Kleines Arbeitszimmer, hohes Fenster, davor ein kahler Baumwipfel. Fürst (am Schreibtisch, im Stuhl zurückgelehnt, aus dem Fenster blickend), Kammerherr (weißer Vollbart, jugendlich in ein enges Jackett gezwängt, an der Wand neben der Mitteltür).
Pause.
Fürst sich vom Fenster abwendend: Nun?
Kammerherr: Ich kann es nicht empfehlen, Hoheit.
Fürst: Warum?
Kammerherr: Ich kann im Augenblick meine Bedenken nicht genau formulieren. Es ist bei weitem nicht alles, was ich sagen will, wenn ich jetzt nur den allgemein menschlichen Spruch anführe: Man soll die Toten ruhen lassen.
Fürst: Das ist auch meine Ansicht.
Kammerherr: Dann habe ich es nicht richtig verstanden.
Fürst: So scheint es.
Pause.
Fürst: Das Einzige, was Sie in der Sache beirrt, ist vielleicht nur die Sonderbarkeit, daß ich die Anordnung nicht ohne weiters getroffen, sondern vorher Ihnen angekündigt habe.
Kammerherr: Die Ankündigung legt mir allerdings eine größere Verantwortung auf, der zu entsprechen ich mich bemühen muß .
Fürst: Nichts von Verantwortung!
Pause.
Fürst: Also nochmals. Bisher wurde die Gruft im Friedrichspark von einem Wächter bewacht, der am Eingang des Parkes ein Häuschen hat, in dem er wohnt. War an diesem Ganzen etwas auszusetzen?
Kammerherr: Gewiß nicht. Die Gruft ist über vierhundert Jahre alt und so lange wird sie auch in dieser Weise bewacht.
Fürst: Es könnte ein Mißbrauch sein. Es ist aber kein Mißbrauch?
Kammerherr: Es ist eine notwendige Einrichtung.
Fürst: Also eine notwendige Einrichtung. Nun bin ich so lange hier auf dem Landschloß, bekomme Einblick in Einzelheiten, die bisher Fremden anvertraut waren – sie bewähren sich schlecht und recht –, und habe gefunden: Der Wächter oben im Park genügt nicht, es muß vielmehr auch ein Wächter unten in der Gruft wachen. Es wird vielleicht kein angenehmes Amt sein. Aber erfahrungsgemäß finden sich für jeden Posten bereitwillige und geeignete Leute.
Kammerherr: Natürlich wird alles, was Hoheit anordnen, ausgeführt werden, auch wenn die Notwendigkeit der Anordnung nicht begriffen wird.
Fürst auffahrend: Notwendigkeit! Ist denn die Wache am Parktor notwendig? Der Friedrichspark ist ein Teil des Schloßparkes, ist von ihm ganz umfaßt, der Schloßpark selbst ist reichlich, sogar militärisch bewacht. Wozu also die besondere Bewachung des Friedrichsparks? Ist sie nicht eine bloße Formalität? Ein freundliches Sterbelager für den armseligen Greis, der dort die Wache besorgt?
Kammerherr: Es ist eine Formalität, aber eine notwendige. Bezeugung der Ehrfurcht vor den großen Toten.
Fürst: Und eine Wache in der Gruft selbst?
Kammerherr: Sie hätte meiner Meinung nach einen polizeilichen Nebensinn, sie wäre wirkliche Bewachung unwirklicher, dem Menschlichen entrückter Dinge.
Fürst: Diese Gruft ist in meiner Familie die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Anderen, und an diese Grenze will ich eine Wache stellen. Über die, wie Sie sich ausdrücken, polizeiliche Notwendigkeit dessen, können wir den Wächter selbst verhören. Ich habe ihn kommen lassen. Läutet.
Kammerherr: Es ist, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ein verwirrter Greis, schon außer Rand und Band.
Fürst: Ist es so, dann wäre dies nur ein weiterer Beweis für die Notwendigkeit einer Verstärkung der Wache in meinem Sinn.
Diener.
Fürst: Der Gruftwächter!
