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Im Sommer neunzehnhundert und dreiunddreißig gab es einige Aufregung im Marineamt einer europäischen Großmacht. In aller Frühe stritt der Marineminister mit dem Polizeipräsidenten. Der dritte im Streit war der Detektivinspektor Axel Nyström; ein Mann, der einen großen Ruf als Diebsfänger hatte. Der Streit war im Grunde genommen zwecklos und unfruchtbar, denn der kostbare und als Geheimnis gehütete Marinevertrag mit einem befreundeten Staat war in der vorhergehenden Nacht auf unerklärliche Weise gestohlen worden; viele Leute standen unter Verdacht – die bereits mit der Polizei zu tun gehabt hatten – und im Verlaufe des Streites war es so weit gekommen, daß der Polizeipräsident selbst den Marineminister zu verdächtigen begann.
Die Frage aber war: Welche Schritte sollten unternommen werden, um das Dokument zurückzubekommen, und wie war das Risiko eines vorzeitigen Verrates auszuschalten? Der Marineminister sah die Zukunft sehr düster; denn, bekam er das Dokument nicht zurück, mußte er dem Ministerrat davon Mitteilung machen und zurücktreten. Und seine Stellung war, abgesehen von der guten Bezahlung, auch mit anderen Annehmlichkeiten verbunden. Der Polizeipräsident stand auf dem Standpunkt, daß ihn die ganze Sache eigentlich nichts anging; die Auffassung war sicher falsch, aber sehr bequem, denn, übernahm er den Fall und gelang es ihm nicht, den Dieb zu fangen, würde er sicher mit einer gewissen Plötzlichkeit aus seinem Amt scheiden müssen.
Schließlich einigten sie sich: Axel Nyström sollte die Nachforschungen aufnehmen. Damit war allen Teilen geholfen. Nyström konnte seinem Lorbeerkranz ein neues Reis hinzufügen; geriet aber seine Arbeit daneben, konnten ihn der Polizeipräsident und der Marineminister einfach fallen lassen und die ganze Schuld auf ihn schieben.
»Es ist unbegreiflich, wie der Vertrag überhaupt gestohlen werden konnte«, sagte Axel Nyström und betrachtete nachdenklich ein altes Schlachtengemälde, das an der Wand hing.
Er war ein hagerer, mittelgroßer Mann mit einem schrecklich gewöhnlichen Gesicht, in dem zwei blaue, lebhafte Auge standen. Nyström hatte einen sehr schlechten Ruf in Verbrecherkreisen, während die staatlichen Behörden ziemlich oft ihr Mißfallen über seine eigenartigen Methoden ausdrückten. Er verstand es wohl, jede, auch die kleinste Chance, auszunützen, aber der Polizeipräsident, ein gerissener Beamter, verstand es ebenso gut, im letzten Augenblick auf dem Plan zu erscheinen und den Gewinn für sich einzuheimsen. Wodurch das Ansehen des Polizeipräsidenten stieg, der Ruf Nyströms aber manchen bedenklichen Stoß bekam. Es gab auch Zeitungen, die bereits einigemal seine Pensionierung verlangt hatten.
Axel Nyström kümmerte sich nicht um derlei Kleinigkeiten. Er war ziemlich vermögend und mit sich zufrieden; obwohl das Geld, das er besaß, aus dem Nachlaß einer alten Tante stammte, mehrten sich doch die Stimmen, die ihm Korruption und Bestechlichkeit vorwarfen. Aber da er bescheiden lebte und keine wie immer gearteten Passionen hatte, verstummten auch diese Stimmen wieder nach und nach.
Der Marineminister, ein großer, korpulenter Herr, gab zum viertenmal seine Erklärung ab. »Der Vertrag war im Tresor der stärksten Kasse deponiert«, sagte er, »und Tag und Nacht steht ein bewaffneter Posten vor der Tür; selbstredend haben die Marineoffiziere Zutritt, aber nicht ohne Legitimation. Es kommt auch vor, daß in der Nacht Schriftstücke gebraucht werden – so auch gestern. Admiral Hennings sandte gegen elf Uhr nachts den diensthabenden Offizier zur Kasse, da er einen Chiffrenschlüssel brauchte. Nach Aussage des Postens kam gleich nach diesem Offizier ein zweiter, der sich ordnungsgemäß legitimierte und nach kurzer Zeit wieder das Zimmer verließ. Diesen Offizier hat niemand geschickt, und er muß der Dieb gewesen sein.«
»Wie konnte er die Schlüssel haben«, fragte Nyström gelangweilt. Er hatte die Geschichte bereits dreimal gehört.
