Jerome K. Jerome
Neues Frauenleben, 16. Jg., Nr. 2, 1904
Jerome K. Jerome

Jerome K. Jerome

Eine entzückende Frau.

»Sie sind doch nicht wirklich der Mr. J…?!«

Aus ihren großen, braunen, Augen strahlte Vergnügen, gemischt mit Verwunderung, und sie blickte erst mich, dann meinen Freund, der mich vorgestellt hatte, mit einem bezaubernden, halb ungläubigen, halb hoffnungsvollen Lächeln an.

Er versicherte ihr, daß ich wahrhaftig das echte, einzige berühmte Original dieses Namens sei, und ließ uns allein.

»Ich habe mir immer gedacht, Sie wären ein gesetzter mittelalterlicher Mann,« sagte sie mit einem köstlichen, kleinen Lachen und fügte dann hinzu: »Ich bin so froh, Ihnen einmal begegnet zu sein!«

Das mochte vielleicht eine konventionelle Höflichkeit sein, aber ihre sanfte Stimme ließ mir die Worte wie eine Liebkosung erscheinen.

»Plaudern Sie ein wenig mit mir,« bat sie, indem sie sich auf einen kleinen Divan setzte und mich einlud, neben ihr Platz zu nehmen.

 

Ich folgte etwas linkisch ihrem Geheiß; in meinem Kopf summte es, just als ob ich ein Glas Champagner zuviel getrunken hätte.

Die überraschende Entdeckung, daß ich der Mr. J… sei, und eine reizende Frau von mir wußte, ja entzückt war, mich kennen zu lernen, wirkte entschieden sinnverwirrend auf mich; der ich literarisch eigentlich noch in meinen Kinderschuhen steckte.

»Also, das sind wirklich Sie, der dieses interessante Buch geschrieben hat,« fuhr sie fort, »und all die prächtigen Artikel in den Zeitungen! O, es muß doch wundervoll sein, so viel Geist zu besitzen!«

Sie stieß einen leisen, neidvollen Seufzer aus, der mir zu Herzen ging. Um sie zu trösten, wollte ich ein Kompliment bei den Haaren herbeiziehen, aber sie gebot mir mit ihrem Fächer Einhalt: »Ich weiß, was Sie sagen wollten, verschlucken Sie’s lieber! Bei Ihnen wäre ich auch gar nicht sicher, wie Sie es meinen; Sie können so satyrisch sein.«

Ich bemühte mich so auszusehen, als ob dies sonst wohl meine Art, ihr gegenüber aber unmöglich sei.

Einen Augenblick lang ließ sie ihre unbehandschuhte Hand auf der meinen ruhen. Eine Sekunde länger, und ich wäre vor ihr auf die Kniee gefallen, oder hätte mich auf den Kopf gestellt, kurz in irgend einer Weise vor der ganzen Gesellschaft mich zum Narren gemacht.

Aber sie traf genau das richtige Zeitmaß.

»Ich bin freilich alt genug, daß ich Ihre Mutter sein könnte« (sie mochte laut Taufschein zweiunddreißig Jahre zählen, ich war 23 und ich fürchte sehr albern für mein Alter), doch Sie kennen die Welt und sind so ganz verschieden von den Leuten, die man gewöhnlich trifft, das hebt den großen Unterschied etwas auf.

»Die Gesellschaft ist so seicht und oberflächlich, finden Sie nicht? Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich manchmal darnach sehne, jemanden zu haben, dem ich mein wahres Selbst zeigen könnte, der mich verstehen würde.

»Sie müssen mich zuweilen besuchen. Am Mittwoch bin ich immer zu Hause, dann werden wir zusammen plaudern, und Sie beichten mir alle Ihre klugen Ideen, nicht wahr?« –

Einige derselben würden ihr vielleicht sympathisch sein, dachte ich, ehe ich aber noch den Anlauf zu einer schönen Erwiderung genommen, stürmte einer von den »seichten« Gesellschaftsmenschen auf sie zu, um sie zum Souper zu führen. Als sie in der Menge verschwand, warf sie mir über die Schulter zurück noch einen halb komischen, halb pathetischen Blick zu, den ich wohl verstand. Er sagte: Bedauere mich, die ich mich jetzt von diesem öden Gecken langweilen lassen muß!

Das tat ich denn auch.

Ehe ich die Gesellschaft verließ, suchte ich in allen Räumen nach meiner neuen Freundin, um sie meiner Sympathie und künftigen geistigen Unterstützung zu versichern.