Der Diener führt den Wächter herein, hält ihn unter dem Arm fest, sonst würde er zusammenstürzen. Alte, rote, weit ihn umschlotternde Festlivree, blankgeputzte Silberknöpfe, verschiedene Ehrenzeichen. Kappe in der Hand. Unter den Blicken der Herren zittert er.
Fürst: Auf das Ruhebett!
Diener legt ihn hin und geht. Pause. Nur leises Röcheln des Wächters.
Fürst wieder im Lehnstuhl: Hörst du?
Wächter bemüht sich zu antworten, kann aber nicht, ist zu erschöpft, sinkt wieder zurück.
Fürst: Suche dich zu fassen. Wir warten.
Kammerherr zum Fürsten gebeugt: Worüber könnte dieser Mann Auskunft geben, und gar glaubwürdige oder wichtige Auskunft. Man sollte ihn eiligst ins Bett bringen.
Wächter: Nicht ins Bett – bin noch kräftig – verhältnismäßig – stelle noch meinen Mann.
Fürst: Es sollte so sein. Du bist ja erst sechzig Jahre alt. Allerdings siehst du sehr schwach aus.
Wächter: Werde mich gleich erholt haben – gleich erholt.
Fürst: Es war kein Vorwurf. Ich bedauere nur, daß es dir so schlecht geht. Hast du über etwas zu klagen?
Wächter: Schwerer Dienst – schwerer Dienst – klage nicht – aber entkräftet sehr – Ringkämpfe jede Nacht.
Fürst: Was sagst du?
Wächter: Schwerer Dienst.
Fürst: Du sagtest noch etwas.
Wächter: Ringkämpfe.
Fürst: Ringkämpfe? Was für Ringkämpfe denn?
Wächter: Mit den seligen Vorfahren.
Fürst: Das verstehe ich nicht. Hast du schwere Träume?
Wächter: Keine Träume – schlafe ja keine Nacht.
Fürst: Dann erzähle also von diesen – diesen Ringkämpfen.
Wächter schweigt.
Fürst zum Kammerherrn: Warum schweigt er?
Kammerherr eilt zum Wächter: Es kann ja jeden Augenblick mit ihm zu Ende sein.
Fürst steht beim Tisch.
Wächter als ihn der Kammerherr berührt: Weg, weg weg! Kämpft mit den Fingern des Kammerherrn, wirft sich dann weinend hin.
Fürst: Wir quälen ihn.
Kammerherr: Womit?
Fürst: Ich weiß nicht.
Kammerherr: Der Weg ins Schloß, die Vorführung, der Anblick Eurer Hoheit, die Fragestellung – dem allen hat er nicht mehr genug Verstand entgegen zu setzen.
Fürst sieht immerfort nach dem Wächter hin: Das ist es nicht. Geht zum Ruhebett, beugt sich zum Wächter, nimmt dessen kleinen Schädel zwischen die Hände. Mußt nicht weinen. Warum weinst du denn? Wir sind dir wohlgesinnt. Ich selbst halte dein Amt nicht für leicht. Gewiß hast du dir Verdienste um mein Haus erworben. Also weine nicht mehr und erzähle.
Wächter: Wenn ich mich aber vor dem Herrn dort so fürchte – sieht den Kammerherrn drohend, nicht furchtsam an.
Fürst zum Kammerherrn: Sie müssen fortgehn, wenn er erzählen soll.
Kammerherr: Sehen Sie doch, Hoheit, er hat Schaum vor dem Mund, ist schwerkrank.
Fürst zerstreut: ja, gehen Sie, es dauert nicht lange.
Kammerherr geht.
Fürst Setzt sich auf den Rand des Ruhebettes.
Pause.
Fürst: Warum hast du dich vor ihm gefürchtet.
Wächter auffallend gesammelt: Ich habe mich nicht gefürchtet. Vor einem Diener mich fürchten?
Fürst: Er ist kein Diener. Er ist ein Graf, frei und reich.
Wächter: Doch nur ein Diener, du bist der Herr.
Fürst: Wenn du es so willst. Du selbst sagtest aber, daß du dich fürchtest.
