Stationen der Entwicklung
Er war von dem Geschlecht, das, siebzehnjährig, im Gymnasium, losgerissene Blätter von »Hedda Gabler« und »Anna Karenina« zwischen den Seiten des Platon und Horaz liegen hatte, und dann, in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts das Leben lebte, dessen äußere und innere Gebärden das Produkt blaguierender französischer Bücher und manierierter deutscher Schauspieler waren.
Damals war er acht Jahre alt.
Sein Lieblingsbuch, von früher her, war ein englisches Bilderbuch: »The Age of Innocence«. Es handelte von Kindern für Kinder, sagte die Dame, die die Vorrede geschrieben hatte. Er hatte es hauptsächlich bekommen, um darin Englisch lesen zu lernen. Als er so viel Englisch lesen konnte, um die Vorrede zu lesen – die er für die erste Erzählung hielt –, verstand er das nicht; zwar die Worte wohl, aber nicht den Sinn. Denn die Bilder hatte er schon angesehen und es war ihm nie der Gedanke gekommen, daß das Kinder sein sollten, Kinder wie er, diese blonden, mit den Greenaway-Hüten, mit den stilisierten Stumpfnäschen der Unschuld und der wohlerzogenen Drolligkeit der Bewegungen.
Seine Augen waren nicht so rund und lachten nicht so; und seine Bewegungen waren auch anders, heftiger und häßlicher.
Er dachte nicht weiter darüber nach und behandelte sie wie Indianer oder sprechende Tiere, als etwas, dessen Existenz man nicht weiter leugnet, dem man aber wahrscheinlich nicht begegnen wird. Auch ihre Gespräche hatten für ihn nicht das Interesse wie etwas Lebendiges und Verwandtes, und für die Spiele, die sie auf der gelben Düne oder auf grünem Gras unter blauem Himmel spielten, hatte er gar keinen Sinn. Trotzdem hatte er das Buch sehr gern und seine erste Konzeption der Schönheit war die blonde, zarte, auf der gelben Düne oder auf grünem Gras unter blauem Himmel. Er spielte anders, schon weil er meistens allein war.
Nachmittag, wenn er allein zuhause war, kniete er vor dem Ofen und sah regungslos in das Schwelen und Knistern der Glut und sog den heißen Hauch ein, der um seine Wangen leckte, bis ihm die Augen tränten und die Stirn glühte. Da bog er sich zurück, und schrie manchmal, wie in einer Trunkenheit, und warf sich auf den Teppich, zuckend und sehr glücklich. Oder er lief in die Küche – die war leer – und schlug mit dem Holzmesser auf den Holzklotz in bacchantischer Zerstörungslust und atemlosem Wohlsein. Dann trank er Wasser in langen schlürfenden Zügen.
An Frühlingsabenden aber, wenn er allein war und die Fenster offen, beugte er sich aus dem Fenster weitüber und hing lange, mit gepreßter Brust, die laue Luft im Haar, bis ihm schwindelte und vor dem Stürzen graute. Dann lief er zu seinem Bett und vergrub den Kopf in die Kissen, tiefeinwühlend, und Tücher und Decken in erstickendem Knäuel darüber: vor seinen Augen strömte es dunkelrot, seine Schläfen hämmerten und nachbebende Angst schüttelte ihn.
Aber ihm waren das heimliche Orgien und er liebte die Augenblicke, vor denen ihm graute. – –
Auch mit der Angst im Dunkeln spielte er gern, und sich selbst zu quälen, machte ihm Vergnügen. Dazu benützte er spitze Nägel, das heiße Wachs und Blei von Kerzen und geschmolzenen Spielsoldaten, das Berühren von Raupen und Tieren, vor denen ihm ekelte, oder auch harte Aufgaben, die er sich stellte, asketische Verzichtleistungen. Dies alles betrieb er anfangs ohne bestimmten Zweck, aus unklar gefühltem Wohlgefallen an der Macht über sich selbst und weil er seine Empfindungen gleichsam auskostete, wie man eine Weinbeere erst ausschlürft und aussaugt und dann mit den Zähnen preßt und zerquetscht, bis dahin, wo ihre Süße herb und bitter wird.
