluß so wunderbar vor, daß er erst nach einer langen Weile hinzusetzte: »Und wenn er Dir's ab schlägt?«
Da fiel ihm Blümele mit einer heftigen Gebärde um den Hals und raunte ihm etwas in die Ohren. Dabei erzitterte ihr ganzes Wesen und das Antlitz war in die feurigste Röte getaucht.
Es mußte entsetzlichen Inhalts sein, was Blümele gesprochen, denn Chajim stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte von ihr fort.
»Gott sei davor«, rief er, »die Sünde darfst Du nicht begehen.«
»Misch' nicht Gott hinein«, sagte das Mädchen beinahe ruhig, »ich tu's nur um seinetwegen. Ich hab's mit mir ausgemacht; Leb Rother soll nicht zu Grund' gehen.«
Chajim aber weinte und jammerte fort. »Tu's nicht, Blümele, wehgeschrien, was hast denn Du versündigt, daß Du Dein Bestes wegwerfen willst?« Er bedeckte sich schamvoll das Antlitz, als hätte er den Entschluß Blümeles zu offen herausgesagt.
»So will ich allein gehen«, sprach Blümele und ging schon zur Türe. Da kam ihr Chajim vor; er warf sich seiner ganzen Länge nach neben die Türe und verrammelte ihr so den Ausgang. Sein Angesicht war auf den Boden gedrückt. So lag er, ohne Äußerung, lautlos und still einige Minuten, während Blümele unschlüssig, was sie tun sollte, in der Stube auf und ab ging.
Mit einem Male richtete sich Chajim langsam auf; er fuhr sich über die Stirne und blickte dann Blümele ohne Schmerz und Tränen an. Während jener Zeit war ihm jener Strahl, den wir Eingebung nennen, gekommen; er sah nun alles klar.
»Geh' nur, geh' nur«, sagte er, »ich seh' doch, es ist Gotteswerk. Ein Judenkind geht um das andere hin; geh' nur. Und wenn Du willst, so führ' ich Dich selbst hin, denn auch das seh' ich, Du tust es um meinetwegen. Aber mein Weib mußt Du doch werden, Blümele.«
Blümele flog auf ihn zu; selig umschlossen sich die zwei. – Zwei Stunden vor Mitternacht gingen Chajim und Blümele fort. Die Nacht hatte ihre schönsten Sterne angetan, als wollte sie die Tat Blümeles recht beleuchten. Das Ghetto war still und stumm; als sie an das eiserne Gitter kamen, das ihnen der Stadttrabant öffnete, warf Blümele noch einen letzten Blick in die Gasse. Ohne ein Wort gingen sie weiter. – Der General wohnte auf dem Barmherzigen-Platz.
Der Soldat, der vor dem Hause Wache stand, strich sich mit einem schmunzelnden »Sacrebleu« den Schnurrbart, als das schöne Mädchen in so später Nacht Einlaß begehrte. Das Haustor schloß sich auf – Blümele verschwand. – In der kalten einsamen Nacht stand Chajim draußen. Charaktere seiner Art nehmen wieder bald ihre ursprüngliche Färbung an, und so darf es nicht wunder nehmen, wenn er seinen unendlichen Jammer in Tränen losgab. – Die Nacht war vorüber und die ersten Streifen flogen über den Morgenhimmel, als Blümele wieder kam. Der Schulklopfer ging mit dem Hammer, der zum Gebete weckte, durch die Gasse, als sie den Schloßberg erreichten. Der Mann schüttelte den Kopf. – Am andern Tage wunderten sich die Leute gar sehr, als Leb Rother und Christoph, »frank und frei« aus ihrer Haft kamen; es deuchte allen wie ein Wunder. Am Jom Kippur mußte Leb Rother Gomel benschen, d.h. Gott für seine Rettung danken. Man hat erst später gehört, was Chajims Blümele für eine »Judenseele« geopfert hatte.