Wächter: Ich habe Dinge vor ihm zu erzählen, die nur du erfahren sollst. Habe ich nicht schon zu viel vor ihm gesagt?
Fürst: Wir sind also Vertraute und ich habe dich doch heute zum ersten Mal gesehn.
Wächter: Gesehn zum ersten Mal, aber seit jeher weißt du, daß ich das gehobener Zeigefinger wichtigste Hofamt habe. Du hast es ja auch öffentlich anerkannt, indem du mir die Medaille >Feuerrot< verliehen hast. Hier! Hebt die Medaille vom Rock.
Fürst: Nein, das ist eine Medaille für fünfundzwanzigjährige Hofdienste. Die hat dir noch mein Großvater gegeben. Doch werde auch ich dich auszeichnen.
Wächter: Tue, wie es dir gefällt und der Bedeutung meiner Dienste entspricht. Dreißig Jahre diene ich dir als Gruftwächter.
Fürst: Nicht mir, meine Regierung dauert kaum ein Jahr.
Wächter in Gedanken: Dreißig Jahre.
Pause.
Wächter sich halb zu der Bemerkung des Fürsten zurückfindend: Nächte dauern dort Jahre.
Fürst: Aus deinem Amt kam mir noch kein Bericht. Wie ist der Dienst?
Wächter: Gleichförmig jede Nacht. Jede Nacht nahe bis zum Platzen der Halsadern.
Fürst: Ist es denn nur Nachtdienst? Nachtdienst für dich Alten?
Wächter: Das ist es eben, Hoheit. Es ist Tagdienst. Ein Faulenzerposten. Man sitzt vor der Haustür und hält im Sonnenschein den Mund offen. Manchmal tappt dir der Wächterhund mit den Vorderpfoten aufs Knie und legt sich wieder. Das ist die ganze Abwechslung.
Fürst: Also.
Wächter nickend: Aber er ist in Nachtdienst umgewandelt worden.
Fürst: Von wem denn?
Wächter: Von den Gruftherren.
Fürst: Du kennst sie?
Wächter: Ja.
Fürst: Sie kommen zu dir?
Wächter: Ja.
Fürst: Auch in der letzten Nacht?
Wächter: Auch.
Fürst: Wie war es?
Wächter setzt sich aufrecht: Wie immer.
Fürst steht auf.
Wächter: Wie immer. Bis Mitternacht ist Ruhe. Ich liege – verzeihe mir – im Bett und rauche die Pfeife. Im Bett nebenan schläft mein Tochterkind. Um Mitternacht klopft es das erste Mal ans Fenster. Ich sehe nach der Uhr. Immer pünktlich. Noch zweimal klopft es, es mischt sich mit den Uhrenschlägen vom Turm und ist nicht schwächer. Das sind nicht menschliche Fingerknöchel. Aber ich kenne das alles und rühre mich nicht. Dann räuspert es sich draußen, es wundert sich, daß ich trotz solchen Klopfens das Fenster nicht öffne. Möge sich die fürstliche Hoheit wundern! Noch immer ist der alte Wächter da! Zeigt die Faust.
Fürst: Du drohst mir?
Wächter versteht nicht gleich: Nicht dir. Dem vor dem Fenster!
Fürst Wer ist es?
Wächter: Er zeigt sich gleich. Mit einem Schlage öffnen sich Fenster und Fensterladen. Knapp habe ich noch Zeit, meinem Tochterkind die Decke über das Gesicht zu werfen. Sturm bläst herein, verlöscht das Licht im Nu. Herzog Friedrich! Sein Gesicht mit Bart und Haar erfüllt mein armes Fenster ganz und gar. Wie hat er sich entwickelt in den Jahrhunderten. Wenn er den Mund zum Reden öffnet, weht ihm der Wind den alten Bart zwischen die Zähne und er beißt in ihn.
Fürst: Warte, du sagst Herzog Friedrich. Welcher Friedrich?
Wächter: Herzog Friedrich, nur Herzog Friedrich.
Fürst: Er nennt so seinen Namen?
Wächter ängstlich: Nein, er nennt ihn nicht.
Fürst: Und trotzdem weißt du – abbrechend. Erzähle doch weiter!