. . . Später pflegte er diese Martern der heiligen Dreifaltigkeit aufzuopfern, die ihm nichts war als eine Dreizahl, von der er besessen war, der zu Ehren er eine Zeitlang alles Unangenehme und Peinliche dreimal oder dreimal dreimal oder dreimal dreimal dreimal tat, ja sogar Gedanken, die ihm Angst machten, Erinnerungen, vor denen er sich schämte, dreimal durchzudenken suchte.
Das war auch die Zeit, wo die Augen des Muttergottesbildes drohten oder lächelten und wo er den Ausgang aller Dinge von dem Eintreffen gewisser Ereignisse abhängig machte: zum Beispiel, ob das vierte Haus am Weg dreistöckig sein wird, oder ob ein Regentropfen in die Mitte eines Pflastersteines fallen wird . . . Diese Zeit dauerte aber nicht lange . . .
Dann kam ein ängstliches Denken an den Tod, den eigenen und den der Verwandten (. . . wann Weltuntergang und Jüngstes Gericht sein wird? . . . ob eine Revolution sein muß, jedesmal wenn ein neuer Kaiser kommt?) . . . und ein Ausrechnen von Lebensaltern und Wahrscheinlichkeiten.
Dann kam ein fieberhaftes Verlangen nach Besitz, nach Übersicht, Einteilung, Ordnung: . . . wie viele Kasten und Klaviere und Bücher man erben könnte, und geschenkt bekommen, und rauben? . . . und unter welchen Umständen? und wie ungestraft bleiben und das Erworbene nie wieder hergeben müssen?
Und er fing an, seine kleinen Sachen zu zählen, zu ordnen und in ein Notizbuch einzutragen; und sie noch mehr zu eigen zu haben, beschrieb er sie in dem Notizbuch mit Worten und unbeholfenen Strichen und schrieb die schönsten Stellen aus den schönsten Büchern wörtlich ab. Bald aber ließ er das ängstlich Umklammerte wieder los und nach einer Zeit des Hütens kam wieder eine Zeit des Sammelns.
Damals bekam er die historischen Erzählungen für die reifere Jugend in die Hand. Das antiquarische Detail, die exotischen Namen, die Titel, das Kostüm nahmen ihn sehr ein: er fing an, sich in Kostüm zu sehen und in kostümierten Redensarten zu denken. Er genoß das seltsame Glück, seine Umgebung zu stilisieren und das Gewöhnliche als Schauspiel zu genießen. Das Erwachen kam über ihn und das Erstaunen über sich selbst und das verwunderte Sich-leben-Zusehen. Da wurden die Gerüche lebendig und die Farben leuchtend; die Aufeinanderfolge des Alltäglichen wurde Ereignis und die Umgebung Bild. Und es kam eine süße Hast und Unruhe über ihn, als ob die unmittelbare Zukunft irgend etwas bringen müßte und der kommende Tag irgendeinen großen Sinn haben.
Damals riß er sich einmal auf der Straße beim Spazierengehen von dem Fräulein los und lief durch die Straßen, von einem unbestimmten Bann getrieben, atemlos und wie berauscht. Er schrie vor sich hin, heiser vor sinnloser Aufregung; in das Rasseln und Klirren und Dröhnen der Wagen mengte er seine schrille Stimme, und der Schauer lief von seinen Haarwurzeln den Rücken herab, den er immer hatte, wenn er hohe Trompeten hörte oder Glocken, und das Weinen quoll ihm die Kehle herauf; so lief er durch die Straßen.
Dann wurde es halb finster und er wurde müde und der Rausch verging; er hatte Halsschmerzen und aufgesprungene Lippen und brennende Wimpern. Er hatte sich nicht einmal verlaufen. Kreisend war er dort hingekommen, von wo er sich leicht nach Hause finden konnte. Zu Hause waren sie geängstigt und böse; er hatte den Geschmack von unsäglicher schaler, bitterer Enttäuschung auf der Zunge.
