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Eigentlich waren »die Linden« durchaus nicht das, was man von ihnen erwartete und was sie zum Traum jedes deutschen Patrioten in jeder kleinen Stadt zwischen Elbe und Weichsel machten. Sowenig damals wie heute. Seit hundert und mehr Jahren sprach man von ihnen, als ob sie wunder etwas waren. Man besang sie zur Tages- und Nachtzeit, in Berliner Briefen und in Calots Manier und in Hunderten von Couplets aus den Berliner Possen.
Aber die alten, niedrigen Häuser hüben und drüben waren, bis auf ein paar, wirklich nichts Besonderes. Außerdem, wenn man nun da dachte, es wären hier an dem breiten Mittelweg und am Reitweg ausgesucht alte und schöne Lindenbäume, die hoch und dicht und laubschwer in die Luft stiegen und ihre Schattenzelte über die ganze breite Prachtstraße hinwarfen, über Mittelweg, Reitweg und Fahrdämme bis zu den Häuserreihen, so war keine Rede davon und das Ganze ein Reinfall.
Und das komischste weiterhin war: es waren gar nicht alles Linden. Es waren Roßkastanien darunter und auch Rüstern.
Gott ja ... vielleicht, daß die Bäume mit den Jahrhunderten und Jahrzehnten die Stadtluft nicht mehr vertragen hatten, die immer dicker und rußiger geworden war. Vielleicht, daß der Boden um sie zu hart und unzuträglich wurde und daß dann noch später, nach 1830, die Gasrohre den Wurzeln schadeten. Vielleicht auch, daß man es noch viel später nicht heraus hatte, wie man solchen Stadtbäumen inmitten der Straße mit ihrer Schildkrötenschale von Asphalt und Granit Wasser zuführen konnte. Möglich auch, daß sie vorzeitig morsch wurden und mit abfallenden Ästen dann den Verkehr gefährdeten und entfernt werden mußten. Genug also – es waren zwar noch einige Wahrzeichen an alten, ehrwürdigen und schönen Bäumen dabei, die sich aus ihrer dünnen Jugend erinnerten, wie der Alte Fritz auf seinem weißen Condé unter ihnen, Schritt vor Schritt, von den Jungens umtobt, dahergezockelt kam, wie Jumbo auf seinem Schimmel bei Brökmann im Affentheater. Aber die meisten Linden und Bäume überhaupt hier »Unter den Linden« ... das Gros hier waren Kümmerlinge – Kümmerlinge mit schlechten, verbogenen Ästen ... Mieker, die spät grün wurden und dünn, dürftig und zerzaust blieben und die sehr früh schon, wenn draußen noch niemand von ihren Brüdern daran dachte, wieder gelb wurden und kaum viel später dann auch schon wieder kahl waren. Jene im Tiergarten, hinten, jenseits des Tors, und die langen Baumzeilen der Charlottenburger Chaussee waren darin ganz anders.
Seitdem aber, und das war noch nicht lange, nicht viel länger als ein Dutzend Jahre, die großen Monde der Kohlenstiftlampen zur Nacht ihren grellen Mondschein und die Schattenmuster der Blätter über dem Asphalt spielen ließen, wurden die früh erkahlten Bäume sogar jeden Herbst ein zweites Mal wieder munter und trieben aus den Zweigenden – wenn auch vereinzelt und dürftig – wiederum lichtgrüne Blattfächer, die sich gar keine Zeit mehr nehmen konnten, von neuem gelb zu werden, sondern die, wie sie waren, von ihrem Großstadtschicksal ereilt wurden, also an dem ersten Frostabend wieder abfielen. Und kaum nach zwölf von den rollenden Straßenbürsten zusammengefegt und gegen die Bordschwellen gestoßen wurden, um des Morgens um fünf dann, von den Kolonnen der Straßenkehrer zu Haufen getrieben, und vor sechs schon, in eine braune Sauce von Schlamm gehüllt, von den Kehrichtwagen weggebracht zu werden. Wirklich ein Großstadtschicksal.
Also die Linden jedenfalls hatten nichts von dem, was sich der Provinzfremde von ihnen erträumt und was sich für ihn von früh an mit dem Namen »Unter den Linden« verbunden hatte, nämlich markiges, stolzes, traditionsschlichtes Preußentum, das sich nunmehr über Kurfürsten, Könige und Kaiser, Blüchers, Bismarcks und Moltkes hochgehungert hatte bis zum historischen Eckfenster, hochgehungert zu einem mächtigen und einem großmächtigen Deutschland mit Handel, Heer und Flotte in zweihundertjähriger, ruhmreicher Geschichte. Denn Geschichte – was die wenigsten wissen – ist immer ruhmreich; und je blutiger sie ist, desto ruhmreicher ist sie.
Das historische Eckfenster nebenbei war – trotzdem die Fremden da immer noch einen Augenblick stehenblieben und hinaufsahen, als glaubten sie das nicht – schon vor fünfzehn Jahren leer geworden und trug somit jetzt erst seinen Namen mit Recht. Denn Geschichte ist zumeist – was auch die wenigsten ahnen – Vergangenes und ein leerer Rahmen, dessen Inhalt sich unwiderruflich verflüchtigte.
Ja, und wer etwa als Provinzfremder nach seiner Zeitung sich fürder in dem Glauben wiegte, daß hier die Linden herunter Tag und Nacht Eleganz und Reichtum, Hof und Gesellschaft, Wissenschaft und Künste sich ein Stelldichein gäben, vornehme Engländer und andere Exoten mit lordhafter Gelassenheit in Smokings von Pool durch das Gewühl flanierten, aus den Reihen der Equipagen die Damen von Welt den grüßenden Gardeoffizieren aller Farben und Ränge, vom Generalfeldmarschall aufwärts, zulächelten und die internationale Diplomatie in großer Gala mit ihren tiefdekolletierten Ladys egalweg zu Empfängen fuhr oder von solchen sich hinwegbegab ... große, aber schlichte Parlamentarier dazu auf der stillen Seite gedankenvoll dahintrippelten und daß die Bankgewaltigen der nahen Bankburgen aus der Behrenstraße zwischen ihren weltumspannenden Finanzplänen auf der Gehseite etwas frische Luft schöpften und sich zu ihrer Erholung ein wenig mit den Koryphäen der Wissenschaft – Mommsen, Treitschke, Dubois-Reymond, Virchow und Helmholtz – gerade über die letzten Ergebnisse ihrer Forschungen unterhielten, was ihnen nebenbei um 1903 schon schwergefallen wäre, es sei denn, sie hätten deren Geister zitiert ... also, wer als Provinzfremder sich in diesem Glauben wiegte, der schmeichelte sich, wie Glasbrenners Schusterjunge, einer Irrung. Und wer hingekommen war, um den jungen Kaiser zu sehen ... das heißt, er war das vor fünfzehn Jahren gewesen, und nun war er gerade im besten Mannesalter ... wer also aus Zossen gekommen war, um den Kaiser zu sehen, und nun glaubte, daß er im Husarendolman an der Spitze einer muntern und bunten Kavalkade von jungen Prinzen und Adjutanten täglich fünfmal die Linden herauf- und heruntersprenge oder huldvoll aus einer Kalesche mit betreßten Lakaien vorn und hinten dem stets jubelnden Volke zuwinkte, der mußte sich, sofern er nicht sehr viel Glück hatte, in seinem kaisertreuen Provinzgemüt bitter in solchen Hoffnungen enttäuscht sehen. Und wenn er etwa meinte, daß dort Reihen stolzer weiß und weit leuchtender Marmorbänke ihn einluden, sich etwas auszuruhen, so mußte er schon eine Viertelstunde weiter bis zur Siegesallee gehen, um in solchen edlen, aber kühlen Schönheiten zu schwelgen. Nein, die Bänke hier unter den Linden waren besonders alt und erbärmlich, lang, schmal, morsch und ohne Lehnen meist ... Der Verschönerungsverein zu Hause in Zossen hätte sich geschämt, solche Bänke hinzustellen, und so er solche vordem erstellt hätte, so hätte er sie längst zu Brennholz zerhacken lassen. Und ein derart armseliges Gesindel, wie es sich da auf den Bänken breitmachte, hätte dort in der Hauptstraße, ja sogar in der Bahnhofstraße die Polizei nie geduldet.
Das konnte draußen auf'n Kietz bleiben, aber doch nicht da, wo der ganze vornehme Fremdenverkehr von Zossen hindurchströmte.
Wirklich, was da alles herumsaß, war keine Zierde. Ein paar bartstoppelige, verbummelte Studenten, die zwar den Weg bis an die Universität, aber nie bis in sie hinein mehr fanden – vor allem, wenn die Sonne schien und es, wie heute, nicht regnete. Grau und schwammig oder klein, dürr und stoppelig waren sie ... je nachdem, ob sie erst beim Bier oder schon beim Fusel waren. Studenten noch aus der Hartlebenzeit mit verknautschten Havelocks, unter denen sie keine Jacke mehr hatten, da die gerade in der Jägerstraße bei Peten Nachhilfestunde hatte. Mit zerknautschten Bibis mit durchgeschwitzten Huträndern und -bändern und buntmeliert von Wind und Wetter. Solche, die ewig einen Packen von Bibliotheksbänden unter den Arm geklemmt hatten, die sie wiederbringen mußten und in die sie nie hineingeblickt hatten. Oder, wenn sie es getan hatten, aus denen sie nie etwas Verwertbares herausgelesen hatten.
Ein paar Soldaten auf Urlaub, die dumm um sich glotzten, waren es. Und Nutten mit Augenringen und Dauerlächeln von drüben aus der Passage, die eine Arbeitspause machten, Siebzehnjährige auf dreizehn zurechtgemacht, in zu kurzen Sommerfetzchen und Rubenshüten aus lichtblauem Samt, der angeschmuddelt war wie eine Prager Kaffeehausgardine. Strichjungen von vorn auf den Tiergartenbänken vorm Tor waren es, die jeden Passanten, in dem sie einen Fremden vermuteten, frech zuzwinkerten und nachzwitscherten ... Strichjungen mit geschminkten Köpfen aus den Schaufenstern der Friseure. Mit kleinen frechen Strohhütchen und Baubaujäckchen und gebundenen Lavalliers unter den breiten Kragen der Etonboys, Strichjungen, die eben auch mal die Wache aufziehen sehen wollten.
Und dazwischen zwei oder drei jener alten, dicken, verschlampten Halbirren – das heißt, sie waren eigentlich Ganzirre; aber da sie niemand etwas taten und harmlos waren, weder bettelten noch Leute belästigten, sich eben nur zeigten (wenn sie auch manchmal die Kinder beschimpften, die hinter ihnen herzogen), so lag kein Grund vor, sie einzusperren ... also zwei, drei jener verwebbten, alten, komischen Frauensbilder, die, Gott weiß weshalb, grade in dieser Gegend zwischen Passage, Linden und Friedrichstraße, vor Habel und Kranzler, Tag und Nacht mit ihren Röcken, die aus verschollenen Türkenschals geschnitten waren, mit ihren pelzbesetzten Capes aus längst vergangenen Tagen, die verknautschten Morcheln von braunem Stroh mit violetten Seidenschleifen schief auf dem grauen Dutt, der wie ein Wollknäuel verfitzt war, und vor allem mit ihren riesigen bestickten Pompadours, die bis zum Überquellen mit allerhand Lumpenzeug gefüllt waren, und mit mysteriösen Bündeln alter Zeitungen, die mit Bindfaden umschnürt waren und die sie ängstlich, als sollten sie ihnen entrissen werden, unter den Arm geklemmt hatten. Ja, die waren es, die also hier – und grade hier, in mehreren Exemplaren gleich, und nirgends sonst in dem weiten Berlin, wohl von irgendwelchen fixen Ideen beherrscht – viele Stunden am Tag auf und ab wandelten, um sich dem Volke zu zeigen. Sie waren keineswegs klein und verhutzelt etwa, sondern groß, dick und schwammig, stumpf und von tierischem Ernst, mit ledernen, faltigen Gesichtern, in denen nie auch nur das Wetterleuchten eines Gedankens aufzuckte und hinter deren winzigen Augen der bodenlose Abgrund des Nichts unheimlich heraufdämmerte. Jetzt aber hatten sie wohl ihre täglichen Bahnen noch nicht aufgenommen, saßen hier auf den Hungerbänken und mimmelten Brotstücke in sich hinein.
Zwischen Pennbrüdern saßen sie, die, aneinandergelehnt, mit offenen Mündern – aber Sohle und Oberleder klafften bei ihnen noch mehr auseinander und ließen armselige, verbundene Füße sehen – mit offenen Mündern schwitzend schliefen. Denn sich auf die Bank legen, wie sie es gern gewollt hätten, durfte man ja hier doch nicht – da kam gleich der Blaue und zog einen hoch. Aber gegen so'n bißchen Einnicken konnte er doch nichts haben. Der Mensch kann doch müde sein! Und wenn eben der eine nach rechts fallen wollte, so legte er sich automatisch wieder nach links an und schlief weiter. Und wenn der andere nach links fallen wollte, so lehnte er sich automatisch wieder rechts an und schlief gleichfalls weiter. Wenn man lange Zeit auf Bänken schläft, lernt man so etwas.
Ja, und auf den Bänken saß eigentlich sonst niemand. Doch – ein paar armselige Kontrollmädchen aus dem Westen, die vom Alex – daher der Name Kontrollmädchen – von der Kontrolle kamen und, ohne Hut, als Dienstmädchen, entschminkt und grau, simpel angezogen in Kattunkleidern, jetzt auf dem Heimweg die langen Linden herunter und durch den Tiergarten bis nach der Schwerinstraße, sich etwas ausruhten. Sie saßen da in Sonne und Blattschatten und stellten staunend fest, daß es am Vormittag auch ganz nett auf der Straße mal war. Und dazwischen so Achtgroschenjungens und Krimis. Aber die kannte jeder hier von denen da auf den Bänken, weil sie jeden Tag kamen. Denn die Linden mußten immer nach verdächtigen Königsmördern abgesucht werden, ehe der Kaiser durchfuhr. Weil das Leben eines Monarchen doch heilig ist und nicht genug vor der Liebe seines Volkes geschützt werden kann.
Auf den Stühlen aber zwischen den Bänken, denn da gab es auch Stühle, kleine, altmodische, eiserne, gelb gestrichene Stühlchen, wie sie bei den Pariser Lokalen draußen stehen ... auf den Stühlen saßen Pärchen und allerhand bessere Leute, die sich schon deshalb für feiner hielten, weil sie eben auf den Stühlen saßen und außerdem nicht zwischen denen da sitzen wollten, wo sie ja doch nur etwas fangen könnten. Aber sie taten meistens unfreundlich-überrascht, wenn der Wärter mit seinem Drahtstecken (er sucht auch hier Papier auf) angehumpelt kam und, ehe jene noch aufstehen konnten, von seinem Block einen Schein riß, auf dem schwarz auf weiß zu lesen war, daß die Benutzung dieses Stuhles einen Sechser kostete. Aber wenn sie bezahlt hatten, machten ihnen meist die ganzen Linden keinen Spaß mehr, und sie standen dann auf, und sie hingen sich ein, und sie gingen weiter. Im Tiergarten, der dahinten zwischen den Säulen des Brandenburger Tores grün verdämmerte, war es hübscher und kostete auch nichts.
Nein, ich vergaß, richtige Kolporteure saßen da auf den Hungerbänken, mit Wachstuchtaschen voll mit Gesundheitstee, Modeblättern und Probeheften von dem Fortsetzungsroman, die, das ahnte die Abnehmerin der »Verfolgten Gräfin« gar nicht, sofern sie ein Zettelchen – nur der Form wegen, damit es seine Richtigkeit hätte, wenn er übermorgen käme, das Heft wieder zu holen, wie der lustige, redselige junge Mann behauptete –, die, wenn sie also dieses Zettelchen unterschrieben hatten, vor Gott und Menschen und Gerichten sie zwangen, auch die übrigen neunundvierzig Hefte der »Verfolgten Gräfin«, das Stück zu zweieinhalb Silbergroschen, abzunehmen. Für das Geld hätten sie sich den halben Fontane kaufen können. Aber sie wollten das ja gar nicht, und sie fühlten sich viel besser bei der »Verfolgten Gräfin«, und so waren sie letzten Endes doch nicht betrogen. Außerdem hätten sie ja lesen können, daß auf dem Zettel, den sie unterschrieben hatten, ganz unten, ganz fein, in Diamantschrift stand: Mündliche Abmachungen haben keine Gültigkeit.
Ja, was sollte er denn nu machen, überhaupt ... Denn mit der »Verfolgten Gräfin« war es auch Essig. Nicht ein Heft hatte er heute vormittag – und dabei war Sonnabend sonst kein übler Tag – unter die Leute gebracht. Nicht einen einzigen Dummen hatte er gefunden. Und dabei hatte er – die Hacken tun mir noch weh – die ganze Fidizinstraße, Haus bei Haus, Tür bei Tür, bis in den dritten Hof, bis in den vierten Stock mit abgeklappert. Und vormittags ist doch die bessere Zeit. Da sind die Männer nicht da. Nich mal aufgemacht hatten die meisten. Und ehe er nur ein Heft aus dem Wachstuch genommen – denn man muß erst schmusen –, da hatten sie ihm die Tür vor der Nase zugeschmissen, und er stand wieder draußen, wie Nulpe. Nee, da in de »Verfolgte Gräfin« da lag auch kein Geschäft mehr drin für einen jungen Menschen, wie er einer war. Das hat keine Zukunft nicht. Das kann vielleicht noch was für den ollen, versoffenen Mann da drüben sein mit seiner Wachstuchmappe – das is sicher auch einer aus de Branche! –, aber nich für einen Menschen, wie ich bin.
Und mit Brennerts Gesundheitstee sah ja die Sache noch viel belämmerter aus, da traute er sich gar nicht mehr unter die Leute mit. Da warnte man schon öffentlich in de Zeitungen vor. Da sollten sogar ein paar Todesfälle vorgekommen sein. Also der Tee war jut. Von den Tee konnte das nich gekommen sein. Wenn einer sterben will, sterbt er auch so. Und außerdem sterben ja bei de Ärzte genug Leute, die gar nicht gleich sterben brauchen. Gut war der Tee. Er hatte ihn zwar nicht probiert – die »Verfolgte Gräfin« hatte er auch nicht gelesen (so'n Quatsch las er gar nicht) –, aber was sollte er auch mit dem Tee? Gesund war er ja Gott sei Dank. Fehlen tat ihm gar nichts. Wär' auch schlimm, wenn ihm mit sechsundzwanzig schon was fehlen würde. Na ja, zum Militär genommen hatten sie ihn nicht, aber das war Zufall. Sie brauchten an dem Tag grade keine mehr. Und er war mit unter de letzten, die sie untersucht hatten. Wenn sie ihn angemustert hätten, hätte er gesehen, daß er gleich die Knöpfe kriegt und kapituliert, hätte seine zwölf Jahr 'runtergerissen und wär' bei's Gericht gegangen. Er hat schon in de Hundertsiebenunddreißigste eine besonders schöne und schwungvolle Klaue geschrieben. Überhaupt war er immer in der Klasse prima gewesen. Na ja, zu seinem Beruf, da kann man eben nur helle Leute mit Rednergabe gebrauchen. Gott sei Dank, er war weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Aber da bei's Militär hätte er sicher auch ein gutes Leben gehabt. Da is noch keiner verhungert. Da sorgt Willem für.
Und nu mit einmal: Jetzt kam und kam er nicht mehr 'raus aus dem Schlamassel. Wat hat man denn for'n Leben vor sich! Und was hat man so in de letzten Jahre for'n Leben gehabt? Eigentlich bin ich doch verdammt 'runtergekommen. Nicht nur in de Kleidung. So'n blauer Anzug wird auch nich besser, wenn man ihn so alle Tage trägt. Und der Strohhut; wenn er noch 'n paarmal so von Regen durchgewaschen wird, da is doch de Krempe hin. Länger wie zwei Sommer hält so'n Hut von Tietz nich. Oder ist es sogar schon der dritte? Und einen neuen Jummikragen hätte ich auch schon wieder haben müssen. Der is nu nächstens grün wie een Laubfrosch. Das einzige is, daß man sich noch am Körper sauberhält.
Und von de Stiefel will ich janich reden. Na ja, des sieht man nich so, weil das Oberleder noch jut aussieht; aber vorgestern bei dem Guß in de Schwiebusser Straße, bis ich in de Kneipe gerannt bin, hab' ick jedacht, ick laufe in zwei Fußbäder.
Wenn ich jetzt mal einen von meinen alten Brüdern treffe aus dem Schönhauser F. C., denn tue ich, als kenn' ich se nich. Denn sie tun ja auch, als ob sie mir nich kennen ... Wer mich jetzt so sieht, kann sich auch nicht vorstellen, daß ich noch neunundneunzig Mittelstürmer beim Schönhauser F. C. gewesen bin und daß die janze Bande ohne mich beim Verbandsspiel kläglich hinten abgerutscht wäre. Ick hör' noch heute, wie der janze Platz schreit: »Lehmann! Lauf, Lehmann! Feste! Feste!« Und die andern haben einfach nur »Emil!« geschrien. So beliebt war ich. Und dabei war eine Bullenhitze. Da is heute Dezember dagegen.
Und beim Gauturnen in Bernau habe ich für meine Riege in Kür zwei Kränze mir geholt. Zehn Punkte haben gerade gefehlt, und wir hätten den silbernen 'rausgestochen. Daß die ihn aus die Naunynstraße damals gekriegt haben, das war einfach Schiebung gewesen. Und heute ... heute brächte ich nicht mehr 'ne einfache Kippe zusammen. Na ja, des wohl schon, aber ob auch eine mit ... eine mit Untergriff, des wäre doch mehr als fragwürdig, Emil Lehmann! Von de Sturzwelle will ich janich reden.
Denn der junge Mensch da, der Kolporteur auf der Hungerbank zwischen den beiden verbummelten Studenten mit den Bücherpacken und in den Havelocks, dem Schwammigen, der noch beim Bier war (wenn auch bei niederen Sorten), und dem kleinen Spitzigen, der schon beim Fusel war (wenn auch erst bei besseren Sorten), der junge Mensch, der da saß, der hieß Emil Lehmann. Nach seiner Mutter, die Auguste Lehmann oder richtiger die lahme Juste, denn sie war etwas kreuzlahm und ging wie eine Pfeffermühle, gerufen wurde und Krawattennäherin gewesen war. Aber das war nun auch gewesen. Wie sie damals dann, wo er nicht da war ... Damit hatte ja die Sache angefangen – er dachte nicht gern daran: sechs Wochen hatte er in Alt-Moabit in Untersuchung gesessen. Auf 'ne falsche Anzeige hin: er sollte das Geld, die hundertfünfzig, aus de Vereinskasse geklaut haben. (Und dabei war das bestimmt der Krutowski, der ihn angezeigt hatte, selbst gewesen, der falsche polnische Hund, der! Der is sicher nach ihm noch mal zurückgekommen, so daß er gar nicht der letzte war, denn der hat ja auch den Schlüssel zu gehabt.) Behandelt hatten sie ihn in Moabit wie ein Stück Mist. Und nachher hat's einfach geheißen, er kann nun wieder gehen. Die Verdachtsgründe reichten nicht aus zur Erhebung der Anklage. Sowie der Mensch dem Staat in die Hände fällt, denn is er eben geliefert. Also, daß se damals, als er nich da war, nach de Charité gekommen war. Un nachher hat man ihm nich mal sagen können, wie er 'rauskam, wo se lag. Das hätte ja nu nich sein brauchen. In ihrer Art is se jut gewesen. Und seitdem is das immer mehr mit mir 'runtergegangen. Und jetzt weiß ich bei Gott nich mehr, wovon ich heute mein Schlafgeld bezahlen soll. Vorige Woche bin ich schon mit de Hälfte hängengeblieben.
Und Emil Lehmann, der Kolporteur, starrte mit seinen sehr braunen und großen Augen den langen Mittelweg mit den Baumreihen hinunter, ganz dahinten hin, über all die Menschengruppen und Einzelgänger fort, die sich in der Sonne durcheinanderschoben, auf das Brandenburger Tor, das da ganz hinten wie ein durchbrochenes Türschloß mit seinem wuchtigen Säulengefüge lag und über dem die Nike die Rosse ihrer Quadriga als ein heroischer Schatten auf dem lichtblauen, von Wolkenfeldern leichtbewimpelten Sommerhimmel dahinlenkte ... starrte dahin, als ob da irgendwo zu lesen wäre, was er nun eigentlich in dieser Welt mit ihrer Milliarde Menschen und in diesem Berlin mit seinen bald drei Millionen Menschen, die hier durcheinanderwimmelten und von denen doch jeder oder fast jeder wußte, wo er hingehört, eigentlich da nun machen sollte!
Ob man nun als fliegender Händler mehr verdient wie als Kolporteur? Ach Gott, det sieht nur so aus; und alle Nase lang hat man mit de Polizei Krach; nee, des hat och keene Zukunft für mich. Um Weihnachten, so drei Wochen, geht so vielleicht der Laden, und die janze übrige Zeit kann man ebensogut in den Rauchfang kieken. Jott ja, Spaß ja würde das machen. Emil Lehmann sah sich so deutlich und bildhaft selbst auf dem Hausvogteiplatz stehen: »No passen Se mal Achtung, meine Herrschaften! Hier sehn Sie mein'n Patent-Porzellan-Universalkitt ... da kann ein Wagen drüberfahren ...« Na ja, das würde wohl schon mehr Spaß machen, als immer so den ganzen Tag det Treppengeländer mit den Rockärmel scheuern ... Aber des sieht auch nur so aus! Und denn kommt der Blaue un sagt: »Jehn Se weiter, machen Se mir hier keine Schwierigkeiten!« Ein Jeschäft liegt auch nicht drin. Des hat keene Zukunft für mich. Und wenn ick det wirklich zum Winter mit aufnehme, davon kann ick noch lange nich heute mein Schlafgeld zahlen.
Der Kolporteur drehte sich um, stierte jetzt nach der anderen Seite hin. Dahinten, wo sich die Baumwipfel teilten, ritt auf seinem braunen breiten Ofen der Alte Fritz zur Stadt hinein, auf den dicken roten Daumen des Rathausturms zu, ganz dahinten. Seit siebzig Jahren tat er das und kam doch nicht weiter. Aber da war auch nirgends zu lesen, was er eigentlich machen sollte.
Wenn er nu hier jetzt so zwanzig, dreißig Scheine selbst unterhauen würde, des würde keiner merken. Handschriften könnt' er 'ne Menge machen ... und Namen erfinden ... Dutzende, soviel se wollten, und denn sich von de Kasse den Zaster einfach noch ein letztes Mal dafür abheben, und dann sich dünnemachen und türmen ... Nee, nee ... Drei hatte Schultze schon verknacken lassen in der Zeit, wo er für ihn reiste ... Nee, nee, det kann man ooch nich machen. Und Vorschuß auf Provision gibt's nich!
Der Kolporteur drehte sich noch mal um, stützte die seltsamen kleinen, aber sehr kräftigen und leicht rötlich behaarten Hände auf die Knie und starrte gerade vor sich hin ... da drüben auf die Ecke der Friedrichstraße. Und so groß da auch Loeser & Wolff stand, er sah es doch nicht ... Ja, er sah da eigentlich ganz etwas anderes, er sah da oben, wo die goldenen dicken Buchstaben »Loeser & Wolff« auf dem Schilde saßen, und über dem Geschiebe der Omnibusse, die sich in der schmalen Friedrichstraße – und gerade hier war sie besonders schmal – drängten und deren Verdecke – denn heute fuhren alle oben – dicht besetzt waren und bunt vor Menschen in der Mittagssonne flirrten, bis weit, bis zum Viadukt der Stadtbahn hin, auf der gerade eine schwarze und lichtumspielte Lokomotive hielt und weißen Dampf in das Blau des Himmels zischen ließ und stoßweise in Ringen und Wolken hinaufrauchte, der langsam, aber fröhlich zerflatterte – gerade da über der Ecke sah er, gleichfalls wie aus Rauch geformt, aber nicht heiter und zerflatternd, sondern groß, grau und scheußlich, seine Schlafmutter, die Radowskin aus de Zingststraße.
Des also war das Letzte! Jott, er hätte ja auch mit ihr eigentlich was anfangen können! Sie hat schon manchmal sone Andeutungen zu ihm gemacht; und denn hätte sie des eben mit 'n Geld nich so genau genommen. Denn for die Liebe tut sone olle Person allens. Aber es soll doch schon mal vorgekommen sein, daß ein Mann mit eene Frau, die seine Mutter sein könnte ... ja, und nachher schmeißt einen Radowski 'raus, und man hat auch nischt. Und wozu des? Der olle Radowski kann eenen schon so leid genug tun. Aber im gleichen Augenblick schien es ihm, als ob die da oben bei »Loeser & Wolff« sich bewegte. Als ob sie mit einem Scheuertuch herumwirtschaftete und dabei auch nicht viel anders wie ein Scheuerlappen aussah. Nur, daß man ... daß man sie nicht auswringen konnte. Dazu war sie zu dick. Nee, nee, so was fass' ick doch nich mit 'ne Feuerzange an. Und der Kolporteur wußte nich: wurde ihm so grün um den Magen, weil er an sein Schlafgeld gedacht hatte oder weil er seine Schlafmutter so greifbar und traurig deutlich da oben schweben sah. Oder weil er seit halb sieben nich einen Happen mehr in den Leib gekriegt hatte außer der Lorke von halbkaltem Kaffee und der pappigen Dreierschrippe. Oder kam des allens zusammen?
Nee, nee, des kommt janich in Frage. So tief is Emil Lehmann noch lange nich jesunken.
Aber plötzlich löste sich auf dem Hintergrund von »Loeser & Wolff« die brave Schlafmutter, die Radowski ... sie war nebenbei, das muß zu ihrer Ehre gesagt werden, eine ganz gute Frau, und sie hatte mit Schlafburschen in jeder Beziehung noch ganz andere Erfahrungen gemacht, als sie je mit Lehmann hätte machen können. Eigentlich tat sie nur so. Wenn se mal nicht gleich zahlten, ging's ja auch. Denn es waren doch man arme Luders, sone Schlafburschen! Plötzlich war im Hirn des Kolporteurs da auf der Hungerbank neben den beiden verbummelten Studenten und den beiden Kontrollmädchen, oder in der Mitte zwischen den vieren, die Vision der Radowski glatt verschwunden und ausgelöscht. Aus dem simpeln Grunde, weil die Wirklichkeit immer stärker als der Traum ist. Sofern nicht der Traum stärker als die Wirklichkeit ist! Und dieses elendige grüne Gefühl um den Magen herum war gleichfalls weggepustet vor der Wirklichkeit aller Wirklichkeiten.
Und das da drüben war Wirklichkeit, was dahinten auf der rechten Seite drüben ankam, übergroß, wie man sich Königinnen vorstellt als Kind. Na ja, größer wie er war sie eigentlich ja auch nicht. Aber bei Frauen sieht das gleich so aus. Und vielleicht machte sie auch der lichte Fälbelhut, der schräg auf den schwedenblonden Haarmengen auflag und über dem ein Kranz von Silberreihern in der Sonne wie Schilf im Abendwind zitterte – eine ganze Reiherkolonie mußte deshalb ausgerottet sein –, noch stattlicher, als sie schon ohnehin eigentlich war.
Und die Boa aus lichtblauen Schwanendaunen machte sie noch breiter um die Schultern, als sie schon dadurch erschienen, daß die Dame sehr, aber auch sehr zerbrechlich bis zur Wespentaille geschnürt war. Und dadurch, was sie gewiß nicht war – denn sie neigte stark zur Rundlichkeit –, schlank und füllig zugleich erschien, statiös in dem silbergrauen Taftkleid, das sie – und sie hatte den vergißmeinnichtblauen Sonnenschirm nach außen gekehrt – mit einer Geste von unnahbarer Hoheit (so schien das dem Kolporteur auf der Bank wenigstens) hintenherum raffte ... Sonst hätte wohl den Boden noch mehr der Glockenrock geschleift, der, das ahnte man, einfach atemberaubend von Jupons geschwellt war. Wirklich, trotz des Lärms und trotz der Entfernung bis drüben hin glaubte der Kolporteur ordentlich die Seide knistern zu hören ... Denn davon stand immer in den Romanen im Lokalanzeiger. Und das Merkwürdigste, das Schönste an der Dame: sie hatte ein paar solche Kugeln von sprühenden lackschwarzen Augen – wie eine Spanierin an der Litfaßsäule aus dem Wintergarten, und mit denen sah sie, spähte sie zu den Bänken herüber ... Aber trotzdem es ganz schnell geschah und ganz unauffällig, schien es dem Kolporteur, als ob sie gerade ihn da gesucht hätte, und sogar, als ob ein Schimmer von Wohlgefallen – wenn solche feine Dame überhaupt einem armen Hund gegenüber, wie er doch war, so was zeigte – über ihr rosiges Antlitz (so stand auch im Lokalanzeiger immer!) gehuscht wäre.