Wächter: Soll ich weiter erzählen?
Fürst: Natürlich. Das geht mich ja sehr an, es ist hier ein Fehler in der Arbeitsverteilung. Du warst überlastet.
Wächter niederkniend: Nicht mir meinen Posten nehmen, Hoheit. Wenn ich so lange für dich gelebt habe, laß mich jetzt auch für dich sterben! Laß nicht vor mir das Grab vermauern, zu dem ich strebe. Ich diene gern und habe noch Fähigkeit zu dienen. Eine Audienz wie die heutige, ein Ausruhn beim Herrn, gibt mir Kraft für zehn Jahre.
Fürst setzt ihn wieder auf das Ruhebett: Niemand nimmt dir deinen Posten. Wie könnte ich dort deine Erfahrung entbehren! Ich werde aber noch einen Wächter bestimmen und du wirst Oberwächter werden.
Wächter: Genüge ich nicht? Habe ich jemals einen durchgelassen?
Fürst: In den Friedrichspark?
Wächter: Nein, aus dem Park. Wer will denn hinein? Bleibt einmal einer vor dem Gitter stehen, winke ich mit der Hand aus dem Fenster und er läuft davon. Aber hinaus, hinaus wollen alle. Nach Mitternacht kannst du alle Grabesstimmen um mein Haus versammelt sehn. Ich glaube, nur weil sie sich so aneinanderdrängen, fahren sie nicht sämtlich mit allem, was sie sind, mir durch das enge Fensterloch herein. Wird es allerdings zu arg, hole ich die Laterne unter dem Bett heraus, schwenke sie hoch und sie reißen sich, unverständliche Wesen, mit Lachen und Jammern auseinander; noch im letzten Busch am Ende des Parkes höre ich sie dann rauschen. Aber bald sammeln sie sich wieder.
Fürst: Und sie sagen ihre Bitte?
Wächter: Zuerst befehlen sie. Herzog Friedrich vor allen. So zuversichtlich sind keine Lebendigen. Seit dreißig Jahren, jede Nacht erwartet er, mich diesmal mürbe zu finden.
Fürst: Wenn er seit dreißig Jahren kommt, kann es nicht Herzog Friedrich sein, der erst vor fünfzehn Jahren gestorben ist. Er ist aber der einzige dieses Namens in der Gruft.
Wächter zu sehr von dem Erzählten erfaßt: Das weiß ich nicht, Hoheit, ich habe nicht studiert. Ich weiß nur, wie er beginnt. »Alter Hund«, beginnt er beim Fenster, »die Herren klopfen und du bleibst in deinem Schmutzbett.« Gegen Betten haben sie nämlich immer Zorn. Und nun sprechen wir jede Nacht fast dasselbe. Er draußen, ich ihm gegenüber mit dem Rücken an der Tür. Ich sage: »Ich habe nur Tagdienst.« Der Herr wendet sich und ruft in den Park: »Er hat nur Tagdienst.« Daraufhin gibt es ein allgemeines Lachen des versammelten Adels. Dann sagt der Herzog wieder zu mir: »Es ist doch Tag.« Ich darauf kurz: »Sie irren.« Der Herzog: »Tag oder Nacht, öffne das Tor.« Ich: »Das ist gegen meine Dienstordnung.« Und ich zeige mit dem Pfeifenstock auf ein Blatt an der Wand. Der Herzog: »Du bist doch unser Wächter.« Ich: »Euer Wächter, aber von dem regierenden Fürsten angestellt.« Er: »Unser Wächter, das ist die Hauptsache. Also öffne, und zwar sofort.« Ich: »Nein.« Er: »Narr, du verlierst deinen Posten. Herzog Leo hat uns für heute eingeladen.«
Fürst schnell: Ich?
Wächter: Du.
Pause.