Ihr ganzes brutales Nichtverstehen war ihm widerlich und er log. Er log mit dem dumpfen Bestreben, einen Mantel um sich zu machen und irgend etwas Heimliches nicht preiszugeben.
Er log aus Schamhaftigkeit der Nerven.
Ein Vorhang, ein dolchartiges Messer, ein Tuch, sein eigener Körper, die Beweglichkeit seiner Mienen, die Kleider, die man an- und ausziehen kann, Lampenlicht und Halbdunkel und vollständiges Dunkel, das waren ihm die Ereignisse unzähliger Dramen oder eigentlich eines einzigen monatelangen Mysteriums.
Er spielte und sah zu, fühlte die Schauer des Mordes und das Grauen des Opfers, weidete sich an seinen eigenen Qualen, brachte sich selbst Botschaft von sich selbst, weinte aus Rührung über seine eigene Stimme, verriet sich selbst die Geheimnisse seines Innern und erweiterte die Skala seiner Empfindlichkeiten, sein eigenes reiches Reich.
So erlangte er die peinliche Geschicklichkeit, sich selbst als Objekt zu behandeln.
Manchmal verlor er den Faden seines Dramas, und wurde von dem bloßen Beben seiner Stimme durch eine Reihe von Affekten ohne Vorstellungsinhalt willenlos mitgerissen – sinnlose Worte vor sich hinsprechend, die ihn berauschten. – Dieses Vibrieren der Nerven, das er durch bewußte Führung und Wahl der Worte nie zu erreichen vermochte, hatte für ihn den großen Reiz des Unverständlichen und brachte ihm die Hochachtung vor unverständlich gewordenen Dingen und den Kultus der Erinnerung bei.
Mit acht Jahren fand er den größten Reiz an dem Duft halbvergessener Tage und tat manches nur mit dem dumpfen Instinkt, zukünftige hübsche Erinnerungen auszusäen. So gewöhnte er sich resigniert, den Wert und Reiz der Gegenwart erst von der Vergangenheit gewordenen zu erwarten.
Einmal, anfangs Juni, da war eine merkwürdige Nacht. Es war eine sehr heiße Nacht; die Wassergläser waren immer angelaufen und abends atmeten die Steine lauen Qualm aus. An den offenen Fenstern in der Vorstadt saßen abends die Leute im Hemd. Damals hatte die Mama das Fräulein fortgeschickt und er schlief allein. Früh in der Nacht schrak er auf aus seinem Traum; das Fenster war offen, der laue Wind spielte mit den Vorhängen; gegenüber, hinter den Rauchfängen, stand der gelbe Vollmond.
Sein Herz pochte; ihm war, als hätte ihn jemand gerufen, er lauschte mit eingehaltenem Atem, man hörte nichts als das nächtige Knistern der Möbel. Er richtete sich im Bette auf; das Alleinsein war ihm Ereignis. In der Ecke stand des Fräuleins großer Ankleidespiegel, leise glitt er vom Bette herunter und stand, atmend, die nackten Füße auf der kühlen Matte. Mit einem Schritte stand er vor dem Spiegel, und genoß den wohlbekannten Schauer des Erschreckens, als ihm seine eigene weiße Gestalt aus dem Halbdunkel entgegensprang. Dann spielte er vor dem Spiegel: das betende Kind (die Ofenfigur im Vorzimmer); der Kaiser Napoleon in Fontainebleau mit finsterer Stirne im Armsessel (der Kupferstich hängt in Papas Zimmer); dann der Wahnsinnige, den ihm das Fräulein einmal vorgemacht hatte, um ihn zu erschrecken, mit stieren, hervorstehenden Augen, wo man das Weiße unten sieht, und verzerrten Lippen.
Den machte er immer zuletzt und zitterte jedesmal vor seiner eigenen Erschöpfung.
