Hugo von Hofmannsthal
Das fremde Mädchen
Hugo von Hofmannsthal

Hugo von Hofmannsthal

Das fremde Mädchen


I

Als der Vorhang zum erstenmal aufging, saßen zweie miteinander da an einem schön erleuchteten kleinen Tisch und speisten, ein reicher junger Mann und seine Freundin. Kellner liefen, und rote verschnürte Zigeuner spielten laute Musik. Wo die beiden saßen, war alles Glanz, Reichtum, Wohlleben und Herrlichkeit, aber sie sahen beide gleichgültig und beinahe traurig drein, namentlich der junge Mann schien freudlos, unzufrieden wie es die Reichen oft zu sein pflegen. Die Kellner, die Musiker, die sich mühten, ihn mit Speisen und Musik zu bedienen, hatten für sein Auge alle die gleichen, unlebendigen, häßlichen Maskenköpfe, das ärgert ihn und er sieht seitwärts von seinem Tisch ins Dunkel der Straße hinein; wie man in ein Aquarium hineinsieht, in ein anderes Leben, sieht er auf die traurigen und bösen Gestalten, die sich dort hin und her schieben und auf die Pracht herüberstarren, in der er drin sitzt. Schon will er den kalten gleichgültigen Blick wieder abwenden, da ist es als unternähmen einige auf der Straße etwas, um ihn gerade auf sie hinsehen zu machen; als hätten sie ihm etwas zu zeigen, als versuchten sie auch da draußen, in irgendeiner Weise ihm zu dienen oder Zerstreuung zu bieten. Es ist ihrer ein ganzer Klumpen, der sich auf dem Straßenpflaster beisammenhält: ein altes Weib, ein Buckliger, ein Einarmiger, einer, der nur ein Auge hat, und ein junger frecher Großer mit einer Kappe. Gespannt schauen sie alle auf ihn herüber, jetzt springen sie zur Seite, es ist als hätten sie für ihn etwas auf den Boden gelegt, ein Paket, nein einen Körper, ein menschliches Wesen, ein junges halbwüchsiges Mädchen. Mager und dürftig sieht sie aus, ihr Haar hängt über die Schultern, sie hebt, auf den Knien liegend, die Hände gegen den schönen erleuchteten Tisch hin, – ist es angelernt, eine Bettlergebärde, oder wirklich eine stumme angstvolle Bitte? Der junge Mann steht auf, ihm ist als finge da etwas an, wie er es noch nie erlebt hat – er kann auch ruhig aufstehn, denn seine Geliebte sieht nicht auf ihn, sie hat den scharlachroten Geiger zu sich herangewinkt und läßt sich von ihm die süßen und gemeinen Melodien ins Ohr spielen, und die Kellner bedienen sie mit Hingebung. Da ballt sich der Klumpen von häßlichen Gestalten wieder zusammen und sie verdecken das Mädchen, dann springen sie auseinander, aber das Mädchen ist auch weg, leer der Fleck auf dem Straßenpflaster. Der junge Mann hat sich gesetzt, man bedient ihn, das Diner geht weiter, manchmal wirft er einen suchenden, fast gequälten Blick hinaus ins Dunkel, da ist das fremde Mädchen auf einmal wieder da. Diesmal steht sie aufrecht, sie geht auf ihn zu, langsam wie schleifend setzt sie die Füße, sie trägt einen Korb mit Veilchen, es ist als würde sie von rückwärts geschoben. Da sieht sie der junge Mann und steht hastig auf, er meint sie will auf ihn zu, er ihr entgegen, da wird sie wie an Schnüren ins Dunkel zurückgezogen, er steht, starrt ins Finstere. Seine Geliebte ist aufgestanden, man meint er will fortfahren, die Launen der Reichen sind unberechenbar, schnell reicht man ihm seinen Mantel, seinen Hut, er achtet auf niemand und nichts, da schleift aus dem Dunkel etwas um die Ecke, macht sich an ihn heran, das ist die widerliche Alte, dahinter der mit dem verbundenen Auge und der andere Krüppel. Nun weiß der junge Reiche wie es gemeint ist, er ist gewohnt, es findet sich für alles ein Wegweiser, eine Kuppelei, eine Verbindung, er gibt ein paar Goldstücke hin, die Alte nimmt und geht sogleich voraus, die zwei Krüppel umwedeln die schöne Dame, was bleibt ihr übrig, sie muß nach.

