Hugo von Hofmannsthal
Der Brief des letzten Contarin
Hugo von Hofmannsthal

Hugo von Hofmannsthal

Der Brief des letzten Contarin

Herr Graf! Eben verläßt mich der Notar, welchen Sie die Güte hatten, mit so überraschenden, so aufregenden und so unannehmbaren Propositionen an mich zu entsenden. Er verläßt mich, nicht ohne – auf meine dringenden und peremptorischen Bitten – mein Zimmer von sämtlichen Papieren und Urkunden wieder befreit zu haben, welche er mir zu übergeben beauftragt war, und so bleibt mir von seinem Besuch nichts zurück als eine hochgradige Erregtheit, welche mich zwingt, sogleich an Sie, Herr Graf, diese Zeilen zu richten. Denn diese Angelegenheit muß zwischen uns auf der Stelle und für immer erledigt werden, wenn ich anders imstande sein soll, meiner bescheidenen Bürobeschäftigung mit der nötigen Ruhe weiter nachzugehen und mein Leben überhaupt fortzuführen.

Erlauben Sie mir, formal zu sein und diesen Brief, zur Beschwichtigung meines Bewußtseins, als ein Dokument aufzufassen.

Es erschien heute, den 10. Mai 1888, morgens 11 Uhr, in meinem Domizil der Herr Comm. Bomparin, Notar, versehen mit allen Dokumenten und Behelfen, um eine Schenkung in rechtsgültiger Form durchzuführen, durch welche ich, der Unterzeichnete, Alvise Contarin, Patrizier von Venedig, Graf des röm. Reichs usf., Unterbeamter der Kön. ital. Post, in den Besitz eines Kapitalvermögens, »hinreichend zur standesgemäßen Lebensführung sowie zur Domizilierung im Hauptstock eines der früher Contarinschen Paläste am Canal Grande«, gesetzt werden sollte. Als Donatoren waren in erster Linie Sie, Herr Graf, und Mr. Gordon B., in zweiter Linie eine Gruppe ungenannt sein wollender Freunde bezeichnet. Unverweilt und ohne irgend weitere Auseinandersetzungen zuzulassen, erklärte ich, weder diese noch eine ähnliche Schenkung jemals anzunehmen, insbesondere aber diese in Rede stehende einmal für allemal zurückzuweisen: was der Notar zu Protokoll nahm. Ich aber halte mich verpflichtet, Sie hiervon noch ausdrücklich durch diese Zeilen zu verständigen. Und ich habe die Ehre, Sie ferner zu verständigen, daß ich von diesem Augenblick an aufgehört habe, für Sie und die übrigen Herren Ihres Kreises zu existieren. Daß ich weder an einem privaten noch öffentlichen Ort einem von Ihnen mehr begegnen werde. Und daß ich jeden Versuch, mich aufzusuchen, als eine Nötigung betrachten werde, Venedig für immer den Rücken zu kehren.

Verlangen Sie nicht von mir das Übermenschliche, daß ich dieser einzig möglichen, dieser unvermeidlichen Handlungsweise noch Erklärungen nachschicke. Das Schweigen, die zusammengepreßte Kraft des Schweigens, das ist das einzige, was mich aufrechthält. Hätten auch Sie geschwiegen! Wäre es nie zu einem Gespräch im Cercle gekommen, dessen Frucht diese abscheuliche Stunde war, die ich durchlebt habe. Denn es war ein Gespräch im Cercle, ich weiß es, als ob ich dabei gewesen wäre. Als ob jede Rede und Gegenrede mir im Gesicht glühte, wie die Striemen einer Reitpeitsche. Es war ein Gespräch zu fünf oder sechs oder neun oder zwölf, im Cercle, nach Mitternacht. Curaçao stand daneben, ein Diener schlich im Hintergrund herum und horchte und gähnte, Mr. B. hatte seine »Times« aus den Händen gelegt und Sie den Billardqueue, da entstand dieses Gespräch, diese Ausgeburt einer stickigen, nichtigen Atmosphäre, einer öden, wesenlosen Nachtstunde, eines trüben, zynischen Beisammensitzens. Da nahmen Sie mich in den Mund, mich und meinen großen illustren Namen, mich und meine Bettelhaftigkeit, und dann nahm jemand einen Zettel in die Hand und fing an, Ziffern zu schreiben, und alle miteinander machten sie sich daran, mich zu rangieren. Und wirklich, so darnieder war ihre Phantasie in dieser vergifteten Stunde, daß Sie es für möglich hielten, Sie mein Freund, und die anderen, meine guten Bekannten, mit mir umzugehen, wie ein matter Romanschreiber mit einer seiner löcherigen Figuren; daß Sie es für möglich hielten, mich mit zwei Fingern anzufassen und in einen der Paläste, die unseren Namen führen, hineinzusetzen wie ein Nähmädchen in eine möblierte Wohnung.