Aber schließlich wird auch das Grauen langweilig. Horchend trat er ans Fenster, das ging in den Hof, um den rings in jedem Stockwerk ein offener Gang führte. Gegenüber lag das Mondlicht auf den grauweißen saftlosen Blättern eines verstaubten Efeugitters, das da stand und auf den Regen wartete. Von irgendwoher drangen halbverwehte Geigentöne; er bemühte sich, sich den Menschen vorzustellen, der jetzt Geige spielte. Er mußte alt sein wie der pensionierte Ministerialbeamte vom dritten Stock und zitternde Hände haben und tränende Augenwinkel; das las er aus dem Spiele heraus.
Zum erstenmal bekam die Außenwelt für ihn ein selbständiges Interesse, die anderen Menschen, die gar keine Bekannten sind, und an denen man sonst immer nur vorübergeht. Da schwirrte etwas vor seinen Augen vorbei und fiel unten klatschend auf; dann hörte man Lachen von Menschen, die sich aus den Fenstern beugten. Das mußte bei der Dame mit dem Mops sein, die immer einen gelben Hut aufhatte und immer abends mit ihrem Dienstmädchen spazierenging, und über die die Mama sich beim Hausadministrator beschwert hatte.
Er empfand plötzlich eine Sehnsucht danach, in fremde Zimmer hineinzuschauen und fremde Menschen fühlen zu fühlen.
Die »Anderen« hatten für ihn einen Sinn bekommen . . .
Er hatte einen neuen Reiz des kontemplativen Lebens entdeckt.
Kreuzwege
Was man also den Lebensweg nennt, ist kein wirklicher Weg mit Anfang und Ziel, sondern er hat viele Kreuzwege, ja er besteht wohl eigentlich nur aus Kreuzwegen, und jeder Punkt ist der mögliche Ausgangspunkt zu unendlichen Möglichkeiten; und das Schicksal nannten darum die Griechen sehr geistreich »Tyche«, das Zufällig-Zugefallene.
Es geht immerfort die Wahrheit an uns vorbei, die wir vielleicht hätten verstehen können, und die Frau, die wir vielleicht hätten lieben können...
. . . car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, ô toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais . . . |
Das ist beinahe traurig, aber es ist für mich wirklich erlebte Erfahrung; es gehört zu meiner Resignationsphilosophie. Nervöse Menschen kann es aber auch zu einem seltsamen Suchen und Sehnen führen, schmerzlich und ohne Zuversicht, aber doch ohne Ende.
Deutlich wie alle Erfahrungen hab ich längst gewußt, seit jeher, aber deutlich, lebendig geworden ist es mir erst damals. Damals . . . aber ich erinnere mich so genau, ich könnte das Ganze in ein Tagebuch bringen: ein nachträgliches Tagebuch. Das wäre wenigstens ein Tagebuch ohne Pathos, mit den graziösen unaufdringlichen Dimensionen des Entrückten und dem kühlen reservierten Ton des nicht mehr Wirklichen. Also gut.
Anfang Jänner 1886.
Ich komme seit einigen Wochen sehr viel zu W. – Heddy ist nämlich wirklich in ihrem Boudoir viel hübscher als überall anders. Sie kann sehr hübsch sitzen und lehnen, mit einer leichten Andeutung des frierenden Kauerns. In ihren Négligés imitiert sie ein bißchen die Anziehtechnik der Sarah Bernhardt, aber nicht sklavisch: viele Spitzen und weiche Falten und die hohen mattgoldenen Empiregürtel, die ich so gern habe. Ihr Gespräch ist eigentlich merkwürdig geradlinig; nur fragt sie viel und manchmal mit so eigenen suchenden Augen.
Einmal sah ich eine Biskuitgruppe an, die auf ihrem Kamin steht, gutes französisches Rokoko, kleine Stumpfnasen in der Manier der Frauen von Watteau und Largillière.
»Wie hübsch das ist«, sag ich.
»Warum?« fragt sie.
Ich war einen Augenblick verlegen; endlich sagte ich: »Warum, weil es Stil hat.« Sie schwieg und wir redeten von etwas anderem.
Nach ein paar Tagen sagte sie plötzlich, ganz ohne Übergang . . .