Ach, Emil Lehmann war gewiß ein gewiefter Junge eigentlich, aber so recht wußte er eben doch noch nicht Bescheid. Und er ahnte gar nicht, daß diese Dame nur deshalb so strahlende und nachtschwarze Augen hatte, weil man noch kein Mittel erfunden hatte, sie veilchenblau zu färben, wie es eins gab, die eigenen nachtschwarzen Locken, die durchaus nicht sehr üppig gewesen waren, genau auf die Nuance der schwedenblonden falschen Zöpfe einzufärben, die sie geschickt zu einer wonnigen, einheitlichen und stolzen Fülle verstärkten. Es gab viele, die sich der Dame nur dunkel erinnerten. Denn es war schon vor fünfzehn Jahren sehr kompromittierend gewesen, sie zu haben. Aber in allerbesten Kreisen – wie Nichtkenner des Lebens sagen – bester Ton, sagen zu können, sie gehabt zu haben. Heute war sie auch diesen Kreisen entrückt und hatte sich noch besseren zugewandt. Aber trotz Schminke und aller Aufmachung, sie war, das sah der arme Kerl eigentlich gar nicht, eine geradezu verdammt schöne Person, deren seltene spritzige und fast geistreich bewegte Schönheit kein noch so raffinierter Schönheitssalon bisher hatte verderben können. Und sie gab schon mit sich etwas an. Gottfried Keller sagt über seine Judith im »Grünen Heinrich«, sie wäre eine Frauensperson gewesen, die der Teufel gern hat. Und trotzdem war sie gerade so, wie man sich das Laster nicht vorstellt ... Das war ihr Trick. Sie war und blieb immer grande dame und Herrscherin.
Ja, und wenn sie jetzt die Haare schwedenblond trug, so hatte sie das nicht leichtfertig und aus Modenarrheit gemacht, sondern weil sie – damals, als sie sich gedreht und von heute auf morgen ihrer alten Klientel untreu wurde – erkannte, daß das gewünscht wurde und ihr ungeahnte geschäftliche Vorteile bot. Einfach weil in der Welt die alte Grunderfahrung des »les extrêmes se touchent« – und in ihrer Welt noch ganz besonders! – immer noch zu Recht bestand. Denn ihr neugewonnener Kundenkreis bestand dank eines geschickt ausgebauten Systems, in dem auf Seide gedruckte, patschuliduftende Visitenkarten, indiskrete Fotos und Hotelportiers, Liftboys und Oberkellner eine vermittelnde, gutdotierte Rolle spielten, aus Ausländern. Europäer wurden ungern darin aufgenommen ... Nur als Lückenbüßer vielleicht einmal. Speziell Amerikaner waren es. Und von diesen wieder Südamerikaner, Mittelamerikaner, Kubaner. Meist auch breitschultrige Argentinier, blitzäugige Mexikaner. Manchmal sogar pockennarbige, gegen Damen sehr galante und großzügige, in zu weite Anzüge gehüllte, Brillantringe am kleinen Finger tragende, mit goldenen Uhren versehene, mit dicken Brieftaschen und Scheckbüchern begabte Herren, die nur einen kleinen Fehler hatten, daß ihnen noch einige Tropfen Neger- oder Indianerblut unter der grünlichbrünetten Haut rollten und daß sie das stumpfschwarze, manchmal seltsam frühzeitig schon graumelierte Haar sehr gestriegelt und mit Stangenpomade gefestigt trugen, weil es immer wieder, sosehr sie es auch in Ketten legten, die Tendenz kundtat, sich der krausen Form ihrer Vorväter einerseits zu erinnern. Während sie, gerade im Gegenteil, einzig und allein an ihre Vorväter andererseits erinnern wollten, die schon mit Cortez und Pizarro und ähnlichen Straßenräubern gelandet sein sollten. Wie sie behaupteten.
Sonst aber, außer dieser Narretei, daß sie durchaus nicht einsehen konnten, daß ihre braunen, roten oder schwarzen Urmütter von ehedem – und wer es immer gewesen sein mochte: eine Fürstin, eine Häuptlingstochter oder eine Viehmagd – von tausendmal höherem Adel waren als diese weißen Götter ... außer dieser Achillesferse, die nie berührt werden durfte, waren sie – ganz im Gegensatz zu den Kerlen von einst – meist sehr freundliche und wohlerzogene, witzige und sogar manchmal literarisch recht versierte Leute und echte Kavaliere, die wußten, was sie einer Frau, die ihnen ihre Huld zuwandte, schuldig waren, und die sich manchmal sogar mit einer hidalgohaften Geste zu einer kaum verständlichen Großzügigkeit in Geschenken verstiegen. »Gefällt dir diese Zigarettendose, meine weiße Taube? Sie gehört dir!« Und wenn sie pures Gold, war und ein Monogramm aus Brillanten trug: »Ich besitze noch mehr davon.«
Ja, und diese Kavaliere kannten eben aus ihrer Heimat alle Nuancen von Schwarz. Sie waren mit Schwarz übersättigt. Sie waren kaum überbietbare Kenner darin. Wohl aber waren sie, was Blond anbetraf, Ignoranten und unschuldsweiße Lämmer und fielen auf jeden Schwindel herein.
Außerdem – und das war vielleicht ebenso wichtig – sprachen sie meist ein sehr unvollkommenes Deutsch, diese Herren der ABC-Staaten. Ein Deutsch, das selten über »Kellnero noch uno Ei« herauskam. Das aber genügte ihrem regen Unterhaltungsbedürfnis nicht, wenn sie einmal mit einer Dame ausgehen und sich einen amüsanten Abend machen wollten oder gar öfters mit dieser Dame zusammen sein wollten ... Und so war ihnen natürlich jemand lieber, der von Haus aus französisch wie eine Pariserin und amerikanisch mit echtem Broadwayklang und dazu, das gehört sich, italienisch wie eine Florentinerin sprach und immerhin soviel von der edlen Sprache des Cervantes verstand, um auch mal in vertraulichen Situationen – und zum Schluß kann ja auch der gepflegteste Plantagenbesitzer nicht immer nur den Salonkavalier spielen – einen Witz zu erfassen, über den selbst ein Maultiertreiber in den Kordilleren das Gesicht grinsend verzogen hätte. Ja, und dafür gab es eben – so merkwürdig das klingt, eben doch in dem ganzen großen, großen Berlin und in der weiten Friedrichstadt – keine Konkurrenz, die in Frage kam und alles so vereinte ...
Entweder konnte sie mit den Kunden reden, dann war sie eine Spinatwachtel. Oder sie war ein schickes Weib, dann sprach sie französisch wie in Französisch-Buchholz. Oder sie krakeelte und klaute Brieftaschen. Das hatte sie nicht nötig: vor ihr gingen die Brieftaschen von selbst auf. Nein, Konkurrenz hatte sie nicht. Oder sie war nicht aus gutem Hause, sondern kam aus dem Toppkeller. Oder sie hatte nicht das Temperament, wie das die Kavaliere von da drüben gewohnt sind, und verstand vom Beruf nichts. Bei ihr konnte man alles haben. Sogar auch Liebe und Herzensneigung. Wenn es verlangt wurde.
Ja, und so kam es, daß diese Dame nicht nur vollauf beschäftigt war, sondern eigentlich nur noch längere und lohnende Engagements in der letzten Zeit annahm. Jedoch von alledem ahnte, wie gesagt – draußen hinter dem Belle-Alliance-Platz bei seinen Kunden, in seinem Revier und vorm Schönhauser Tor, wo er früher gelebt hatte, und am Humboldthain, wo er heute da wohnte bei der Radowski, da fand er sich in den Menschen mit einem Blick zurecht und kannte sie aus dem Effeff –, von alldem aber ahnte der Kolporteur Emil Lehmann nichts. Ihm war bis zum Weinen – aber der Hunger kam auch wieder – fast unglücklich, als diese wunderherrliche Frauensperson da drüben sich plötzlich abwandte und sich vor ein Schaufenster stellte, so daß er nur noch ihren schönen langen Rücken und den Glockenrock und den violetten Sonnenschirm in der Hand, die das Kleid raffte in violetten Glacés, die weit den Arm hinaufgingen, sehen konnte … Wirklich, die Bilder da, spinatgrüne Buchenwälder und Frauen, die in Seidenbetten Reizwäsche zeigten, und andere, die, ohne solche, auf Wolken ruhten – siebentausend echte Ölgemälde und andere Kunstgegenstände, stand über dem Laden, wurden hier ständig meistbietend versteigert –, die Bilder schienen sie sehr zu fesseln, die Dame … Kunstfreundin war sie. Vielleicht wollte sie ihrem Mann eins davon zum Geburtstag schenken. Oder sich eins zum Geburtstag wünschen. Denn die besseren Leute finden so was schön und geben eine Masse Geld für so was aus …
Aber dann kam auch schon von drüben mit einer Queenzigarette im Mundwinkel solch ein Mann zu ihr lässig herübergeschlendert, zwischen den wartenden Droschken und Omnibussen hindurch … ziemlich groß, so um die Dreißig, in den Jahren, wo der Mann auszulegen beginnt … also so ein richtiger Gentelmann mit einem lichtgelben Gehrock, der in zwei Flügel auseinanderstrebte und sehr auf Taille gearbeitet war, und mit einer Tubarose im Knopfloch. Einen grauen, steifen, runden Hut hatte er tief in die Augen gedrückt: Kein Kavalier von Reznicek konnte ihn besser tragen. Das gescheitelte Haar darunter stand ihm überhaupt wie zwei Fledermausflügel über die Ohren weg, und sein semmelblonder Schnurrbart war sorgsam in jene aufstrebende Form gebracht, die echte Kavaliere gerade bevorzugten. Er wäre unvollkommen gewesen ohne den Stock mit dem Elfenbeinknopf, den er unter die rechte Achsel geklemmt hatte, und ohne das Kettenarmband, das ihm über den gelben Handschuh fiel, mit dem er das Pfefferrohr umklammerte. Und ohne das dicke Plastron, das durch einen Hundekopf mit Rubinenaugen zusammengehalten wurde.
Wie gesagt, Emil Lehmann kannte sich hier in der Friedrichstraße nur sehr oberflächlich aus, sonst hätte er gleich gesehn, daß dieser Mann da, mit dem Gesicht wie eine Wassersemmel, ohne daß er dabei häßlich war – die Nase war klein und zierlich, der Mund war es, und das Kinn war es, und die rosigen Bäckchen waren es, wenn auch die Haare ziemlich in die Stirn hineinwuchsen –, nur einen Wunsch und eine Genugtuung kannte, für einen Gardeoffizier in Zivil – seinethalben sogar für einen geschaßten – gehalten zu werden. Und daß es ihm nur sehr unvollkommen wenigstens gelang, diesen Wunsch bei anderen in Erfüllung gehen zu lassen.
Denn in diesem Gesicht herrschte eine solche Reglosigkeit und so eine eisige Leere, und die grauen Augen unter den silberweißen und ganz dünnen Brauen waren so kalt, stier und unbewegt, daß das Innere von Grönland dagegen als eine erfreuliche Landschaft bezeichnet werden muß. Sein Blick, in dem ein Funken Roheit in einem Bottich von Stumpfsinn schwamm, haftete an nichts, ging durch alle Dinge hindurch, war weder freundlich noch böse, nicht mal heimtückisch, weder gleichgültig noch beteiligt, nur leer, leeer, leeeer.
Und dieser feine Hund da geht nu so einfach an der vornehmen Frau da am Schaufenster vorbei. Er sieht sie scheinbar gar nicht und telegrafiert ihr nur solch bißchen aus den Augenwinkeln zu. Und dann macht er halb kehrt und geht mit seinen wehenden Rockschlippen (ach, Leinengamaschen hat er auch … unsereiner hat Löcher in de Stiebel!) einfach in den Hausgang zwischen den Zauberladen mit dem Totenkopf und der Puppe von dem Inder, der die Augen rollt vor seinem schwarzen Tischchen und an die Scheibe klopft … einfach da 'rein … Und die feine Dame tut, als hat sie ihn überhaupt nicht gesehen, und schaut sich immer noch den spinatgrünen Buchenwald an in der Bilderhandlung. Und dann geht se einfach hinterher.
Also sooo macht man das? Man braucht nur so 'rumzulaufen mit 'n Schwalbenschwanz, und die allerfeinsten Damen laufen einem einfach wie'n Hundchen nach, denkt der arme Kerl da auf der Bank. Des is ja doch pfui Deibel! Und nachher wundert sich der Mann zu Hause, wo seine Frau bleibt!
Wie gut es doch andere Männer haben! Ich kann mir nich mal jetzt 'ne Bockwurst mit Kartoffelsalat an den Friedrichstraßenbahnhof bei Aschinger … denn muß ich die Groschen schon aus alle Taschen zusammenkratzen ... und solch ein feiner Pinkel gibt vielleicht einen blauen Lappen aus, wenn er sone Frau 'ne Viertelstunde haben kann.
Ach, kiek mal, da kommt er doch schon wieder aus'n Hausgang 'raus, der feine Pinkel mit seinen grauen Judenhelm! Soso ... det is wohl nischt geworden? Und da tapert er wieder mit seinen Stock untern Arm. (Mensch, komm bloß nich unter die Räder!)
Also, also ein Monokel mit 'ne schwarze Litze trägt der Patentfatzke auch. Des habe ick mir gedacht, des der da in de Konjakstube jeht. Du willst dir wohl für die nächste Abfuhr Mut antrinken? Mensch, ein feiner Mann stößt nich de Tür mit dem Fuß auf! – Die beiden Mädchen neben Emil Lehmann hatten die ganze Zeit noch kein Wort miteinander gesprochen, trotzdem sie doch zusammengehörten. Jetzt puffte die eine die andere an. »Hast du gesehen?« sagte sie. Sonst nichts.
»Ich bin doch nich blind geworden«, sagte die andere. – »Des war der Turfkarl«, sagte die erste wieder. Mit einem Ton, der deutlich durchschimmern ließ: An so was feines kommen wir armen Luders janich 'ran. In unsem janzen Leben nich. Dadazu muß man geboren sind.
Ja, da kam nu auch wieder die Dame von vorhin. Ganz heiter, als ob nichts geschehen, kam sie aus dem Hausgang getänzelt. (Nein, das lag ihr nicht: sie schritt!) Also eine wunderschöne und feine Person! Doch ob sie 'ne Dame, war dem armen Kolporteur jetzt nicht so ganz sicher mehr. Aber es kann auch Zufall gewesen sein, daß sie beide in dem selben Haus – da wohnt 'n Anwalt! – oben zu tun hatten. Kommt also heraus, bleibt wieder stehen, sieht sich nach allen Seiten um. (Worauf wartet sie denn?) Mit ihrem Fälbelhut mit dem Zaun von Reiherfedern – so was; is doch nur für die Reichen da! –, hebt ihren Sonnenschirm und winkt einem Wagen, also einem prachtvollen Landauer mit 'n paar Staatsgäulen vor, zu, der mit einem Ruck – brrr – hält …
Gott is der Mann braun in seinem kurzen Sommermäntelchen. Aber wie er ihr grüßt und sie ihn anlacht … Wat ruft se da? »O mio Panschite«, was heißt 'n des? Also das is ihr Mann wohl. Aber eenen duften Hut hat der. Den möcht' ich haben. Ich glaube, sone lappigen Dinger, sone Panamas, kosten 'n Haufen Jeld. So setzt man sich nur in so'n Wagen, wenn man des von früh gewöhnt is. Und der Kutscher … wie auf Draht gezogen! Wie die Pferde die Beine schmeißen. Und wie gut das auf 'n Asphalt klappt. So leben die Leute, und unsereener kann nich mal aschingern jehn!
Der weiße, lichte Zaun von Reiherfedern auf dem lichtblauen Hut und die Boa aus blauen Schwanendaunen um ihren sehr festen und doch weichen, schlanken Hals da waren das letzte, was Emil Lehmann von der Dame sah.
Auch die beiden als Dienstmädchen maskierten Kontrollmädchen hatten der da im Wagen neidvoll und respektvoll zugleich und schweigend wieder nachgesehen. So ungefähr wie ein Soldat zweiter Klasse einem General.
»Die Diamanten-Berta«, sagte die eine tonlos.
»Ach, wirklich?« sagte die andere tonlos.
»Na ... dahinten in de Equipage«, meinte die erste wieder mit leuchtenden Augen. Aber vielleicht hatte sie auch Schwindsucht. Denn darauf wird sie nicht untersucht auf dem Alex ... Und das Fieber setzte um diese Zeit ein. »In de Ecklipaje.« Denn Fremdworte sind Glückssache. Mal trifft man's und mal nicht.
Und dann fielen sie wieder in ihr stilles Elend zurück. Und auch Rosenemil, aber es wäre zu verfrüht, ihn so zu nennen, starrte wieder nach den Häusern und den vornehmen Läden mit all den breiten Spiegelscheiben in Bronzerahmen – das machte man jetzt hier so! – hinüber. Zu den echten Ölbildern und den echten Elfenbeinschnitzereien »Venus züchtigt Amor«. Alles, was man hier braucht, war eigentlich schon in solchen Grüppchen zusammen! Zu Brillanten, die auf dem schwarzen Grund sich drehten. Dem Zauberladen. Dem Korb roter Hummern. Und den Lotterielosen, die gewinnen mußten. Und er ahnte eigentlich wenig davon, daß die Häuser hier so herum genauso wie die Menschen waren. Sie sahen von außen, wenn man an ihnen vorbeiging, ganz gut aus. Man durfte nur nicht hineingehen. Ja, es war sogar besser, wenn man selbst vermied, stehenzubleiben. Dann nämlich wären es nur falsche Brillanten und die Ölbilder übermalte Fotografien und der Kognak verschnittener mit Methylalkohol. Und Lotterielose, die Glück bringen sollten und die so todsichere Nieten waren, wie Lotterielose und Menschen es nur sein können.
Da drüben ha'ck vor fünfzehn Jahren gestanden. Eine Kälte war des, man konnte sie mit Messern schneiden, denkt Rosenemil, grün und blau bin ick jefroren. Und hab' immer jeschrien ... damals bin ick eben elf Jahre jewesen oder so 'rum. »Ausführlicher Proogramm der Beisetzung Seiner Majestät Kaiser Wilhelm des Ersten, ausführlicher Proogramm !« Ihm ist, als hörte er seine eigene, helle Jungenstimme durch die Kälte ... Jott, was man doch so allens jemacht hat, um zu ein paar Jroschen nebenher zu kommen, von früh an: Mit Hampelmänner auf dem Arkonaplatz bin ich herumgezogen.
Seine Mutter fällt ihm ein, die war verdammt hinterher, daß er das Jeld auch richtig zu Hause abgab. Wat hat die doch immer (jetzt ha'ck doch jar keenen Hunger mehr) jesungen immer. Ach ja, wat denn?
»Wat Unter de Linden
Als Hoju kommt in'n Topp,
Dat schmeißt man uff de Frankfurter Linden
Den Schlächter an'n Kopp.
Aber nich so grob. Aber nich so grob!
Schmeißt doch den Schlächter
De Knochen an'n Kopp.«
Plötzlich bekommt er es mit der Scham. Er hat ganz laut vor sich hin gesungen, und er is eigentlich, so keß und frech er auch tut, ein scheuer Mensch, der sich nicht gern vor den Leuten herausstellt. Na, nu werd' ich mir mal dünnemachen, denkt er.
»Das is ja ungemein ulkig, lieber Freund«, sagt, als er eben aufstehen will, der eine der beiden verbummelten Studenten zu ihm. »Wissen Se, wo das eigentlich her is?« sagt es mit einer ganz hohen und dünnen Fistelstimme. »Irgendeine alte Posse?«
»Nee«, meint Emil, »des kann ich Ihnen auch nicht sagen. Des hat nur meine Mutter immer jesungen.«
»Du, Spitzmaus«, brummt der andere, und seine Stimme war so tief unter dem Meeresspiegel menschlicher Stimmen, wie jene über ihm schwebte, »heute gehn wir aber nicht in de akademische Lesehalle mehr und spielen keine Partie Schach mehr.«
»Sie haben aber 'n komischen Namen«, sagt der Kolporteur. (Wenn die Leute mit ihm zu reden anfangen, warum soll er denn da den Mund halten?) »Hieß Ihr Herr Vater und Erzeuger auch Spitzmaus?«
»Recht haste, Laubfrosch, wozu sollen wir den angebrochenen Vormittag mit geistiger Arbeit vergeuden!« piepst der Dünne und grient still vor sich hin mit seinen zwinkernden Äugelchen. »Der Laubfrosch hat nämlich 'ne Schallblase«, sagt die Spitzmaus und zeigt auf den breiten Blähhals seines bierfreudigen langjährigen Kommilitonen. Denn sie waren beide zur gleichen Zeit aus der Suevia geschaßt worden, wenn auch der eine jetzt sechsunddreißigstes Semester und der andere erst fünfunddreißigstes Semester war. Geschaßt und seitdem nie wieder auf die Beine gekommen. »Nu steht doch im großen Brehm, daß sich die Spitzmäuse von Laubfröschen nähren. Aber au, Kontrolleur: er ernährt sich geistig von mir.«
Der kleine Mann in seiner Talentwindel lehnt sich zurück und blickt den Kolporteur überlegen an. Aber er sieht nur viel älter aus. Schnaps bringt 'runter.
»Haben Sie schon mal auf einen Heukahn geschlafen, junger Mann?« fragt er leutselig und feixt vor sich hin. Denn er kennt seinen Dostojewski, und den »Raskolnikow« hat er zehnmal von Anfang bis zu Ende gelesen. Die Spitzmaus ist überhaupt 'ne sehr gebildete Haut. Im Gegensatz zu Laubfrosch, der von Hause her doof war und sein bißchen Verstand längst in Bier ertränkt hat. Und Spitzmaus hat wirklich die letzte Nacht drüben im Humboldthafen auf einem Heukahn geschlafen. Aber auf einem Heukahn schlafen, das wußte Spitzmaus nun, das liest sich zwar bei Dostojewski ganz poetisch und rührend, doch in Wahrheit ist es dumpfig und staubig und stachlig, riecht schlecht und ist zudem nicht mal weich und keineswegs, selbst in einer Juninacht keineswegs (und darauf muß man wieder einen nehmen!), durchaus nicht gerade besonders warm. Und Halme und Grannen und allerhand Schmutz und halbverendetes Ungeziefer kommen einem in Mund, Nase und Ohren dabei. Nur literarisch ist es ein Erlebnis; aber im Leben – wie so vieles! – eine Sache, die, nicht kennengelernt zu haben, einen Vorteil bedeutet.
Heute aber würde er bei Laubfrosch schlafen in der Lothringer Straße. Das heißt in der Lottumstraße. Und das heißt, wenn er es aushielte. Denn wenn Laubfrosch betrunken heimkam, so duldete er nicht, daß man das Fenster aufmachte, wenn er gebrochen hatte. Aber wenn er es aushielt, würde er heute doch lieber bei Laubfrosch schlafen als auf einem Heukahn. Gott ja, gescheite Menschen können auch ebensogut zum Teufel gehn wie dumme; und dumme ebensogut, ja meist besser es zu etwas bringen wie gescheite. Das hängt von Dingen ab, die mit dem Hirn nichts zu tun haben, sondern mit den Trieben.
Hinten, von der Passage in der Friedrichstraße her, kam jetzt so ein dumpfes, so ein dumpfes Rasseln, Klingeln, Murmeln. Blechern und hoch etwas dazwischen. Stampfen und Quietschen. Und so langsam löste es sich daraus: dadada, bumbumbum, dadada-bumbumbum – ein Militärmarsch. Welcher, war noch nicht recht herauszuhören. Auch die Wagen und Menschen drängten sich schneller und mit mehr Rhythmus aus der engen Straße hervor. Wie ein geschlagener Feind flohen sie gleichsam vor der Musik her. Und bei Kranzler und drüben bei Bauer ballten sich die sommerbunten Menschenmassen.
»Tsching, tsching, bumbum und tschingdada kommt im Triumph der Perserschah«, piepste Spitzmaus. »Gehn wir, Laubfrosch«, er weinte fast, »Lilienkron ist es! Lilienkron Ignorant! Nicht Dehmel! Flüchten wir, ehe uns der Militarismus hier überrennt.« Und Spitzmaus zog den Laubfrosch, der sich nur ungern bewegte, von der Bank auf; »rudis indigestaque moles«, piepste er. »Ovid, Ovid! Wenn du noch soviel übersetzen kannst: eine rohe und unbewegliche Masse!« Aber das machte sich nur Spitzmaus so. Denn – indigestus heißt eigentlich gar nicht unbewegt.
»Turgenjew hat gesagt«, kam es von tief unter dem Meeresspiegel des menschlichen Organs herauf, »wenn du auf einem Sofa sitzt, und du sitzt gut da, so stehe nie auf, denn du weißt nicht, ob du es noch mal so gut im Leben haben wirst.«
»Ist das ein Sofa?« quiekste Spitzmaus, und alle Falten um seinen mimmelnden Mund ... denn trotz der Fünfunddreißig war sein Zahnbestand gemach schon wie ein durchgerodeter Wald geworden, den selbst der überhängende ausgefranste Schnurrbart nicht verdecken konnte, der durch Zigarrenstummel angesengt war (wer Zigarren raucht, sengt sich nicht so leicht den Bart an; aber wer Zigarrenstummel raucht, nachdem andere die Zigarre geraucht haben, kommt verdammt leicht in Gefahr, sich den Schnurrbart zu verbrennen; besonders dann, wenn er über den Mund hängt) ... alle Falten und seine angerötete spitze Nase liefen zu einem konzentrischen Grinsen auseinander, als wäre sein Gesicht ein Tümpel, in den ein Junge einen Stein geworfen hätte. »Auf dieser Bank von Holz hat schon der große Kurfürst der Liebe gepflegt. Ich schätze solche historischen Reminiszenzen nicht!«
Rosenemil horchte erstaunt auf – der Mann wäre für seinen Beruf zu brauchen gewesen. Mit der Schnauze kam er nicht mal mit. Aber Rosenemil übersah das eine, daß Spitzmaus überhaupt zu keinem Beruf mehr zu brauchen war.
Und als Spitzmaus den schweren Laubfrosch ohne Hebebaum von der Bank hochbekommen hatte und die beiden Packen ungelesener Bibliotheksbücher unter den Flügeln ihrer Havelocks verschwunden waren (wie ein Mensch das aushält bei der Hitze!), wandte er sich noch mal an Rosenemil. »Junger Mann«, piepste er, »Zukunft des deutschen Landes, Sie haben mir ein Liedchen gelehrt.« Und seine verglasten Augen schwammen über den Kolporteur da unter ihm auf der Bank fort. Denn er liebte es nicht sehr, Leute anzusehen. Und außerdem wäre doch sein Blick etwas unsicher gewesen, weil er sich des Morgens hatte aufwärmen müssen. »Nu, junger Mann, will ich Ihnen eins lehren, ein für Sie sehr, sehr beherzigenswertes und von mir in grünen Jahren sehr beherzigtes Liedchen.«
Und Spitzmaus fistulierte mit seiner dünnen Glasschneiderstimme:
»Unter'n Linden, unter'n Linden
Gehn spazier'n die Mägdelein,
Wenn de Lust hast anzubinden.
Denn spazierste hinterdrein ...
Biste an'n Pariser Platz,
Is se sicher schon dein Schatz.«
Nur die Gesten machte er nicht dazu wie ein italienischer Straßensänger, denn was brauchte die ganze Welt zu sehen, daß er kein Jackett unter dem Havelock hatte.
»Dein Schatz, dein Schatz, dein Schatz«, piepste er immer noch, als er von Laubfrosch schon ein ganzes Stück weggezogen war und die Musik, wie eine alle andern Geräusche der Straße vor sich wegfegende und zudeckende Sturzwelle, drüben zwischen Bauer und Kranzler hervorquoll zwischen den beiden Menschenwällen, die sich da aufgetürmt hatten. Alles war in Erregung, elektrisiert durch »diddadada tamtamtam, didadada tamtamtam, rrre rrrembemrrr emmbemmbemm«. Nur die beiden Paare von Pennbrüdern auf der Bank, bei der Alten mit dem Rock aus dem Türkenschal, wachten nicht auf. Sie wechselten nur etwas die Lagen. Vielleicht dachten die vier Dioskuren, daß der andere doch selbst für eine Penne ungebührlich schnarche.
Zuerst tänzelte ein berittener Blauer auf einem pirouettierenden Braunen vorne weg. Dann kam eine ganze Horde von Mitläufern, die schon seit der Belle-Alliance-Straße mitgelaufen waren und deren Scharen sich in Reihen formiert hatten: jeder neue sprang in das Glied und in Tritt ein, sowie er sich vom Bürgersteig gelöst hatte. Und dann kam erst die Musik und die Triangeln, die Posaunen, die Trompeten, die Querhölzer und die Trommeln, die ganze Kollektion jener Tamtam-Instrumente. Und der Tambourmajor mit seinem Stock stelzte wie ein Kronenreiher vorne weg. Der Tambourmajor stelzte mit seinem bepuschelten Stock, den er nur wenig höher in die Luft warf als die Soldaten hinter ihm die Beine in den weißen Leinenhosen. Denn die warfen sie ungefähr, wenn auch nicht ganz so hoch wie die weißen, flatternden Roßschweife auf ihren Paradehelmen mit den blanken Schuppenketten.
Rosenemil sprang auf. Und wenn er noch so müde und verstimmt war, dem konnte er nicht widerstehen. Schon mit acht Jahren damals hatte ihn die Mutter verdroschen, wenn er weggelaufen war, weil er sehen wollte, wie die Wache aufgezogen wurde, und sie sich dann ängstigte, wenn er zum Essen nicht nach Hause kam.
Im Moment war sein Hunger weg. Seine Mißstimmung. Alles. Mindestens ein Jahr war er mit der Wache nicht mehr mitgelaufen. Und er drängte sich durch die Menschen an den Straßenrand, und obwohl der Schutzmann ihn aufhalten wollte, der da stand, um das Militär vor den Belästigungen durch den Plebs zu beschützen – aber wenn man ihm den bunten Rock anzieht, dann heißt der Plebs Stütze von Staat, Thron und Altar –, wutschte es doch da in den Troß, der, mitpfeifend und Beine schmeißend, im Takt der Zirkuspferde vorantrabte. Die Wolliner Straße hatte ihre ganzen vierten Höfe ausgespien und ihnen alles noch nachgeschmissen, was sie an Ballonmützen und Halstüchern und Vorhemden besaß, in denen zwar Kragenknöpfchen, aber auf denen keine Kragen saßen. Einer hatte sogar grünsamtene Morgenschuhe. Ihn mußte die Wache überrascht haben, wie er ging und stand. Wie einen Pompejaner ein Vesuvausbruch. Es war sicher kein Gardematerial, das da mitrannte. Halbwüchsige Jungens, die aus der Fürsorge entlaufen waren, Schulkinder, die die letzte Stunde geschwänzt hatten. Einer sogar, der lahmte und wie eine Wippe machte beim Gehen. Kesse Luden, die Schirmmütze über dem linken Auge und die Haarlocke in die Stirn gedreht. Wirklich, der bessere Teil der Berliner Bevölkerung schien sich nicht daran zu beteiligen. Alle aber schmissen sie die Beine und sahen stier geradeaus. Nicht einer rechts oder links.
Und so sehr auch der Kolporteur, denn er war ja bis vor acht Jahren hundertemal so mit der aufziehenden Wache mitgelaufen; später, wo er ordentlich war, hatte er es dann bleiben lassen, aber in den letzten Jahren, wenn er so vom Treppenlaufen müde war und auf 'ne Bank saß oder 'nen Frühschoppen – aber des kam selten vor! – nahm und die Wache gerade vorbeikam, hatte er doch nicht widerstehen können und war mitgezogen. Mal vom Belle-Alliance-Platz und mal von der Maikäferkaserne. Oder vom zweiten Garderegiment. Wer dran war.
Und das hatte ihm Spaß gemacht und frischte ihn immer auf. Vor allem die Märsche mitzupfeifen. Er kannte jeden Ton besser wie 'n alter Kavalleriegaul. Aber vielleicht, daß der Musikgeneral, der Oberaugust von de Füsiliere, sein Handwerk nicht recht verstand, denn es brachte ihm heute keinen rechten Schwung in die Knochen. Vielleicht, daß da gerade besonders übles Gesindel mittobte und er sich unbewußt klar wurde, wieweit der Abstand zwischen dem vornehmen Patentfatzken da mit den grauen Judenhelm oder jener Dame mit der himmelblauen Federboa war, die da zu dem mahagonibraunen Mann in die Equipage gestiegen war, und dem miesen Gesocks hier (wie er sich sagte), das da die Vorhut des Militarismus bildete – genug, grade vor dem Ollen Fritz da oben, der von seinem Sockel aus zu Pferd griesgrämig und verknurrt und ehern diese Parade abnahm, grade da haute er wieder ab ... Grade davor sprang er wieder aus der Reihe heraus aufs Trottoir herüber. Obwohl ihm der Blaue nachschnauzte: »Aus der Reihe tanzen jibt's hier nich!« Kaum zweihundert Schritt hatte er übern Asphalt mitgestampft. Mochten die da nachher ihre Jriffe vor der Hauptwache zum millionstenmal klopfen, »Jeweeehr app« schreien und ihre blöden Meldungen »melde jehorsamst« sich gegenseitig ins Gesicht brüllen. Wat jeht mir des an, das Affentheater! Dadavon krieg' ick doch keen warmen Löffelstiel in'n Bauch.