Das aber ist das Seltsame, und das wird mir auch helfen, die grelle Häßlichkeit dieser Stunde zu vergessen und wieder ganz ruhig zu werden: daß ich es immer gewußt habe, daß so etwas kommen wird. Ich meine, daß etwas kommen wird, das mich von der Gesellschaft der Menschen abtrennen wird, irgend etwas, jäh und scharf wie der Beilhieb, der die Finger abhaut, mit denen der den Rand des Bootes umklammert, für den kein Platz mehr im Boot ist. Immer habe ich es gewußt, und wenn ich meinen Tee in dem kleinen grünen Salon der Lady Layard trank, so erwartete ich, daß es niedersausen würde, und die innere Anspannung meiner Nerven verrichtete eine Art von Gebet, es möge nicht jetzt geschehen, nicht während des Nocturne von Chopin, nicht während des Präludiums von Brahms: nicht in dem Augenblick, wo die Musik den starken Harnisch der Seele in allen Fugen gelöst hält und wo das gräßliche Gemeine so entsetzlich freien Weg fände. Denn es war kein vages Nachtgesicht, vor dem ich im voraus schauderte. Ich wußte: sooft es kommt, trägt es die Larve des gemeinen Alltags, und erst, wenn es die Pantherklauen umklammernd ins Herz einem gräbt, erst dann . . . So habe ich es einmal kennengelernt. Und mir ist, als hätte ich seit damals nichts getan, als auf die zweite Begegnung gewartet. Aber die erste war gräßlich, und die zweite ist nur schattenhaft und bringt nur einen dumpfen, fast unwirklichen Schmerz. Denn damals war ich ein Kind von vierzehn, und heute bin ich vierzig vorüber. Damals war ich mit meinem Vater auf dem Gut eines Verwandten. Immerfort lebten wir auf den Schlössern von Verwandten oder von Freunden, monatelang oder wochenlang. Was hätte mich auch daran wundern sollen? Ich wußte, wer wir waren. Ich wußte, daß niemand, bei dem wir zu Gaste waren, einen größeren Namen trug als wir, und daß niemand, dem ich begegnen würde, einen größeren tragen könnte. Kinder wissen diese Dinge gut, sie wissen sie in einer fieberhafteren Weise als reife Menschen. Ich wußte, daß ich die Tochter eines römischen Fürsten und die Tochter eines englischen Herzogs zur Frau nehmen konnte, und ich suchte mir im Gotha die, welche siebzehn Jahre alt waren und die mit den wundervollsten altertümlichen Taufnamen behängt waren wie mit strengen, uralten byzantinischen Schmuckstücken.