Wie mein Vater . . .
Wie mein Vater, der alte Herr mit dem traurigen Lächeln und dem eigentümlichen Parfüm in den Seidentaschentüchern und den gestickten Westen, starb, war ich noch ein Kind. Dann lebte ich weiter allein, mit einem alten Diener, der zugleich Koch war, in der altmodischen Wohnung, ein seltsam puppenhaftes gespenstisches Dasein. Mein großes, viel zu großes Bett in der Alkove und die Kupferstiche nach Danhauser und Fendi, Eysen und Greuze mit galanten Versen und die großen gelbroten Möbel der Kongreßzeit und der rätselhafte Geruch nach Äpfeln und alten Büchern machte das lichte saalartige Zimmer anders als alle anderen Zimmer auf der Welt. Nur eines war sehr schön: zwischen den weißen Gardinen sah ein heller grüner Garten herein und in Sommernächten schwebten vor der Mondscheibe auf dem schwarzblauen Nachthimmel weißleuchtende Kirschblütenzweige. Hier lebte ich eine altkluge Kindheit in selbstgenügsamer Harmonie. Ein feiner glatter pedantesker Tanz, ein graziöses resigniertes Menuett. Wie ich klein war, hatte ich bei meinem Vater viel Musik gehört; alle Sonntag abends kamen drei Freunde zu ihm, alte Hofbeamte wie er, und spielten Kammermusik. Seit der Zeit aber war keine Musik mehr und ich tupfte nur manchmal ängstlich in der Abenddämmerung auf die Tasten des Klaviers, vor dem ich Furcht hatte. Aber das langsame Verklingen der Töne war sehr schön. Ich suchte mich oft an die wirkliche Musik zu erinnern, an die von damals: ich sah dann eine metallene Landschaft mit rotglühendem Himmel, oder ein goldenes Meer mit emailblauen Inseln, ein blaues Meer mit phosphorschäumenden Lichtbüscheln und weißem lichtdurchsickertem Nebel oder große weiße Stiegen mit [ . . . ] Blättern rostbraun und korallenrot und grün, denn alle Töne hatten für mich eine Farbe, Farben von unsagbarer sehnsüchtiger Schönheit, viel schöner als alle wirklichen Dinge, Farben, die ich gar nicht nennen kann und die ich nirgends wiederfinde.
Dann kam meine Universitätszeit. Ich erlebte nichts und schrieb in ein lichtgelb gebundenes Tagebuch hochmütige und enttäuschte Verse, die ziemlich deutlich eine empfindsam und unruhig fröstelnde Seele ausdrückten mit Sehnsucht nach vielerlei, ohne Zuversicht und mit manierierter Scheu vor den lauten heftigen Worten. Ich glaube nicht, daß jemand diese Verse zu Gesicht gekommen sind. Gleichviel. Es kam im März ein lauer fast schwüler Abend, so einer wo im Wind auf den Wegen der Duft und Atem des ganzen Frühlings ist und über den kahlen Bäumen feuchtwarm Sommerwolken hintreiben. Ich ging lange durch die Gassen; mir fielen gewisse Dinge mit einer Deutlichkeit ein, die mich angenehm beschäftigte. Es waren an sich ganz gleichgültige Dinge, aber sie waren interessant wie ein Traum. Besonders eine bestimmte alte tändelnde Melodie und ein Duft, der Duft eines Vormittags, einmal im Schwarzenberggarten, und der braungrüne Teich mit den Sandsteintritonen und die vielen jungen Mädchen und die warme einschläfernde Luft. Warum das so sehnsüchtig schön schien, so getaucht in die Schönheit, die weinen macht, diese alltäglichen Dinge.