Und langsam ließ der Kolporteur, so auch die Mitläufer des Militarismus – denn rechts und links schob sich noch eine bunte Masse die Bürgersteige und den Mittelweg entlang –, nicht die Vorhut aus der Wolliner Straße, sondern die besseren Mitläufer des Militarismus, an sich vorüber; guckte noch mal zum historischen Eckfenster hinauf, an den mit dem grauen Bart erinnerte er sich zwar nicht, aber an »ausfüüührlicher Prooojram der Beisetzung Seiner Majestäät Kaiser Willem des Ersten«, und stand plötzlich vor dem weißen Marmordenkmal seiner alten Frau, die da mit einem Spitzenschleier, lang hingelehnt, in einem sehr absonderlichen Stuhl saß, wie (aber das sagte sich Rosenemil nicht) weiland Agrippina, die Mutter Neros, weiß wie Kandiszucker gegen eine dunkle Wand von Taxusbüschen.
Ja, aber was soll man eigentlich nun machen? dachte er so und sah vor sich, von der alten Augusta fort, die er gesehen und doch nicht gesehen eigentlich hatte, auf das grüne Tuch des Rasens und auf die Kette von Monatsröschen, die gerade hier an dem niedern Eisenzäunchen ihre roten Köpfchen hochstreckten. Jott, wie hübsch die doch waren, dachte er, des is ja doch 'n janz neues Kardinalrot. Des kenne ich noch janich bei die Sorte. Wie des leuchtet, wie'n Kuß im Dunkeln!
Denn das eine war merkwürdig: Der Kolporteur hatte von früh an geradezu eine närrische Vorliebe für Blumen. Wie oft war er von Muttern verkeilt worden, wenn er wieder welche von de Anlagen geklaut und unter die Jacke zu Muttern nach Hause gebracht hatte. Er konnte einfach an keinem Blumenladen vorbei. Und besonders im Winter, wenn's draußen kalt war und die Scheiben beschlagen, ja stückweise sogar gefroren waren, suchte er so lange, bis er ein kleines Guckloch fand, um da hineinzustarren; und jede neue Rose, die aufkam, jede neue kupferrote Chrysantheme im November beim Blumenschmidt freute ihn unbändig. Er hatte auch mal Gärtner werden wollen. Na ja, und jetzt war er sogar was Besseres und Gebildeteres geworden.
Also der Blaue da drüben, der mußte ja nach drüben nach der Wache kieken, der wird sich auch nicht gleich umdrehen, sagte sich der Kolporteur und bückte sich schnell und scheinbar absichtslos herab. Fünf Finger und een Jriff. Das kannte er von früher. Knipste mit den Nägeln ein Zweigchen mit drei Rosendolden ab, schob sie in die Seitentasche und zupfte erst da ein Röschen ab, um es so ganz beiläufig und unauffällig ins Knopfloch sich zu stecken. Klein und leuchtend wie eine Rosette der Ehrenlegion.
Plötzlich wurde ihm ganz heiß auf der Stirn, und es war ihm, als ob ihm da unter dem verbogenen Rand seines Strohhuts hundert Nadelspitzen aus der Haut schlugen, und das grüne Gefühl um den Magen war wieder da, stärker als vorher. Jott noch mal, sagte es in ihm, du hast doch beide Hände frei! Du hast doch 'ne Tasche heute jehabt, Emil! Eine schwarze Wachstuchtasche mit zweiundzwanzig »Verstoßene Jräfinnen« und ein Kilo Gesundheitstee! Auf de Bank haste se noch gehabt, Emil! Wo is denn die Tasche mit eenmal hin? Des is jut! Da muß ick mindestens vier Mark de Leute ersetzen. Zweiundzwanzig »Verstoßene Jräfinnen«! Mir rechnen se det Heft mit fuffzehn Pfennje. Det macht ... macht: drei Mark dreißig. Dem armen Mann fliegt auch noch – innerlich weinte er, und es fehlte wenig, daß er es auch sichtbar tat – ooch noch die eene Taube weg.
Und schon rannte er wieder los, zurück, aber dieses Mal rannte er wirklich. Und der Blaue, der sich wieder umgedreht hatte, blickte ihm stumpf und mißtrauisch nach: Der Bruder da mußte doch was ausgefressen haben! Aber da sich niemand um den Mann kümmerte, ihm nachsetzte oder rief, haltet den Dieb, jing ihn ja die Sache jarnichts an; erst, wenn eene Belästijung des Publikums dadurch stattfindet, hatte er einzujreifen.
»Un die Mappe«, japste Rosenemil beim Dauerlauf. Jetzt war ihm kalt, und er bibberte beinahe, »die Mappe, die scheene Wachstuchmappe.« (Also das war übertrieben; sie war nie schön gewesen, und jetzt war sie schon zehnmal in den Nähten und auch so gerissen und mühselig von Frau Radowski – denn sie sorgte mütterlich für ihre Schlafburschen – wieder zusammengeflickt worden.)
Die mußte ja da noch liegen, beruhigte sich der Kolporteur, reg dir man wieder ab, Emil. Wer soll mir armet Luder noch wat klau'n? Und wat soll denn eener damit anfangen? Wat kann denn in Jottes Namen eener mit zweiundzwanzig »Verstoßene Jräfinnen« anfangen? Und mit dem Tee? Da is er doch morgen 'ne Leiche mit ... Nee, nee, det rührt keener an.
Aber auf seiner Bank saßen schon andre. Die Wache, die aufgezogen wurde, wie der Berliner sagt, hatte eine große Umwälzung vollbracht, wie eine zweite Abendvorstellung im Kintopp. Es waren alles fremde Gesichter geworden. Wirklich, sogar Fremde, Provinzler und so, die hier Unter den Linden die Wache aufziehen sehen mußten. Denn das gehörte ebenso wie die Bauernschenke in der Jägerstraße mit dem »Groben Gottlieb« und das Zeughaus – ins Museum brauchte man nicht zu gehen, da sind nur Bilder und so – zum Programm.
»Ach verzeihen Sie«, sagte der Kolporteur, und innerlich weinte er wieder; des war ja eine schöne Bescherung! »Verzeihn Se, haben Sie vielleicht 'ne schwarze Wachstuchtasche jefunden? Ich habe sie hier liegenlassen, se hat nur für mich Wert. Es ist mein Handwerkszeug.«
»Wat sollen wir jefunden haben?« sagten zugleich die beiden aus Kottbus. »Wat, Ihr Handwerkszeug?« Und sie waren nicht nur unfreundlich, sondern wie jeder, dem man zumutet, er könnte etwas gefunden haben, tief beleidigt. »Sehen Sie doch selbst nach! Hier liegt nischt, und es lag auch nichts da, wie wir gekommen sind … Sehn Se doch selbst nach«, sagte die Frau – mit einer karierten Bluse, die wie ein Taubenkropf an ihr herabhing, und mit einer steif gestärkten Spitzenrüsche darüber – mit ganz spitzem Mund.
»Nee, junger Freund«, sagte ein anderer, der wohl sah, wie nah es dem abgehetzten Kolporteur ging, »nee, hier hat wirklich nischt gelegen.«
Ach Gott, dachte der – er war ganz verdattert –, vielleicht haben das doch die beiden Mädchen da mitgenommen … aber es kann ihnen doch nichts nützen! Doch hierin befand sich der Kolporteur in einem schweren Irrtum. Denn wenn er in der nächsten Woche nach der Schwerinstraße gekommen wäre, so hätte er sehen können – aber er kam gar nicht in diese Gegend, eher erging er sich auf dem anderen Pol der Weltkugel Berlin –, daß Haus bei Haus die Mädchen nachmittags, denn früher standen sie kaum auf, in Nachtjacken und blauen Filzschloppen bei den Wirtinnen in den Küchen saßen und mit echtem Rot auf den abgeschminkten Backen und warmen Gefühlen in den verlogenen Augen ihre unfrisierten Köpfe in die Packpapierseiten der »Verstoßenen Gräfin« hinabsenkten. Denn das erste graue Heft war ja besonders dick und sehr spannend. Ja, drei von diesen vierzig, die es lasen – denn es lasen da, wo die Mädchen zusammen wohnten, ja auch zwei auf einmal –, bestellten sogar aus eigenem Antrieb bei Schultzes Großbuchhandlung die Fortsetzung, was, solange Schultze bestand, noch nie passiert war.
Dann muß man eben auf die Polizei jehn, den Verlust anmelden, oder aufs Fundbüro ... Aber innerlich wußte er schon, daß das nur eine überflüssige Lauferei und Schreiberei wäre. Doch er ahnte innerlich durchaus noch nicht, daß er eigentlich nicht mehr in die Verlegenheit kommen würde, die Wachstuchmappe je wieder zu brauchen.
Na, wat nu? sagte sich der Kolporteur. Wenn ich nu hier rumstehe, dadavon krieg' ick ja meine Mappe doch nich wieder ... Ärjerlich is ja so was doch, und ihm war jämmerlich flau um den Magen wieder, als er herüber nach der Friedrichstraße ging. Wenn ick nu sage, daß ick de Tasche verloren habe, des jlauben die mir ja doch nich, die Schultzes, des sind zu raffinierte Kröten, die Jungs, die denken da alle immer, jeder is ebenso ausjekocht, wie sie sind!
Er stand schon eine ganze Weile vor dem Laden, ohne zu sehen, was da drin eigentlich war. Nur sich selbst sah er und seine Rose, die sich da in der blanken Spiegelscheibe da spiegelte. Richtig: »Versuchen Sie Ihr Glück« stand über den Lotterielosen dort, die an die Scheibe mit Mundoblate gepappt waren – konzessionierte Pferdelotterie, Hauptgewinn eine Equipage und zwei ungarische Jucker oder zehntausend Mark in bar ... Na, die werde ich mir denn auszahlen lassen. Ob se hier die »weißen Elefanten« ohne Mundstück haben? Aber in sone feine Jejend werden se die janich führen. Da rauchen se nur Queen, wie der mit den grauen Judenhelm. In de Stallschreiberstraße is 'n Laden, da habe ick sogar fünfundzwanzig zu fuffzehn jesehn. Ick wer' mir doch lieber an de Ecke bei »Loeser und Wolff« eine »Mühle mittel« kaufen, da hat man vor sechs Pfennige mehr, als wenn man da zehn Stück nacheinander 'runterraucht. Wenn een' ein bißken um den Magen is, denn is aber ein Glimmstengel doch besser. Eine Zigarre macht satt, und von des Endeken Papier, da is man nachher nur noch hungriger als vorher. Und an 'ne Zigarre hat man auch länger.
Merkwürdig, wie der Kolporteur aus dem Eckladen kam und wie er auf die Linden hinaustrat, mit der Linken sein blaues Jackett abklopfte und mit der Rechten mit abgespreiztem kleinem Finger die Zigarre an den Mund hielt, sehr langsam und behaglich an seiner Zigarre saugend – man sah ihm an, daß er möglichst lange damit haushalten wollte –, sahen ihm die lange Friedrichstraße mit den Ketten von schweren, dichtbesetzten Omnibussen, vor denen die Gäule in den Sielen lagen (jeder selbst ein kleiner Omnibus schwer), mit den Kutschern in ihren Pelerinen – wozu eigentlich jetzt: Man konnte einen Bären braten! –, die noch in einem Vorbau am Wagen wie in einem Erker saßen oder die ganz da oben, noch höher als die beiden Reihen von Fahrgästen, auf dem Verdeck thronten, neben ihren wippenden Peitschen mit der langen Schnur, die nie anders als zum Knallen zu brauchen ihr Stolz war ... sahen ihm also Friedrichstraße und Linden mit Menschenreihen und Wagenreihen und Baumreihen, mit dem Tor da weit hinten und dem Alten Fritz da in der Mitte drüben, mit dem Zeughaus und der Oper, die sich in die weiten Plätze da vorschoben, doch schon ganz anders wieder aus. Denn solch eine Zigarre ist ein Narkotikum, das nicht nur dem Menschen, auch den Dingen und Sorgen ihre Schwere nimmt und einem es erleichtert, die Sorgen wegzudenken. Und was man wegdenkt, ist nicht vorhanden.
Und wenn es auch keine Havanna nach dem Diner bei Dressel dahinten war, sondern nur ein ziemlich dürftiges Kraut, das grade so als Alltagszigarre noch hinging, so ersetzte sie doch dem Exkolporteur beinahe das Diner bei Dressel und ließ ihn außerdem eine tiefe Ungesichertheit, seine Aussichtslosigkeit und seine Sorgen um Schlafgeld und um die Mappe vergessen und all seine hundertmal aufgebürstete Kümmerlichkeit.
Denn eigentlich war er ja doch ... er sah sich wieder in einer Spiegelscheibe, zart hingewischt über große gelbe Lederkoffer mit Messingschlössern, die zu babylonischen Türmen aufeinandergetürmt waren, sah sich zwischen roten, grünen und lackschwarzen Ledertaschen mit breiten Silberbügeln, und das Röschen im Knopfloch lachte ihn an ... denn endlich und eigentlich war er doch 'n janz hübscher Kerl. Figur hatte er. Und jesund war er auch. Und das Leben rollte in ihm. Und Leben an sich, wenn es so richtig in einem rollt und pocht, ist ja doch eine hübsche Sache in sich. Ob es da einem gut oder schlecht geht, selbst wenn man ein bißchen mal hungert, ist gar nicht so wichtig, solange man eben gesund und jung ist. Wenn man aber nicht mehr jung und nicht mehr gesund ist, dann is wieder auch nicht mal so wichtig, ob es einem gut geht oder ob man satt ist. Es ist im besten Fall nicht mehr als eine »Mühle mittel« für sechs Pfennige das Stück: ein kleines Narkotikum für 'ne halbe Stunde. Und man kann nachher nicht mal eine andere anstecken, denn man kriegt das Kraut verflucht schnell über. Ja, und daß Emil Lehmann seine Wachstuchtasche losgeworden war, war ihm eigentlich nicht unangenehm mehr. Er hatte sie immer schleppen müssen, er konnte sich gar nicht mehr ohne den ollen Klumpen unterm Arm denken, er hatte sich zwar dran gewöhnt, aber sie hinderte doch. Und nu hatte er plötzlich beide Arme frei, da ging sich's viel leichter, man taktierte so gut dabei. Einen Stock hätte er haben müssen, so'n richtiges braunes Rohr mit 'n Elfenbeinknopf, wie der Patentfatzke mit 'n Judenhelm in dem Schwalbenschwanz da vorhin unter den Arm geklemmt hatte, des war natürlich noch vornehmer jewesen!
Was blieb ihm denn übrig? Nun würde er so peu à peu zu seiner Schlafmutter, die Radowskin, jehn und ihr ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht vorpeesen – und wenn sie ihn 'rausschmisse? Nu schön: dann würde er eben im Humboldthain auf einer Banke pennen. Da schlafen noch mehr. Und das übelste is es da auch nich. Oder irgendwo draußen, wo sie neue Straßen machen, in de Kanalisationsröhre. Das is nicht das schlechteste. Da stören sie einen nich. Oder auf 'n Heukahn, wie die Spitzmaus – ein wirklich und wahrhaftig ungemein ulkiger Mann: den jeht der Mund wie'n Entenstietz – im Humboldthafen sich zur Ruhe betten. Aber des hat Emil Lehmann doch noch janich nötig. Er würde dann eben in de Palme jehn.
Und die Radowski – die is ja auch janich so. Denn wer' ich ihr, damit se meinen juten Willen sieht, zwei Mark jeben. Denn behalte ick immer noch – er kramte seinen Geldbeutel aus der Tasche im Gehen – eensachtunddreißig, un dafür kann man drei Tage janz jut in de Volksküche jehn.
Aber wirklich ein schöner Tag heute. Sonst wäre er noch Kunden anwerben gegangen. Sonnabend nachmittag is manchmal nich schlecht. Da haben die Männer die Löhnung nach Hause gebracht – wenn se se nich versoffen haben! –, und da leistet sich sone Frau eher 'ne »Verstoßene Jräfin«. Aber er hatte ja nich mal eine einzije mehr, um sie vorzuweisen. Geschweige denn, sie auf Probe dazulassen. Ach wat, futsch is futsch und hin is hin.
Was da oben für nette Federwölkchen sind über 'n Zeughaus. Lauter so kleine weiße Federchen ... Grade wie die Boa bei der eleganten Dame da vorhin. Nur, daß die blau war und ihr Hals weiß. Und da ist der Himmel blau, und die Federn sind weiß ... Ja, ja, ich werde der Radowski zuerst die Geschichte mit der Mappe vorerzählen. Ich glaube, das ist das beste. Wenn ick ihr das rührend, wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, ausmale – so was zieht bei den Frauen immer ...
Wie nett das so alles ist, wenn man sich das so in Ruhe ankiekt – mit den Rossebändigern da oben auf dem Dach ... Wie sind die Pferde da heraufgekommen? Schade, daß man so selten die Zeit für so was hat, sagte er sich und strich seine Zigarrenasche am Geländer ab und verfolgte, wie sie ins Wasser fiel und dort mit einem kleinen Klick versank. Vorm Schloßbrunnen blieb er wieder stehen, der Kolporteur, und guckte sich das interessiert an, wie das Wasser ... wie das Wasser rauschte und durcheinanderspritzte und in dem Becken aufplanschte, daß es kleine Privatregenbogen gab, und wie die Bronzejungs da in dem Strudel, so glitschig und naß wie die Kaulquappen, die Felsblöcke herunterrutschten. Das heißt, sie taten nur so. Eigentlich kamen sie ja nicht von der Stelle. Und die vier großen Frauenzimmer, die da so auf dem Brunnenrand saßen, hatten schöne lange Beine, wie die Heuschrecken ... wenn auch nicht so dünn ... Nee, also einfach zum Reinkneifen ... Des war mindestens vier Wochen her, damals im Humboldthain. Und das war eijentlich auch nischt jewesen. Er war janich ein zweites Mal hinjejangen. Vielleicht wartet se noch da am Querweg seit den Donnerstag um halb zehne uff ihn. Ja, wat sollte ein junger Mann da tun? Un die Radowski, die würde einen schön 'raussetzen, wenn er da plötzlich mit eene angezogen käme ... Und des Abends is er auch immer müde von't Laufen, den janzen Tag. Und zu so eene jeht er nich jerne. Außerdem kostet des Jeld. Und des hat man nicht.
Dem ollen Kurfürsten saß ein Spatz uff 'n Kopp, aber das störte ihm nicht; keine Miene verzog er in seinem starken und herrischen Gesicht unter der Allongeperücke.
Ja, nun war det Nette wieder vorbei. Wie die blauen Rauchwölkchen verflogen. Aufgeraucht wie die »Mühle mittel«, die nun wie ein armseliges Stummelchen zwischen seinen Lippen hing und, wie so billige Zigarren dann oft, schiefgebrannt kohlte und braune Nikotintröpfchen schwitzte, die auf der Zunge und den Lippen bissen.
Das ganze Leben mit seiner Armseligkeit quirlte hier wieder durcheinander in der Poststraße. Hausdiener mit ihren Schiebkarren und mit Türmen und Pyramiden aus Kartons und Stoffballen, die trotz der Stricke, mit denen sie umwunden waren, bedenklich schwankten ... Hausdiener mit angespannten Muskeln und geblähten Hälsen, in denen die blauen Adern jeden Augenblick vor Anstrengung zu platzen drohten ... die ihre Schiebkarren durch das Gewühl von Rollwagen, Geschäftsrädern und Droschken mühselig weiterpreßten. Und dazu auf dem schmalen Steig all die vielen Leute, die sich stießen, um weiterzukommen ... Der Geruch, der aus jedem Keller und jedem Laden ein anderer war. Die tausend Dinge in den Schaufenstern, die laut schrien, man solle sie kaufen, denn sie wären billig, billig, billig! Hemden und Anzüge und Wringmaschinen und Federhalter. Aluminiumgeschirr und Schlipse und Hüte mit Straußenfedern und Rosensträußen, groß wie Wagenräder. Und Gesundheitskorsetts und Briefmarken ... Kaufe ganze Sammlungen (wenn er seine Markensammlung noch hätte!) und Schlafzimmereinrichtungen schon von vierhundertneunundneunzig Mark an ... sogar mit 'nem geschnitzten Schrank und »Rösickes geräuschlosen Patentmatratzen«. Und links um die Ecke der Musikautomat dazu aus der Kaschemme ... »Zehn Pfennig de Molle.« Aber so'n Schlafzimmer und so'n Bett, des wär' schon was! Für 'n Menschen, der Jeld hat, ist det janich ville! Vierhundertneunundneunzig Mark! Det is noch nich mal een halber brauner Lappen.
Vielleicht, daß der Kolporteur, wie das so kommt, wenn man etwas durcheinander ist, das letzte halblaut vor sich hin gesprochen hatte. Vielleicht sogar, daß das Mädchen auch, das neben ihm stand, seine Gedanken erraten hatte, denn sie hatte, ebenso wie er, mit sehnsüchtigen Blicken das zweischläfrige Bett mit »Rösickes geräuschloser Patentmatratze« gestreichelt. Ihr wenigstens schien es der Inbegriff von allem Luxus samt dem kleinen, niedrigen Nachttisch mit der Messinglampe darauf, die sie noch eigens bewundert hatte, weil daran stand, daß die Nachttischlampe Originalentwurf des Professors Edgar Eduard Schultze wäre. (Was aber nicht daran stand, war, daß sie deshalb umfiel, sowie man sie zu berühren wagte, ja eigentlich schon, sobald man sie nur schief ansah, aus dem Gleichgewicht kam; oder wenn man die Schranktür öffnete. Und daß sie außerdem, wie ein Zitterroche, elektrische Schläge austeilte, wenn man etwa wagte, sie an- oder auszuknipsen.) Ja, und erst das veilchenblaue Waschgeschirr da auf dem niedrigen Waschtisch mit dem Glasverschlag um sich, das war gleichfalls dem Schöpfergeist des Professors Edgar Eduard Schultze entsprungen. Was aber nicht darauf stand, war, daß es einem wie ein Aal aus den Händen rutschte, sowie man auf den schnurrigen Einfall kam, es etwa nicht als Zierat zu betrachten, sondern es dazu zu benutzen, damit Wasser einzugießen. Aber – es war jedenfalls sehr vornehm!
Das junge Mädchen – das heißt, sie war dreiundzwanzig: das ist jung, wenn man fünfzig ist, und alt, wenn man siebzehn ist – hatte schon manchmal so etwas Ähnliches gesehen. Denn sie war in den letzten Jahren viel herumgekommen und kannte die Einrichtungen der Schlafzimmer von Leuten der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten – von knarrenden Kienbettstellen in kahlen Buden bis zu solchen, die ganz allein und frei auf schwarzen Tapeten wie große Sarkophage in Erbbegräbnissen standen und außerdem noch von feierlichen Kandelabern flankiert waren. Aber daß der Traum, daß sie selbst einmal so etwas haben und ihr eigen nennen würde, je Wirklichkeit werden könnte, war ihr doch mehr als ungewiß.
Gebrauchen hätte sie es können. Und berufliche Vorteile hätte sie schon davon gehabt ... aber selbst wenn auch daran stand in großen Lettern quer über die ganze Spiegelscheibe weg: »Auf Wunsch in Monatsraten« – was nutzte das? Nachher, wenn man nicht zahlte, kamen sie doch und holten es wieder ab. Und vierhundertneunundneunzig is doch ne Masse, wenn man auch einiges gespart hat. Da ist Braunfisch preiswerter! Und außerdem kosteten die Lampe und die Gardinen und das Waschservice extra. Das is nicht mit inbegriffen. Und wenn das noch von'n Professor is, schon janich. Nee, beinahe fünf blaue Lappen waren 'ne Stange Jold. Und so faßte die junge Dame ihre ganze Erkenntnis in janze drei Worte zusammen, die sie halblaut, aber nur für den Nachbar vernehmbar, vor sich hin sprach: »Scheen, aber teuer!«
»Ja«, sagte der Kolporteur, und ihn verließ ganz seine Rednergabe, »da mögen Sie ja recht haben, Frollein; billig is' nich!«
Aber danach dachte er wieder, daß er das letzte eigentlich nicht hätte sagen sollen, denn wer so'n russengrünes Tuchkostüm anhat, mit 'n Faltenrock mit Krimmerborde, und so'n Hut mit 'ne kleene ametystblaue Pleureuse, für die is des vielleicht noch jarnich sone unerschwingliche Menge Jeld. Und daß die junge Dame so mit ihm sich in ein Gespräch einließ, war doch eijentlich nett von ihr und jarnich stolz. Na ja, 'ne richtige Dame war es ja nich, wie die vorhin mit de blaue Schwanenboa. Vielleicht 'ne bessere Haustochter oder 'ne Buchhalterin, die Ferien machte. Und selbst wenn se Bekanntschaften sucht, denn jeht se doch mehr aufs Äußere. Und so besonders machte er sich doch wirklich nicht mit seinem abgeschabten Cheviotanzug, der ganz blank war, und seinem verbogenen Strohhut und seinen gelben Schuhen, bei denen immer wieder die dunklen Streifen durchkamen. So eine hat für so was einen Blick. Die spricht keinen an, der aussieht wie er. Geld konnte sie bei ihm wirklich nicht vermuten. Hübsch, sehr hübsch, wunderhübsch war sie schon, und se lachte so nett in de Augen und in de Mundwinkel. Groß war se und schlank und hatte dabei einen kleinen, runden Kopp und 'ne ganz hohe Stirn und braune Augen, die in sehr viel ganz bläulichem Weiß schwammen ... Sone Backen zum Streicheln ... und Nasenflügel, die immer zitterten, so als ob sie sich heimlich über einen lustig machten ... 'ne Masse Haare! 'ne Unmasse! Leicht bronzefarben und goldig durchspielt. (Nicht das Mädchen mit dem Goldhelm, sondern eine mit dem Bronzehelm von Capua).
Der Kolporteur war jetzt trotz hoher Bildung und Rednergabe (denn endlich suchte die Großbuchhandlung stets Herren mit Bildung und Rednergabe!) ziemlich unglücklich, denn er liebte es, bei Frauen Eindruck zu schinden und nicht heruntergekommen auszusehen. Wenn man das einmal war, war da nichts mehr zu machen. Und die Rose in der Rockklappe alleine riß ihn wirklich nicht 'raus ... Das war ihm in diesem Augenblick zerschmetternd deutlich. Wie sah er denn neben so'n feines Mädchen aus!
Ja, das haben eben Frauen vor Männern voraus: Eine Frau hätte sofort erkannt, daß das noch ein Kostüm von 1901 war und daß es mühselig und von nicht geschickter Hand modernisiert war. Daß die Nähte hell geworden waren und der weiße Krimmer grau und abgescheuert war. Und daß unten, um es zu verlängern, ein Streifen angesetzt war von ähnlichem Stoff. Und daß das Ganze bei der Änderung verschnitten war und keineswegs tadellos im Rücken saß ... und unmöglich gewesen wäre, wenn nicht darunter solch eine herrliche Figur gesessen hätte. Solch ein ungewöhnliches, großes und wohlgebautes und schlankgliederiges Wesen, das noch in einer alten, geflickten Küchenschürze wie eine Quellnymphe von Goujon aussah. Und eine Frau hätte auch gleich gesehen, daß die Pleureuse keine richtige war, sondern eine geklebte und aus allerhand ungleichen Abfällen bei der Fabrikation um einen Gänsekiel zusammengeleimt war und nicht den wahren Fall und edlen Schwung hatte. Aber ein Mann sieht so was nicht. Für den ist eine Pleureuse 'ne Pleureuse.
Was aber selbst eine Frau nicht gesehen, gleich gesehen hätte, war, daß das Kleid aus der Pfandkammer in der Kommandantenstraße alt gekauft war und daß die Polenliese es sich ganz alleine auf der Maschine der Wirtin geändert hatte. Es hatte in seinem Vorleben mal einer Choristin aus dem Wintergarten gehört und viele Kavaliere gesehen und viele Sektflecken bekommen. Aber die ersten waren längst verweht, und die andern hatte die Polenliese mit Spektrol ganz gut herausgebracht, soweit sie nicht wieder hervorkamen. Nebenbei war es ihr Staatskleid. Und sie trug es nicht für alle Tage. Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben, für alle Abende. Es hätte ihr auch dort, wo sie umherstrich, und das war weit jenseits des Alexanderplatzes, eher geschadet denn genützt. Dann hätte sich keiner 'rangetraut.
Nein, das Russenkostüm trug sie eigentlich nur, wenn sie, und das war zweimal die Woche, tanzen ging. Und wenn sie einmal für sich spazierenging. Und darin war sie komisch: Wenn sie tanzen ging, wollte sie tanzen und keine Herrenbekanntschaften machen, tanzte auch lieber mit anderen Mädchen als mit Herren, die sie zum Schluß immer versetzte. Was brauchten die zu wissen, wer sie war und was sie war. Und wenn sie spazierenging, wollte sie mal auch spazierengehen und sich nicht ansprechen lassen. Dann war sie ganz und gar Privatperson und wollte, wie so'n Anwalt und wie solch Kaufmann oder Arzt, weder etwas von Geschäften hören oder von den Klienten sehn, noch von den Patienten sich etwas vorjammern lassen.
Eigentlich war sie nicht nur ein ungewöhnlich schöner, sondern auch ein lieber, weicher und anständiger Mensch und im Kern durchaus bürgerlich, trotzdem sie, das hatte die Großstadt so gemacht, eben das war, was sie war. Wie ja jeder Beruf und jedes Gewerbe Menschen aller Anlagen und Abschattierungen umfaßt – anständige und unanständige, gemeine, rohe und feine, edle und hinterlistige, fröhliche und traurige, schwache und starke und solche, ja am meisten solche, die weder das eine noch das andere sind, sondern nur das, was man gerade von ihnen verlangt – und in sich aufnimmt. Und es vielfach nur ein Zufall ist, welchen Beruf einer oder eine ausübt. Und sie tat eben, was sie tun mußte, um zu leben. Aber sonst war sie ein sehr netter und anständiger Mensch und eine »anima candida«, die von nichts Bösem wußte. Fröhlich, mit einem melancholischen Unterton, der wohl von der Mutter kam, die noch polnisch gesprochen hatte und der bei ihr nur so in einem leichten, melodischen Sprachklang und einem Zungen-R sich bewahrt hatte, während von der eigentlichen »langue maternelle« nicht drei Worte mehr geblieben waren. Und ehe sie sich versahen, waren sie so'n paar Schritte nebeneinanderher gegangen – eigentlich hatte keiner von ihnen gesprochen! –, und sie waren an einem andern Schaufenster stehengeblieben.
»Die Toilette da mit de Zierknöpfe und de Mittelfalte ... die mit de Glockenärmel, meine ich, sieht einfach und gediegen aus. Aber von de Stange koofe ich mir das nicht. Det is allens mit 'ne hastige Nadel jenäht – un wie soll denn des anders sein? Wat zahlt man denn die Leute ooch dafor! Aber de Hauptsache sind immer noch die Jupons«, sagte sie ernst und sachlich, wie Frauen immer sind, wenn es sich um Kleider handelt. »Ick mach' mir jetzt 'nen Unterrock aus ponceauroten Linon.«
»Wo jehn Se'n hin, Frolleinchen?« sagte der Kolporteur.
Die Dame in Russengrün spannte den kleinen grünen Sonnenschirm mit den Spitzenvolants auf, weil sie jetzt in eine Sonnenbrücke gekommen waren, die quer über die Straße sich legte, und sie blinzelte aus den Schattenmustern, die über ihr weiches Gesicht spielten, den Kolporteur lustig an.
Der Sonnenschirm hatte in Quabbes Modejournal gestanden – aber damit ging es schon gar nicht mehr, damit war noch weniger zu machen gewesen wie mit dem Gesundheitstee und der »Verstoßenen Gräfin« –, der Sonnenschirm ist eene janz besonders wichtige Erjänzung der eleganten weiblichen Erscheinung, die wirksamste Folie für die Reize des Frauenantlitzes, und seine Handhabung muß gründlich studiert werden.
Aber sie hatte das gar nicht gründlich studiert. Sie konnte so was. Es lag ihr im Blut.
»Wo jehn Se denn hin, Frollein?« sagte er kleinlaut.