Kurz: eines Tages hielt ich mich in einem Raum neben dem Office auf und hörte die Bedienten über meinen Vater reden. In zwei Minuten wußte ich, daß mein Vater ein Bettler war und in allen diesen Häusern als ein lästiger Schmarotzer betrachtet wurde. Von diesem Tag datiert meine Selbsterziehung. Von diesem Tag an gewöhnte ich mich, unbarmherzig daran zu denken. Immer dachte ich daran: wenn ich mit meiner Mutter in einem Wagen fuhr, nach dem Friedhof oder sonst, und dem Kutscher das Geld hinzählte, erschien ich mir als ein frecher Betrüger. Mir war, als müßte einer die Hand auf meine Schulter legen und mich entlarven. Wir vegetierten: es wurden die letzten Bilder verkauft, die letzten Schmuckstücke, und von Zeit zu Zeit kam von irgendwoher eine kleine Summe. Und ich sah es alles mit erbarmungslosen Augen: mit Augen, die das grelle Alltagsgesicht der Welt furchtbarer machten als das unheimlichste Nachtgesicht. Mir schwindelte, wo ich ging und stand; kein Bissen kam unvergiftet in meinen Mund. Damals bildete sich im Innern meines Auges der Blick des Bettlers: der Blick hoffnungslosen starren Neides, durchflackert von hündischem überschätzendem Verlangen. Aber es waren nicht die Häuser der Reichen, die ich mit diesem Blick verschlang: nicht die Salons, nicht die Landhäuser, in denen wir ja noch aus und ein gingen. Nicht diese ganze Welt, mit der unsere ganze Existenz noch in einer erlogenen Verbindung stand. Worauf ich mit unbeschreiblichem Neid und wortloser Sehnsucht hinüberstarrte, das war die Existenz ehrlicher Armut: das Haus des Tischlers mit seinen vielen Kindern, der enge Hof, in dem die Wäscherin mit ihren Töchtern tagaus, tagein feuchtes ärmliches Zeug zum Trocknen aufhing und wieder abnahm; mit angeschwollenem Herzen konnte ich stehen und durch die verstaubten Weinblätter in einen Gasthausgarten hineinstarren, wo sie Kegel spielten, und jeder von denen da drinnen schien mir, jeder einzelne, so unsäglich beneidenswert, so geborgen in seiner Haut; ich beneidete den, der gewann und das Kupfergeld einstrich, und ich beneidete den, der verlor und sich ärgerte, und den Bettler, der mit lahmem Fuß um sie herumschlurfte und dem sie dann und wann einen Weinrest hinschoben oder eine Münze in den Hut warfen, den noch beneidete ich um die Ehrlichkeit seines bettelnden Daseins. Wie die Götter erschienen mir diese Armseligen. Denn fürchterlich war nur eines:

 
Varianten und Notizen

Ich habe gräßliche Sachen erlebt. Ich war mit meinem Vater auf dem Land. Da mußte ich eine Konversation von Bedienten über ihn anhören. Dann mußte ich der Szene beiwohnen, wie der Hausherr ihn bat, endlich abzureisen. Wie er ihn um fünfhundert Lire anpumpte und diese dann in einem plötzlichen Aufflackern von Stolz und Forfanterie dem maître d'hôtel schenkte. – Damals gewöhnte ich mir an, unschuldige Züge an mir (à la Marchbanks z. B. das Bedürfnis, gegen einen Kutscher nobel zu sein) unbarmherzig zu kontrollieren und zu messen an der Realität, ob denn das erlaubt sei, ob es nicht eine freche Farce sei. Die Routine der Gewissenserforschung war mir tief eingeübt; das wandte sich jetzt alles diesem Problem zu, und es hat eine bestürzende Richtigkeit, daß gerade mir das Seltsame begegnen mußte, was in Eurem Anerbieten liegt. Zuerst bestürzte mich daran sogleich auch, daß es geschehen konnte. Die unheimliche Willkür, die den reichen Leuten gestattet, in die Schicksale einzugreifen. Sogleich aber kam ich wieder in meine Gleichgewichtslage, in welcher ich mir sage, daß eben einer dieser arme Contarin werden mußte.

 

Palast – Dienerschaft – schleppendes Kleid – Marmordiele: meine Ahnen, glaub mir, hatten das ebensosehr in sich, als sie es außer sich hatten. Ihr Blut enthielt die Metallreflexe aller dieser Dinge, wie dieses Wasser jene silbernen, ehernen porphyrenen Schimmer enthält. Mein Schicksal ist mein Palast. Das tiefe »Du bist mein«, das ich zu dem Kerzenschein sage, der auf mein Blatt Papier fällt, wenn ich abschreibe.