II

Nun sind sie in einer bösen Spelunke, da steht, damit es einen Anschein hat, ein Bar-Tisch mit ein paar Flaschen, und da sitzt der junge Mann und seine Freundin, und die Gauner umlauern beide recht häßlich, aber ihn kümmert das nicht, sein Blick ist starr auf einen schmutzigen geflickten Vorhang gerichtet, dort soll das fremde Mädchen hervorkommen, um dessen willen ist er hergekommen, und streut noch etwas Gold um sich, da machen die Krüppel widerliche Produktionen und Tänze, als wollten sie ihn hinhalten, dann endlich kommt das Mädchen hervor und tanzt für ihn. Da ist er zufrieden und weidet die Augen an ihren rührenden dürftigen Gliedern und genießt überschwenglich den Zauber ihres Geheimnisses unter diesen abscheulichen Menschen in dieser Spelunke und das Seltsame, Abwesende in ihren Augen. Er könnte sie immerfort so tanzen sehen, aber sie wird schwach und bleich, eine Ohnmacht wandelt sie an, da packt das Weib sie derb und gibt ihr schnell aus einer Flasche Fusel zu trinken, da kann sie wieder weiter und wirft ihr Glieder sehnlicher als zuvor, aber immer in der unbegreiflichsten Unschuld; aber wie ihr Tanz am rührendsten ist, da zerrt die Alte sie hinter den Vorhang und läßt es zu Ende sein. Das ist dem jungen Mann zu schnell und er will nach und zu dem Mädchen sprechen und ihre Augen in der Nähe sehen, ihm ist er weiß selbst nicht wie. Da haben die Leute den Vorhang zur Seite gezogen, aber das Mädchen ist verschwunden, da ist nichts als eine Tür in der Mauer, zu der führen ein paar Stufen hinab, die mag zu einer noch schlimmeren Höhle führen, einem Schlupfwinkel dieses Gesindels, da haben sie das Mädchen weggebracht. Er will nach, und was da noch sein möge bekümmert ihn nicht; die Gauner werfen einander hinter seinem Rücken Blicke zu, die sagen unzweideutig: »Nun haben wir den«, und auf die Ohrringe und Fingerringe seiner schönen Freundin fallen gleichfalls solche Blicke. Diese ist starr vor Angst und Widerwillen dagesessen die Zeit über, nun, wie sie sieht, er will dort hinein, ist sie auf und will es nicht leiden und hält sich an ihn mit jämmerlicher Angst in ihren Augen, da gibt er es auf und da geben es die Gauner auch auf mit giftigen Blicken, für heute wenigstens, denn sie haben gespürt: da ist noch etwas zu machen mit diesem Fisch und diesem Köder. Da sind sie plötzlich alle lautlos abgezogen, nur die Alte ist noch da, falsch und widerlich demütig, aber die Freundin ist schon an der Tür; von außen kommt der Luftzug von der Straße, da bückt er sich noch einmal, da sieht er die Flasche stehn, daraus man das fremde Geschöpf mit Fusel getränkt hat, und da liegt auch ein Stück dünner aber fester Rebschnur auf der Erde, wo kommt das her? Das sieht er an, als ob es etwas Besonderes wäre und steckt es dann ein, ganz mechanisch, und dann geht er auch aus der Spelunke heraus und wirft der Alten noch ein Geldstück zu, die scheinheilig dasteht, mit der Branntweinflasche in Händen.