»Das weiß ich nicht. Er wußte übrigens auch das Stichwort und die Losung, ohne die der Posten niemand passieren läßt.«
Der Polizeipräsident bedauerte mit einigen Worten die Leichtgläubigkeit gewisser staatlicher Organe und stellte Betrachtungen über den Wert des gestohlenen Dokuments auf. Er war stark verschuldet und fühlte etwas wie Neid gegen den Mann, der auf so einfache Weise zu Geld gekommen war.
Eine Stunde später, als er mit Nyström allein in seinem Amtszimmer saß, verlieh er seinen verschiedenen Gedanken Worte.
»Das Außenamt meint, der Vertrag könnte jederzeit um eine halbe Million Dollars an den Mann gebracht werden«, sagte er, »aber es ist möglich, daß die Leute übertreiben … Jedenfalls muß ihn einer von der Zunft gestohlen haben.«
»Meinen Sie, daß es einer der gewerbsmäßigen Spione war?«
Direkte Fragen, die mit einer gewissen Verantwortung verbunden waren, mißfielen dem Polizeipräsidenten. War seine Behauptung richtig, so gehörte die Angelegenheit in die Kompetenz des Auswärtigen Amtes. Schob er sie aber ab, konnte er nimmermehr hoffen, die Belohnung von fünfzigtausend Mark, die auf das Zustandebringen ausgesetzt worden waren, zu bekommen.
»Das kann man nicht so ohne weiteres behaupten«, sagte er vorsichtig. »Außerdem kennen wir nicht alle diese Leute.«
Nyström lächelte; er hatte seinen Vorgesetzten durchschaut. »Natürlich nicht. Aber die bekanntesten haben sich in der letzten Zeit in der Stadt aufgehalten.«
»Dann waren sie es nicht«, sagte der Präsident, »denn sie wären schön dumm, wenn sie so etwas täten; außerdem wüßte ich nicht, welchem von ihnen wir so eine Tat zutrauen könnten …«
»Mut haben nur zwei«, sagte Nyström mit seiner tiefen, wohllautenden Stimme, »Jeff Strucks und Gil Strucks …«
»Wirklich? Und Christian Mortensen?«
»Ah – über Mortensen wissen wir zu wenig.«
Der Polizeipräsident lächelte ironisch. »Genug, um ihm jede Untat zuzutrauen.«
Untat? Nyström war erstaunt; immer wenn er an Christian Mortensen dachte, befiel ihn eine eigenartige Unsicherheit. Mortensen gehörte einer ausgezeichneten Familie an und war ein junger, wenn auch beschäftigungsloser Mann. »Warum haben Sie ihn dann niemals überwachen lassen?« fragte er vorsichtig.
»Nun ja, – es war eben noch kein Grund vorhanden …«
»Wenn einmal Gründe vorhanden sind, ist's immer zu spät«, meinte der Inspektor ironisch.
Der Polizeipräsident wurde ärgerlich; er liebte es nicht, wenn seine Untergebenen Bemerkungen machten. »Ich muß schon sehr bitten, daß Sie meine Weisungen respektieren.« Er war schrecklich cholerisch und glich in dem Augenblick einem zitternden Plasma. »Ich stelle die Behauptung auf, daß Mortensen von allen Leuten, die wir kennen, der Gefährlichste ist.«
»Und wenn er mit der Sache nichts zu tun hat?«
»Er hat damit zu tun; er war gestern abend in der Nähe des Marineamtes und hat zweimal versucht, ins Innere zu gelangen.« Der Präsident blähte sich wie ein Pfau und seine Stimme dröhnte wie die Stimme einer Posaune. »Warum treibt er sich als Privatmann in der Nähe eines Amtes herum?«
Nyström war noch immer ruhig. »Sie sagten doch, er hätte vergeblich versucht, hineinzugelangen …«
»Soviel wir wissen. Was er später getrieben, ist unbekannt.«
»Soweit ich ihn kenne«, meinte der Inspektor, »dürfte er gegen zehn Uhr schlafen gegangen sein.«
Der Polizeipräsident, einen Moment erstarrt, dann sehr lebhaft: »Sie sind eine Katastrophe für eine Behörde. Wenn Ihrer Ansicht nach alle Verbrecher um zehn Uhr ins Bett gehen …«
»Nicht alle«, sagte Nyström und wandte sich zum Gehen. »Aber wir müssen eben herausbekommen, welche von ihnen unsolid waren …«
*
Axel Nyström sprach im Laufe des Vormittags mit einigen Leuten – führte viele Telephongespräche und kam gegen Mittag zu dem überraschenden Ergebnis, daß die Theorie seines Chefs nicht einfach von der Hand zu weisen war. Er hatte erfahren, daß sich Christian Mortensen tatsächlich eine Weile in der Gegend des Marineamtes herumgetrieben hatte; zum letztenmal war er von einem berüchtigten Einbrecher, mit dem Nyström auf freundschaftlichem Fuß stand, gegen ein Uhr nachts beobachtet worden. Und zwar auf der Seite des Amtes, an der das Kassenzimmer lag.