 
Das Gespräch und die Geschichte der Frau von W.

Alte kluge Frau, einer Diakonissin nicht unähnlich, erzählt von dem großen Abgrund, der diese Existenz in zwei Hälften spaltet. Von dem sinnlosen Verlust des Liebsten. Betrachten Sie diese Frau wie eine Natur, in der die Schatten vielleicht das Meisterhafteste sind.

Frau von W.: Nichts ist nirgendwo. Gesundheit erblickt man von der Krankheit aus. Alles ist gleich zuviel: ist man ein wenig klüger, gleich ist man weiter weg von den Dingen. Das Alphabet, kaum versteht man's, verwandelt sich: freilich erhöht sich zugleich, aber es ist wieder Alphabet, schon glaubte man, es zur Zauberformel zusammengesetzt zu haben. Schmuck, den man trägt, wann lebt er eigentlich. Ein Zimmer, wann ist eigentlich seine Stunde? – Und Sie, wieso so ruhig? – Weil mir auch meine Desillusioniertheit vorkommt wie ein Schein auf einem schönen perligen blaugrauen Wasser.

Contarin: Jeder Gegenstand, den wir besitzen, ist nämlich eine Anweisung, ein Surrogat eines schöneren: jede Perle, jedes Stück Stoff, jedes antike Trümmer, jedes Haus ist nur ein Balkon, auf dem unsere Wünsche ins Unendliche schauen, ein Schlüsselloch, durch das wir das Feenreich des Perligen, des Seidigen, des Antiken schauen.

 
Disposition

Sie bieten mir folgendes an:

Damit erregen Sie mich sehr, denn Sie rühren an mein Schicksal, an meine Weltanschauung, an mein Ich.

So bin ich, so bin ich geworden.

 

Aber es steckt noch etwas Unehrliches darin. Ich bin wie eine Billardkugel, die noch nicht ganz in ihr Loch gerollt ist. Das letzte Sichverkriechen muß noch geschehen.

Ich muß noch meine Titel abbrechen und alle Verbindungen. Dann ist alles, wie es sein soll. Ihren Vorschlag annehmen wäre eine Komödie, eine so schlechte Komödie. Man kann nichts restaurieren. Die Alten hatten Perlenglanz innerlich.

Jetzt bin ich ein zitterndes, großartiges Symbol von Dingen, die größer sind als ich selbst. Je ne passe pas un moment vil (auch nicht mit den Hausgenossen).

Aber halten Sie mich nicht für unglücklich.

Meine Abende. Kirchgang. Abschreiben bei der Kerze. Weltgefühl.

. . . Je me maintiens.

 

Gedanke Contarins: Ich glaube, daß wir überhaupt uns gar keine Vorstellung machen können von der überschwenglichen Herrlichkeit, welche die Alten in etwas legten, zum Beispiel ins Schenken bei ihren festlichen großen Zusammenkünften, wo alle in einer himmlischen, königlichen Weise beschenkt wurden; wie wir überhaupt nichts, was früher . . .

Das Fazit ist: Wir sind anders als jene anderen (die Alten), und dies Anderssein und Uns-anders-Wissen ist unsere ganze Natur und unsere ganze Mission: wie es ja wieder das ganze Wesen der Goldonizeit war, zum Beispiel ganz stumpf für das Cinquecento und selbstvergnügt zu sein. Wir sind Spiegelungen der Alten. Eigentlich sind wir ja noch dieselben in alternden Lebensstunden.

Diese Distanz, und pietätvolle Distanz, ist das Koordinatensystem unseres Geistes.

Besitz des einzelnen ziemt unsäglich frischeren, naiveren Seelen; uns ziemt hypothetischer Besitz von allem: ich ziehe die schönsten Träume aus Stoff – und Spitzenlager der Venice-Silk-Company, aber ich wüßte nicht, um welchen Nacken Perlen legen.