»So fragt man Leute aus«, meinte die junge Dame im Russenkostüm und lachte sehr freundlich und gar nicht ungehalten. »Spazieren jeh ick. Das heißt, eigentlich habe ick nischt vor. Auf 'n Abend muß ick zu Hause sein.«
»Sie haben wohl Ferien?« sagte der Kolporteur und sah an sich herunter, ob er mit einer so gut angezogenen Dame sich auch zeigen könnte.
»Ja«, sagte die Dame. »Das heißt, ich mache blau, wenn ick will.«
»Ach Jott«, sagte der Kolporteur. »Bei der janzen Lauferei«, und er wiederholte nur einen Gedanken von vorhin, »kommt ja nichts 'raus. Am liebsten jinge ich heute ooch spazieren ... denn können wir doch gleich zusammen jehn ... bei mir ist auch jleich, wenn ick nach Hause komm. Bei mir wartet keiner.« Das war nun nicht ganz wahr, die Radowskin wartete auf ihn. Denn sie brauchte den Schlummerkies. Sie mußte auch beim Bäcker und beim Kaufmann noch bezahlen. Der pumpte wohl mal 'ne alte Kundin 'ne Woche, aber nicht länger.
»Na ja«, sagt die Dame in Russengrün und sieht unter dem Spitzenrand – es waren ja nur Annaberger, aber es sah doch bei ihr aus, als ob es echte Brüsseler wären – zu dem Kolporteur hin, warm und treuherzig und sehr freundlich. »Aber erst möchte ich was essen jehn.«
Ja, das mochte der Kolporteur auch. Gegen den Wunsch hatte er gar nichts. Nur gegen die Ausführung ...
»Na ja«, sagte er leise, er war doch sonst so redegewandt, »denn komme ich noch ein Stückchen mit. Ich bin schon nach dem Essen.«
(Du kannst ja immer noch dich englisch nachher empfehlen, Emil, dachte er.)
»Na, dann essen Se eben noch mal mit zur Jesellschaft, 'nen bißchen was mit«, sagte sie ohne jede Ziererei. Denn erstens hatte sie siebenunddreißig Mark im Pompadour: ein Goldstück und fünf Taler und ein Zweimarkstück (ohne das Kleingeld). Der Olle war gestern dagewesen, der immer davon redet, daß er sie heiraten wollte. Er hat jetzt geerbt. Von 'n Bruder aus Lübbenau, der 'ne Großhandlung in sauren Gurken hatte ... Zwei Stunden hat er von nichts anders gered't. Denn solch alter Mann bleibt zum Schluß ja doch innerlich sehr einsam und sehr arm, selbst wenn er eben einen gutgehenden Großhandel in Essiggurken geerbt hat. Drei Tassen Kaffee hat er getrunken, und denn hat er ein Goldstück auf die Kommode gelegt und is so wieder gegangen. Wirklich ein netter oller Mann, und ein lieber oller Mann ... Er konnte gewiß von ihr haben, was er wollte und wenn er es wollte ... Aber, daß se deshalb ihre janze Jugend ihm verkaufen sollte, des konnte er doch wirklich und wahrhaftig nicht von ihr verlangen. Und zweitens gefiel ihr der Mann da, der Kolporteur, ganz gut. So stille Männer hatte sie gern. Hübsche Augen hatte er, und gut gewachsen war er auch. Darauf, wie ein Mann gewachsen war, verstand sie sich ... Und gerade, daß er von ihr nichts wollte und sie von ihm nichts wollte, das war grade sehr nett. Männer, die immer gleich von ihr was wollten, gab's genug. Und vor denen hatte sie einen Horror. Und Hunger hatte er, das sah man ihm an ... Und so den janzen Nachmittag alleine 'rumrennen ... vielleicht findet man zwar einen, der mit einem zu Gumpert geht ... das wird eenen auf die Dauer auch zu langweilig.
Die Königstraße war ganz mit Menschen und Licht und Lärm gefüllt, und man wußte wirklich nicht, was es mehr von den dreien gab ... Komisch: die Leipziger und die Friedrichstraße können viel voller sein, aber sie sind nie so laut ... Die Häuser schienen ordentlich von Lärm zu schüttern, und die breiten, goldenen Firmenschilder über die ganzen verstaubten Fronten fort, über Fenster hin und Stuckpuppen auf den Dächern, zitterten ordentlich mit im Lärm hier ... Die ziegelrote Front des Rathauses war ganz in Lärm gebadet, und nur der viereckige Uhrturm hob sich überlegen in Ruhe und Bläue hinauf. Hinten jagte die Stadtbahn über den Viadukt, und da ein Zug dem andern folgte, dachte man immer wieder, es sei der gleiche. Und die Kolonnaden zauberten davor eine fremde Lieblichkeit von einst mit ihren Säulen, Putten und Bögen und Bekrönungen in die staubige, lärmende und wirbelnde Wirklichkeit von heute. Deshalb sollten sie auch wegkommen, hieß es. Weil sie den Verkehr störten.
»Hier in die Jejend«, sagt der Kolporteur, »bin ich mal vor fünf Jahren als Rechercheur in de Volkszählung jegangen, und da drüben an de Ecke, unter den Kolonnaden, habe ich mit Hampelmänner gestanden.« (O weh, das hätte ich nicht sagen sollen. Na Jott, for'n Jrafen wird sie mir ja auch nich gehalten haben. Da weiß se eben gleich, woran se is.)
Die im Russenkostüm lächelt wieder in den Augenwinkeln und machte sich um den Nasenflügel über ihn lustig ... Wenn man der die blaue Schwanenboa ummachte da, dann wäre sie mindestens so schön wie die da in de Equipage.
Aber sie lächelte nur unter dem Sonnenschirm »Na, da können wir uns vielleicht gesehen haben«, sagte sie. »Wenn ich vorbeiging«, setzte sie hinzu.
»Da drüben, wo jetzt Tietz is, war der ›Kaiser Alexander‹. Da war 'n Nußbaum auf 'n Hof. Da gab's Nüsse«, sagte der Kolporteur. »Ick kannte den Portiersjungen, daher weeß ick det.«
Unter der Stadtbahn brauste der Lärm auf wie ein Strudel. Das heißt, jeder Laut drehte sich zehnmal um sich selbst, ehe er das Freie fand, und die Stadtbahn donnerte von oben in alles noch hinein. Die Wagen ballten sich hier, die von allen Seiten kamen, und fanden nicht recht wieder auseinander. Aber dann zog nach einigen bangen Sekunden doch jeder wieder seinen eigenen Weg weiter ... Fern hinten stand gegen die Sonne die mächtige Berolina mit lichtumzogener Kontur auf ihrem Granitsockel und schien alles hier – mit weit ausladender Handbewegung und den gleichen ehernen Zügen wie ein weiblicher Verkehrsschutzmann – alles hier zu dirigieren ... Eine rote, unheimliche Backsteinburg lag drüben – das gewaltige Polizeigebäude, eine steinerne Drohung an alles, was hier durcheinanderwimmelte und aus den Kneipen um die Markthalle schlich.
Ein Mann sah das Mädchen unauffällig und scharf dabei an ... Es war ein gleichgültiger Mann mit einem Stock mit einem Elfenbeinknopf. Es war ein sehr treuherziger und unauffälliger Mann, nur mit ein wenig stechenden Augen ... Man konnte ihn für einen Provinzler halten, der eben, so erstaunt tat er, angekommen war ... Er wollte gar nicht von den Menschen beachtet werden, ihm genügte es durchaus, wenn er auf die Menschen achtete. Er nickte dem Mädchen zu und sah dem Kolporteur interessiert sogar nach. Und sie nickte ihm ebenso unauffällig zu und ging plötzlich etwas schneller ... Endlich hatte sie doch noch nie mit de Sitte was gehabt, und Baumüller war ein anständiger und gerechter Mann, und wenn eine nich grade randalierte, tat er so'n armes Mädchen ja nichts. Aber jedenfalls war dicke Luft ... Hier auf de Straße konnte sie nicht länger bleiben.
»Also kommen Se weiter«, sagte sie, plötzlich ganz außer Atem, »jehn wir zu Aschingern 'rein«, und sie klappte ihren Sonnenschirm zu und warf den Kopf zurück und marschierte mitten durch die Wagen und die Straßenbahnen vor ihm, als ob sie nicht schnell genug auf die breite Glastüre da drüben gelangen könnte, die sich ständig schwang und Menschen ausspie und einschluckte.
Wie sie aber dann saßen ... Es waren viele Spiegel da und Lärm und Biergeruch, Schenkkellner in weißen Jacken und solche hinter den metallblitzenden Theken, auf denen rot und gelb und schwarz, mit Schinken und Krabben und Pumpernickel, und grün, mit Gurkenscheiben und Heringsstückchen (wie Blumen in Beeten), die belegten Knüppelchen gehäuft waren ... Mädchen schossen herum in blau und weiß gerauteten Leinenkleidern, die ständig Teller und Gläser und Messer und Gabeln, die ihren Zweck erfüllt hatten, von den Tischen wieder absammelten, um Platz für neue Teller und neue Gäste und neue Schoppen zu schaffen. Der Ventilator schnurrte dazu. Und wer nicht saß, der stand eben, und wer nicht stand, der ging eben. Und Leute dazu, die ganze Ketten von Bockwürsten und Salzkuchen mit Hügeln von italienischem Salat und Sülzkoteletts, Tartarbeefsteaks und Salzstangen, über die Lambrequins hauchdünne Käsescheiben hingen, in sich einschlangen, und andere, die Teller voller Erbsensuppe, auf denen Speckstücke schwammen, einfach weil es ihnen physikalisch unmöglich gewesen wäre, darin unterzutauchen, auslöffelten und dann die verklebten Schnurrbärte ganz tief in die Bierseidel senkten, ehe sie sie mit den Papierservietten wieder trockenrieben.
Gewiß: man konnte ja auch bestellen ... Aber man bediente sich auch lieber selbst, denn dann sparte man das Trinkgeld. Und wer nichts mehr hatte in seinem Geldbeutel, nun, der aß eben den Brotkorb langsam und nebenher im Gespräch leer und stippte die Stücken so ganz unauffällig dabei in den Klecks Mostrich, der von der Bockwurst und dem Kartoffelsalat her noch auf dem Rande geblieben war.
Rosenemil kannte das und hatte sich fest vorgenommen, ebenso zu machen ... Jedenfalls hatte er hier einen lauschigen Eckplatz, und den würde er halten eine Weile ... Eigentlich war das doch sehr gemütlich ... Nach so'n Tag Rumgelaufe ... wenn er – die Dame war noch einen Augenblick aufgestanden – eine Bockwurst sich drüben kaufte und dann Brötchen aß, so war das nicht zuviel ... Gott, und die Rosen von dem Kaiserin-Augusta-Denkmal hatte er ja noch in der Rocktasche! Die würde er nachher der Dame geben.
Aber da kam sie auch schon, hatte den Schirm unter den Arm geklemmt und balancierte in jeder Hand ... nich einen Finger hatte sie frei, denn an den beiden Zeigefingern hingen wie zwei Kuhglocken kleine runde Schnittgläser mit einem braunen schäumenden Bier ... in jeder Hand hatte sie außerdem je einen Teller mit Erbsensuppe und je einen mit einem rosigen Stück Karbonade. Und sie lächelte und blinzelte ihm zu. Wirklich, sie sah jetzt wunderhübsch, direkt zum Anbeißen sah se aus. Der Kolporteur kriegte keinen kleinen Schreck. Denn das konnte er wirklich nicht bezahlen. Doch im gleichen Augenblick sagte er sich, daß, wenn die da das anbrächte, es ja schon eigentlich bezahlt sein müßte ... Ja, und außerdem lag noch quer über den beiden Unterarmen der russengrünen Dame ein durchfettetes Paket, dem man der Form nach deutlich ansah, daß sein Inhalt in seinem Hauptbestandteil nur ein Napfkuchen aus der Konditoreiabteilung sein konnte. Wenn der es auch nicht allein war.
Also das war ihm nicht lieb. Das wünschte er nicht. Er ließ sich nicht gerne von einer Dame freihalten. Na ja, er müßte es ihr dann wiedergeben, wenn er was hätte.
»Na, jreifen Se ruhig zu«, sagte die Dame im russengrünen Tuchkostüm. »Mir hungert jedenfalls mächtig«, sagte sie.
»Ja, aber das kann ich doch nich«, stotterte der Kolporteur, »doch nich so einfach von Ihnen so annehmen. Das jeht doch nich, meine Dame.«
»Ach Jott, zieren Se sich doch nich«, sagte die Russengrüne, nahm den Hut ab und schüttelte das Haar zurecht, »ich seh jern, wenn's 'nen andern schmeckt ... ein andermal zahlen Sie eben. Ich bin immer for getrennte Kassen.«
Das war nicht wahr. Sie war es durchaus nicht. Sie pflegte sonst ungern für sich und nie für andere zu zahlen. Aber der Mann gefiel ihr nun mal ... wenigstens für heute nachmittag. Und deshalb machte es ihr gerade unbändigen Spaß, für 'n andern zu zahlen. Das jab so'n freies Gefühl. Und er war ein armer Deibel, das sah man ja. Aber wenn man ihn sich so richtig und schick eingekleidet vorstellen wollte ... also da konnte er eenen wirklich gefallen.
Dem Kolporteur war es immer noch nicht klar, wen er eigentlich vor sich hatte ... Wie die aß, so ganz von oben herab mit de spitze Jabel, und jedes Häppchen einzeln zum Munde führte und nich mal in de Sauce stippte, das tut eijentlich nur 'ne Dame, sagte er sich. Und an dem Bier, da nippte sie so in janz kleinen Zügen und blies mit spitzem Mündchen erst den Schaum weg. »Ich heiße nebenbei Lissi Morgen. Aber sagen Se nich ›schöner Morgen heute abend‹. Das hör' ich alle Tage, Se können ruhig Frollein Lissi sagen.«
»Und ich«, sagte der Kolporteur, »heiße nebenbei Emil Lehmann. Aber sagen Se nich ›Lehmanns Kutscher‹. Des hör' ich alle Tage.«
»Da hat sich Ihr Vater aber 'nen seltenen Namen ausgesucht«, sagte die Russengrüne.
»Nee«, sagte der Kolporteur, »des war meine Mutter.«
Die Russengrüne legte ihm ihre behandschuhte Linke auf die seine. Es waren Filethandschuhe, und er spürte jede Masche.
»Des soll ja in den besten Familien vorkommen«, sagte sie freundlich und sachlich. »Ja«, sagte die Russengrüne, »heute machen wir uns einen freien Nachmittag.«
Also, der Kolporteur brauchte gar nichts zu sagen. Das Reden hatte sie übernommen.
»Wo woll'n wir hin? Wir könnten einfach zu Translateur in de Alexanderstraße gehen. Oder in de Prachtsäle zu'n Liliputzirkus in de Nachmittagsvorstellung ...«
»In de Chausseestraße is ne Abnormitätenausstellung«, sagte der Kolporteur.
»Ach nee ... nur ... nur nich, ick bin so jraulich«, sagte die Russengrüne.
»In de Urania jeben se ›Im Bannkreis der Jungfrau‹.«
»Da sind Se doch schon«, meinte die Russengrüne. »Aber woll'n wir ins Kaiserkino gehn, da geben se jetzt gleich zwei Schlager auf einmal: ›Des jestohlene Herz‹ oder ›Vom Fabrikmädchen zur Jräfin‹.« (Des wird nach die »Verstoßene Gräfin« sein, dachte Rosenemil. Aber er sagte das nicht. Was ging das Fräulein Lissi an, was er sonst tat. Hier war er Kavalier.)
»Da im Kaiserkino is ein erstklassiger Erklärer. Neulich war ich da bei so'n Flim«, sie verbesserte sich und lachte, »so'n Film, der hieß ›Maria Stuart‹. Des war sehr sauber, wie er da sagte: ›Nu will Maria Leizester zur Liebe bewegen; aber Leizester hustet ihr was.‹«
So'n Film is auch ganz nett, dachte der Kolporteur. Laut aber sagte er: »Woll'n wir nich doch wo 'rausfahren? Ick bin seit Jahr und Tag nich mehr ...«
»Hier in die Gegend möchte ich aber nich bleiben«, sagte die Russengrüne. »Hier trifft man so leicht ...«, und sie dachte an Baumüller, »Bekannte.«
»Die Jagdgruppen am Großen Stern sind enthüllt, und in Tegel is des große Familienbad eröffnet«, sagte der Kolporteur.
»Des is 'ne Idee«, meinte die Russengrüne. »Jagen tu' ich nie. Aber baden manchmal.« Auf 'n Mund gefallen war sie nicht.
Des einzige is, daß man sich am Körper noch sauber hält, dachte der Kolporteur, laut aber sagte er: »Eijentlich bin ich seit een Jahr nich aus Berlin herausgekommen.« (Ob er ihr jetzt den Zweig mit Monatsrosen geben sollte, den er abgerissen hatte? Aber wie säh' denn das aus, wenn er jetzt plötzlich einen zerknautschten Rosenzweig aus de Rocktasche ziehen würde!)
»Ne Weile bin ich viel nach Friedenau gekommen, da war es auch janz schön grün in de Straßen. Aber wenn man die ganze Woche so herumrennt, denn will man wenigsten mal Sonntag seine Ruhe haben.«
Die Russengrüne lachte ihn an. Nun waren sie schon bald 'ne halbe Stunde zusammen, und der Mann hatte noch gar nichts von ihr gewünscht. Alle andern wollten ihr gleich mit Redensarten besoffen machen. »Wat sind Sie denn?« fragte sie.
»Ick bin Stadtreisender«, sagte der Kolporteur. »Ich kann auch Klavier spielen«, setzte er hinzu, als er sah, daß ihr das nicht imponierte. Denn er hatte gutes Gehör und klimperte, ohne es je gelernt zu haben, ja ohne eine Note zu kennen, alles auf solcher alten Drahtkommode sich allein zusammen, wenn er mal in einer Kneipe eine fand, Gassenhauer und was ihm gerade einfiel. »Aber damit is jetzt nischt zu machen. Da sind zu ville. Heute nehmen se nur eenen Klavierspieler, der auch vorträgt. Und dazu bin ich zu schüchtern. Und was sind Sie, Fräulein Lissi?«
Die Polenliese lachte ihn wieder aus dem Schlitz ihrer großen, geschweiften Augen an. »So fragt man Leute aus!« sagte sie. »Ick war mal 'ne Weile 'ne Hausangestellte und bei Kinder, aber dazu war ich nich kräftig genug.« Das war nicht richtig. Sie wäre gern geblieben. Aber der Kriminalschutzmann, der sich als ihr Onkel aus der Uckermark ausgab, hatte sich so geschickt nach ihr erkundigt, daß die Madame sie, »der Kinder wegen«, wie sie sagte (aber es war mehr ihres Mannes wegen, der, was man ihm, wenn man sie sah, nicht übelnehmen konnte, hinter jeder Schürze her war), daß de Madame sie also wieder an die Luft gesetzt hatte. »Und denn sollte ich auch mal Plättmädchen werden, aber dazu hab' ich mir nicht geeignet. Und denn sollte ich wegen meiner Figur ans Theater. Aber mir da nu jeden Abend vor alle Leute, die ick janich kenne, halbnackt hinstellen, des is mir zu jewöhnlich. Und denn bin ich 'ne Weile in 'ne Nähstube gegangen. Aber das ewige Sitzen, hat Dokter Levy gemeint, bekommt mir auch nicht. Ich war schon mit sechzehn Jahre so groß wie heute. Nu suche ich mir wieder was. Jemand, ein guter Bekannter, will mir als Probiermamsell anstellen. Größe sechsundvierzig, Gelbstern. Des wird jut bezahlt. Des brauchen se. Ich wohne ja bei meine Eltern.«
Also das letzte stimmte nun wirklich nicht. Von den Eltern war sie über drei Jahre fort. Aber sonst hatte die Russengrüne, außer daß sie sich was suchte, sich kaum etwas ausgedacht; wie sie das manchmal tat, wenn sie sich Vorteile davon versprach. Sie konnte sogar eine Pfarrerstochter aus Wensicke bei Prenzlau sein. Und sie konnte auf einem Schloß geboren sein, wenn die Leute durchaus darauf bestanden, so etwas hören zu wollen. Aber hier war ja das nicht nötig. Und da sie ein sehr schönes Menschenkind und ein sehr apartes Menschenkind mit ihrem feingeschnittenen Kopf einer Wüstenkatze und den braunen, gebänderten Achataugen war und den Männern ihre Schönheit tausend Dinge versprach, die ihr Geist nie halten konnte, so fanden sich immer wieder Studenten, Referendare, Kaufleute, ja selbst Primaner, die sie aus dem Sumpf, wie sie sagten, herausziehen wollten; ja sogar, die sich bereit fanden, wie der Bruder des verblichenen Gurkengroßhändlers aus Lübbenau, sie vom Fleck weg zu heiraten, ohne sich um ihr Vorleben zu kümmern. Der kleine Benjamin, der jetzt im Grauen Kloster ins Abitur steigen wollte, hatte ihr sogar schon zu diesem Behuf mit viel Schwung und rollenden R...s den ganzen »Gott und die Balustrade« oder wie das hieß vordeklamiert und sich als der Gott gefühlt, der »mit feurigen Armen verlorene Kinder« ... Also wirklich: sie brachten sich rein um um sie, die Kerle, wie sie gern sagte. Aber zum Schluß war die Russengrüne viel zu vernünftig, um ein Leben aufzugeben, bei dem sie sich durchaus nicht schlecht fühlte, und es gegen eines einzutauschen, von dem sie durchaus nicht vorher wissen konnte, wie es sich anlassen konnte. Und selbst wenn es sich gut anließ, wie es sich weiterentwickeln würde.
»Also wat sitzen wir hier noch? Jezahlt haben wir« (das war wirklich Pluralis majestatis), »gegessen haben wir ...« (Das war kein symbolischer Plural: der Kolporteur fühlte sich sehr satt und sehr wohl und war jetzt ganz auf die Gegenwart eingestellt. Er hatte alles weggedacht: die Mappe, das Schlafgeld, den schäbigen Cheviotanzug und die unergründliche Ebbe seines Geldbeutels.) »Heute machen wir mal blau, jetzt fahren wir 'raus ins Grüne. Nichwa?«
Und dabei setzte sich Fräulein Lissi, indem sie herüber nach dem Spiegel sah, der das Lokal ins Endlose verzerrte und vervielfältigte, vierzigmal zugleich ihre Kiepe mit der geleimten Pleureuse auf und nahm vierzigmal ihr Kuchenpaket, das in der Hitze des Lokals, trotz des schnurrenden Ventilators, immer stärker durchzufetten begann, wie ein Kind auf dem Arm.
Ein einbeiniger Blumenverkäufer mit dem Gesicht einer kranken Bulldogge (doch das war pathologisch bedingt), dessen Spezialität Pärchen waren (und er hatte dafür einen sechsten Sinn, ihnen anzuriechen, in welchem Grad der Verliebtheit sie sich befanden: die, die sich zu kurze Zeit kennen, kaufen nichts, und die sich zu lange schon kennen, erst recht nichts!), war durchs Gewühl herangehumpelt, daß der Stelzfuß mit dem Gummipfropfen aufs Pflaster patschte, drängte sich an sie und hielt ihnen seinen Strauß direkt unter die Nase.
»Schöne langstielige Rosen«, rief er mit einer Stimme, die aus einer verrosteten Dachrinne kam, »reizende Kinder Floras! Man een Fuffziger des janze Dutzend! Koofen Se doch eenen armen, kinderreichen Krüppel was ab!«
Wirklich, es waren nette Rosen, mattrötliche mit gelbem Schimmer oder mattgelbe mit rötlichem Schimmer. Sie hatten blanke, gezähnte Blätter, und sie sperrten wie junge, hungrige Vögel mit dicken Köpfen, die noch nicht fest auf ihren Hälsen sitzen, ihre Rosenschnäbel auf.
Und noch ehe die Russengrüne es verhindern konnte, denn sie hatte mit dem Sonnenschirmchen, mit dem Pompadour und dem Kuchenpaket keine Hand frei, hatte der Kolporteur – denn er liebte Blumen sehr, und außerdem spielte er gerne den Galanten – der kranken Bulldogge das Fünfgroschenstück, das er vorher zu seinem Staunen bei sich entdeckt hatte, zugeworfen mit einer Geste, als ob er so was beiläufig alle Tage tat, und den Strauß mit ausladender Bewegung, denn er war gern Kavalier, der Russengrünen auf das Kuchenpaket gelegt.
Der Russengrünen war es nicht ungewohnt, daß man ihr Blumen schenkte. Ja, es gab sogar Lokale, in denen sie von Blumenverkäufern Prozente bekam, wenn sie sich einen größeren Strauß als sonst aussuchte, aber das hier freute sie, freute sie aufrichtig, freute sie unbändig, machte sie einfach glücklich. Wie nett das von dem armen Deibel war. Sie lachte über das ganze Gesicht und steckte die Nase tief in den schlanken Busch da hinein, so daß sich die elastischen Stiele auseinanderbogen.
»Bleiben Sie mal eenen Augenblick hier stehen«, rief sie und lachte. Und dann tänzelte sie übern Damm in einen Laden hinein, aus dessen Schaufenstern, als ob sie bei einem Erdbeben durcheinandergefallen wären, verrutschte Berge von Oberhemden, Haufen von Wollunterzeugen und von verknautschten Krawatten zwischen Ketten von Kragen und Halstüchern und Strümpfen und Sportmützen und Seelenwärmern und Nachthemden in Höhen und Tiefen, in Schroffen und Kratern, wie auf dem Relief einer Mondkarte, fremdartig und wirr herüberleuchteten. Und kam sehr schnell wieder heraus und winkte dem Kolporteur geheimnisvoll, ihr in den Hausgang zu folgen.
»So«, sagt sie, »nu machen Se mal ganz fest beide Augen zu«, und mit einem Ruck hat sie ihm die geleimte Krawatte – es war ein Wrack einer solchen – unter dem Gummikragen losgenestelt und ihm eine neue dafür, eine marineblaue mit weißen Punkten – aber man sah ihr gar nicht an, daß sie nur eine geleimte Krawatte war, so schön und modern war ihr Knoten und Faltenwurf – über den Knopf gehangen und das Schildchen unter den Kragen geschoben.
»Wenn Sie mit einer Dame als Kavalier ausjehn woll'n«, sagte belehrend die Russengrüne, »so müssen Se ooch ne schöne Krawatte haben. Die Krawatte is die Hauptsache beim Herrn. Da sehn die Mädchen immer zuerst druff.« Und damit warf sie die alte Krawatte, die durchgeschwitzt und ganz aus der Fasson geraten war, in den Winkel neben der Haustür, wo's am dunkelsten war, und machte ihren Pompadour auf und ließ den Kolporteur in den Spiegel sehen, der da eingelassen war. »Marineblau steht Ihnen famos«, sagte sie sachlich, »und Punkte sind immer dezent und werden nie unmodern. Aber nu jehn wir; sonst ist der Nachmittag 'rum. Und die schönen Rosen! Sie wissen janich, wie ich mir damit freue. Wirklich: Sie sind mein Rosenemil. Also ich kann nich anders, ich muß immer die Leute so 'ne komischen Spitznamen anhängen. Dafür bin ich in meine janze Jegend berühmt. Eijentlich sind Se ein janz hübscher Mann. Sie müßten bloß mehr auf Ihnen acht jeben. Haben Sie denn keen Mächen, des des tut?«
Die Russengrüne – sie standen immer noch im Hausgang: ein paar Laufjungen mit Paketen und ein Rollkutscher, den Kanthaken in der Lederschürze, waren schon an ihnen erstaunt vorbeigegangen – sah durch die Türspalte. »Au wei«, rief sie, »los, los! Da kommt ja de Straßenbahn dahinten schon angeklingelt.« Und sie zog Rosenemil, der glücklich und etwas verwirrt war und sehr wenig bisher gesprochen hatte – er machte seinem Beruf als redegewandter Herr gar keine Ehre: das war ja wirklich eine zu süße Kanaille, wie die mit ihm Schlitten fuhr! –, zog Rosenemil hinter sich her, wartete gar nicht, bis der Wagen hielt, sondern sprang auf den fahrenden Anhänger und kletterte, den Schirm, die Blumen und das Kuchenpaket schwenkend, so lange auf dem Trittbrett draußen entlang, bis sie für sich und Rosenemil die beiden Plätze in Fahrtrichtung entdeckt hatte, die ihr zu passen schienen.
Es war ein schöner Tag, ein warmer Tag und ein blauer Tag. Mit Seidenpapierwölkchen ganz hoch im Licht. Und da es Sonnabend nachmittag war, so lag schon etwas vom Sonntag in der Luft. Und auf so einem offenen Anhänger wird man so frisch durchgepustet und aufgefrischt. Die Leute im offenen Anhänger machen immer fröhlichere und unternehmendere Gesichter als jene, die drin im ersten Wagen sitzen, wenn auch das die vornehmeren und meist auch die älteren sind. Und an einem solchen Junitag des Jahres sind die Straßen, die mit Linden bepflanzt sind und Rasenstreifen haben, auf denen die Hunde scharren, doppelt grün und flirrend im Licht und vom Licht. Und die, die keine Bäume und keinen, auch nicht den winzigsten Grashalm zwischen den Pflastersteinen haben, sind doppelt lang und kahl und wie mit einem Schwerthieb in zwei Hälften gespalten. Ormudz und Ahriman, die Sonnenseite und die Schattenseite. Die alten Nebenstraßen jedoch, in die man hineinsieht wie in Schluchten und Klammen, sind grau und glatt und haben noch gar keine Balkons, nur Fenster und Fenster und große braune Haustore und ganz wenig Läden, die sich auch kaum hervortun. Nur ein paar blau gestrichene Destillen blühen wie Astern an den Ecken. Die Menschen tröpfeln unter dem Hauch von Armut und Stumpfsinn, der über sie hinweht, langsam durch die Straßen hin wie Luftperlen in einer Ölflasche.
Aber die Hauptstraßen sind natürlich anders, und gerade heute sind sie anders, weil schon die Radfahrer mit krummem Buckel über die Lenkstange liegen und mächtig treten, um herauszukommen aus der Stadt. Da sind die Häuser bunt und rot und gelb und grün, haben Türme und Erker und lange Reihen von Balkons (die wie Badenäpfchen an Kanarienbauern draußen hängen), mit Betunien, die, jede für sich, in grünen Blumenkästen stehen und warten, daß sie größer werden.
»So'n Balkon möcht' ich auch haben«, sagt Rosenemil und blickt zu seinem russengrünen Visavis, die mit ihren großen, etwas geschlitzten Augen sehr vergnügt und ganz entspannt – nun brauchte sie sich mal gar nicht zu verstellen – vor sich hin lächelt. »Un haben Sie gesehen, Frollein? Jetzt, jetzt pflanzen se sone neue Linde, die hat graue Unterseiten an de Blätter. Des habe ich jern, wenn da der Wind 'reinpustet un se umdreht.«
Langsam löste sich so die Stadt auf. Es kamen zwar keine Felder, aber schon Bauplätze und Lagerplätze und Holzplätze mit Schuppen, und die Häuser wurden kleiner und puppiger, altmodischer, mit schrägen Dächern, geschnitzten Balkons und Jalousien. Und an einem Gasthof stand »Ausspannung«. Krippen, aus denen Pferde Häcksel niesten, waren davor, und grüne Tische und Stühle standen unter Bäumen, in denen Scharen von Spatzen randalierten. Sie waren von den nahen Laubenkolonien gerade verjagt und warteten darauf, dort wieder einzufallen, um den Samen aus der Erde zu kratzen und die letzten Schoten aus den Hülsen zu picken, ehe sie zu hart und für sie ungenießbar wurden.
Und dann steigen sie aus, und bald kommt solch ein Holztor aus rohen Birkenstämmen, und da steht drüber »Zweihundert Meter Seeterrasse«. Und neben dem Holztor stehen andere Schilder: »Kaffeeküche« ... Früher stand: »Der alte Brauch wird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen.« Aber seitdem das Lokal vornehmer geworden ist, für einfache und für feine Leute, sozusagen, wie die Stadtbahn zweite und dritte Klasse führt (erste Klasse kommt hier doch nicht hin!), und eine Weinabteilung mit Tischlampen, Korbsesseln und rotgewürfelten Tischtüchern hat und Kellnern in weißen Jacken, ist so etwas zu vulgär. Und der selbstgekochte Kaffee darf deshalb nur noch an ungedeckten Tischen getrunken werden. Und »Vergnügungspark« steht dran und »Turn- und Spielplätze«. Und durch die Stämme der Rüstern dringt eine merkwürdige Helligkeit, ein Leuchten, das von unten her kommt. Und das tut es auch, denn es ist der weite, batistene Spiegel des Wassers, der die Lichtfülle zurückwirft, die Schatten aufhellt und noch einmal von unten her alles anleuchtet. Eigentlich sind wenig Leute da. Die Stühle schlagen sich um die Gäste. Nur ein Damenkegelklub, der seine Vereinskasse umschüttet, hat eine Zahl von Tischen zusammengeschoben, die unter den Lasten der Kaffeekannen und Napfkuchen ebenso knacken wie die kleinen weißen Gartenstühle unter den Lasten wuchtiger und breiter Kehrseiten. Er erschüttert gerade die Luft, in der sonst nur Finken trillern, mit einem »Gut Holz! Gut Holz! Gut Holz!« für die Kegelkönigin Frau Schmettert.