Wächter: Wenn ich deinen Namen höre, verliere ich meine Festigkeit. Deshalb habe ich mich gleich aus Vorsicht an die Tür gelehnt, die mich jetzt fast allein aufrecht hält. Draußen singen alle deinen Namen. »Wo ist die Einladung?« frage ich schwach. »Bettvieh«, schreit er, »du zweifelst an meinem herzoglichen Wort?« Ich sage: »Ich habe keine Weisung und deshalb öffne ich nicht, öffne ich nicht, öffne ich nicht.« »Er öffnet nicht«, ruft der Herzog draußen, »also vorwärts, alle, die ganze Dynastie, gegen das Tor, wir öffnen selbst.« Und im Augenblick ist es vor meinem Fenster leer.
Pause.
Fürst: Das ist alles?
Wächter: Wie denn? Jetzt erst kommt mein eigentlicher Dienst. Hinaus aus der Tür, herum um das Haus, und schon pralle ich mit dem Herzog zusammen und schon schaukeln wir im Kampf. Er so groß, ich so klein, er so breit, ich so schmal, ich kämpfe nur mit seinen Füßen, aber manchmal hebt er mich und dann kämpfe ich auch oben. Um uns sind alle seine Genossen im Kreis und verlachen mich. Einer, zum Beispiel, schneidet hinten meine Hose auf und nun spielen alle mit meinem Hemdzipfel, während ich kämpfe. Unbegreiflich, warum sie lachen, da ich doch bisher immer gewonnen habe.
Fürst: Wie ist es aber möglich, daß du gewinnst? Hast du Waffen?
Wächter: Nur in den ersten Jahren nahm ich Waffen mit. Was könnten sie mir ihm gegenüber helfen, sie beschwerten mich nur. Wir kämpfen nur mit den Fäusten, oder eigentlich nur mit der Atemkraft. Und immer bist du in meinen Gedanken.
Pause.
Wächter: Aber niemals zweifle ich an meinem Sieg. Nur manchmal fürchte ich, daß der Herzog mich zwischen seinen Fingern verlieren könnte und er nicht mehr wissen wird, daß er kämpft.
Fürst: Und wann hast du gesiegt?
Wächter: Wenn es Morgen wird. Dann wirft er mich hin und speit mir nach, das ist sein Bekenntnis der Niederlage. Ich aber muß noch eine Stunde liegen, ehe ich den richtigen Atem erschnappe.
Pause.
Fürst steht auf. Aber sag, weißt du nicht, was sie alle eigentlich wollen?
Wächter: Aus dem Park hinaus.
Fürst: Warum aber?
Wächter: Das weiß ich nicht.
Fürst: Hast du sie nicht gefragt?
Wächter: Nein.
Fürst: Warum?
Wächter: Ich habe Scheu davor. Wenn du es aber willst, werde ich sie heute fragen.
Fürst erschrickt, laut: Heute!
Wächter sachverständig: Ja, heute.
Fürst: Und du ahnst auch nicht, was sie wollen?
Wächter nachdenklich: Nein.
Pause.
Wächter: Manchmal, vielleicht sollte ich das noch sagen, kommt früh, während ich so ohne Atem liege, ich bin dann auch zu schwach, um die Augen zu öffnen, ein zartes, feucht und haarig anzufühlendes Wesen zu mir, eine Nachzüglerin, Komtessa Isabella. Sie betastet mich an vielen Stellen, greift in den Bart, fährt in ihrer Gänze mir am Hals unterm Kinn vorbei und pflegt zu sagen: »Die andern nicht, aber mich, aber mich laß hinaus.« Ich schüttle den Kopf so viel ich kann. »Zum Fürsten Leo, um ihm die Hand zu reichen.« Ich höre nicht auf, den Kopf zu schütteln. »Aber mich, aber mich«, höre ich noch, dann ist sie weg. Und mein Tochterkind kommt mit Decken, wickelt mich ein und wartet bei mir, bis ich selbst gehen kann. Ein außerordentlich gutes Mädchen.
Fürst: Ein unbekannter Name, Isabella.
Pause.
Fürst: Die Hand mir zu reichen. Stellt sich zum Fenster, blickt hinaus.
Diener durch Mitteltür.
Diener: Ihre Hoheit, die gnädige Frau Fürstin lassen bitten.
Fürst sieht zerstreut den Diener an – zum Wächter: Warte, bis ich komme. Links ab.