III

Nun sind sie zu Hause in dem eigenen Hause des reichen Mannes, oder es ist wohl die Wohnung seiner Freundin, da ist sie bequem, halb ausgekleidet und trägt einen wunderschönen Überwurf, und dann kommt er herein, hat einen Hausmantel an aus dunklem Samt, darunter aber noch die weiße Weste. Da möchte die Freundin ihn vergessen machen und selbst vergessen, was ihr als eine kleine sinnlose, unangenehme Begebenheit erscheint, daß sie heute abend um eines fremden Bettelmädchens willen eine Stunde in dieser wüsten Spelunke verbracht haben, aber sie fühlt, er hat es noch nicht vergessen; da spinnt sich zwischen beiden die gewohnte Vertraulichkeit an, aber er ist doch benommen, irgendwohin gespannt, und sie fühlt es und kann nicht Herr darüber werden. Da ist sie zärtlich zu ihm, aber halb auch scheu vor etwas in ihm, das sie nicht aufschließen kann, und er sitzt so da, ist bei ihr und auch nicht bei ihr; da greift er ganz mechanisch in die Westentasche, vielleicht will er nach einer Zigarette greifen, aber er zieht das kleine Stück Rebschnur hervor, das er dort in der Spelunke zu sich gesteckt hat. Da fühlt sie, wie fest das andere in seinen Gedanken sitzt, und ist noch zärtlicher und anschmiegender und nimmt seine Hand und windet ihm sanft das Stückchen Schnur aus der Hand und legt es wohin, und das läßt er auch geschehen, aber in seinen Gedanken ist nichts als das fremde Mädchen; da steht sie auch leibhaftig vor ihm als wäre sie aus der Wand herausgegangen und windet sich an ihm vorbei und hat die Arme mit einem ebensolchen Stück dünner aber starker Schnur auf den Rücken geschnürt. Die Freundin aber sieht nichts von der Erscheinung, denn diese ist ja nur aus der erhitzten Einbildungskraft des Mannes herausgetreten, aber für ihn ist sie leibhaftig und er starrt ihr nach und weidet in verworrenen Gefühlen von Angst und Entzücken sein Auge an ihr bis sie wieder verschwindet, als hätte die andere Wand des Zimmers sie aufgeschluckt. Da ist eine Stille zwischen dem Mann, für den nichts auf der Welt mehr wichtig ist als diese Gestalt, und zwischen der Freundin, die angstvoll auf ihn hinstarrt, und in diese Stille hinein kommt ein kleines, ganz diskretes Pochen an der Tür, und da tritt der Diener ein und ist ganz verlegen, daß er zu dieser Stunde jemand anmelden muß, aber da ist auch schon die Alte da, das kupplerische alte Weib aus der Spelunke, und schlüpft zwischen dem Türpfosten und dem Diener durch und schleift auf den reichen Mann zu und zeigt ihm etwas, reicht ihm etwas, einen Schlüssel, da weiß er, das ist der Schlüssel zu des Mädchens Kammer, da kennt er gar keine Besinnung, zieht nur schnell eine Lade auf, da nimmt er einen Revolver heraus, steckt ihn zu sich, schiebt die Alte vor sich hin, an dem Diener vorbei, ehe die Freundin begreift, was da vorgeht. Da ist er draußen und sperrt von draußen die Tür zu, da will die Freundin ihm nach, der Diener auch, rütteln an der Klinke, werfen sich gegen die Tür, alles umsonst, da hat er einen großen Vorsprung, da müssen sie sich bescheiden, daß sie ihm nicht nachkönnen und daß ihn niemand davon abbringen wird, den Weg zu gehen, den die Alte ihn führt.