Aus dem Tanzsaal, der mit grünen Girlanden und Papierrosen durchzogen, zwischen denen es von gelben und roten Lampions pendelt, hämmert ein einsamer Klavierspieler, weil man ihn bezahlt, auf einem restlos verstimmten Klavier wie ein betrunkener Musikautomat die »Aufforderung zum Tanz«, so daß das Bierseidel auf dem Pianino überschwappert. Aber er findet keine Gegenliebe damit. Denn es kommt keiner, der tanzen will.
Der Russengrünen zuckt es zwar in den Füßen, wie sie vorübergeht, und sie taktiert etwas auf dem Kiesweg. Aber sie beherrscht sich noch mal. »Woll'n wir nich doch mal einen tanzen?« sagt sie zu Rosenemil. »Aber eigentlich haben wir dafor nachher noch Zeit.«
Aber dann, wie sie zehn Schritte weiter ist, hält sie es doch nicht aus. »Nur einmal 'rum«, sagt sie und zerrt Rosenemil zurück. »Ich tanze für mein Leben gern.« Und wie der Klavierspieler sie eintreten sieht, geht er sofort zu einem flotten, schmalzigen Walzer über, damit ihm janich die Fische wieder aus dem Netz witschen.
Rosenemil ist glücklich. Er hat noch nie mit so einer feinen Dame oder zumindest mit keiner, die so gut aussieht, oder wenigstens mit einer, die so vornehm eingekleid't ist, getanzt, und man braucht auch niemanden auszuweichen, weil auch niemand sonst da ist. Den ganzen Saal haben sie für sich. Nur die grünen Bäume gucken durch die Fenster zu. Und man schleift so nett über den blanken und abgetanzten Holzboden.
Der Kolporteur denkt zu führen, aber es ist gar nicht so: er wird geführt. Immerhin so, daß er es gar nicht merkt. Sie sind von einer Größe, und sie passen so mollig ineinander. Sie schmiegt sich ganz weich an ihn und hält dabei doch Distanz. Walzt eliminierte Erotik. Nur angedeutet (von der andern hatte sie täglich genug!) und ohne Zerflossenheit. Trotzdem heute erst Sonnabend, war es doch ihr Sonntag. Der kleine Benjamin, denn er hatte es mit der Literatur, hätte zwar sicher jesagt: »Du denkst zu schieben, und du wirst geschoben.« Aber damit hätte der kleine Benjamin doch unrecht gehabt.
Der Klavierspieler hielt an. Er wollte seinen Groschen einkassieren. Denn jetzt war er noch zugleich der Tanzmeester. Das war noch Privatverdienst. Nachher, wenn Herr Kubenait selbst hier erst herrschte, war er wieder der Kuli. Und wie Rosenemil ihn aus der Tasche zog, denn wie hätte es ausgesehen, wenn sie ihn bezahlt hätte – so was schickt sich nicht! –, da fühlt er neben seinem verknautschten Geldbeutelchen die kaum minder zerknickte Dolde mit den Monatsrosen in der Tasche und überreicht sie mit einer eleganten Verbeugung der Russengrünen.
»Mensch«, sagt die und macht große Augen, »Sie sind wohl Anna Rothe, das Blumenmedium? Haben Sie des aus de Luft jezaubert?«
Aber da hämmert der betrunkene, menschgewordene Klavierautomat wieder los, und sie liegen sich von neuem wieder in den Armen. Doch da der seinen Groschen bekommen hat, sieht er gar nicht ein, warum er sich noch anstrengen soll – Nachher wird einem das Bier noch ganz warm! –, und er hört ebenso ohne Warnung, wie er losgeholzt hat, mitten im Takt und unvermittelt wieder auf und langt mit der Hand nach dem Seidel.
»Sie tanzen 'ne ganz nette Sohle schon, Rosenemil«, sagt belobigend die Russengrüne im Herausgehen. Und da sie vom Tanzen her schon untergefaßt waren, denn er mußte doch die Dame zum Platz führen, den sie nicht hatte, so blieben sie es mal vorerst, während sie so zwischen den Tischreihen hindurchgingen.
Hinten dreht sich ein armseliges Karussell mit Kutschen und Schwänen und weißen Elefanten, dank eines alten Braunen, der von seinem Elend nichts mehr sieht, da er auf beiden Augen blind ist. Aber der Turnplatz lockt doch den Kolporteur mehr. Da ist ein Rundlauf, an dem ein paar halbwüchsige Mädchen, da sie den Boden verloren haben, wie Luftschlangen sich drehen, Beine und Röcke durcheinanderwirbeln und dazu belustigt und halb angstvoll kreischen. Und ein richtiges Reck mit einer dünnen Eisenstange ist da und sogar ein richtiger Barren auch.
Der Kolporteur spuckt sich in die Hände und reibt die Handflächen gegeneinander und stellt sich in Haltung – noch ehe die Russengrüne es verhindern kann – unter die Reckstange, wirft die Kreissäge in den Sand und holt tief Atem, ehe er in Stellung geht. Brust 'raus und die Knie durchgedrückt, wie beim Schauturnen, wo nach Punkten gewertet wird. Und dann springt er (es ist ja doch 'ne kritische Sekunde) an, schmeißt die Beine vor und schlägt den Körper zurück. Also das jeht doch wie jeölt noch. Ein Ruck: schon ist er oben mit der Kippe. Und nich mal gemogelt hat er oder mit de Beine gemuckt. Obergriff geht. Und nu kommt Zwiegriff. Wie hingelegt einfach. Und selbst mit Untergriff! Er wechselt, ohne abzugehen, elegant mit Umschwung, und er drückt die Zehenspitzen nach abwärts. In Bernau damals hatte er keine schneidigere Haltung. Er war leichter geworden. Das merkte er. Na ja, natürlich bei des Gelaufe und des schlechte Essen. Aber des is ja jerade jut fors Jerätturnen. Fors Stemmen natürlich ist ein schwerer Körper geeigneter. Der arbeitet besser mit. Ich jehe wieder in een Verein. Und eine Sturzwelle schließt er an, darin war er immer groß gewesen. Die Russengrüne schreit, wie sie ihn da hoch über der Erde, auf steifen Armen und die Beine fast in den Baumwipfeln, stehen und herumschießen sieht, entsetzt auf. Aber da geht er schon in Sitz und schließt mit einem freien Knieabschwung. »So etwas imponiert immer denen, die vom Turnen nichts verstehen«, ruft er. »Und dabei kann doch ... kann gar nichts dabei passieren. Denn der Körper des Menschen ist ebenso den Gesetzen der Zentrifugalkraft unterworfen wie andere Körper auch und muß denn einfach auf die Beine kommen. Von de Stange. Und wenn er mehr Schwung nimmt, wieder oben in den Sitz. Das jeht janz von selber, Fräulein Lissi. Des können Sie auch.«
»Sie kommen ja mit dem Einsatz 'raus«, ruft die Russengrüne und lacht und stopft dem Kolporteur das Chemisettchen in die Weste. »Daß Sie so etwas können, habe ich janich jewußt!« Und das erste Mal ist etwas Ähnliches wie Zärtlichkeit in ihrer Stimme mit den vollen, weichen Vokalen und den melodischen R...s. Bisher war nur eine so leichte Belustigung drin gewesen. Ob dieses flüchtigen Abenteuers, das ihr Spaß machte. Er war ja doch ein ganz hübscher Mann, wenn man ihn richtig und fein erst eingekleid't hätte. »Sie können sich ja vor Jeld sehen lassen, Rosenemil.« Wenn der kleine Benjamin dabeigewesen wäre, so hätte er sicher gesagt, »sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand, ich liebte sie um ihres Mitleids willen«, denn wie alle Primaner, die zufällig Benjamin oder so heißen, hatte er es natürlich mit der Literatur und wollte ein Dichter werden. Was ihn ebenso natürlich nicht hindern würde, wie es seine Eltern wünschten, zehn Jahre später sich in Futterstoffen oder in Jurisprudenz zu etablieren.
Herrjott, fiel es Rosenemil ein, und er liebte es doch so sehr, einen guten Eindruck zu schinden, wenn sie nun noch meine Löcher in de Sohlen – ick lauf ja nächstens uff de Strümpfe! – gesehen hat, denn is es aber bestimmt aus.
Die Russengrüne hatte sie sofort bemerkt, aber sie besaß viel zuviel natürlichen Takt, um so etwas zu erwähnen, und kannte viel zuviel vom Leben, um an so etwas Anstoß zu nehmen.
»Sie turnen aber famosement«, sagte die Russengrüne. »Wirklich, des hätte ich janich in Ihnen erwartet«, und sie hing sich wieder in seinen Arm. »Dafor müssen wir uns nu mal stärken, der Kuchen fettet auch so durch, und des is mein Bestes ... Nee, lassen Se, Rosenemil, der Kaffee ist Sache der Dame. Suchen Sie sich man da vorne 'nen netten Platz aus. Aber ich glaube, auf die Seeterrasse darf man mit dem Selbstgekochten hier nicht. Nur an die ungedeckten Tische gleich dahinter. Na, des macht nischt: dafür bleiben wir doch, wer wir sind, und schreiben uns – Uns!« Rosenemil schielte im Weggehen sehnsüchtig auf die beiden Stangen des Barrens. Die waren nicht mal dick. Da so erst mal die Schere, dann Handstand, dann Handgang, und dann Abgrätschen am andern Ende. In Bernau habe ick damals fünf Punkte damit gemacht!
Der Damenkegelklub ist, als sie vorübergehn, schon weniger förmlich. »Ach wat«, schmettert Frau Schmettert, die Kegelkönigin, durch den Garten, »das is nu mal so, Frau Schultze. Wat soll ick denn mit dem Mädchen, der Elvira, da nun tun? – Janischt! Oder haben Sie vielleicht Ihren Mann im Tischkasten kennengelernt?«
Also der Platz ist gut. Sie sitzen zwar nicht grade ganz am Wasser; aber da keiner vor ihnen auf der Terrasse sitzt, so sitzen sie so gut wie am Wasser, das weit und blau, im Rahmen der überhängenden Äste sich auftut. Und wenn auch gegenüber links mächtige Fabrikschornsteine qualmen, na, dafür is man eben im Norden un nicht in Wannsee. Und es zwingt einen auch niemand, da hinzusehen. Auf der andern Seite ist Grün und Wälder. Man sieht deutlich die lackgrünen Erlen am Wasser. Dann schimmern darüber die lichtgrünen Wimpel der Birken, und dann kommen erst die schwarzen Wellen der Kiefern, die weithin wie ein Meer branden. Und vor diesem allem sind die Schilfstreifen, an denen Wasservögel entlangpaddeln und sich vor den Sterndampfern in die grüne, schwankende Wirrnis flüchten. Vor den Dampfern, die weit da draußen fahren, mit Lichtfunken in den Kielstreifen hinter sich und in Wellen um sich. Jenen Wellen, die erst Minuten später herüber zum Ufer kommen, gegen die Mauer der Terrasse schlagen, die Schwäne wie Korken auf und nieder tauchen lassen, es machen, daß die Boote an ihren Ketten, wie Pferde, die beunruhigt werden, sich aufbäumen, und die endlich rauschend durch die Schilfwände der Ufer fahren, bis sie da allmählich wieder zur Ruhe kommen.
»Jott, ich möchte Sie so vierzehn Tage auf den Arm nehmen können, und dann 'raus aus Berlin«, sagte der Kolporteur, »Frollein Lissi.«
»Warum denn? In de Stadt können wir es ja auch ganz nett haben«, sagte die Russengrüne sachlich.
Eine Kette Zillen, auf denen von Bug bis Heck, von Kopf bis Sterz, Wäscheleinen flattern, kommt jetzt im Bogen von weit hinten über den blauen Seidenbatist der weiten Wasserfläche heran. Sieben, acht Stück gleich, die ein ganz kleiner roter Schlepper stampfend und ächzend hinter sich herzieht. Man versteht gar nicht, wie das kleine Ding das schafft. Und ein paar Segelboote tanzten arrogant und aristokratisch in den weißen Leinenanzügen ihrer Segel in den Wasserfurchen, die der Schlepper mit der Schärfe seines Kiels neben sich aufriß.
Aber so was von Kuchen hatte Rosenemil lange nicht gegessen. Er erinnerte sich gar nicht, wie lange. Denn er konnte auch im Berlin von 1903 nur schwer den gutgemeinten Rat der Marie Antoinette befolgen, die da, als man ihr sagte, das Volk hat kein Brot, erstaunt fragte: ›Ja, aber warum ißt es dann nicht Kuchen?‹ Und selbst seine Jugenderinnerungen kamen nicht über Warschauer, Kuchenkrümel und Gußzwiebäcke hinweg. Und hier war ein kleiner Altdeutscher, ein Abgeriebener mit großen Rosinen, ein Königskuchen – und außerdem Gußzwiebäcke. Und keine Halbliterkanne etwa, sondern eine von anderthalb Litern, und zwar Bohnenkaffee ohne Zusatz. Und keine dünne blaue Milch dazu, sondern richtige dicke, gelbe Sahne.
»Aber Fräulein Lissi«, rief der Kolporteur. »Ne, des is doch wirklich zu ville, Sie haben wohl 'nen reichen Juden totgeschlagen!«
»Des nun gerade nicht«, sagte die Russengrüne und dachte an das Goldstück von dem Erbonkel mit dem sauren Gurkengroßhandel aus Lübbenau. Aber was brauchte sie dem das gleich auf die Nase zu binden: am Sonntag redet man nicht von's Jeschäft.
Also das war wirklich ein viersträhniger Kaffee, und die Gußzwiebäcke – denn nach denen griff der Kolporteur zuerst – waren vorzüglich. Aber zu weich. Zu Hause, wenn Mutter mal welche mitgebracht hatte, waren sie immer viel härter gewesen, da hatten se ordentlich immer in die Zähne geknirscht. Und das mußten Gußzwiebäcke doch. Die Ansicht Rosenemils, daß Gußzwiebäcke hart seien und zwischen den Zähnen knirschen müssen, beruhte, wie die meisten Ansichten hier auf dieser Erde, auf falschen oder zum mindesten auf individuell gefärbten Voraussetzungen. Denn seine Mutter hatte Rosenemil nie darin eingeweiht, daß sie niemals frische Gußzwiebäcke, sondern immer welche von gestern, die in Wahrheit acht Tage alt waren und die so hart waren, daß man sich damit gegenseitig hätte Löcher in'n Kopp schlagen können, gekauft hatte. Und das wieder nur, weil es da nicht fünf für 'n Groschen, sondern zehn Stück gab. Und stippen tat sie der Junge ja doch. Aber, was so'n richtiger alter Gußzwieback, der wird dadurch auch nicht viel weicher. Und hier stippte er nicht, weil er sich »schenierte« vor der Dame in Russengrün, dem Fräulein Lissi. Und sie waren trotzdem janz weich. Nee, nee, des waren keene echten Jußzwiebäcke. Da war der Königskuchen schon eher tadellos, der schmeckte direkt sauber. Das sagte die Russengrüne auch.
Also das war wirklich nett, und hier konnte man – wenn auch der fiese Kellner mit der weißen Jacke mal mißvergnügt herübersah, denn an sone selbstgekochten Kaffeegäste, die nur Lokal schinden, verdiente er nischt – so stundenlang sitzen und ins Wasser kieken; un es war immer was los. Mal kam ein Rudel Enten angepaddelt, und erst waren sie ganz ruhig, und dann richteten sie sich hoch, schlugen mit den weißen Flügeln, daß nachher die Federchen auf dem Wasser schwammen, schnattern alle auf einmal, als ob sie sich dazu verabredet hätten. Oder Angler kamen und machten sich einen Angelkahn los und stakten mit weg ins Schilf und taten wunder wie wichtig und ernsthaft dabei. Mal ruderten welche mit nackten Armen und Beinen in einem Viersitzer. Und der fünfte stand in dem wackligen Ding und schrie: »Ho huupp ... ho huupp!«, und denn schmissen sich alle auf einmal zurück in die Riemen. Oder es kam ein Fink auf den Tisch, und wenn er sich satt gegessen hatte, flog er auf einen Ast von dem Baum und sagte: Danke. Man braucht gar nicht soviel reden, es ist immer etwas los.
Die Russengrüne sah nach dem feisten Angler hin, der in seinem graugrünen Grasleinen Jackett mit den aufgesetzten Taschen tat, als ob er als Nelson auf dem Buzentauros die Seeschlacht von Trafalgar befehligte. »Ach Jott«, sagte sie, und sie plauderte damit aus der Schule, »mit die Sorte da weeß ick Bescheid, die kenn' ick genau, det is man ooch bloß eine ganz verbogene Schießbudenfigur.«
»Woll'n wir noch ins Familienbad?« sagte der Kolporteur, durch eine unkontrollierbare Gedankenassoziation dazu verleitet.
»Ach nee, da trifft man nur Bekannte«, sagte die Russengrüne, »wir beide sind ja auch Familie.«
»Woll'n wir uns in den Kahn legen und die Sonne auf den Buckel brennen lassen?«
»Nee, nee«, sagte die Russengrüne, »des is nich jut für 'n Teint. Wir legen uns nachher denn unter de Bäume ans Wasser. Zu spät will ich auch nicht wieder 'reinfahren. Heute is Sonnabend.« Schon wieder hatte sie sich verplaudert. »Des sehn meine Eltern nich jerne, wenn ich Sonnabend so spät nach Hause komme.« Nun war sie mal im Lügen. »Wenn mein Vater die ganze Woche nich da is, denn will er auch am Sonnabend was von mir haben.«
»Wo ist denn Ihr Herr Vater?« fragte der Kolporteur.
»Ach« – ja, was sollte sie sagen? »Bei de Eisenbahn«, sagte die Russengrüne so nebenhin. Da konnte er doch ebensogut Stationsvorsteher wie Lokomotivführer wie Knipser sein. Da vergab sie sich nichts. In Berufen der Väter hatte sie Übung; wenn sie auch von dem polnischen Grafen abgekommen war. Das sagten sie alle immer. Und außerdem hatte sie das gar nicht mehr so nötig, denn eigentlich hatte sie ihren Stamm von Freunden, die ihr jedenfalls treuer blieben als sie ihnen. Und die fragten nach so was gar nicht mehr. Aber heute, Sonnabend, würde sicher einer oder der andere kommen. Vielleicht sogar der kleine Benjamin. Da wollte sie doch lieber zu Hause sein.
Ja, und dann gingen sie beide ein Stück am Ufer entlang und warfen Butterstullen. Und die Polenliese sucht nach flachen Steinen für ihn und lachte, wenn sie es selbst probierte und der Stein direktionslos sofort ins Wasser plumpste, daß die Frösche von den Seerosenblättern hupsten. »Wie so'n Mann des macht!« Achtmal, zehnmal tanzte so'n schwerer Stein über weite Entfernungen fort und platschte in kleinen schillernden Spritzern dabei auf, und zum Schluß schnurrte er so im Halbrund noch hin, als ob er auf 'ner Schlitterbahn wäre; und dann – plötzlich! – war er ganz stille, wech, und es war kaum noch ein Kreis auf 'n Wasser da.
Aber früher hatte Rosenemil das noch besser gekonnt, bis vierzehnmal, und die Schwänze hatte er gar nicht mitgezählt dabei. Ja, das kam wohl, weil er heute die Jacke anhatte! Und er warf im Eifer des Gefechts das Jackett ins Gras und die Weste daneben und stand da in seinem baumwollenen Unterjäckchen mit den halben Ärmeln und in seinem Chemisettchen, das durch den grünlichen Gummikragen um den Hals gehalten wurde. Wirklich das einzig Vornehme war noch die geleimte Foulardkrawatte, die nach dem Rhythmus, die nach den Bewegungen seines schwingenden Armes mit den beiden Enden flatterte.
Ach Gott, sagte sich die Russengrüne, der arme Deibel – nich mal een Hemde hat er an! Laut aber sagte sie: »Ach ja, so geht das viel besser, wirklich! Aber nu gehen wir, mein Herr, so können Se sich hier vor de Leute nich hinstellen. Es sind zwar keene da, aber es könnten welche kommen.« Der Kolporteur wurde rot, er merkte, was gespielt wurde, und zog sich ganz schnell die Weste und das Jackett, von dem er einen roten Dukatenfalter aufscheuchte, an. Vielleicht hatte der es für ein Beet blauer Blumen gehalten, vielleicht wollte er nur seine rotvergoldeten Flügel etwas in der Sonne wärmen. Aber als man ihn jetzt vertrieb, war er mit der Welt unzufrieden und flog mißmutig über das Schilf fort aufs Wasser hinaus.
Des hätte er nicht tun dürfen! Wat dachte denn solch eine junge Dame von ihm!
Der Kolporteur irrte sich: Nicht sein Turnen und sein Butterstullenwerfen und seine Rose und seine Redegewandtheit – seine Suada, auf die er sich so viel sonst zugute tat und die heute so jämmerlich hier versagt hatte, sonst hätte sich der Chronist auch sicherlich nicht nehmen lassen, sie in all ihrer Blüte und Farbigkeit aufzurollen –, nichts von alledem war so entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge für ihn wie, daß er plötzlich so in seiner ganzen Ärmlichkeit im baumwollenen Unterjäckchen, das dazu noch nur halbe Ärmel hatte und nicht mal allzu sauber war, und in dem halbrunden, abstehenden Chemisettchen da vor der Russengrünen gestanden hatte, die eine Pleureuse auf dem Hute trug.
Ja, und dann fanden sie einen netten Platz am Wasser. Das heißt, zwei Schilfbänder ließen einen Blick zwischen sich auf das Wasser frei, so daß man alles gerade sehen konnte, was da geschah, und doch nicht selbst gleich auf dem Präsentierteller saß. Einen Platz unter den Erlen, deren Wurzeln dort, wo der Wald in die Sumpfwiesen überging, einen natürlichen Stuhl bildeten. Und neben dem ein dichter alter Brombeerbusch seinen grünen, mit weißen Blütendolden bestickten Vorhang in das Gras und die Quecken und die Vergißmeinnicht, den gelben Hahnenfuß und den kleinen Rasen der Sumpfveilchen und in die Kette der Krausenminze, die dunkelviolett duftete und hellviolett blühte, in den Ampfer und die Sternblumen hinabfallen ließ, so daß aus dem Blütengewirr da unten zu den weißen Lichtchen der Brombeerhecken ein ewiges Hin und Her der Schachbretter und der Kuhaugen und der Bläulinge, der Senfweißlinge und der Dickköpfe und was sonst noch auf dieser Sumpfwiese mit ihrem teppichweichen Boden sich tummelte, so daß es also ein ewiges Hin und Her von weißen, bunten und schillernden Flügelchen gab. Allein die Hummeln machten das nicht mit und steckten nur brummend ihre dicken Köpfe in die Brombeerblüten, nirgends sonstwohin.
Der Kolporteur tappte erst über den Sumpfboden bis ans Wasser vor trotz seiner Löcher in den Sohlen, die sich schnell vollsogen, so leise er auch auftrat. Denn die schönen, langstieligen Rosen und die Monatsröschen, die er vom Kaiserin-Augusta-Denkmal geklaut hatte, die reizenden Kinder Floras, ließen schon bedenklich die Köpfe hängen; die Stiele schnitt er sachgemäß mit dem Taschenmesser schräg ab und legte sie so ganz vorsichtig – warum sollten sie nicht auch nasse Füße bekommen? – in das leise heranplätschernde Wasser.
»Die kann man noch 'ne Woche halten!« rief er.
»Ach ja«, sagte die Polenliese. Sie pflegte Blumen einfach wegzuwerfen, wenn sie welk wurden.
»Schade, daß wir keinen Ball haben«, sagte Rosenemil, als er zurückkam. Denn in jedem Manne steckt – das haben sogar schon Philosophen erkannt – ein Kind, das will spielen.
»Warum denn?« sagte die Russengrüne erstaunt. Denn Frauen sind immer erwachsener als Männer. »Wozu brauchen wir 'nen Ball? Es ist doch janz hübsch so.«
Ja, und das war es dann auch. Das Schilf zum Beispiel war nicht eine Minute still, es florettierte ständig mit spitzen grünen Blattklingen miteinander in hundert Partien. Und das Wasser war auch nicht einen Augenblick still. Es blitzte durchs Schilf von unten her und plätscherte mit den Seerosenblättern, und es funkelte draußen in kleinen Wellchen, auf denen jeden Augenblick an einer andern Stelle die Sonne sich brach. Und dann schwamm mal ein großer Vogel mit einer Haube vorbei, nickte mit dem Kopf und tauchte unter und war weg. Und kam ganz weit drüben wieder 'raus.
»So'n Kleid müßte man haben«, sagte die Dame.
»Warum denn?« meinte der Kolporteur.
»Elektrischblau mit Silber is det modernste.«
Eigentlich saßen sie beide sehr gut, aber doch nicht gerade nebeneinander. Und sie unterhielten sich auch ganz gut, obwohl sie noch immer mit verdeckten Karten spielten und noch jeder versuchte, dem anderen etwas vorzumachen, und dabei an sein eigenes Elend dachte.
Inzwischen war es schon ziemlich spät am Nachmittag. Es mußte so zwischen fünf und sechs geworden sein. Die Schmetterlinge waren nicht mehr so munter, sondern flatterten nach Schlafstellen, und die Frösche begannen schon, sich draußen auf die Seerosenblätter zu setzen und ihre Kehlen für das Abendkonzert zu stimmen. Die Schatten wurden schon länger, die das Schilf über die Wiese legte, und im Brombeerbusch brummten die Hummeln noch geschäftiger und noch mürrischer denn vorher. Und vor allem die silberne Helligkeit war goldig geworden und hing Schleier von Gaze, matt und doch durchscheinend wie die Röckchen der Balletteusen, um die Erlenbäume und solche von Goldgaze um die gebogenen Kiefernzweige, die über die Erlen fort auf das Wasser sahen.
»Wissen Se, wenn man so gar nicht 'rauskommt, denn sieht man eigentlich bloß an de Blumenkörbe auf 'n Potsdamer Platz, was für 'ne Jahreszeit eigentlich wirklich is. Wenn erst die ersten Schneeglöckchen in de Körbe sind, is März; und wenn de ersten gelben Primeln sind, denn is so um Ostern; un wenn de Iris und de Pfingstrosen kommen, denn is Pfingsten; un wenn de Astern kommen, denn is September. Da weiß ich es immer janz jenau, des det Jahr bald 'rum geht«, sagte der Kolporteur und verlegte seinen Sitzplatz etwas näher zu Fräulein Lissi.
»So is des«, sagte die Russengrüne nachdenklich. »Was rücken Se denn mir so nach? Ick habe wohl Speck in de Tasche?« Aber dann lachte sie doch wieder.
»Sie haben doch auf einmal so rote Backen gekriegt, Fräulein Lissi«, sagte der Kolporteur wieder und streckte – das erste Mal – die Hand aus und strich ihr sehr zaghaft über die Wange, die wundervoll weich war ... Es gibt Pfirsichbacken und Kirschbacken – sie hatte die ersten.
Ihm schien sie doch etwas wärmlich. Jedenfalls war er nicht so ... Jott, solche junge Dame, die is wohl immer so'n bißchen warmblütiger, wie des so die Männer sind.
»Und was haben Sie denn mit einmal für blanke Augen gekriegt?«
»Ach, des kriege ich jetzt immer um die Zeit so 'rum«, sagte die Russengrüne. »Aber fassen Se doch mal meine Hände an, die sind doch ganz kalt.« Wirklich, sie waren nicht kühl, sie waren kalt; sie waren zwar sehr schön ... wie das ganze russengrüne Wesen! Madonnenhände – nicht Riemenschneiders, sondern Luca della Robbias; die sind weicher und animalischer und noch edler in der Form, mit Kütchen, wo jeder der langen Finger, der gedrechselten, spitz zulaufenden Finger mit der Perlmuttermuschel des Nagels an der Spitze, jeder sich von dem schmalen Handteller trennt ... aber die hier, sie waren kalt. Und sie waren sogar von einer feuchten Kühle.
»Na, sehn Se, mein Jungeken!« sagte die Russengrüne. Bisher hatte sie immer »Herr« gesagt oder sogar »Herr Rosenemil«. »Hab' ich nu etwa Fieber? Na sehn Se!« Sie lachte. »Un wat jehn Ihn' überhaupt meine Hände an, mein Herr?« Eigentlich heißt es nun: Was gehen Sie überhaupt meine Hände an oder Händchen an. Aber es klang anders viel zarter und weicher. Wie's ja überhaupt mit der deutschen Sprache eine Absonderlichkeit ist: Falsch ist da oft richtiger als richtig ... Ja, meist richtiger.
Und außerdem wußte Rosenemil gar nicht, daß ja gerade die kalten Hände, wie der Arzt es ausgedrückt, bei so'n ganz kleinen, kaum erst feststellbaren Spitzenkatarrh zum Bild gehören. Woher sollte er auch so was wissen? Das war wirklich nicht bei ihm zu befürchten, daß er sich, wie die Polenliese, je solche Kenntnisse aneignen würde: die Sturzwelle ging ja immer noch sehr gut ... Des hatte er heute gesehen. Aber wie er davon sein Schlafgeld bezahlen sollte, das wußte er nicht. Un wenn er die Mappe nich wiederkriegte mit die zweiundzwanzig »Verstoßene Gräfinnen« am Montag – wat sollte er machen? Aber die Polenliese wußte das. Sie nahm – oder sollte es wenigstens – immer solche Pillen, die wie braune Tröpfchen aussahn und wie ein ganzes Krankenhaus schmeckten. Wirklich, die hatten ihr janz jut jetan. Und außerdem war es eigentlich ganz hübsch so. Sie war immer um die Zeit so hübsch aufgepulvert. Un abgenommen ... darauf achtet der Doktor Levy sehr; des war zwar ein Jude, aber ein anständiger Mann. (Da konnte jedes Mädchen aus der Jejend kommen, er nahm nie einen Jroschen von se!) Abgenommen hatte sie beim Braunbier noch nich ein Gramm. Sie war immer noch rund und rosig wie ein Marzipanpüppchen. Des hatte wenigstens der kleine Benjamin gesagt.
Aber Rosenemil ließ die Hand, obwohl sie kalt und feucht in der seinen lag und grade um diese Stunde – sie gab sie dann schon keinem – sich nicht angenehm anfaßte, nicht los ... und sah sehr still über das Wasser fort ... Aber plötzlich machte er eine Wendung und zog die Russengrüne an sich, und dann hatte er ihren Kopf in beiden Händen, die Finger verschwanden ganz unter den weichen, bronzefarbenen Flechten, und küßte sie, die Russengrüne mit den roten Backen und den blanken Augen, leise und sehr zart mitten auf den Mund, eher anbetend als verliebt. Und die Russengrüne sank leise in seine Arme vor und schloß die Augen, und unter den sehr langen Wimpern, die nach den Spitzen zu sich wieder etwas hochbogen (auch das hatte Doktor Levy gleich gesehen, aber nicht bemerkt!), krochen zwei blanke Tränen vor und liefen langsam über die Backen fort.
Die Tränen hatten einen absonderlichen Grund. Es war keine Dirnensentimentalität. Was sollte das auch hier. Und kein Mitleid mit sich selbst; sie hatte es ja ganz nett ... die Männer waren nicht roh zu ihr. Und sie hatte es eigentlich ganz gut. Auch keine Angst vor der Krankheit. Soweit war sie sich wohl nicht darüber klar. Und Optimismus gehört ja auch zu ihrem Bild. Und außerdem kommt's, wie's kommt, und man kann ja doch nischt jejen machen ... Es war ganz etwas anderes ... Abgeknutscht wurde sie alle Tage. Das taten die meisten Männer nicht anders. Aber seit langem war sie nicht mehr nur geküßt worden, und das überwältigte sie so im Augenblick. Vielleicht war es auch der Nachmittag hier draußen, die Beleuchtung in Gold und Hyazinthen, wie Baudelaire sagt, der weiche Wind, der aufkam, und daß sie der arme Kerl hier küßte und sonst garnischt von ihr wollte.
»Ick will doch noch mal den Doktor Levy insultieren«, sagte sie, als sie sich von ihm loslöste. Und dann ging sie unvermittelt auf ein anderes Thema über. »Wissen Se, Rosenemil, wenn ich een Mann liebhabe, denn tu' ick alles für ihn, denn lege ick mir quer und breit for ihn.«
»Haben Sie denn schon mal eenen Mann liebgehabt, Fräulein Lissi?« fragte der Kolporteur.