Sofort durch Mitteltür Kammerherr, dann durch Tür rechts Obersthofmeister (jüngerer Mann, Offiziersuniform).
Wächter duckt sich wie vor Gespenstern hinter das Ruhebett und fuchtelt mit den Händen.
Oberhofmeister: Der Fürst ist weg?
Kammerherr: Ihrem Rat gemäß hat ihn die Frau Fürstin jetzt rufen lassen.
Oberhofmeister: Gut. Wendet sich plötzlich, beugt sich hinter das Ruhebett. Und du, elendes Gespenst, wagst dich wahrhaftig hierher ins fürstliche Schloß. Fürchtest dich nicht vor dem gewaltigen Fußtritt, der dich aus dem Tor hinausbefördem wird?
Wächter: Ich bin, ich bin -
Oberhofmeister: Still, zunächst einmal still, ganz still – und hierher in den Winkel gesetzt! Zum Kammerherrn: Ich danke Ihnen für die Benachrichtigung von der neuen fürstlichen Laune.
Kammerherr: Sie ließen mich fragen.
Oberhofmeister: Immerhin. Und nun ein vertrauliches Wort. Absichtlich vor dem Ding dort. Sie, Herr Graf, kokettieren mit der Gegenpartei.
Kammerherr: Ist das eine Beschuldigung?
Oberhofmeister: Vorläufig eine Befürchtung.
Kammerherr: Dann kann ich antworten. Ich kokettiere nicht mit der Gegenpartei, denn ich erkenne sie nicht. Ich fühle die Strömungen, aber ich tauche mich nicht ein. Ich komme noch von der offenen Politik her, die unter Herzog Friedrich galt. Damals war im Hofdienst die einzige Politik, dem Fürsten zu dienen. Da er Junggeselle war, war dies erleichtert, aber es sollte niemals schwer sein.
Oberhofmeister: Sehr vernünftig. Nur zeigt die eigene Nase – und sei sie noch so treu – niemals dauernd den richtigen Weg, den zeigt nur der Verstand. Dieser aber muß sich entscheiden. Gesetzt den Fall, der Fürst sei auf Abwegen: dient man ihm, indem man ihn hinunterbegleitet, oder indem man ihn – in aller Ergebenheit – zurückjagt? Ohne Zweifel, indem man ihn zurückjagt.
Kammerherr: Sie kamen mit der Fürstin von einem fremden Hof, sind ein halbes Jahr hier und wollen in den komplizierten Hofverhältnissen gleich den Schnitt auf Gut und Böse hin führen?
Oberhofmeister: Wer blinzelt, sieht nur Komplikationen. Wer die Augen offen hält, sieht in der ersten Stunde wie nach hundert Jahren das ewig Klare. Hier allerdings das traurig Klare, das sich aber schon in diesen Tagen einer hoffentlich guten Entscheidung nähert.
Kammerherr: Ich kann nicht glauben, daß die Entscheidung, die Sie herbeiführen wollen und von der ich nur die Ankündigung kenne, eine gute sein wird. Ich fürchte, Sie mißverstehen unseren Fürsten, den Hof und alles hier.
Oberhofmeister: Ob verstanden oder mißverstanden, der gegenwärtige Zustand ist unerträglich.
Kammerherr: Er mag unerträglich sein, aber er kommt aus dem Wesen der Dinge hier und wir würden ihn bis zum Ende tragen.
Oberhofmeister: Aber die Fürstin nicht, ich nicht, die zu uns halten, nicht.
Kammerherr: Worin sehen Sie denn das Unerträgliche?
Oberhofmeister: Gerade angesichts der Entscheidung will ich offen reden. Der Fürst hat eine Doppelgestalt. Die eine beschäftigt sich mit der Regierung und schwankt geistesabwesend vor dem Volk, mißachtet die eigenen Rechte. Die andere sucht zugegebenermaßen sehr präzis nach Verstärkung ihres Fundaments. Sucht sie in der Vergangenheit und dort immerfort tiefer. Was für eine Verkennung der Sachlage! Eine Verkennung, die nicht ohne Größe ist, nur aber in ihrer Fehlerhaftigkeit noch größer als im Anblick. Kann Ihnen denn das entgehen?