Durch einen Diener erfuhr ich jedoch, daß sie schon weggegangen sei, in der Begleitung des »langweiligen« Gecken.

Vierzehn Tage später traf ich in Regent Street mit einem jungen Kollegen zusammen und ging mit ihm frühstücken.

»Gestern Abend lernte ich eine entzückende Frau kennen,« sagte er, »eine Mrs. Clifton Courtenay, ein prächtiges Weib.«

»O, das ist eine alte Freundin von mir,« rief ich; »sie will immer, daß ich sie besuche. Ich muß wirklich nächstens hingehen.«

»So, ich wußte nicht, daß Du sie kennst,« sagte er. Irgendwie schien diese Tatsache ihre Bedeutung in seinen Augen zu mindern.

Aber sein Enthusiasmus richtete sich bald wieder auf. »Eine selten kluge Frau,« fuhr er fort. »Ich fürchte, daß ich sie ein wenig enttäuschte;« – er sagte dies mit einem Lachen, das seine Worte Lügen strafte – »sie wollte gar nicht glauben, daß ich der Mr. Smith sei. Sie hat aus meinem Buche geschlossen, daß ich ein alter Mann wäre.«

Ich konnte mich an nichts in dem Buche meines Freundes erinnern, was dem Leser notwendig die Überzeugung wecken mußte, der Verfasser sei über achtzehn Jahre alt. Der Irrtum schien mir folglich einem Mangel an Scharfsinn zu entspringen, hatte ihm aber offenbar großes Vergnügen bereitet.

»Sie tut mir wahrhaft leid, sprach er weiter, daß sie in solch unbedeutender, oberflächlicher Umgebung leben muß; sie sagte mir, daß sie sich nach einem Menschen sehne, der volles Verständnis für ihr Inneres hätte. Ich will sie am nächsten Mittwoch besuchen.«

Ich schloß mich meinem Freunde bei diesem Besuche an.

Meine Unterhaltung mit der reizenden Hausfrau war nicht ganz so vertraulich, wie ich mir’s vorgestellt hatte, infolge des Umstandes, daß ungefähr achtzig Personen sich in einem Zimmer zusammendrängten, welches für acht Menschen bequem sein mochte.

Nachdem ich eine Stunde in großer Hitze und zweckloser Mühsal herumgestoßen worden war, gelang es mir, ein paar Worte mit ihr zu wechseln.

Sie begrüßte mich mit einem Lächeln, dessen Sonnenschein mich alle erlittenen Unannehmlichkeiten vergessen machte, und ließ ihre Hand mit sanftem Druck auf der meinen ruhen.

»Wie lieb von Ihnen, daß Sie Ihr Versprechen hielten! Diese Menschen haben mich so ermüdet. Jetzt erzählen Sie mir, was Sie alles gearbeitet haben!« Zehn Sekunden lang hörte sie zu, dann unterbrach sie mich. »Ihr Freund, dieser geistreiche junge Mann, mit dem Sie herkamen. – Ich lernte ihn letzte Woche bei Lady Lemon kennen, – hat er irgend etwas geschrieben?«

Ich bejahte. »Erzählen Sie mir davon«, bat sie, »ich habe sehr wenig Zeit und möchte dann nur solche Bücher lesen, die mir vorwärtshelfen.«

Der dankbare Blick, den sie mir dabei zuwarf, war beredter als Worte.

Ich schilderte ihr das Buch und von dem Wunsch geleitet, meinem Freunde gerecht zu werden, zitierte ich ein paar Stellen, auf die er sich besonders viel einbildete. Ein Satz schien Eindruck auf sie zu machen, er lautete ungefähr: »Der Arm, den ein gutes Weib um den Gatten schlingt, ist ein ihm vom Himmel zugeworfener Rettungsgürtel auf dem Meere des Lebens.«

»Wie schön«, flüsterte sie, »wiederholen Sie noch einmal.« Ich tat so, und sie sprach es mir nach.

Da schoß plötzlich eine geräuschvolle, alte Dame auf sie los und ich wurde in eine Ecke vertrieben, in der ich mich erfolglos bemühte, so auszusehen, als ob ich mich unterhielte.

Eine Weile später, als ich meinen Freund suchte, um aufzubrechen, fand ich ihn in ein Gespräch mit der Courtenay vertieft.