»Ja«, sagte die Russengrüne, »aber mit dem war nich ville los. Der war nich sehr weit her. Wat kieken Se denn vor sich hin? Bin ich nich nett zu Ihnen gewesen?«
»Ach Gott«, sagte der Kolporteur, »ich habe meine Mappe verloren!«
»Was für 'ne Mappe?« fragte die Russengrüne.
»Es war ein Kilo Gesundheitstee und zwei- oder dreiundzwanzig ›Verstoßene Gräfinnen‹ drin.« Nun kam's 'raus. Alles, was er ein paar Stunden in sich zurückgedämmt hatte, versucht hatte, wegzudenken, brach durch. Und nun kam auch seine ganze Redegewandtheit wieder.
»Ach, Sie hausieren mit sone Blutwürschte?« sagte die Russengrüne. Aber es war gar nichts Abfälliges darin. Jeder mußte eben sein bißchen Geld in dieser Stadt auf seine Weise und so schwer, wie es eben ging, verdienen. »Also mir hat auch mal einer so'n Heft aufgeredet. Meine Eltern durften das gar nicht wissen. Da kam gleich was von 'ne Chloroformmaske drin vor. Des war mir zu graulich.«
»Ach des war der ›Schwarze Prinz‹ oder ›Die Strafe des Schicksals‹«, sagte der Kolporteur melancholisch, »da bin ich auch mal mit jegangen.«
»Bei uns zu Hause kommt immer so'n junger Mann hin, der bringt mir Bücher. Manche sind ja sehr schön zu lesen. Die les' ick denn janz langsam. Aber andere sind so langweilig wie 'ne uffjewärmte Leichenrede. Wie hieß denn des wieder? Also ick komm' schon drauf! Es war was mit 'nen Irrtum – Irrungen glaube ich, hieß es, und denn kam noch 'n anderes Wort ... aber des habe ich dem kleenen Benjamin gleich wiedergegeben!«
Der kleine Benjamin wollte sie natürlich, wie so viele in seinem Alter, erst bilden, zu sich heraufziehen und dann heiraten. Ja, das war eine eigene Sache mit dem kleinen Benjamin!
»Ja, und die Mappe is futsch. Und die muß ich doch die Leute ersetzen. Von den Gesundheitstee red' ich schon gar nicht.«
»Na, dann müssen wir eben die Leute zahlen.«
»Wo soll ick denn det hernehmen?«
»Ach Jott, det find't sich schon«, sagte die Russengrüne und legte ihre schlanke Hand dem Kolporteur sehr leise auf die Schulter, und sie kam mit ihrem Mund und den großen Augen dem Gesicht des Kolporteurs bedenklich nahe. »Haste mir den ersten Kuß gestohlen«, sagte sie leise, »so kannste dir auch die andern holen.« Und sie lachte und machte den Mund ganz spitz. All der Dreck der letzten sechs Jahre (und wenn sie auch erst ein Jahr unter Sitte stand), so lang ging das schon, der ja doch zum Schluß eigentlich nicht haftengeblieben war und die Poren der Seele doch nicht verstopft hatte, war von ihr abgespült, und sie war wieder, wie sie mit siebzehn gewesen war.
»Sehn Se, Rosenemil, fassen Se mal an«, sagte sie nach einer ganzen Zeit, »faß mal an, des kommt und jeht so wieder. Fassen Se mal an. Jetzt habe ich ja keene heißen Backen mehr.« Wirklich, sie waren nicht mehr heiß, aber sie waren auch nicht mehr rot. Sie hatten die Farbe von Pfirsichen bekommen. Und solch ein Gefühl gaben sie seiner Hand ja auch. Von Pfirsichen, die man halbreif vom Spalier genommen hat, damit sie in der Kiste nachreifen sollten. Also sie waren leicht gelblich, ein ganz klein wenig grünlich wohl auch noch, mit einem rosigen Hauch darüber. Aber jetzt, in der goldroten Abendsonne, die groß in dem Wald da drüben, jenseits des Wassers, versank, glühend und strahlenlos geworden war, waren sie doch so angegoldet, daß man das kaum sah. Und nachher konnte man doch was auflegen.
Es war wirklich schön, wie die Laufkante und die Nadelwülste des Waldes da weit drüben – dort, wo die Sonne sich senkte – ganz deutlich und scharf, als ob man sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten und dort auf die Kupferscheibe geklebt hätte, sich abzeichneten; und schön war die lange schmale Feuerbrücke, der Goldsteg, den sein Widerschein auf dem ganz blauen und nelkenfarbenen, metallisch überspielten Wasser gerade auf die beiden zu erbaut hatte. Wie glatt das Wasser jetzt war ... wie ein ausgespanntes Seidentuch! Kein auch noch so kleines Weilchen. Kein auch noch so winziges Lüftchen, das es hätte erregen können. Das Laub hing ganz ruhig an den Bäumen. Selbst die Hummeln hatten mit ihrem Gebrumm und Geschimpfe aufgehört ... Hat mal jemand darauf geachtet, daß es gerade genau um Sonnenuntergang so still und unbewegt in der Natur draußen wird, als wären alle Dinge und Wesen nur eine Versammlung von Quäkern, die, um sich zu sammeln, mit gefalteten Händen eine Minute, als hätte man ihnen Stillstand kommandiert und Schweigen geboten, all ihr Tun und Denken ausgeschaltet haben? Hat mal jemand darauf geachtet?
»Ja«, sagte der Kolporteur. »Die jeht nu schlafen, Frollein Lissi, und die weiß, wo se hin jeht ... Ich hab' noch keene Schlafstelle heute ... ich nich.«
»Na wat denn? Wat denn? Wat denn?« rief die Polenliese erstaunt. »So muß' kommen: sieben Häuser und keine Schlafstelle«, und dann lachte sie, sie konnte sich gar nicht beruhigen, die Russengrüne.
»Sie habens jut, Frollein Lissi. Sie haben jut lachen. Ich find's ja auch komisch ... Sie gehn nachher zu Ihre Eltern nach Hause.«
»Na ja«, und die Polenliese lachte immer noch, vielleicht über die Idee, daß es jemand wirklich glauben könnte, daß sie zu ihren Eltern nach Hause ging. Da käm' sie schneller vierkantig die Treppe 'runter, als sie je 'raufjejangen wäre. »Na ja«, sagte sie wieder langsam, »es jibt eben einen klugen Hans, und es jibt eben einen dummen Hans. Doof bleibt doof.«
»Jewiß«, meinte der Kolporteur nachdenklich, »ick bin vielleicht immer ein dummes Luder jewesen. Un des is ja endlich auch nicht so schlimm. Denn schlaf' ick eben im Humboldthain. Des hab' ick schon mal jetzt vor'n Jahr jemacht. Uff 'ne Bank ...«
»Wo sind Se denn jestern uff de Nacht gewesen?« fragte die Lissi.
»Jestern – jestern war ick noch bei meine Schlafstellenvermieterin in de Zingststraße. Aber da bin ich jetzt seit fast drei Wochen lang des Schlafgeld schuldig geblieben. Ewig kann ich die Frau das auch nich zumuten ... Sie kriegt morgen einen anderen for mir. Des sind arme Leute. Was soll man die noch um ihr Geld bringen.«
»Da haben Se ooch wieder recht«, sagte die Russengrüne und nickte sehr nachdenklich vor sich hin, »die werden des ooch nich so dicke haben da draußen in de Zingststraße.«
Rosenemil hielt die Hand vor die Augen; vielleicht hatte ihn die letzte Feuerkante der untergehenden Sonne geblendet, vielleicht war ihm wirklich hundeelend.
»Sie haben wohl heute die Strümpe verkehrt angezogen? Nu weene man nicht«, sagte die Russengrüne und legte ihm wie eine wärmende Boa ihren schönen, langen, weichen Arm um den Hals. So hat das bei meinem Freund damals auch angefangen ... Un nachher haben sie'n nach Dalldorf gebracht.
Sie haben jut reden, mein Fräulein, dachte der Kolporteur, aber er sagte nichts ... denn es gibt Augenblicke, da Schweigen wirklich Gold sein kann. Merkwürdig: wie die Sonne fort war und nur da noch ein helles Rosenblatt am Himmel, wo sie versunken, quoll plötzlich aus Sandboden und Sandhängen, aus Kiefern, Wald und Wiesen und Erlenstämmen und Birkenfahnen solch ein heißer Wrasen auf, als ob alle noch einmal, bevor die Nacht kam, der Sonne für die Wärme, die sie den Tag über gespendet, ihren Dank sagen müßten. Und im gleichen Augenblick wurde auch Gras und Laub unter dem dumpfblauen und rotgebänderten Himmel dunkler und fester, und in dem grünen, festen Tuch der Wiese leuchteten die gelben Blüten vom Hahnenfuß, braunen Ampfer, die kleinen mattblauen Sumpfveilchen und die weißen Rispen der Spiräen und die vergißmeinnichtblauen Sternchen der Vergißmeinnichtsträuße hinten am Schilfrand. Weiße Winden, die geschlossen noch vorher, waren plötzlich, als ob sie mit Seide in das grüne Tuch hineingestickt wären, aufgegangen. Sie leuchteten ordentlich, als hätten sie Leuchtfarben, die erst mit der Dunkelheit zu leben beginnen. Und in den Vorhang des Brombeerbusches da neben ihnen waren die weißen Blütenballen im gleichen Augenblick wie in einen alten Silberbrokat mit echten Silberfäden eingewirkt. Die Hummeln waren in ihnen schlafen gegangen. Aber die ersten Dämmerungsfalter standen, bunte, schwirrende Flügelschatten – Weinschwärmer und Wolfsmilchschwärmer, die sich wohl heute erst aus der Puppenhülle befreit hatten – zitternd und erregt vor Leben und Liebessehnsucht, wie angenagelt über ihnen in der stillen Luft und ... und senkten – das konnte man genau sehen (so dunkel war es eben doch noch nicht, auch wenn das Licht von Sekunde zu Sekunde nachließ) – ihre langen, entrollten Zungen dem Honigduft nach, bis tief in den Kelch der Blüten aus Silberfäden.
Alle Konturen dagegen an Bäumen und Büschen und Wäldern schlossen sich zu großen, einheitlichen Linien zusammen, wie das nur hier in der Mark ist – und wie sie einen Leistikow bezauberten. Und die beiden hier, auch wenn sie es weder sagen noch malen konnten, kaum minder bezauberten ... in diesem Augenblick.
»Des is sehr schön jetzt hier«, sagte Rosenemil.
»Ja, aber es wird doch kühl auf die Nacht«, sagte die Russengrüne und sprang auf.
»Wir dürfen doch die Rosen nicht vergessen, Frollein Lissi«, meinte der Kolporteur und watete noch mal vor zum Schilfrand. Also, sie waren so frisch wieder, als ob sie eben aus dem Korb kämen: die reizenden Kinder Floras!
»Du«, sagte die Russengrüne, als sie durch das dämmrige Unterholz wieder den Weg gefunden hatten, »du – vorhin hab' ich gesehen, da stand an dem einen Baum im Lokal ›Pichelsteiner Fleisch fünfundsiebzig die Portion‹! Ob sie des heute abend auch haben? Und eenmal 'rumtanzen tun wir auch noch. Und denn fahren wir wieder 'rein. Wat soll'n wir'n so lange hier draußen?«
»Ja, und wo soll ich hinjehen?« fragte der Kolporteur.
»Sei doch nich immer so neugierig«, sagte die Russengrüne, »des wer'n wir nachher sehen.«
»Und deine Eltern?«
»Ach wat, Quatsch: Eltern! Wer hat früher überhaupt was von Eltern jewußt?«
Und nun legte Rosenemil ihr den Arm um den Hals, trotzdem Fräulein Lissi angstvoll rief: »Aber nich doch, da kommen ja Leute.«
Und damit hatte sie nicht unrecht. Denn ein paar Schritte vor und ein paar Schritte hinter ihnen gingen Paare, die sich auch nicht darum kümmerten, daß da auch andre Leute kämen.
»Endlich is der Jroschen jefallen«, sagte die Russengrüne und hielt ihm glücklich und die Augen schließend den Mund hin. Sie war ja lange nicht mehr geküßt, nur geküßt worden.
Und die Russengrüne hatte recht, es war eigentlich kühl geworden. Das uralte Land hier, das noch vor zehntausend Jahren Gletscher sah, hat seinen alten Eishauch nachts selbst im Sommer nicht ganz vergessen. Und sie hatte weiter recht: es gab Pichelsteiner. Aber man mußte, denn jetzt war der Garten voll von Leuten, die zum Abend herausgefahren waren, und schwirrte von Lärm und Gläserklappern und war durchzuckt von den knirschenden Tritten der Kellner auf dem Kies ... Die Motten schossen erst gegen die Laternen, in denen rote Petroleumfunzeln qualmten, und fielen dann kopfüber in die Bierseidel. Und die Mücken flogen den Damen unter die Röcke, wenn sie vom Hals verscheucht waren, und stachen sie in die Waden. Denn solche Mücke ist keineswegs von niedriger Intelligenz ... Also sie mußten zwar eine ganze Weile warten, aber dann kam es doch, das Pichelsteiner! Reichlich gepfeffert war es, aber dafür waren es auch große Portionen. Denn die Ruderer, die vom Wasser kamen, brachten Appetit mit. Und wenn es hier einmal zuwenig gewesen wäre, dann wären sie ein Haus weiter in »Ruderers Lust« gegangen, wo es zwar unvornehmer, aber dafür gemütlicher war.
Und Rosenemil guckte der Russengrünen sehr auf die Finger; denn sie aß mit angezogenen Ellenbogen und ganz von oben herab, überaus manierlich. Wie man das von einem Mädchen auch erwarten kann, das auch mit besseren Herren ausgeht. Manche lernen es nie. Wenn die da so mit dem Messer ins Wiener Schnitzel sticht, das ist gar kein Benehmen nich! Und drin im Saal drehten sich jetzt die Ruderer in kurzen Hosen und die Segler in blauen Jacken mit Goldknöpfen, als Kapitäne maskiert, mit ihren Damen, von denen sie als Kielschweine sprachen (und sie waren auch rosig wie solche unter der braunen Schicht von der Sonne des Nachmittags), drehten sich unter den bunten Lampions, die gefährlich schwankten, in einem Hecht von Zigarrenrauch, den man mit einem Messer hätte tranchieren können. Der menschgewordene Musikautomat hämmerte seinen Rixdorfer und seine Holzauktion, denen die Paare, die nicht nur tanzten, sondern auch sangen, noch weit volkstümlichere Texte unterlegten als jene, die ihnen schon zu ihrer jahrelangen Berühmtheit verholfen hatten.
Einmal schwenkten Rosenemil und die Russengrüne sich herum. Aber der Zauber von vorhin war verweht. Sie kamen auch nicht recht vorwärts in dem Gewühl, in dem jeder nur auf der Stelle schassieren konnte und jeglicher Versuch, weiter und von der Stelle zu kommen, mit Püffen beantwortet wurde. Die Russengrüne nickte zwei rosigen und braun verschminkten Kielschweinen, die miteinander tanzten und dazu blaue, kurze Matrosenkleidchen und blaue Mützchen trugen, vertraut zu. Sie sahen übel aus. Aber wahrscheinlich noch lange nicht so übel, wie sie waren.
»Wer war denn das?« fragte Rosenemil, der die Sorte kannte.
»Ach Gott, Emil«, sagte die Russengrüne, »des sind nur ein paar Kinder aus meine Klasse gewesen. Mit die war ich früher in der Siebenachtzigsten zusammen. Aber nun jehn wir: ich schnappe schon nach dem Bettzipfel.«
Und dann saßen sie wieder im Anhänger und ratterten der Stadt entgegen.
Wirklich: es ist ganz hübsch mal, wenn man mit einer so netten Dame, die einem gegenübersitzt, damit sie keinen Zug bekommt (denn das soll sie nicht, meinte sie), im offenen Anhänger des Abends in die Stadt wieder 'reinfährt. Und auf der einen Seite, am Ende der Straße, der brandige, melancholische Streifen über dem Himmel ist, und der Abendhimmel darüber ganz lichtgrün und hell ist und so allmählich erst in Vergißmeinnichtblau übergeht. Und unten in dem Himmelsgrün, da sind man erst zwei, drei große Sterne. Die funkeln wie 'ne Blendlaterne. Jedoch oben, im Blau dagegen, sind schon 'ne Masse!
»Sehn Se mal, Frollein Lissi, des sieht ja nich so übel aus. Un sone Gasometer und sone Fabriken mit hundert helle Fenster – da arbeiten se wohl de Nacht durch! –, das macht sich eigentlich sauber. Ville besser als am Tag. Da acht' man ja janich druff.«
Die Polenliese hatte sich ihren Kragen hochgeschlagen, und ihr Köpfchen aus dem grauen Krimmerkragen – na ja, bei Nacht is aller Krimmer grau – sieht mit verschleierten Augen zu Rosenemil herüber ... Also, über den Mann kann man sich kugeln, der sagt doch immer noch »Sie« zu ihr. Die andern sagen nach fünf Minuten »du«.
Ja, und dann hörten Feld und Lauben und Gasometer und Fabriken auf, und es kommt Berlin ... mit seinen Häuserreihen ... mit seinen Balkons in Reihen, auf denen die Menschen in Hemdsärmeln um Petroleumlampen mit roten Schirmen sitzen ... Mit seinen Cafés, vor denen auf den Terrassen mit den Kästen von wildem Wein Stühle warten, bis einer kommt ... Mit seiner Militärmusik, die aus den Brauereien und aus den Sommergärten klingt und die Potpourris aus dem Präsentiermarsch, dem Hohenfriedberger, und dem Sang an Ägir schmettert ... Mit seinen Zeilen von Straßenbahnen, die sich stauen, weil eine Notweiche wo gelegt ist und an den anderen Schienen unter Karbidlampen gearbeitet und geschliffen wird auf elektrischen Motoren, die wie kleine, unheimliche, schwarze, am Boden hockende Tiere grünblaue Funkenbündel sprühen ... Mit seinen Bogenlampen in den Hauptstraßen und seinen Gasglühlichtlaternen mit dem grünen Licht in den kahlen und toten Nebenstraßen, deren bißchen Leben noch ständig in die Hauptstraßen abströmt ... Mit beleuchteten Giebelreklamen! Die Eingänge der Kintöppe speien Menschenströme wie Lavaströme aus, weil die letzte Vorstellung von »Die Rache des Eunuchen« oder »Die Hochzeit des Sultans, zweitausendzweihundertdreißig Meter lang«, eben zu Ende gegangen ist.
»Also man muß nur die bunten Dinger von Plakaten sich ansehen. Dann glaubt man gar nicht, des es so was gibt. Aber es jibt eben nischt, was es nich gibt«, sagte die Polenliese.
Und über allem der warme Brodem – denn hier hatte es sich gar nicht abgekühlt! –, der wie eine Wolke zwischen den Häuserreihen hing, jener warme Brodem der Großstadtnacht mit seinen tausend Gerüchen, der aus den Läden und Höfen, von Frauen und Männern kommt. Von den Haustoren, von den Blumen der Balkons, vom Asphalt, der wieder hart wird, von braunduftenden Pferden und von dem Rauch der Fabriken und von den Grün der Anlagen und von den zwei Dutzend qualmenden Stinkdroschken, die durch die Straßen hoch und stolz daherrumpeln. Von Akazienbäumen um die Brauerei, denn die blühen noch und duften orange ...
Und in dessen, des Brodems, Hauch, in dessen Wärme die Menschen und Hunderte von Liebespaaren dahinschlenderten, denn es ist ja Sonnabend nacht! Und morgen ist Sonntag! Die ganzen vierundzwanzig Stunden über wird Sonntag sein! Und außerdem ist eine herrliche Juninacht, und da treibt es sie alle heraus, weil sie, trotz ihrer Liebe, doch mit ihrer Sehnsucht nicht wissen, wo sie hin sollen ... Man konnte wirklich kaum entscheiden: Hat sie alle die warme brodelnde Mitternacht noch herausgetrieben und läßt sie nicht heimfinden? Oder ist die nur so warm und weich und brodelnd als Fluidum der tausendfachen Sehnsucht, die in ihr zittert.
»Was brauchen wir den großen Bogen erst zu machen«, sagte die Polenliese, »die nächste Haltestelle gehen wir 'raus, und denn jehn wir das Stückchen nach de Lothringer zu Fuß. Früher hab' ich ja hier in de Eichendorffstraße jewohnt. Aber de Lothringer is vornehmer.«
In Rosenemils Brust regte sich ein leichter Zweifel darob, ob die Lothringer Straße wirklich so viel vornehmer war als die Eichendorffstraße ... Denn er kannte beide ganz gut. Eigentlich war das doch gehuppt wie gesprungen ... Aber so eine konnte die Russengrüne nicht sein, dazu war sie zu nett. Und denn – war sie für ein Mädchen aus de Lothringer viel zu gut angezogen ... Und denn war sie ooch zu schön. Jeder Jraf hätte sich jefreut, wenn se ja zu ihm jesagt hätte ... Was brauchte die so was?
Wie hübsch sie so untergefaßt gingen, zwischen all den Menschen. Er mit der Rose im Knopfloch und mit der neuen Krawatte um. (For 'n Abend jing ooch der Anzug noch, da sah man gar nicht, wie abgerieben der Stoff war ... Und der Strohhut, den hatt' er heimlich noch mal, wie er abstieg – da brauchte er sich vor niemand zu genieren – von de Bahn, die Krempe gradegebogen.) Und sie mit dem Krimmerkostüm und dem Schirmchen und der Pleureuse auf dem Hut und den Rosenstrauß im Arm ... wie ein neugeborenes Kind. Und dann gingen sie so gut zusammen. Sie paßten so in de Jröße und so in'n Schritt. Genau so gut, wie sie zusammen getanzt hatten. Und eigentlich war er auch froh jetzt, daß er seine schwarze Wachstuchtasche verloren hatte. (Denn wie würde denn das aussehen, wenn er mit sone Dame hier unter den einen Arm und mit seine olle schwarze Wachstuchmappe unter'n andern Arm hier herumzöge?) Immer vornehm, Emil, wenn dir auch hungert!
Aber ihn hungerte jarnich. Er war satt. Er war satt, satt und so froh dabei, wie lange nicht ... Na ja, des Mädchen hatte für ihn bezahlt, und vielleicht würde es sogar – aber er glaubte es noch nicht recht! – die Nacht gut zu ihm sein. Aber, wer sagte es denn, daß, wenn er erst jetzt mal Geld hätte ... und es gibt viele, die in Berlin zu Geld kommen: uff de Straße liegt es, man muß nur verstehen, es aufzuklauben ... wenn er einen guten Artikel kriegt. Mit Straßenhandel, da sind Leute dran schon so reich geworden, daß se nachher die andern auf de Straße geschickt haben, wie Brandeisen, der hat heute achtzehn Wagen 'rumfahren. Also – denn jeh ich mit ihr in det feinste Weinlokal dafür. Von mir aus soll se bei Kempinski die janze Speisekarte zweimal 'rauf und 'runter essen, ich werde nur sagen: »Nimm doch noch een bißken von de Schwedenfrüchte, Lissi.« Und er sah – denn die Phantasie des Menschen arbeitet prompt und bildhaft – sich selbst mit einem blonden, hochgedrehten Schnurrbärtchen und sehr gestriegelt und gebügelt und mit einem Kragen und einem Oberhemd, die so weiß waren, wie sein Chemisettchen und sein Gummikragen grün waren, vor einem Tischtuch sitzend, das ihm Licht und Helligkeit von hundert versteckten Birnen ins Gesicht strahlte und auf dem halbvolle Rotweingläser und Flaschen und eine silberne Schale mit Zucker und ein rot leuchtender Hummer mit riesigen Scheren auf einer silbernen Platte so deutlich lagen, als lägen sie unter dem Scheinwerfer eines Operationstisches. Und er sah Lissi sich gegenüber, wie sie ihn glücklich und dankbar anlächelte. Aber er tat, als ob er alle Tage so futterte.
Die Russengrüne nickte einem Mann zu, der an einer Laterne stand. Das heißt, sie nickte ihm nicht zu eigentlich, aber sie kannte ihn, das merkte der Kolporteur, und jener kannte sie, das fühlte er ebenso. Wie kamen die zueinander? Und der da stand auch nicht an der Laterne, sondern er stand einen halben Meter ab von der Laterne in der Straße, die ziemlich schlecht beleuchtet war. Nur sein breiter Bullenrücken war an dem Laternenpfahl, und der auch nur mit ein paar Zentimeter eigentlich. Und er stand auch nicht mit dem rechten Fuß rechts und dem linken Fuß, an denen er rote Plüschmorgenschuhe hatte, links, sondern er stand mit dem rechten Fuß links und mit dem linken rechts. Indem er nämlich die Beine übereinandergeschlagen hatte. Ebenso wie er die Arme verkreuzt hatte. Und da er so stand – man verstand eigentlich nicht, wie er so stehen konnte, denn es sah nicht aus, als ob er sich an den Laternenpfahl lehnte, sondern als ob der Laternenpfahl bei ihm Schutz gesucht hatte –, so senkte sich natürlich das Kinn seiner Brust zu, die bloß, frei und behaart aus dem halbrunden Ausschnitt eines rot und weiß und quer gestreiften Trikots herauskam, ja – herausquoll wäre auch nicht richtig, dazu war sie zu fest und muskulös! Also sagen wir: sich herausschob. Und dort, wo sie sich dem Ausschnitt entwand – so hell war es gerade unter der Laterne, daß man das sah! –, die Spitzen und die Segel eines Dreimasters in blauer und roter Tätowierung für jeden, der gerade dahin blicken mochte, freigab. Das sehr kurze Jackett mit sehr kurzen Ärmeln hatte er nicht angezogen, sondern über die breiten Schultern gehängt, so daß es über die Muskelbündel von Armen nur noch halb hinabfiel, denn er liebte es scheinbar, die Brust frei zu haben. Aber, wenn er es auch liebte, die Brust frei den Blicken zu bieten, hielt er doch darauf, bedeckten Hauptes zu gehen. Denn er hatte die rostbraune Ballonmütze, die wirklich etwas von einem halb aufgegasten Fesselballon hatte, der auch nicht weiß, ob er sich nach links oder nach rechts legen soll, mit dem Schirm tief über das linke Auge gezogen und so eine schwere Haarlocke sich rechts über die freie Stirn gewischt. Man wußte nicht, hatte er das wirklich nur improvisiert, oder übte er es, wie ein guter Schauspieler, täglich eine halbe Stunde vor dem Spiegel, bis es so saß, wie er es für seine Rolle brauchte. Aber obwohl man nicht feststellen konnte, daß er mit dem einen verdeckten Auge etwas sah, hatte man doch das unabweisbare Gefühl, daß er mit dem unbedeckten alles aufs allergenaueste beobachtete, was sich in dieser Straße zutrug; wer ging und kam. Und daß er jedes Mädchen, das im Halbdunkel an dem andern Straßenende patrouillierte, genau unterschied und im Auge behielt. Obwohl das auf die Entfernung kaum noch eine Katze gekonnt hätte. Und obwohl er scheinbar auf nichts achtete und ganz still vor sich hin träumte, wußte man doch, er hörte genau, wenn sechs Häuser davon die Haustür geschlossen wurde, und er unterschied, ob die Schritte, die da drüben übern Hof gingen, in Nummer achtzehn oder in Nummer sechzehn waren.
Dabei war es ein Mann in den Dreißigern nach den Vierzigern hin – wo sie auslegen. Und sein Gesicht war gar nicht mal so uneben. Es war weder frech noch davot. Im Gegenteil, es hatte sich auf stille Gutmütigkeit zurechtgemacht. Aber das war ihm nicht allzugut gelungen, da schimmerte so allerhand durch den Firnis durch.
Was is denn des for'n Gewaltslude? sagte sich – eben hatte er noch im Frack bei Kempinski gesessen – der Kolporteur. Und wie kommt Lissi zu so'n Kerl? Denn gekannt hat sie ihn doch!
Laut aber sagte er: »Den möchte ich auch nicht alleen im Dunkeln begegnen, Lissi.«
Die Russengrüne, die schwerer an seinem Arm hin, sie war das nicht gewohnt, draußen 'rumzurennen, und außerdem hatte sie eigentlich von den letzten sechsunddreißig Stunden kaum vier geschlafen, sie hatte ein paarmal so ganz verstohlen schon gegähnt, stutzte.
»Ach Gott«, meinte sie nach einer Weile dann sehr sachlich, »weeßte, des sieht alles nur so aus. Der tut keinem Menschen was. Det is eigentlich ein ganz netter und sogar sehr anständiger Mensch von Gesinnung. Da haben wir Beweise für. Natürlich, er darf keinen in de Krone haben, denn haut der Palisadenkarl en janzes Lokal 'raus, daß keen Stuhl janz bleibt. Aber sonst is er um'n Finger zu wickeln. Mit 'n Jemüt wie'n Kind ... Aber paß mal auf: Jetzt jehste da unten 'rein, da drüben, wo – kannste lesen? – diverse Biere aller Sorten' dran steht, und denn hole ich dir wieder da in zehn Minuten ab, und solange kannste mir 'n Kuß geben, Rosenemil! Bin ick nich nett zu dir?«
»Junger Mann«, sagte jemand hinter Rosenemil, als er sich eben vorbeugen wollte, um den ihm gegebenen Auftrag auszuführen. (Jetzt war ihm alles gleich: Der Mensch ist, wer er ist, und wat er is, is gleich. Der Mensch is de Hauptsache. Und kein Mensch kann sagen, wie ein Mädchen zu so was kommt!) »Junger Mann«, sagte jemand, mit einer ganz hohen, zwitschernden Stimme, »junger Mann, erregen Sie hier kein öffentliches Ärgernis.« Die Russengrüne zuckte zusammen, solche Dinge liebte sie nicht. Nachher kam sie nach Barnim. »Aber Spitzmaus!« schrie sie. »Machen Sie hier doch nich so'n Unsinn mit de Menschen, man kann ja den Tod vor Schreck kriegen.«
Also das war doch der kleine, alte, versoffene Student in de Talentwindel wieder von heute vormittag von de Bank Unter den Linden. Nie sieht man einen Menschen, und den trifft man gleich an einem Tag zweimal ... Großartig, vielleicht weiß er auch, wo meine Wachstuchmappe hingekommen ist!
»Sieh mal, da kommt ja des Doktorchen ooch anjelatscht – ach, Herr Sanitätsrat, da sind Sie ja auch. Des is Herr Sanitätsrat!« Aber er war es noch gar nicht, hatte mindestens fünf Jahre noch Zeit, bis er's wurde. Doch die Mädchen sagten nu mal alle so zu ihm. »Doktorchen, wie jeht's denn? Wir waren draußen ins Jrüne. Herr Doktor Levy! Und des is Herr Emil Lehmann.«
Der Doktor war ein kleiner Mann, und er war kein schöner Mann, er hatte eigentlich ein Gesicht wie ein Entenschnabel, und seine Anzüge sahen immer aus wie aus'n Sack gegriffen. Und die Hosen hatten nach acht Tagen Kniesäcke und nach zehn Harmonikafalten ... Aber das lag durchaus nicht an den Anzügen – teuer genug waren sie –, sondern an ihrem Träger oder dessen Haushälterin. Aber vielleicht hatte die das jahrelang versucht und dann aufgegeben, ihn in Ordnung zu halten. Er trug einen Umlegekragen und ein schwarzes Flügelschleifchen. Er hatte den Tag über gearbeitet wie ein Pferd, fünfundsiebzig Patienten – und war endlich des Nachts auf die Straße gekommen. Nachdem er noch vier Stunden gelesen hatte. Denn er war ein großer Literaturfreund – war 'rausgekrochen wie ein Dachs aus seinem Bau. Wenn er mit jemand sprach, so sah er über die Kneiferränder fort ihn an, als ob er damit sagen wollte: Augenblick, Augenblick, ich möchte nur mal 'ne kleine Diagnose stellen. Ich behalte es auch ganz für mich ... Schweigepflicht, Schweigepflicht, mein Lieber – oder meine Liebe. Auf mich können Sie sich verlassen. Es gibt so Kollegen, die quatschen alles 'rum. Auf mich können Sie sich verlassen. Er war ein alter, eingefleischter Junggeselle, und seine Hausdame war zwanzig Jahre älter als er. Er kannte und duzte alle Mädchen hier zwanzig Straßen im Umkreis, schickte nie eine Rechnung; und keine konnte sich anders rühmen, denn ärztlich bei ihm gewesen zu sein. Oder auch nur mit ihm zusammen ein Glas Wein getrunken zu haben. Wenn auch manche schon eine Flasche Wein von ihm getrunken hatten.