Kammerherr: Nicht gegen die Beschreibung, nur gegen die Beurteilung wende ich mich.
Oberhofmeister: Gegen die Beurteilung? Ich aber habe in der Hoffnung auf Ihre Zustimmung noch milder geurteilt, als es wirklich in meinem Sinn liegt. Ich halte das Urteil noch immer zurück, um Sie zu schonen. Nur dieses: Der Fürst bedarf in Wirklichkeit keiner Verstärkung seines Fundaments. Er gebrauche alle seine gegenwärtigen Machtmittel und er wird finden, daß sie genügen, um alles zu schaffen, was die höchstgespannte Verantwortung vor Gott und den Menschen von ihm fordern kann. Er scheut aber das Gleichgewicht des Lebens, er ist auf dem Wege zum Tyrannen.
Kammerherr: Und sein bescheidenes Wesen!
Oberhofmeister: Bescheidenheit der einen Gestalt, weil er alle Kräfte für die zweite braucht, welche das Fundament zusammenscharrt, das etwa für den Babylonischen Turm ausreichen soll. Diese Arbeit ist zu hindern, das sollte die einzige Politik jener sein, denen an ihrem persönlichen Bestand, am Fürstentum, an der Fürstin und vielleicht sogar am Fürsten selbst gelegen ist.
Kammerherr: »Vielleicht sogar« – Sie sind sehr offenherzig. Ihre Offenherzigkeit macht mich, um die Wahrheit zu sagen, vor der angekündigten Entscheidung zittern. Und ich bedauere es, wie ich es in letzter Zeit immer mehr bedauert habe, dem Fürsten bis zur eigenen Wehrlosigkeit treu zu sein.
Oberhofmeister: Alles ist klargestellt. Sie kokettieren nicht mit der Gegenpartei, sondern halten sogar eine Hand hin. Nur eine, das ist anerkennenswert für einen alten Hofbeamten. Doch bleibt Ihre einzige Hoffnung, daß unser großes Beispiel Sie mitreißt.
Kammerherr: Was ich dagegen tun kann, werde ich tun.
Oberhofmeister: Es ängstigt mich nicht mehr auf den Wächter zeigend. Und du, der du so schön still sitzen kannst, hast du alles verstanden, was jetzt gesprochen wurde?
Kammerherr: Der Gruftwächter?
Oberhofmeister: Der Gruftwächter. Man muß wahrscheinlich aus der Fremde kommen, um ihn zu erkennen. Nicht wahr, mein junge, altes Käuzchen du. Haben Sie ihn schon einmal am Abend durch den Forst fliegen sehn, von keinem Kunstschützen zu treffen. Aber bei Tage duckt er sich auf einen Wink.
Kammerherr: Ich verstehe nicht.
Wächter fast weinend: Ihr zankt mit mir, Herr, und ich weiß nicht warum. Laßt mich, bitte, nach Hause gehn. Ich bin doch nichts Schlechtes, sondern der Gruftwächter.
Kammerherr: Sie mißtrauen ihm.
Oberhofmeister: Mißtrauen? Nein, dazu ist er zu geringfügig. Aber ich will doch meine Hand auf ihn legen. Ich denke nämlich – nennen Sie es Laune oder Aberglauben – daß er nicht nur ein Werkzeug des Schlechten, sondern ganz ehrenhaft selbständiger Arbeiter im Schlechten ist.
Kammerherr: Er dient etwa dreißig Jahre ruhig dem Hofe, ohne vielleicht jemals im Schlosse gewesen zu sein.
Oberhofmeister: Ach, solche Maulwürfe bauen lange Gänge, ehe sie hervorkommen. Plötzlich zum Wächter gewendet: Zunächst weg mit diesem! Zum Diener: Du führst ihn in den Friedrichspark, bleibst bei ihm und läßt ihn nicht mehr hinaus, bis auf weiteren Befehl.
Wächter in großer Angst: Ich soll auf Seine Hoheit den Fürsten warten.
Oberhofmeister: Ein Irrtum. – Pack dich.