Sie redeten über einen Mörder, den man unlängst in East-End festgenommen hatte. Seine Frau, ein weiblicher Trunkenbold, hatte ihn, der ursprünglich ein arbeitsamer Handwerker gewesen, ruiniert, zur Verzweiflung getrieben und war schließlich von ihm getötet worden.

»Ach, seufzte sie, wie sehr ist es doch in der Macht einer Frau gelegen, den Mann herabzuziehen oder emporzuheben. Ich lese niemals einen derartigen Fall, ohne daß ich an Ihr schönes Wort denke: Der Arm, den ein gutes Weib um den Gatten schlingt u. s. w.«

Die Meinungen über die religiösen und politischen Ansichten meiner Freundin gingen auseinander.

Der Pfarrer von der reformierten Kirche sagte: »Sie ist eine wahrhafte, ernst gesinnte Christin, eine von jenen, die stets das Bollwerk unserer Kirche gebildet haben. Ich bin stolz darauf, sie zu kennen und stolz zu denken, daß meine schlichten Worte dies echte Weibesherz von der frivolen Welt abgelenkt und höheren Idealen zugeführt haben.«

Der blasse, aristokratisch aussehende Abbé versicherte eine Komtesse enthusiastisch: – »Ich setze große Hoffnungen auf unsere liebe Freundin. Ihr Herz strebt unserer Mutterkirche zu wie ein Kind, wenn auch Fremde es genährt haben, sich nach vielen Jahren noch nach dem Mutterherzen sehnt. Wir sprachen darüber und mir selbst mag es vielleicht beschieden sein, das verirrte Schaf zur Herde zurückzuleiten.«

Harry Bennett, der große theosophische Gelehrte, schrieb einem Freunde über sie: »Eine selten begabte Frau, eine Frau, die nach Wahrheit dürstet, die fähig ist, ihr eigenes Leben zu führen.

Ich habe mich häufig mit ihr unterhalten und fand, daß sie meine Gedanken ungewöhnlich rasch auffaßte.

Ich freue mich darauf, daß ich sie, in nicht zu ferner Zeit, ein Mitglied unserer kleinen Gemeinde werde heißen dürfen.

Im Vertrauen gesagt, ich betrachte ihre Bekehrung bereits als Tatsache.« –

Oberst Maxim nannte Mrs. Courtenay eine schöne Säule des von sozialistischen Umsturzideen, Unordnung und Illoyalität eng bedrohten Staates.

»Aber«, wandte dagegen ein Zuhörer ein, »ich schloß neulich aus den Reden des jungen Demokraten Jocelyn, daß sie selbst auf sozialem und politischen Gebiete etwas revolutionäre Anschauungen hegt.«

»Jocelyn«, erwiderte der Oberst verächtlich, »pah! Vielleicht gab’s einmal eine kurze Zeit, wo des Burschen langes Haar und windige Rhetorik Eindruck auf sie machte. Aber ich schmeichle mir, daß ich selbst sein Rad zum Stillstand brachte.

Meiner Treu, Herr, sie hat eingewilligt, nächstes Jahr auf Seite der Primrose League zu stehen.

Was sagt dieser Kerl, der Jocelyn, dazu?!«

Mr. Jocelyn sagte folgendes: »Ich weiß, das Weib ist schwach, doch ich tadle es darum nicht, ich bemitleide es. Wenn einmal eine Zeit heranbricht, – und sie muß bald kommen – wo die Frau nicht mehr länger die Puppe sein wird, welche an dem Faden tanzt, den irgend ein hirnloser Mann bewegt, wenn sie Ihrem eigenen Gewissen wird folgen dürfen, statt dem ihres nächsten männlichen Verwandten, ohne deshalb mit gesellschaftlichem Acht und Bann bedroht zu werden, dann wird der Moment gekommen sein, wo wir sie richten dürfen. Ich habe kein Recht, das Vertrauen, das ein unterdrücktes Weib in mich gesetzt hat, zu verraten, aber Sie mögen diesem interessanten, alten Ungeheuer, dem Oberst Maxim sagen, er und die andern alten Weiber in der Primrose-Leagne sollen Mrs. Clifton Courtenay meinethalben zur Präsidentin machen; sie haben diese Frau doch nur äußerlich gewonnen. Ihr Herz schlägt im Takt mit denen, die vorwärts schreiten, ihre Seele sucht das durch die Nacht aufdämmernde Licht!«

Die Meinungen gingen auseinander, aber in einem Punkte trafen sie zusammen: Alle erklärten: »Sie ist eine entzückende Frau!«

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