Wie schlafwandelnd war ich in eine alte schlecht erleuchtete Straße der Inneren Stadt gekommen. Aus dem Fenster eines dritten Stocks drang Musik, Harmonien und Singen. Ich blieb stehen. Es war eine Frauenstimme, nicht sehr stark und nicht sehr schön, aber eine von denen, die uns an Dinge erinnern, die heimlich in uns sind. Dann fiel mir ein, daß ich diese Wohnung kenne. Dort wohnt der Vater eines Schulkameraden, ein ehemaliger Hofsekretär. Samstag abends kommen junge Leute hin zu Kaffee, Gugelhupf und Musikmachen. An die Tochter erinnerte ich mich gar nicht. Obwohl ich die Einladung nie angenommen hatte, fühlte ich doch plötzlich eine Lust hinaufzugehen.
In dem halbdunkeln Hausflur stand in einer Nische die Madonna, in hölzerner lächelnder Anmut, ganz umwunden mit Blumen und Flitterkränzen und kleinen buntglimmenden Glaslampen.
Als ich oben eintrat, wunderte sich niemand. Im ersten Zimmer ging der Alte auf und ab und hörte der Musik zu, die aus dem Nebenzimmer in dunkelschwerem Schwellen kam. Auf dem alten Ledersofa lag ein gestickter Polster, ein violetter Pudel auf gelbem Grund. Auf dem Tisch stand ein Einsiedglas mit kandiertem Obst, aus dem der Alte jedesmal beim Vorübergehen mit langen, schmalen, gepflegten Fingern eine Frucht nahm. Er bewillkommnete mich mit unangenehmer Höflichkeit; seine Stimme paßte ganz zu seinen kurzsichtigen, blauen, vorstehenden Augen und dem gelbgrauen hochgelockten Haar.
Die Musik hörte auf, und er rief ins Nebenzimmer: Madeleine. Unhörbar herangetreten stand sie plötzlich in der Tür und reichte mir die Hand. Sie war mittelgroß und zart, hübsch, aber unbedeutend; nur die schmalen fest aufeinandergepreßten Lippen und der matte Perlglanz der Wangen gaben dem Kindergesicht einen eigentümlichen Reiz wie von leisem Leiden. Ihr faniertes großblumiges Kleid hatte noch den hohen Gürtel und den Ausschnitt der Kongreßzeit und um den Hals war ein Stückchen Schleier gewunden.
Im andern Zimmer lehnten am Klavier zwei junge Leute, mein Schulkamerad und ein älterer, den ich auch schon kannte, etwa fünfundzwanzigjährig, häßlich, mit einem nervösen Zucken und wasserhellen unsteten Augen. Ein dritter mit eigentümlich traurigem Blick stand am Fenster. Madeleine nannte seinen Namen, »Hammer«, und ließ mich neben ihm stehen. Dann setzte sie sich ans Klavier und ihr Bruder nahm die Geige. Sie spielten Melodien, etwas, worin kindische verträumte Anmut war zugleich mit wehmütiger Herzlichkeit und verwirrender leichtfertiger Grazie, wie wenn einer ans Abschiednehmen denkt, und zugleich wieder alte vertraute Dinge und wieder lachendes Vergessen. Es werden wohl Tänze von Lanner gewesen sein.
Ich saß mit halbgeschlossenen Augen und hörte zu; einmal war mir, als wäre alles angefüllt mit rosenroten Rosen, ich fühlte den betäubenden Geruch, ja den Geschmack; dann tauchte wieder der Alte auf, tänzelte nach dem Takt, nahm eine kandierte Birne aus einem Topf, der hier am Ofen stand, und tänzelte wieder hinaus; dann kam wieder der Schwarzenberggarten mit dem grünbraunen Teich, aber auf einer Sandsteinbank saßen unter blühenden Kastanien die Madonna von der Stiege mit lapisblauem Holzmantel und einer roten Glaslampe in der Hand und Madeleine mit dem großblumigen Kleid und dem Stück Schleier um den Hals.
Als ich wieder unten auf der Gasse stand, hatte ich ein unerklärliches, bitter aufquellendes Gefühl wie von Enttäuschung und Entbehrung.
Neben mir ging schweigend der junge Mensch aus der Fensterecke.
Und sonderbar, dann kamen wir auf das Problem des Glücks zu sprechen. Von seinem Wesen ging eine tiefe ansteckende Traurigkeit aus.