Denn ob sie die Medizin sich machen ließen, die er verschrieb, das wußte Doktor Levy nicht. Und ob sie sie, wenn sie sich machen ließen, dann auch pünktlich nahmen, das wußte er auch nicht. Auch, wenn sie es ihm versicherten, weil es ja meistens doch pathologische Lügnerinnen waren. Aber daß sie die Flasche Rotwein, die er ihnen mitgab, tranken, das wußte er bestimmt.
Und manchmal tat sie ihnen genausogut wie eine Medizin. Ja, besser als die. Denn die schmeckte nur schlecht und nützte ihnen zwar auch nicht, den Mädchen, aber sie gab ihnen wenigstens etwas Lebensfreude. Und das eine wußte er genau: sie kamen dann wieder zu ihm. Und man konnte doch vielleicht zum Schluß noch eine ganz dicke Sache mal stornieren und verhüten bei den Mädchens.
Aber eigentlich hatte er die Rotweintherapie nur deshalb eingeführt in die Wissenschaft, wie er zu Spitzmaus sagte, ut aliquid fiat. Denn Doktor Levy war Skeptiker von Beruf und glaubte an nichts, auch wenn er einige Dinge allhier innig liebte. Nur eine Sache gab es, an die er noch weniger glaubte als an alle andern, mochten sie nun Menschen (von denen er nur die unter zehn Jahren als würdig dieses Titels gelten ließ), Liebe, Staatsgemeinschaft, Familie, Geschichte, Erkenntnistheorie, Naturwissenschaften, Religion, Seele, Ethik, Mitleid mit dem andern oder Technik heißen, und diese eine Sache war die Medizin, die Heilkunde als Zweck, Sinn, Wissenschaft oder Nutzen für den Patienten. Eine seiner Thesen lautete, daß der Patient ohne den Arzt ebenso leicht gesund wird, aber weit weniger leicht stirbt. Was ihn nebenbei nicht hinderte, ein unerhört gewissenhafter und als zuverlässig bekannter Arzt nicht nur auf seinem Spezialgebiet – für das ja hier reichlichstes Studienmaterial vorhanden war – zu sein, sondern einer mit einer fast seherhaften Fähigkeit der Diagnostik.
Und der Polenliese hatte er zwar solche Gallertkügelchen verschrieben, die wie braune durchscheinende Tröpfchen in einem braunen Glas herumpurzelten und nach Kreosot schmeckten, aber ihr außerdem noch zugleich eine Flasche Burgunder mitgegeben. Und das war eigentlich die dritte Medizin ... Spanischer Gesundheitswein zu fünfzig Pfennig hieß: Das kann gewiß dir mal nichts schaden, armes Luder! Bordeaux hieß: Ich mißtraue der Geschichte. Und Burgunder hieß: Die Sache gefällt mir nicht; ganz klar und deutlich: Ich kann zwar bislang noch nichts rechtes finden, aber – sie gefällt mir nicht! Volnay 97 war das letzte: Nischt zu machen! Sich selbst verschrieb er nur Volnay, weil er behauptete, daß er von je ein hoffnungsloser Fall wäre.
Doch, da kleine Geschenke die Freundschaft erhalten und eine Flasche Macon durchaus kein kleines Geschenk ist, so war die Polenliese mit Doktor Levy sogar sehr gut befreundet, und er, was merkwürdig war, er mit ihr auch. Denn sie war wirklich ein netter Mensch, immer von einer gleichmäßigen und zarten Freundlichkeit zu ihm, und sie war das schönste und aparteste Mädchen zehn Straßen im Umkreis. Daß sie sich hier draußen unter den Pöbels vergrub, statt im Westen ihr Glück zu machen, verstand er nicht. Aber vielleicht, so meinte er, sagte sie sich mit Cäsar: Lieber in Posemuckel die erste als in Rom die zweite. Da wäre sie nur eine von vielen gewesen, aber hier so um die Lothringer Straße 'rum war sie die Königin, unbestritten, seit Jahren. Und sie ließ auch keinen von den Kerls an sich 'ran ... Einmal hatte einer versucht, ihr den Fuß auf den Nacken zu setzen, und den hatte die Polenliese mit einer Energie, die ihr keiner zugetraut hatte, nach vier Wochen Hals über Kopf herausgeworfen, und als er noch Reden geführt hatte, er würde ihr auflauern und sie kaltmachen, war er vom Palisadenkarl derart verschlagen und zusammengestochen worden, daß ihn selbst Doktor Levy, den man in der Nacht schnell in »Die blaue Zwiebel« heruntergeholt hatte, kaum mit sieben Nadeln richtig hatte zurechtflicken können. Und seitdem war er aus der Gegend verschwunden. Außerdem hatte er jetzt vor dem Schönhauser zweie gleich, die für ihn liefen; und so hatte er ja eigentlich bei der ganzen Sache materiell keinen Schaden erlitten. Edlere seelische Teile waren, wie Doktor Levy sich ausdrückte, bei diesem miesen Kunden nicht verletzt worden, wohl aber war der eine Stich einen halben Zentimeter von der Schlagader gerade noch so vorbeigewutscht. Beinah wär' ihm der Kerl unter den Händen verblutet. Das hätte um ein Haar eine schöne Bescherung gegeben. Denn Doktor Levy schätzte bei solchen kleinen Zwischenfällen in seiner Gegend mehr, wenn die Sache in intimen Zirkeln erledigt wurde, als wenn in solche kleinen privaten Auseinandersetzungen groß Polizei und Gerichte mit hineingezogen würden. Was, wie er sagte, die Beziehungen der Menschen unter sich nur erschwerte und ihm unnütz mit Schreibereien die Zeit wegnahm, die seinen Patienten gehörte. Er wußte – ein »Antimephisto«, wie der kleine Benjamin nicht unoriginell sagte – mit dem Blutbann trefflich, aber mit der Polizei nur schlecht sich abzufinden!
»Na, Fräulein Lissi«, sagte er und streckte, was er sonst nie tat, die Hand mit einer streichelnden Bewegung nach ihr aus. Aber es war ein Luftstreicheln, nur eine symbolische Andeutung eines Streichelns. »Na, Fräulein Lissi, nehmen Sie auch pünktlich dreimal täglich ein, wie ich es Ihnen gesagt habe?«
»Aber des is doch Ehrensache«, sagt Lissi, »Herr Sanitätsrat.« Und legt beteuernd die schlanke Hand dorthin, wo sie das Herz vermutet. »Aber selbstmurmelnd. Des halbe Glas is schon leer.« Und damit wich sie auch nicht von der Wahrheit ab; es war auch leer. Denn, nachdem sie zweimal die Pillen heruntergeschluckt hatte und gefunden hatte, daß sie schlecht schmeckten, hatte sie zuerst mal eine kleine Handvoll davon ins Nachtgeschirr geschüttet, damit sie abnehmen, und die andern dann nicht mehr berührt.
»Na also, dann laß dir mal wieder bei mir sehen, Lissi«, sagte der Doktor Levy – man muß immer die Sprache seiner Straße sprechen –, »aber komm auch!« Und lüftete gegen den Kolporteur seinen Hut, der ein alter und verschwitzter und verbogener Filzdeckel war, obwohl er kaum vier Wochen seinem Herrn diente. Auf Äußerlichkeiten gab er nichts.
»Ach, verzeihen Sie«, sagte der Kolporteur. »Wir haben uns doch heute Unter den Linden getroffen, Herr? Haben Sie vielleicht gesehen, wer meine Tasche mitgenommen hat. Solche schwarze Wachstuchtasche.«
Aber Spitzmaus hatte es leider wirklich und wahrhaftig nicht gesehen, war ja vorher schon mit Laubfrosch vor dem einbrechenden Militarismus entflohen. Der jetzt da drüben wieder in der Kneipe saß und nicht wegzubringen war.
»Aber wie war doch das schöne Liedchen, was Sie von Ihrer Frau Mutter gelernt haben?« piepste er. »Wat Unter de Linden als Hoju kommt in'n Topp, das schmeißt man unter de Frankfurter Linden den Schlächter an'n Kopp ... Lieber junger Mann«, und er machte pathetische Handbewegungen, daß sein Havelock, den er sonst ängstlich zuhielt, denn er hatte schon längst keine Knöpfe mehr, weit aufflog und er darunter, da seine Weste und sein Jackett bei Peten Nachhilfestunde hatten, die ganze geflickte Dürftigkeit seines alten Oberhemdes zur Schau stellte. So ganz nüchtern war er ja nun auch gerade nicht mehr. »Lieber junger Mann, da steckt eine tiefe Wahrheit drin, was bei die feinen Äser da drinnen so'n bißchen Hautgout ist, das kommt hier draußen, hier kommt des ganz schnell auf den Kehrichthaufen.« Er hatte etwas von einem bekommen, der mit Zungen redet, das kleine piepsige Männchen das, die Spitzmaus. »Und wat habe ich Ihnen beigebracht? Na, wissen Se noch, junger Mann? ›Biste am Pariser Platz, is se sicher schon dein Schatz.‹ Also sehn Se, da haben Se doch was von mir gelernt, das Se praktisch im Leben gleich verwenden konnten, edler Jüngling. Ich habe weder im Gymnasium noch in dreiunddreißig Semestern auf der Universität irgend etwas gelernt, was ich praktisch im Leben verwenden könnte.«
Die Polenliese zog Rosenemil lachend weg. »Ach komm«, sagte sie. »Gehn wir nach Hause. Also die Spitzmaus macht nun seit zehn Jahren in jeder Kneipe denselben Quatsch.«
Der Doktor Levy sah den beiden nach, die da ... ein hübsches Paar, wenigstens in der Größe und vom Rücken aus machten sie sich sehr gut, denn da fielen ja für Rosenemil peinliche Details der Kleidung, die von vorn und am Tag ihn degradierten, fort ... die da, ein hübsches Paar, im Gehen sich leicht in den Hüften wiegend und sehr untergefaßt und ohne Zweifel sehr glücklich, nach der Querstraße zu verschwanden, in der die Polenliese hauste. Denn wenn sie gesagt hatte, daß sie in der Lothringer Straße selbst wohnte, so war das reichlich übertrieben. So vornehm, in der Lothringer Straße selbst, wohnte sie gar nicht. Sondern ein paar Häuser um die Ecke herum in der halbdunklen Querstraße, die auch nicht viel anders aussah wie jene, in der der Palisadenkarl da vorhin die Laterne mit dem Rücken vor dem Umfallen bewahrt hatte und die so kahl und grau und baumlos war wie die Hochebene Castiliens.
Doktor Levy starrte ihnen mit gesenktem Kopf über die Ränder des Kneifers nach, der, wie wäre das auch anders zu erwarten gewesen, schräg über den wund geriebenen Nasenrücken ihm hing ... wortlos und kopfschüttelnd ihnen nach ... und mimmelte skeptisch mit seinem Entenschnabel von Mund. Das heißt, er bildete mit der klumpigen und doch spitzen Nase vereint – wie ja auch ein Schnabel zwei getrennte Hälften hat – erst einen richtigen Entenschnabel, der dem ganzen Gesicht den Ausdruck einer Ente auf dem Land gab. Im Wasser sieht sie ganz anders aus. Da ist sie in ihrem Element.
Doktor Levy war ein ziemlich guter Kenner nicht nur des Geschlechtslebens, sondern auch der Umgangsformen seiner Klienten, und er wußte genau, daß ihm die Polenliese irgendeinen Freier, den sie sich gerade eben zugelegt hätte, niemals vorgestellt hätte, daß das da also tiefer gehen mußte. Ja, er wußte in dieser Sekunde schon viel, viel mehr als Rosenemil (er hatte sich den Jüngling sehr genau bekiekt) und vielleicht sogar noch viel mehr, als die Polenliese selbst wußte. Na ja, besser wie der miese Kunde, den er damals in der ›Blauen Zwiebel‹ hinten auf dem Schenktisch im Nebenzimmer bei einer Stearinkerze schnell wieder zusammengeflickt hatte, sah der da schon aus. Ein bißchen schwach vielleicht. Doch wenigstens kein so'n eiskalter Topplude.
Außerdem war er weder über dieses Mädchen noch deren Freunde in irgendwelchen mythenhaften Vorurteilen befangen. Und das Bonmot von ihm: »er wünsche den Spießerehen hier herum soviel Glück und echtes Gefühl zueinander, wie es in den Ehen seiner Kreise gäbe, die keine Ehen wären« wurde von Spitzmaus als dessen geistiges Eigentum – denn Eigentum ist Diebstahl! – eifrig kolportiert.
»Wissen Se, Spitzmaus«, sagte er bedächtig, »ick verstehe, so seit neunzehn Jahren so ungefähr, nich mehr sehr viel von der Vorderseite ... Wer solch Adonis wie Doktor Arthur Levy is, kann auch darin nicht allzuviel und allzu tiefe Erfahrungen mehr machen! Aber ich verstehe was von de Kehrseite der Medaille, die se hier Liebe nennen. Die Vorderseite soll sehr schön sein, versichern nu de Menschen seit zweitausendfünfhundert Jahren.
›Süßer nichts als die Liebe ...
Die anderen Segnungen alle ... kleiner.
Den Honig sogar weis' ich vom Munde zurück.‹«
»Meleager!« riet Spitzmaus.
»Alles muß bei dem Ignoranten Meleager sein.« Doktor Levy weinte fast, wie ein nervöser Schullehrer, der im Griechischen einen falschen Aorist zur Antwort kriegt ... »Nossis! Aus Lakonien! Ne Dichterin! Wenn auch keine Sappho! Um zweihundertachtzig! ›Vor‹ natürlich, Mann! In Süditalien!«
So war es nebenbei: Doktor Levy nannte Spitzmaus einen Ignoranten und weidete sich an seiner geistigen Überlegenheit und vor allem an seinem durch Alkohol noch nicht geschädigten Gedächtnis.
Spitzmaus nannte Laubfrosch einen Ignoranten und weidete sich, denn viel blieb ihm sonst nicht an seiner geistigen Überlegenheit.
Und Laubfrosch hatte eigens ein paar Kulis scheinbar für einen Schnitt Helles sich engagiert, an die er das gestern Gehörte im »Schlotterigen Gummischuh«, in der »Blauen Zwiebel«, im »Strammen Hund«, in der »Schmalen Weste« und wie immer seine Lieblingslokale hießen weitergab, um jene wieder Ignoranten zu schimpfen und sich an seiner geistigen Überlegenheit zu weiden.
Wen die sich aber dazu angestellt hatten, entzieht sich der Kenntnis.
»Ja aber«, meinte Doktor Levy nach einer Pause, und jetzt schnatterte der Entenschnabel ganz leise, »wenn Sie das und allein nur das zu sehen gekriegt hätten, was ich heute an einem Tage in meinen Sprechstunden zu sehen bekommen habe, so würden Sie, genau wie ich, Spitzmaus, nur schwer begreifen, wie die Vorderseite der Medaille aussehn müßte, um solch eine Kehrseite zu rechtfertigen. Ich wenigstens kann mir, und wenn ich den Ossa auf den Pelion türmen würde, solche Vorderseite nicht vorstellen.«
»Plaisir d'amour«, zwitscherte Spitzmaus, »ne dure qu'un moment ... chagrin d'amour dure toute la vie.«
»Singen Sie doch nicht sone welschen Zynismen, Spitzmaus!« weinte der Entenschnabel. »Verstehen Sie eigentlich, warum die Polenliese durchaus sich darauf verlegt, die höchst achtungsbedürftige Dame zu spielen?« Denn Levy liebte es, einfache Dinge zu umschreiben und etwas kompliziert auszudrücken, genau wie Spitzmaus. Außerdem hatte er Spitzmaus gern, weil er ein unheilbarer Alkoholiker, aber ein gebildetes Haus war und ein Mann mit viel Fingerspitzengefühl in humanioribus, in den menschlicheren, nicht in menschlichen Dingen nur. »Also die Polenliese«, fing Levy wieder an, »ist doch ein Prachtstück von einem Frauenzimmer. Lieb und gut und schön, schööön, schööön. Sie sehen ja so was nicht, Spitzmaus! Aber in Athen bekam so was Standbilder. Und in Florenz hat so was als Venus sogar Botticelli gemalt.« Er heulte mit Worten, wie'n Hund, wenn man mit Worten überhaupt heulen kann. »Und bei uns rennt so was des Nachts mit 'n Pompadour und mit 'ne Pleureuse auf 'n Hut in de Lothringer Straße 'rum. Zu helfen is ihr natürlich nich. Weder so noch so. Ich kann ihr nicht helfen. Und die famose ... dieses Unikum an Scheußlichkeit ... die süße Welt wird ihr auch nicht helfen.«
»Na, is uns vielleicht zu helfen?« piepste Spitzmaus dazwischen. Aber es war mehr eine rhetorische Frage. Er erwartete keine Antwort. »Immer diese jüdische Gefühlsseligkeit!« Und er schluckte, wieder ganz in seinen Mantel eingerollt, als ob er keine Spitzmaus, sondern eine Fledermaus wäre, die sich in ihre Flügel wickelte ... Er schluckte tief auf, ohne daß man hätte sagen können, ob er das vor halber Trunkenheit oder vor ganzer Rührung tat.
»Die Schustersfrau« – aber Spitzmaus verstand sofort, er kannte das Urbild der Venus Botticellis – »ist auch nicht viel älter als dreiundzwanzig geworden«, sagte Doktor Levy, »und lebt heute noch! Im Oktober, wenn ich wieder unten bin, werde ich ihr ›Guten Tag‹ sagen und sie von der Polenliese schön grüßen. Aber vielleicht können sie sich dann schon beide persönlich miteinander unterhalten.«
»Herr, dunkel ist der Rede Sinn«, piepste Spitzmaus dazwischen. Plötzlich ging ihm, ging Spitzmaus, wie er sagte, ein Animus auf, denn er hatte ja auch mal, als er das drittemal umsattelte, acht Semester Medizin studiert bis zum Physikum. Er stellte sich vor den Entenschnabel hin, blinzelte ihn mit seinen kleinen Äugelchen an und mimmelte ein paarmal mit seinem hängenden Schnurrbart. Wirklich, er sah in diesem Augenblick genau wie eine menschgewordene graue Spitzmaus aus oder wie ein zur Spitzmaus gewordener Mensch.
» Tbc«, pfiff er zwischen den Zähnen hervor, »so'n ganz kleines niedliches Tbcchen?«
»Mensch«, sagte der Doktor Levy, plötzlich laut und brüsk. »Haben Sie schon je gesehen, daß Doktor Arthur Levy von einem simplen, einfachen, ganz kleinen und niedlichen Tbcchen, wie Sie zu sagen belieben, sich imponieren läßt oder davor die Segel streicht!«
Und dann drückte Doktor Levy Spitzmaus ganz schnell ein Zweimarkstück in den offenen Handteller, über dem Spitzmaus seine Finger sofort und verkrampft schloß. So pflegten meistens die Gespräche unter ihnen zu enden. Manchmal nahm Levy es auch zum Vorwand, sich irgendwelche Bücher aus der Bibliothek durch Spitzmaus besorgen zu lassen. Und dann hieß es: für den Gang, für die Unkosten, die verlorene Zeit und die Straßenbahn. Damit es doch einen Namen hatte und nicht direkt nach Almosen aussah.
Denn endlich war diese versoffene Spitzmaus – und das wußte Levy gut zu beurteilen – ja doch ein feiner, vielwissender und begabter Kerl. Nur wurde sich Levy nicht klar darüber: würde er noch mal etwas leisten, wenn er das Saufen aufgäbe, oder würde er grade etwas leisten, wenn er damit weiter fortführe.
»Apropos«, rief Spitzmaus und drehte sich noch mal aus dem Halbdunkel um. »Apropos, Doktor Levy, haben Sie schon mal auf einem Heukahn geschlafen?«
»Nein«, rief der Entenschnabel zurück, »und ich habe auch keine Tochter, die Sonja heißt und gestern den gelben Schein bekommen hat.«
Und dann huschte Spitzmaus über'n Damm dahin, wo »diverse Biere aller Sorten« dran stand, wo es hell war, ein Musikautomat hämmerte und ein Plakat mit einem halbnackten Mann, der stolz und bunt die Bizepsarme über der Brust voller exotischer und phantastischer Auszeichnungen kreuzte und einen roten Zettel über'n Bauch geklebt hatte, auf dem »Sonntag, den vierten Juni, achteinhalb, ›Amorsäle‹« stand ... der also da mitten an der Scheibe in effigie prunkte. Vielleicht konnte er den Laubfrosch jetzt loseisen. Und wenn nich? Na ja, ein Zweimarkstück hatte er ja.
Allgemach war die Lothringer Straße inzwischen schon leerer geworden. Denn ein Teil der Passanten, was so die jungen Leute waren, die unverheirateten, die fehlten. Die saßen am Sonnabend nicht soviel in der Kneipe, die nahmen ihre Lohnkürzung in anderer Weise vor.
Aber die wenigen Passanten ließen die, die fehlten, nicht vermissen. Denn es war ja Sonnabend! Und Sonnabend gab's Löhnung.
Doktor Levy wollte eben wieder 'raufgehen ... er war nur eine halbe Stunde heruntergekommen, um Luft zu schnappen, und es waren zwei geworden, denn er liebte diese »Stunde der Betrunkenen«, wie er sie nannte, hier in seiner Gegend durchaus nicht. Da hat man plötzlich von einem ganz gutmütigen Männeken, dem niemand so etwas zugetraut hätte – er hatte das als Arzt oft miterlebt – ein Messer im Bauch sitzen und weiß nicht, wie. Denn ein Mensch, dem wichtige Partien des Hirns narkotisiert und andere wieder gestärkt sind, ahnt oft nicht, was er im nächsten Augenblick tun wird. Warum er, in diesem Viertel zu wohnen, verurteilt war! Aufgewachsen war er ganz woanders. An der Matthäikirche. Nein, es war genug Luft geschöpft. Man muß für die andern auch was übriglassen. Er würde jetzt 'raufgehen, sein Journal à jour bringen, eine Flasche Nummer eins, also Volnay, sich aufmachen, eine Stunde dabei in dem alten Trüffelschwein, dem Rabelais, mit seiner Abtei Thelem blättern und dann Adalin nehmen. Und er war schon mit seinen Harmonikahosen langsam wieder bis zu seiner Tür geschlendert und stand zwischen den weißen Schildern »Dr. Arthur Levy, praktischer Arzt und Spezialarzt, 9-11 und 3-5«, »Dr. Arthur Levy, praktischer Arzt und Spezialarzt, 9-11 und 3-5«. (Ach, wenn es nur doch einmal bei 9-11 und 3-5 bliebe!) Aber nur unter dem rechten war das kleine Schild »Nachtglocke zum Arzt«. – Stand nachdenklich da, als es plötzlich von rechts trab-trab über die Granitplatten des Bürgersteigs herankam. Und man es an dem Klang schon hörte, daß das ein junger Mensch war, der in Dauerlauf angehetzt kam und der gewohnt war, Dauerlauf zu laufen.
Also das konnte doch nur der kleine Benjamin sein. Der Junge hatte sone Marotte, rannte, ohne anzuhalten, von der Klosterstraße bis zur Lothringer und behauptete, er wäre schneller da als mit der Straßenbahn. Er kannte ihn von klein an, von noch früher sogar. Und jetzt zum Herbst machte er schon sein Abitur. Kannte seine Eltern. Sein Großvater mütterlicherseits war schon mit seinem Urgroßvater ... reiche und sehr simple Leute. Reiche Leute, die, trotzdem sie es doch sicherlich viel besser als seine Eltern gekonnt hätten, nicht mal den Zug nach dem Westen mitmachten und heute da im ersten Stock wohnten, wo schon der Vater gewohnt und das Geschäft in Einlagen und Zuschneidestoffen gehabt hatte. Simple und reiche Leute (na ja, Hanni war mal anders gewesen!), die noch immer der Ansicht waren, die Welt wäre noch genau so, wie sie noch vor achtzehnhundertsiebzig war. Und auch davon, wie sie damals war, hatten sie keine Ahnung. Denn sie glaubten, sie müsse genau so gewesen sein, wie sie noch heute waren.
Und das war also der kleine Benjamin. Der einzige Erbe und Enkel von alldem. Weil Hanni es vorgezogen hatte, keine Kinder mehr zu bekommen. Und natürlich wollte er nicht wieder ins Geschäft, sondern wollte studieren, weil das feiner war und außerdem einem Menschen, wie er sich einredete, mehr Befriedigung bot. Aber studieren war auch nur 'n Vorwand, weil das doch die Eltern nicht zugegeben hätten, daß er, geradezu und direkt von der Schulbank weg, Dichter würde. Seine drei Dramen: ein Maccabäerstück, ein Conradin – aber dazu stand er selbst nicht mehr! – und ein »Recht des Schwächeren«, das in der Klosterstraße und in einer Krawattenfabrik spielte – Zeit: Gegenwart! – und in dem klar bewiesen wurde, daß es mit den sozialen und den ethischen Verhältnissen dort nicht zum besten war und überhaupt ein Mißverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestand, was geändert werden müsse! All diese Dinge hatte er natürlich noch niemand, weder seinen Mitschülern, die so etwas doch nicht zu würdigen verstanden, noch einem Erwachsenen, der sein ideales Streben ja nur verlacht hätte, zu lesen gegeben! Und es ist deswegen eigentlich kaum erklärlich, wie es kam, daß all seine Mitschüler, oder doch die, die zu seiner Partei gehörten, und der größere Kreis seiner näheren und ferneren Artverwandten sie trotzdem bis in die letzte Zeile kannten und sich dahin geeinigt hatten, daß der kleine Max Benjamin keineswegs ganz talentlos wäre. Nur wußte der Doktor Arthur Levy noch nicht – denn ihm waren diese Dramen natürlich auch unter dem Gelübde tiefsten Schweigens von dem Jungen anvertraut worden –, ob der kleine Max Benjamin selbst dichtete oder ob nur die Jugend oder, wie Doktor Arthur Levy sagte, die ausklingende Pubertät für ihn dichtete. Das erste konnte sich nicht vor fünf, sechs Jahren erweisen. Und dann erst in zehn, fünfzehn wirklich bestätigen.
Der kleine Benjamin ... aber er war gar nicht klein, er war gut einen guten Kopf größer als Doktor Levy, trotzdem der neunundvierzig und er eben erst achtzehn war, so daß, was die Größe anbetraf, wenigstens der kleine Benjamin dem großen Doktor Arthur Levy endgültig überlegen schien, denn bei ihm war keine Hoffnung, daß er noch wuchs. Im Gegenteil: er näherte sich bald wieder dem Alter, da man wieder kleiner wird ... Also der kleine Benjamin wollte ganz schnell vorbeistürzen, aber der Doktor Levy kam wieder aus dem Hausgang 'raus und stellte sich ihm mit aufgehobenen Armen, wie man ein scheues Pferd aufzuhalten sucht, in den Weg.
»Ihm schenkte des Gesanges Gabe ... nichts hemmte da den göttergleichen Lauf!« rief er. Denn da der kleine Benjamin Zitate liebte und es praktischer fand, sich ihrer, ob sie paßten oder nicht, zu bedienen, statt eigene Prägungen zu suchen, so zog ihn der alte Zyniker damit auf. Und da er einen weit reicheren Vorrat davon besaß und es als besonderen Sport betrieb, Zitate wie die Regenwürmer (wie er sagte) biologisch zu behandeln, das heißt, Kopf- und Schwanzstücke auszuwechseln oder solche von zwei verschiedenen Individuen aneinanderzunähen, so war er ihm bedeutend überlegen und versäumte keine Gelegenheit, ihn aufzuziehen. »Benjamin, mein Sohn«, sagte er, »wohin noch so spät?«
Innerlich dachte er sich: Zu Hause schläft doch alles? Die Alten besteigen doch immer fünf Minuten vor halb elf das elterliche Lager, und der Bengel muß ihnen doch vorher einen Gutenachtkuß geben; anders tun sie es nicht. Und sie schlafen sicher nicht eher ein, bis sie wissen, daß er von seinen Büchern aufgestanden ist, und seine Mutter turnt, das weiß ich sogar aus Erfahrung, im Nachthemd immer noch mal den langen Gang 'runter ... Sie schlafen ... wie das ein Mensch fertigbringt, bei diesem Lärm heutzutag, habe ich nicht begriffen, aber stets beneidet ... schlafen doch immer noch nach vorn, zur Straße heraus, in dem gleichen Zimmer wie die Großeltern einst. Damals war es noch 'ne ruhige Seitenstraße. Und heute geht Tag und Nacht der Verkehr durch. Immer noch in dem gleichen Zimmer nach vorn heraus! Im Nachthemd turnt Hanni stets noch mal hinter, um zu sehen, ob der Junge noch nicht zu Bett ist, um sich zu überzeugen, ob er die Lampe auch ausgeblasen hat. Das muß eine Idée fixe von ihr sein. Und wenn er das nicht getan hat, und ganz gleich, ob er sich gelegt hat oder noch auf ist, geht sie 'rein und pustet sie ihm vor der Nase aus und nimmt se mit. Da kann er eben das Buch zuklappen und im Dunkeln zu Bette gehn. Das macht se. So alttestamentarische Eltern sind eine Sache für sich.
Die Frau Hanni würde sich für den Bengel vierteilen lassen. Aber daß er ein Individuum ist, das vielleicht eigene und andere Lebensgewohnheiten haben kann, wie sie es wünscht, das habe ich ihr hundertmal auseinandergepolkt – das geht und geht ihr nicht in ihren kleinen, lieben Kopf. Die Folge ist natürlich, daß so'n Bengel sich für zu Hause 'ne Maske zurechtschminkt und daß alle von dem Jungen mehr wissen und ihn besser kennen, als seine Herren Eltern und Erzeuger. Denn der Vater sagt sich: »Wenn meine Johanna das für richtig hält – ich bin zwar, wie ich so alt war wie der Junge, schon für Nathan und Ebener gereist –, so wird se wohl recht damit haben.« Ja, und wie kommt der Bengel jetzt um halb eins von der Klosterstraße in die Lothringer Straße? Jetzt? Der is doch, wie die Alten schnarchten, über die Hintertreppe heimlich ausgekratzt, der Lausejunge.
»Also, Benjamin, mein Sohn ...« Der Junge war das Dauerlaufen so gewohnt, daß er kaum außer Atem war. »Benjamin, mein Sohn, was haste da für 'n Buch untern Arm geklemmt? Herzeigen, mein Junge! ›Gute Bücher und Trüffeln riech' ich schon von weiten‹, sagt Abbé Galiani.«
»Ach Gott«, meint der Junge – mit seinem schwarzen Wuschelkopf – etwas von oben herab, »ich glaube, Onkel Doktor, da biste zu alt dazu. Deine Generation pflegt es, soweit ich mich informiert habe, abzulehnen.«
Doktor Levy sieht über den Kneifer zu ihm herauf und dann wieder an ihm herunter. (Augenblick, Augenblick, ich möchte nur sone ganz kleine Diagnose stellen!) Eigentlich doch ein hübscher Kerl ... jetzt sah er noch ein wenig wie eine Kaulquabbe zwar aus, aber in drei Jahren wird er den Mädels die Köpfe verdrehen. Dann wird er aber auch nicht mehr in offenen Kniehosen, wie Kanalisationsröhren, und mit rauhen Beinen herumrennen. Ich fürchte: nein. Und damit zieht er ihm das Buch trotz des halben Protestes des Jungen unter den Arm hervor und schlägt es auf (sie waren gerade unter einer Laterne) und sieht durch seinen verrutschten Kneifer hinein. »›Von allem Geschriebenen liebe ich nur das, was jemand mit seinem Blut schreibt‹, merke dir das, mein Sohn«, sagt er und klappt das Buch zu. »Warum soll der Zarathustra zu hoch für mich sein?« sagte er und reichte ihn dem Jungen zurück, der von einem Bein auf das andere tritt, denn er hat ja noch das Tempo des Dauerlaufs in sich. Und außerdem wollte er weiter, »weil es ihn zog«.
Aber man muß nun dem komischen Onkel Doktor doch eine Erklärung geben. »Ich will den Zarathustra noch einem Freund schnell bringen«, sagt er. »Der braucht ihn morgen.«
Doktor Levy hat die Hände über den Bauch gefaltet und sieht mit schrägem Kopf und schrägem Kneifer den Jungen so von der Seite von unten herauf an. »Ach, Sonntag?« meint er und staunt Bauklötzer. »Wie willste denn da ins Haus 'reinkommen, Benjamin, mein Sohn?«
»Wir haben uns in der Konditorei, weißt du, bei Helmholtz verabredet«, sagt der, als ob er einen Knoten in der Zunge hätte, und verheddert sich schon etwas. Doktor Levy zieht eine goldne Uhr, läßt die Platte aufspringen und zieht sie an die Augen, als ob er jemand den Puls fühlen will und den Sekundenzeiger erkennen muß. »Zwölf Uhr dreiundvierzig Minuten achtzehn Sekunden nachts ... Helmholtz, kleiner Benjamin, macht spätestens elf Uhr zehn zu. Da muß dein Freund schon weggegangen sein.«
Nun darf ja einer lügen, man wird ja nicht vereidigt, und man nimmt auch an, daß er lügt. Das ist doch gar nicht so schlimm. Man kann darüber hinwegsehen. Aber jemandem, der lügt, nicht zu glauben, ist immer 'ne Gemeinheit. Und das erkennen zu geben eine doppelte. Das fand auch der kleine Benjamin im Augenblick.