IV

Da ist ein häßlicher, böser Winkel einer großen Stadt, Häuser auf Abbruch, alle wie ausgestorben, eines ist halb demoliert und man sieht noch in die Zimmer hinein, und die zerfetzten Tapeten hängen von den Mauern. In der Mitte zwischen den Häusern führt ein Gäßchen steil hinauf mit Stufen, und oben ziemlich ferne ist dann eine ordentliche, beleuchtete Straße, hier unten aber ist es ganz dunkel. Da kommt von der Seite durch irgendeinen Durchgang die Alte, und der reiche Mann hinter ihr, in seinen Samtmantel gewickelt und mit bloßem Kopf, so wie er vom Hause fortgelaufen war. Da waren schon vorher an Kellerfenstern und hinter Schutthaufen die Gauner sichtbar, und zuvörderst der starke junge Kerl mit der Kappe und dem tätowierten Arm und haben einander zugewinkt und zugepfiffen und sind wieder verschwunden. Da klopft die Alte an eine Haustür, und da zeigt sich ihnen Licht, und sie will in der Tür stehenbleiben und den jungen Herrn vor sich eintreten lassen, aber da stutzt er doch und bleibt außen stehen und hat den Revolver unter dem Samtmantel in der Hand. Da gibt es die Alte auf und läßt ihn draußen und geht hinein, und er wartet, da geht die Tür wieder auf, und sie schicken das Mädchen heraus, damit sie den Fremden hereinbringt. Da sieht das Mädchen den Fremden in dem bißchen Licht, das durch die Tür herausfällt, und erkennt, wer er ist, und will nicht, macht sich starr. Anstatt daß sie ihn zu sich winkte, wehrt sie ihn ab und gibt ihm zu verstehen, er müsse von ihr ablassen und von ihr fortgehen. Da packen Fäuste sie hinterrücks und reißen sie hinein, und die Tür fällt zu. Da verläßt ihn sein bißchen Vorsicht, und er klopft an die Tür und will nach, da öffnen sie ihm halb die Tür, er hinein, und eh er den Revolver in die Höhe kriegt, ist drin die Lampe umgestürzt, und sie haben sich auf ihn geworfen in der Hausflur. Da ist niemand zu sehen, wie er dumpf hinschlägt, als draußen der Bucklige, der macht die Mauer und paßt auf, ob niemand vorüberkommt. Da bringen sie den jungen Herrn gleich wieder zur Tür heraus, aber ausgeraubt, mit einem Knebel im Mund und gebundenen Händen und Füßen, und laden ihn ab in einer Ecke, wie ein Totes, und wollen sich fortmachen. Da kommt von irgendwo, aus einem Mauerspalt oder Kellerloch, das Mädchen hervorgekrochen, huscht hin zu dem Regungslosen, da hat es einer noch gesehen, und sie sind gleich bös hinter ihr her, sie vor ihnen davon wie ein Wiesel, ins Haus, verkriecht sich, da pfeift einer gellend den Warnungspfiff, also sind Schutzleute in der Nähe oder Arbeiter auf der Straße, denn es fängt schon an zu tagen. Im Nu sind die Gauner davon, alles liegt da wie ausgestorben. Da kommt nach einer Weile das Mädchen aus einem Kellerloch hervor, kriecht auf den Gebundenen zu, auf Händen und Füßen, ganz verstohlen wie ein Tier, bis sie fühlt, es lauert niemand. Da richtet sie sich bei dem Gebundenen auf, sieht ihn an mit Angst und Zärtlichkeit, berührt leise sein Gesicht, beißt die Stricke durch an seinen Gelenken und bringt ihn ins Leben mit Berühren und Streicheln und Aufrichten. Da kommt er ins Leben mit halbstarren Gliedern noch und wüstem Kopf, und da sind sie einander gegenüber an der Erde, und sie ist da wie eine Frau, nicht mehr wie ein Kind, und schüttet eine überschwengliche Zärtlichkeit über ihn aus und da stehen sie beide auf ihren Füßen und er will auf sie zu, da wird sie totenbleich und schwankt und fällt ihm vor den Füßen zusammen. Da kniet er bei ihr und kann nicht fassen, wie das alles so jäh nacheinander kommen kann und rührt sie an und spürt, sie ist nicht ohnmächtig, sondern da liegt eine Tote, und sitzt da, wie betäubt. Da ist es beinahe Tag und oben auf der Straße sind Leute vorübergekommen, Arbeiter und auch Frauen, und etliche schauen herunter, was der Herr da macht mit der Frauensperson, die starr auf dem Boden liegt. Da kommen ihrer ein paar herunter und sehen nach was da ist, und bücken sich scharf auf die Frau und gehen ganz erschrocken und mißtrauisch zurück und schauen verdächtig auf den, der da allein ist mit der frischen Leiche, und behalten ihn im Auge, gehen aber bis an den Straßenrand zurück, da bleibt er an der Mauer stehen mit seinem Abenteuer und seiner Geheimnisvollen und allem was er erlebt hat, und der innere Frost schüttelt ihn ein wenig an der Mauer hin und her und die anderen Leute schauen auf ihn, und das tote Mädchen liegt ganz ruhig und schön in der Mitte auf den Steinen und weiß von nichts mehr.