»Ob er drin war«, sagte der Einbrecher, und steckte vier von Nyströms guten Zigarren ein, »kann ich natürlich nicht behaupten; aber er war's ganz bestimmt. Ich hab' ihn am Gang erkannt.«
»Stop«, sagte Nyström freundlich, »von wo kennst du ihn denn so genau?« Er pflegte alle Verbrecher zu duzen, was die Vertraulichkeit unterstrich,
»Er ist mir vor zwei Monaten bei der Kredit-Bank in die Quere gekommen; gerade, wie ich das letzte Gitter entfernen wollte …«
»War das der Tag, an dem in den Saferaum eingebrochen wurde?«
»Derselbe«, nickte der andere und verschwand.
Zwei Besuche empfing noch Axel Nyström im Laufe des Nachmittags; die Erscheinung dieser Leute stand zwar in schreiendem Widerspruch zu der Berufstätigkeit des Inspektors, aber die Polizei darf in ihren Mitteln nicht immer zu rigoros sein. Beide ergänzten in liebenswürdiger und selbstloser Weise das mangelhafte Wissen der Kriminalabteilung, und am Abend war das Bild Christian Mortensens derart scharf umrissen, daß ein Haftbefehl gegen ihn ausgegeben werden konnte.
Und doch zögerte Nyström bis zum nächsten Morgen.
Er liebte es nicht, vorzeitig in Erscheinung zu treten, da er dem Grundsatz huldigte, jeden Plan ausreifen zu lassen; und zum Ausreifen brauchte man Zeit. Anderseits war er niemals von jenem krankhaften Tätigkeitsdrang besessen, der Polizisten in Kriminalromanen auszuzeichnen pflegt.
Am Abend resümierte er, was er von Christian Mortensen alles wußte, und er war erstaunt über die Fülle von Material, die er im Handumdrehen gesammelt hatte. Daß Christian keiner wie immer gearteten Beschäftigung nachging, wußte er bereits; ebenso daß der junge Mann gut lebte und sich nichts abgehen ließ. Obwohl dieser Umstand noch nicht genügende Zusammenhänge mit dem Diebstahl einer wichtigen Marineurkunde aufwies. Die Erzählungen des Einbrechers und seiner beiden Kollegen lüfteten etwas das Geheimnis, das über Mortensens Erwerbsquellen schwebte: Beim Einbruch in die Kreditbank waren aus einem Safe hunderttausend Mark gestohlen worden. Demnach konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß der junge Mann sein Geld aus einem finsteren und verpönten Gewerbe bezog.
Staatliche Dokumente hatte er bisher noch niemals entwendet gehabt – aber dieser Umstand konnte in der Spärlichkeit solcher Dokumente begründet sein. Einmal jedoch – und das schien Nyström bedeutungsvoll – war er an Bord eines Kriegsschiffes verhaftet worden; man hatte ihn aber bald darauf wegen Mangels eines strafbaren Tatbestandes freigelassen.
Unangenehm war nur, daß Christian einer angesehenen Familie entstammte, die dem Staat eine Reihe ausgezeichneter Männer gegeben hatte, irgendwo standen auch zwei Denkmäler von Mitgliedern der Mortensen-Sippe, und es fanden sich noch immer Leute, die an gewissen Tagen im Jahre diese Steinbilder bekränzten und ihnen bedeutungslose Lieder vorsangen. Das störte den Detektiv; ebenso auch, daß Frau Agathe Mortensen, die Tante Christians, reges Interesse für ihren Neffen bekundete und es niemals unterließ, sein Loblied zu singen. Aber alle diese Betrachtungen versanken in nichts angesichts des Diebstahls eines Marinedokuments und der Möglichkeit, Ruhm zu ernten, falls es der Polizei gelang, des Diebes habhaft zu werden.
Nach langem und reiflichem Nachdenken wurde Christian Mortensens Verhaftung beschlossen, die unerwarteterweise zu einer Reihe recht unangenehmer und seltsamer Abenteuer führte.