Kammerherr: Er muß schonend behandelt werden. Es ist ein alter kranker Mann und dem Fürsten ist irgendwie an ihm gelegen.
Wächter verbeugt sich tief vor dem Kammerherrn.
Oberhofmeister: Wie? Zum Diener: Behandle ihn schonend, aber schaff ihn schon endlich hinaus! Flink!
Diener Will zugreifen.
Kammerherr tritt dazwischen: Nein, es muß ein Wagen geholt werden.
Oberhofmeister: Das ist die Hofluft. Ich kann kein Korn Salz herausschmecken. Also einen Wagen. Du überführst die Kostbarkeit in einem Wagen. Aber nun endlich aus dem Zimmer mit euch beiden. Zum Kammerherrn: Ihr Verhalten sagt mir -
Wächter fällt auf dem Weg zur Tür mit einem kleinen Schrei nieder.
Oberhofmeister stampft auf.- Ist es unmöglich, ihn loszuwerden. So nimm ihn doch auf den Arm, wenn es nicht anders geht. Begreife doch endlich, was man von dir will.
Kammerherr: Der Fürst!
Diener öffnet die Tür links.
Oberhofmeister: Ah! Blick auf den Wächter: Ich hätte es wissen sollen, Gespenster sind nicht transportabel.
Fürst Mit schnellem Schritt, hinter ihm die Fürstin, dunkle junge Frau, Zähne zusammengebissen, bleibt an der Tür stehen.
Fürst: Was ist geschehn?
Oberhofmeister: Dem Wächter wurde übel, ich wollte ihn wegschaffen lassen.
Fürst: Man hätte mich benachrichtigen sollen. Ist der Arzt geholt?
Kammerherr: Ich lasse ihn rufen. Eilt durch die Mitteltür hinaus, kommt gleich wieder.
Fürst während er beim Wächter niederkniet: Bereitet ein Bett für ihn! Holt eine Bahre! Kommt der Arzt schon? So lange bleibt er aus. Der Puls ist so schwach. Das nicht zu fühlende Herz. Das jämmerliche Rippenwerk. Wie abgebraucht das alles ist. Steht plötzlich auf, holt ein Wasserglas, wobei er um sich blickt. Man ist so unbeweglich. Kniet gleich wieder nieder, befeuchtet des Wächters Gesicht. Nun atmet er schon besser. Es wird nicht so schlimm, ein gesunder Stamm, noch im letzten Elend versagt er nicht. Aber der Arzt, der Arzt! Während er zur Tür blickt, hebt der Wächter die Hand und streichelt einmal des Fürsten Wange.
Fürstin wendet den Blick ab, zum Fenster. Diener mit Bahre, Fürst hilft beim Aufladen.
Fürst: Faßt ihn sanft an. Ach, mit eueren Tatzen! Den Kopf ein wenig heben. Näher die Bahre. Das Kissen tiefer unter den Rücken. Den Arm! Den Arm! Ihr seid schlechte, schlechte Krankenwärter. Ob ihr einmal auch so müde sein werdet, wie dieser auf der Bahre. – So – und nun allerallerlangsamsten Schritt. Und vor allem gleichmäßig. Ich bleibe hinter euch.
In der Tür zur Fürstin: Das ist also der Gruftwächter.
Fürstin nickt.
Fürst: Ich dachte dir ihn anders zu zeigen. Nach einem weiteren Schritt: Willst du nicht mitkommen?
Fürstin: Ich bin so müde.
Fürst: Sobald ich mit dem Arzt gesprochen habe, komme ich hinüber. Und Sie, meine Herren, wollen mir berichten, warten Sie auf mich. Ab.
Oberhofmeister zur Fürstin: Bedürfen Hoheit meiner Dienste?
Fürstin: Immer. Für Ihre Wachsamkeit danke ich Ihnen. Lassen Sie von ihr nicht ab, auch wenn sie heute vergeblich war. Es geht um alles. Sie sehen mehr als ich. Ich bin in meinen Zimmern. Aber ich weiß, es wird trüber und trüber. Es ist diesmal ein über alle Maßen trauriger Herbst.