»Jaja«, sagt, meint und stottert er immer mehr, »ich habe ihm gleich telefoniert, er soll draußen warten. Und wenn er's eben nicht kann, dann bringe ich es noch heran.«
»Aber sonst gehen doch deine nichtsahnenden Herren Eltern immer schon um halb elf schlafen? ›Deckt die Betten ab: der Besuch will gehen‹«, sagt der Doktor und wird sehr nett, unwiderstehlich freundlich.
»Ich habe gefragt«, lügt er nun, »ich komme da immer ins Haus. Es ist die ganze Nacht offen.«
»Jaja«, sagt Doktor Levy sehr lieb, »jaja, Max, das ist nun mal bei solchen Häusern hierherum nicht anders. Die sind aus praktischen Gründen, und wenn sie selbst der Nachtwächter immer wieder zuschließt, doch die ganze Nacht offen.«
»Nein, nein, Onkel«, und jetzt hat der kleine Benjamin zwei Knoten in der Zunge, » solch Haus ist das natürlich nicht.« (Wie gräßlich indiskret doch die Erwachsenen sein können. Sie glauben wirklich, weil sie das Pech gehabt haben, dreißig Jahre früher auf die Welt gekommen zu sein, können sie sich uns gegenüber alles erlauben ... Innerlich weint er schon: Was hat das alte Schwein da in seinen heiligsten Gefühlen herumzuschneiden, denkt er denn, das tut nicht weh?) »Ich kann da durch ein Lokal gehen. Das macht gar nichts.«
»Weißt du, Benjamin, mein Sohn«, und er hat ihm wieder den Zarathustra weggenommen, »so Sonnabend abend oder nachts, da sind ja die Lokale so hier herum für einen anständigen Jungen aus gutem Hause (so pflegt man doch dieses Genre zu bezeichnen!) wirklich nich so das durchaus Passende. Oder bin ich da im Irrtum, Max? Ich beuge mich natürlich deiner älteren Erfahrung. Und dein Freund, den kannst du jetzt auch nicht mehr herausklingeln. Da störst du ja die Eltern. Ich kenne hier in der Gegend ein sehr hübsches Lokal, ruhig, gemütlich, sogar Polstermöbel, vorzügliche Zigaretten (Zigarren rauchst du ja noch nicht?), gepflegte Rotweine und sehr billig. Also du gibst da nicht mal drei Mark aus. Drei Mark hast du doch bei dir? Nein? Na also ... der Wirt kennt mich seit langen Jahren und liefert mir alles zu Vorzugspreisen, ja sogar zu Gestehungskosten. Und wenn ich ihm gut zurede, nimmt er von dir gar nichts.«
Dieser Onkel Doktor ist ein gräßlicher Kerl; ich glaube, er macht sich so'n ganz klein wenig über mich lustig. Wenn er ein Mitschüler wäre, gäb's eins in die Fresse. Aber wenn ich jetzt nicht verdammt gescheit manövriere, so erzählt er es morgen meiner alten Dame. (Ach Gott, sie war gar nicht alt, aber Eltern sind immer alt!) Und der Krach ist da. Die versteht so was nämlich nicht. Und sie würde mir auch nie verzeihn. – Denn der kleine Benjamin konnte sich, und das ehrte ihn, durchaus nicht vorstellen, daß seine Eltern, und vor allem seine Frau Mutter, jemals, geschweige aber noch heute zu den Geschlechtswesen gezählt werden müßten. Und wenn er an die Polenliese ... und sie war netter zu ihm, viel tausendmal netter zu ihm als zu andern Männern, denn der Junge machte ihr Spaß, ja, eigentlich hatte sie viel mehr Gefühl bei ihm in diesem letzten halben Jahr investiert, als sie sich je einzugestehn gewagt hätte, und er wollte immer mit ihr sich erst lange unterhalten, und er brachte ihr auch jedesmal so nette Bücher mit ... wenn er an die Polenliese auch nur dachte, so hatte er das Gefühl, als müßte er sagen: »Mutter, geh 'raus aus dem Zimmer, hol mal ein Glas Wasser. Sieh mal, ich kann doch dein reines Kindergemüt nicht mit solchen Sachen verderben, von denen du zu deinem Glück – aber eigentlich bedaure ich dich ja doch darum! – doch nichts verstehst und die dir auch sicher dein Lebtag ferngehalten wurden und werden müssen.«
Der kleine Benjamin dachte nun wunder in welche geheime und elegante Stätte des Berliner Nachtbetriebes ihn der Onkel mitschleppen würde, als der, den Zarathustra unter dem Arm, einfach an die Haustür ging und sein klapperndes Schlüsselbund zog und an dem Schloß damit herumklimperte. »Na, nu komm schon, mein Junge«, sagte er, »und nachher setzen wir uns auch noch ein bißchen auf den Balkon, und du wirst sogar so vornehm wie noch nie in einer richtigen Stinkdroschke – da telefoniert man jetzt an, und dann kommt sie in einer Minute vors Haus gerattert – den Heimweg zurücklegen. Denn die Gegend ist für einen jungen Mann nicht allein wegen seiner sittlichen Verlockungen – aber denen bist du ja wohl nicht ausgesetzt, nicht wahr? –, sondern auch so des Nachts um diese Stunde nicht ganz ungefährlich. Da kann man immer mal in eine Stecherei 'reinkommen, und ich weiß, deine Mutter würde es mir sehr übelnehmen, wenn du gesund von mir weggehst und tot nach Hause kommst. Wie geht's nebenbei zu Hause, Max?«
Aber er wartet gar nicht den Bescheid ab.
»Hast du schon mal eine Nachtbeleuchtung gesehn, die funktioniert? Und, offen gestanden, liebe ich Nachtbeleuchtungen mehr, die nicht funktionieren. Denn bei denen nehme ich meine Cerini«, und er strich ein Wachskerzchen aus einer bunten Schachtel an, das den hohen Hausgang nur ... nur ungenügend durchhellte und von den beiden phantastische und zuckende Schatten über die gelben, kahlen Wände tanzen ließ. »Weißt du nebenbei, daß das die teuersten Fiamiferi der Welt sind? Fünfundzwanzig solcher Schachteln kosten mich immer achthundert bis tausend Mark. Ja, da staunste! Natürlich nicht die Cerini, sondern die Reise, die ich machen muß, um sie mir zu kaufen. Ein Jahr reicht der Vorrat stets, jetzt habe ich noch fünf, mit der hier sechs Schachteln. Ja, und eigentlich freue ich mich über jede, die wieder leer wird. Aber wenn solche Nachtbeleuchtung mal scheinbar funktioniert, dann steht man plötzlich mitten zwischen der ersten und zweiten Etage im Dunkeln. Und das ist 'ne Enttäuschung. Und wie sagt doch deine Mutter immer, Max? ›Wenn ich eins nicht vertragen kann, so sind es Enttäuschungen!‹ Sagt sie das immer noch?«
Max lachte – was sollte er sonst tun? –, innerlich weinte er eigentlich und belegte den Doktor Arthur Levy mit allen Schimpfworten, mit denen sich die Helden der Ilias bewerfen, bevor sie die Speere gegeneinanderschleudern. Er tat sich gar nicht so leid dabei, wie er jene bedauerte, von der er überzeugt war, daß sie nun, die Hände ringend, von Einsamkeit und Sehnsucht gepeinigt, ihn erwartete. Endlich war er ein Mann von Wort. Er hatte gesagt oder sogar versprochen, heute zu kommen. Auf Strümpfen war er sogar, die Schuhe in der Hand, die Hintertreppe heruntergeschlichen. Das heißt, versprochen hatte er es ja eigentlich nicht! Er würde erzählen, daß die Eltern so lange Besuch gehabt hätten, bis es eben ... wenn er auch Lügen verabscheute!
Aber dann war es doch ganz nett hier oben. Eigentlich wohnte der Wahlonkel Levy trotz der miesen Gegend doch ganz hübsch, hatte große, glatte Vorderzimmer ineinander, ein kleines für die Patienten zum Warten. – Die Stühle von dem Korridor waren jetzt weggeräumt. – Seinem Ordinationsraum merkte man gar nicht an, daß er einer war. Denn alles war in Schränken. Und selbst die Marterstühle waren außer Funktion, als eine harmlose Chaiselongue und als ein noch harmloserer Sessel maskiert. All das Zeug, was so blank aussieht und vor dem sich die Menschen so fürchten ... die Sonden und Zangen und Messer und Katheter und Schalen und Tampongläser und Spektroskope waren in den Schränken, die wie Bücherschränke aussahn und auch solche Vorhänge hatten. Und das dritte Zimmer, das in eine tiefe Loggia mit weit geöffneter Tür zur Straßenseite sich auftat, war nun wirklich behaglich, ganz weich der Boden von schweren Teppichen, Großvaterstühle, ein breites Sofa, mit blauem Plüsch bezogen, ein brauner, runder Tisch, dessen Politur nur so blinkte, und wahrlich dazu überaus bequeme Sessel mit runden Armlehnen; mit großen, ganz großen Fotos in braunen glatten Rahmen, wie die Möbel an den Wänden. Wie hieß die Holzart doch? Heute hatte man so ungarische Esche. Ach ja: Mahagoni oder Magahoni. Oder so ähnlich. Und so Eckschränke, gleich zwei. Und so Säulenschränke, die sehr viel Glas hatten und ebenso alt und ebenso rostbraun waren, auch gleich zwei. Und die ganz voll Krimskrams und Porzellanpuppen, wie man sie heute nur noch beim Trödler sieht. Mutter sagt, das wäre altmodisch. Sie kann das alte Zeug nicht leiden. »Wir sind moderne Menschen heute!« sagt sie immer ... Mutter und modern! Und in der Tür so'n netter, alter Spieltisch. Halb im Zimmer, halb draußen auf der Loggia. Da war gedeckt. Und da stand eine Flasche Wein schon. Und da waren Keks und Erdbeeren noch und eine Käseschüssel und Radieschen. (»Mein Herz ist wie ein Radieschen, und du zerknackst es zwischen deinen weißen Zähnen«, stand in einem seiner Gedichte. Aber natürlich zeigte er die keinem, die waren auch zu privat. Nur Lissi hatte er mal ein paar mitgebracht. Aber er hatte gesagt, er hätte sie in einem Buch gefunden.)
»Na, Max«, sagt Doktor Levy und stellt blumenbemaltes Geschirr und geschliffene Gläser und einen tiefen braunen Sessel hin. »Na, mein Freund, biste mit dem Lokal zufrieden, in das ich dich verschleppt habe?«
Komisch, denkt Max, jetzt sieht er ganz anders aus wie unten auf der Straße. Viel sicherer und selbstverständlicher. Unten hatte er so was von einer Wegschnecke gehabt, die schwarz, nackt und häßlich ihre Spur schleicht. Und hier war er gar nicht so'n Entenschnabel ... mit seiner hohen Stirn und seiner weißen Ordinationsjacke, die er sich übergezogen hatte, weil ihm warm war. Denn den ganzen Nachmittag hat ihm die Sonne in die Fenster geschienen hier, und die Wärme hat sich wie in einem Brutschrank gehalten. Er ist jetzt ein lächelnder und zuvorkommender Mann mit einem klugen Kopf. Wenn man seine wohlgepflegte Bibliothek sieht, wundert man sich, warum er nicht ebensogut gepflegt ist. Denn in allem, was um ihn her ist, ist der Onkel Doktor penibel und von einer fast schon peinlichen und altjüngferlichen Delikatesse.
Ja, ein Herr ist er jetzt, der sehr darauf hält, daß die Erdbeeren auch auf Eis standen und der Volnay die richtige Temperatur hat. Der sehr darauf hält, daß die Havanna sachgemäß lagert und daß die Morris – eine ganze Hunderterschachtel Morris! – in der Originalverpackung trocken bleiben. Und vor allem: ein Mensch, der zu ihm ist nicht nur wie ein zuvorkommender Wirt zu einem geehrten Gast, sondern der zu ihm spricht wie ein Mann zum andern Manne, der ihn plötzlich ganz gleichwertig und für voll nimmt. Denn vorher, das konnte der kleine Max Benjamin sich nicht verhehlen, da hatte er sich doch vielleicht etwas über ihn lustig gemacht. Wenn ihm das auch wegen seiner geistigen Überlegenheit – das beruhigte den kleinen Benjamin – schwer vorbeigelungen war. Merkwürdig, solange er sich erinnert, ist er immer zu seinen Eltern gekommen, war von ihm geonkelt worden, als er noch im Gitterbettchen schlief, mal als Freund von Mama, mal als Arzt. Aber er war ... jedenfalls erinnerte er sich nicht ... eigentlich war er noch niemals hier oben bei ihm gewesen. Und nun sieht er plötzlich, daß der Onkel Doktor doch ein ganz anderer Mensch ist, als er gedacht hat. »Man lernt die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen, man muß zu ihnen gehn, um zu wissen, wer sie sind«, sagt er und streckt behaglich und lang die Beine von sich und sieht über das Glas, in dem ein köstlicher roter Stein in einem andern Aggregatzustand leise schwankt und das Licht spiegelt, zu seinem Zufallswirt herüber. Sonst, zu Hause, schmeckt der Rote immer wie Tinte. Aber der hier – wie Sonne auf Flaschen gezogen.
Der Doktor Levy blickte den kleinen Benjamin über die Kneifergläser an. (Kleine Diagnose stellen! Augenblick! Augenblick!) Solche Jungen um achtzehn sind doch noch viel netter, wie sie dann mit zwanzig sind. Was war das für ein reizender Kerl da drüben, und famos: sogar Goethe hatte er gelesen. Und was war doch die Mutter für ein schöner Mensch gewesen, als junges Mädchen ... und auch noch ... als junge Frau ... Um ein Haar wäre das doch mein Sohn eigentlich. Vielleicht wäre sie mit mir anders geworden. Und ich anders mit ihr. Na, Schwamm drüber!
»Benjamin, mein Sohn«, sagte er fast zärtlich und schiebt ihm die Erdbeeren hinüber, »also so fünf, sechs Jahre höchstens mache ich die Sache hier noch mit. Willste mal den Laden hier haben? Dazu mußte eben ... also Juristerei ist fast noch gemeiner – in der Medizin kann man sich wenigstens einreden (und zuerst tut man es ja auch!), man täte irgend etwas Nützliches damit, während man mit Jurisprudenz doch nur Böses anrichtet ... dazu mußte eben wohl oder übel doch Medizin studieren. Ich schenke dir den Laden schon jetzt. Ich beleihe dich damit im voraus. In sechs Jahren gedenke ich ein Leben cum otio et dignitate zu beginnen. Willste mal 'ne echte Havanna versuchen? Ach nee, nachher ... Also laß lieber ganz sein. Nimm hier die Morris! Was man sonst davon kriegt, ist immer so trocken. Die müssen eigentlich wie Honig und Opium riechen. Ebenso wie die hier. Ja, in sechs Jahren werde ich ein Leben cum otio et dignitate führen. Das heißt, mit mehr Muße als Würde. Dann werde ich hier meine Zelte abbrechen und die Lothringer Straße mal nach Florenz verlegen, mein Sohn. Und du wirst mit dem weißen Ordinationsmantel und dem Guyonkatheter belehnt werden und mit meinen Instrumenten hantieren dürfen, sofern sie nicht hoffnungslos inzwischen veraltet sind. Würde dir das Spaß machen, Benjamin, mein Sohn?«
»Das muß ich mir in Ruhe überlegen, Onkel«, sagte der kleine Benjamin. (Jetzt kommt endlich mal ein kühles Lüftchen 'rein, denkt Doktor Levy.) »Ach ja«, man merkt, irgendwelche Verbindungsbrücken sind in seinem Hirn geschlagen worden, »ach ja, die Gegend hier wäre schon sehr gut – für einen Arzt«, setzte er langsam hinzu.
»Das glaube ich«, sagt doppeldeutig der Doktor Levy, denn er versteht Nichtgesagtes manchmal besser als Gesagtes. »Ja«, meint er, »und wenn du dich hier langweilst – denn die Sensationen, auch die der Liebe, sind nie in dieser Welt ewig –, dann kannst du mich mal in Florenz auf dem halben Weg nach Fiesole, denke ich, oder hinter der Porta Romana besuchen. Aber damit du nicht so ganz dumm hinkommst ... Sieh mich nicht so an, als hätte ich dich beleidigt! Ich weiß, du redest dir ein, weil du alle Woche ins Museum gehst, du verstehst etwas davon, mein Sohn. Das ist ungefähr so, als ob eine Frau, die nie geboren hat, 'ne Ahnung haben soll, wie eine Geburt ist, und wenn sie zehnmal in Ammons Mutterpflichten das Gesabber darüber gelesen hat ... also damit du nicht so ganz ahnungslos hinkommst, solltest du doch mal vorher hingehn. Ich habe auch nach dem Abitur meine erste italienische Reise gemacht. Noch ein Gläschen? Ach laß, der schmeißt dich nicht gleich um.«
Der kleine Benjamin sieht den Onkel Doktor zweifelnd an. »Ach nein«, sagt er, »das wird wohl doch nicht gehn.« Eigentlich hatte er ganz andere Pläne, ganz, ganz andere! »Und die Eltern? Papa wohl! Aber – Mama? Die wird es ja doch nicht erlauben, daß ich gleich so weit von ihr fort ...«
»Das laß meine Sache sein!« unterbricht Doktor Levy und setzt den Kneifer ab. »Du sagst gar nichts. Ich schiebe das schon. Du bist dann sehr erholungsbedürftig. Ich weiß 'ne sehr nette Pension, direkt an der ponte della Grazie. Auf der einen Seite siehste über halb Florenz weg, bis nach Settignano, und auf der Rückseite mitten in die Boboligärten hinein ... und außerdem lächerlich billig. (Hier würde die Aussicht allein mehr kosten!) Ein bißchen Italienisch, nicht nur ›uno nero, cameriere‹, mußte natürlich dir anschminken. Und die Bücher kriegste auch von mir. Nur nicht gleich den Cicerone mitnehmen! Das verwirrt dich nur. Aber lies mal die ›Kultur‹. Und am besten erst den kleinen Berenson: ›Die Florentiner Malerschule‹. Ach ja, und nimm den Taine vielleicht auch mit. Du liest doch französisch? Er ist zwar wissenschaftlich ganz veraltet. Aber es steht am meisten von alldem drin, was nie veraltet: vom Hauch der Dinge. Du meinst, Goethe kam erst mit neununddreißig oder noch später hin und nach Florenz überhaupt kaum – vorher hätte es ihn verwirrt! Na ja, du bist eben Max Benjamin. Dir schadet es nichts. Bei dir steht zwar viel, aber nicht ganz soviel auf dem Spiel.« (Nun macht er sich wieder über mich lustig, denkt der kleine Benjamin.) »Und für unsereinen ist's doch nicht ohne Vorteil, wenn man sich früh genug davon überzeugt, daß die Welt nicht nur aus den Linden, der Lothringer Straße und der Klosterstraße und dem, was dazwischenliegt, besteht; und daß man sich möglichst früh von dem Vorurteil befreit, die alten Römer, Etrusker und Griechen hätten nur dazu gelebt, damit du Jahreszahlen zum Abitur büffeln kannst, und nur dazu geschrieben – da stehn sie alle, wenigstens die besten! –, damit Professor Bellermann dich die unregelmäßigen Verben abhören kann. Und vor allem braucht man schon deshalb mal Italien, um sich klarzumachen, wie recht Jakob Burckhardt hatte, als er schrieb: Das Ebenbild Gottes fängt doch erst jenseits der Alpen an.«
Der kleine Benjamin macht ein ungläubiges Gesicht. Er ist vom Gegenteil überzeugt.
Aber er hat noch gar nichts gesagt, der kleine Benjamin, als ihn der Onkel Doktor unterbricht. »Hör auf, der Blinde kann nicht von der Farbe sprechen, mein Sohn. Man kann doch immer nur über Dinge reden, die man gesehen hat. Gewiß, wenn du heute nach Italien kommst, da laufen Bronzinos und die Lorenzo Lottos nicht wild mehr 'rum. Aber plötzlich fängt man an, sie zu sehen. Und die Ghirlandajos und die Robbias und die Donatellos und selbst die Plastiken von Michelangelo. Vielleicht nur den Rücken eines Arbeiters, der unten im Arno, halbnackt und bronzebraun, Kies zieht. Und Lorenzo magnifico ist zum Beispiel der Kellner Giuseppe im Café Doni, der mir jeden Abend, wenn ich komme, ohne daß ich ein Wort sage, seit zwölf Jahren ›gelato misto‹ bringt. Wie die Menschen aussehen, wissen wir ja überhaupt nicht. Zum Schluß sehen sie eben so aus, wie wir sie sehen und wie sie eben die Künstler sehen. Die sehen sie eben auch nicht anders, wie wir es tun, nur reiner, deutlicher, sublimierter. Verstehste ... das kann sehr verschieden sein; aber die große Dominante, verstehste. Sieh mal, Jungchen«, und er ist aufgestanden, das Glas Rotwein in der Hand, »komm mal mit«, und er bleibt vor einer Reihe schöner Alinari-Fotos stehen, hält, so daß der Schein der Glühbirne durch den Wein spielt, auf sie zeigend, das geschliffene Glas hoch, als ob er ihr zuprostete. »Sieh mal da, das da mit der Schlange um den Hals ist von Piero di Cosimo und in Chantilly lange nach ihrem Tod gemalt. Sogar ihr Name steht drauf, damit man sieht, daß sie es ist. Ganz phantastisch in der Landschaft, und wieviel Schmuck Juliano ihr umgehangen hat – der Simonetta Cattaneo, verehelichte Vespucci. Wir würden uns wegen so etwas mit dem Mann duellieren, vor Gericht zerren, oder es gäbe einen Skandal. Beides ist, wie du mir zugeben wirst, nicht jedermanns Geschmack. Ich habe nie dafür etwas übrig gehabt. Der hat sie ihrem Mann abgekauft. Verstehste? Mediceer pflegen solche seelischen Komplikationen praktischer zu lösen als wir. Die beiden hier jedoch sind wohl nach dem Leben, vierzehnhundertsechsundsiebzig stirbt sie schon. Tuberkulose hatte sie natürlich. War prädestiniert, das sieht ein erstes Semester ... Aber wenn ich sie mir hier so ansehe, und sie käme in meine Sprechstunde, würde ich ihr doch noch fünf bis sieben Jahre geben, nicht wahr, es muß dann doch noch plötzlich in eine ganz akute Form, was man so Miliartuberkulose nennt, umgeschlagen sein. Anders kann ich es mir gar nicht erklären. Nicht wahr? Und Juliano erstechen sie dann im Dom vierzehnhundertachtundsiebzig. Verstehste? Die Profilhälften sind ungleich. Da von der rechten Seite ... da hat das süße Näschen vorne solch einen kleinen Knubbel. Sone Verdickung an der Spitze. Und von links ist sie ganz edel und rein in der Linie. So was kommt nebenbei vor. Ich habe da eine Patientin, da ist es genauso. Und die beiden dann hier, wo sie einen Perlenschmuck wie einen Sternenhimmel hat – das in Frankfurt und das in der Galerie Richmond! –, die sind nach dem Tode. Denn als Juliano tot war, da tritt denn der Bruder Lorenzo die Erbschaft in dem Liebeskult der toten brüderlichen Geliebten an. Da ist sie als Venus. Da ist sie als Maria. Da ist sie als Frühling. Und da ist sie sogar als Athene. Bald zwanzig Jahre später noch. Und selbst die Engel auf dem Radcinski-Bild – Bildung, junger Mann, es hängt oben in der Nationalgalerie im dritten Stock! – sind nichts anderes als ihre ungebornen Kinder. Aber siehste, hier«, und er zieht einen grünen Vorhang zur Seite, »das kleine Bild ... da habe ich mir den Kopf aus der Geburt der Venus kopieren lassen. Vorzüglich – siehste, das Haar ist direkt mit Goldfäden durchzogen, und wie das weht vom Meerwind. Wirklich, man glaubt, es treibt sie wie ein Segel auf der Muschel hin. Das finde ich das unglaubwürdig schönste und sicher das allerähnlichste von allen. Dabei ist es zwei Jahre nach dem Tod. So, genau so muß sie ausgesehen haben. Das ist sicher die letzte und äußerste Synthese ihres Wesens. Ich habe da nebenbei eine Patientin, an die ... Was hast'n Junge? – Na, Morris kann man natürlich nicht kettenrauchen! Setz dich da mal ein bißchen hin. Bist du übermüdet? Du siehst doch ganz grün mit einmal aus.
Komm, nimm mal einen Schluck Volnay. Noch so'n bißchen. Nicht soviel auf einmal. Komm, gehen wir 'raus auf den Balkon. Was rennst du überhaupt des Nachts auf der Straße 'rum, überlaß das doch uns alten Bettschonern. Siehste, hier draußen wird dir gleich besser werden.« Innerlich aber sagt er sich, der Doktor Arthur Levy: Augenblick ... Augenblick ... Diagnose stimmt schon, das war ein merkwürdiger Zufall doch! Und zugleich sagte es in ihm: Donnerwetter, det jeht nich. Irgendwie muß ich den Bengel da loseisen. An Geschmack fehlt's ihm ja also nicht, sonst hat er eines schönen Tages auch solch kleine, einfache oder schwere Tbc weg. Auch die schönste Krankheit taucht nichts. Und wenn Hanni eins nie vertrug, so waren es Enttäuschungen – Doktor Levy hatte das Glas in der Hand behalten, um dem Jungen, wenn er es brauchte, noch einen Schluck zu geben. Aber nur nicht fragen, »hier wird gelogen!«; »ici on ment«, hat ein großer französischer Spezialkollege über die Tür seiner Klinik schreiben lassen. Warten, bis sie von selbst reden. Wie schön da draußen zwischen den Blumentöpfen der ganz späte, abnehmende, große, rötliche Mond so halb drüben über den Dächern hängt, wie eine Scheibe Melone. So halb verdeckt von den Schornsteinen. Und auch die Melonenscheibe sieht man nicht ganz, denn die untere Hälfte davon wieder ist hinter dem schwarzen Schornstein, um den der Mond herumblickt, wie einer, der sich versteckt hat und lauernd sieht, aber nicht gesehen werden will. Und seine Scheibe spiegelt sich doch auf den blanken Dachziegeln und läßt sie aufblinken, als ob da oben ein windgekräuselter Teich wäre.
»Den Mond verdeckt das Gartentor«, sagte der Doktor Levy vor sich hin, »sein Licht fließt über in den See.«
»O hättest du nur dort gesehen, wie jetzt das Glühwürmchenpärchen kriecht«, sagte Max leise und atmet – hörbar, vielleicht weil ihm immer noch nicht ganz gut wieder ist. Vielleicht auch, weil ihm die Nachtfrische nach all dem Wein und den Zigaretten doch wohl tut.
»Du kannst es ruhig zu Ende sagen, Max, du kannst es ja doch auswendig. Alle Erwachsenen haben ja dasselbe und das gleiche Geheimnis miteinander«, sagte der zynische Doktor und streichelt Max in einer plötzlich aufwallenden Zärtlichkeit über den Rücken der Hand, die er auf die Balkonbrüstung gelegt hatte.
»So habe ich es noch nie gewußt«, sagt Max sehr leise, und jetzt weint er sehr leise, und jetzt weinte er wirklich, »sooft ich deinen Leib umschloß ... warum du so aus tiefster Brust ... aufstöhntest ... wenn ich überfloß.«
»Ich will dich nicht fragen, wie du mit Lissi oder, sagen wir (so nennt man sie ja wohl), der Polenliese stehst. Du kannst von mir voraussetzen, lieber Junge, und du könntest ja doch mein Sohn sein«, der Junge richtet sich hoch, »natürlich dem Alter nach, Max, meine ich nur« – Was denn sonst? –, »und kannst deshalb ohne weiteres von mir voraussetzen, daß ich sexuell aufgeklärt bin.«
Aber ein Max Benjamin war nicht so leicht zu überrumpeln. »Du kannst versichert sein, Onkel Arthur«, sagte er stolz, »es sind nur ideale Beziehungen. Du glaubst doch nicht etwa, Liebe wären die trivialen Zärtlichkeiten, die jeder Mann jeder Frau geben kann. Es gehört nur dazu, daß er eben ein Mann ist. Es ist nur ein seelisches Verhältnis zwischen uns.«
»Gewiß, mein Junge, alle Liebe ist seelisch, das ist ein Naturgesetz, und Naturgesetze ändern sich nicht. Aber die Liebe ist sehr komisch, Max, und ich kenne dich, Max, und nehme nicht an, daß du ein körperliches Verhältnis ohne seelische Anteilnahme eingehst. Das Seelische kann zerflattern, wenn das Körperliche nicht stimmt. Aber es ist immer das Primäre. Das weiß ich, Benjamin, mein Sohn. Denkst du wirklich, mein Sohn Benjamin, daß ich dich so niedrig einschätze? Ich weiß auch, du willst sie heiraten. Das will man immer in deinen Jahren. Das wollten wir alle. Und ›Der Gott und die Bajadere‹ spielen. Das wollten wir alle. Du machst dir auch Kopfzerbrechen darüber, ob deine Eltern, vor allem deine Mutter es zugeben wird? Haben wir uns auch gemacht.« Innerlich denkt der alte Zyniker, wenn meine Mutter all die Mädchen, die ich ihr als Schwiegertöchter bringen wollte – nur wollte natürlich –, akzeptiert hätte, so hätte sie ein Bordell aufmachen können, aber schluckt es herunter. Zu Spitzmaus hätte er es vielleicht gesagt. Nicht zu Benjamin, mein Sohn.
»Ich weiß genau, du bringst ihr manchmal Bücher, suchst sie, obwohl sie sich ohne das auch ganz wohl fühlt, noch zu bilden. Also sie kommt ja so alle Woche einmal zu mir in die Praxis. Ich verspreche dir, daß ich ihr den ›Zarathustra‹ hier, es steht ja dein Name drin« (Das alte Schwein sieht ja auch alles, denkt Max Benjamin und krallt die Finger noch fester um die Balkonbrüstung), »pünktlich gebe und ebenso pünktlich zurückfordere. Und ich verspreche dir jedesmal die schönsten Morris und den besten Rotwein, und außerdem ›Schweigepflicht‹. Es bleibt vollkommen unter uns. Ich sage nicht einen Sterbenston zu Hanni, verzeih, zu deiner Mutter. Ich schwör es beim Freund aller Verliebten«, und er weist auf den Mond, der da jetzt, groß und halb, wieder völlig aus seinem Schornsteinversteck hervorgekrochen war. »Vielleicht sind überhaupt die Leute«, und jetzt tut er sogar, als ob er Max vielleicht glaubte, »die nicht in sexu verliebt sind, platonisch – Lest ihr das ›Symposion‹ auf der Penne? ›Platonisch‹ nennt man das –, verliebter, wie solche, die ...«, er wollte etwas sagen, was für die Ohren des kleinen Benjamin ihm doch zu medizinisch erschien, »man nennt das unglückliche Liebe. Aber ich habe immer gefunden, daß im Leben letzten Endes die Unglücklichen immer glücklicher sind als die Glücklichen. Also ich werde den getreuen Postillon d'amour spielen ... Nicht wahr, Max!« Natürlich dachte er gar nicht daran. »Aber eins: Du mußt jetzt wirklich arbeiten, nachher fällst du durchs Abitur, Junge.«
Max schüttelte seine Mähne. »Nein«, sagte er. »Ich stehe sehr gut.«
»Das kann man nie vorher wissen. Ich habe es auch geglaubt beim Physikum, und nachher habe ich einen Schwanz in Botanik gemacht. Und du sollst doch in sechs Jahren Chef in meinem Laden werden, nicht wahr? Jetzt haste für so was keine Zeit.«
Der kleine Benjamin schüttelt immer noch seine Mähne, und seine großen Knabenaugen hängen voll Tränen.
»Sieh mal, warum soll ich denn so deutlich werden? Ich bin Arzt und habe als Arzt Schweigepflicht – Schweigepflicht. Wo käm ich denn hin, wenn mir auch noch die Mädchen mißtrauen würden? Nein es ist nicht, was du vielleicht denkst. Glaubste denn nich, ich würde beide Augen zumachen, sonst, Max. Aber du mußt mir wirklich in die Hand versprechen, daß du nicht mehr zu ihr gehst. Vielleicht irre ich mich, Junge«, sagte er und faßte ihn an der Schulter. »Denk an deine Mutter, und gib mir die Hand darauf, ich sage dir schon, wenn ich dich von deinem Versprechen wieder entbinden kann. Ich tappe ja noch selbst im dunkeln ... Du meinst, es sterben mehr Menschen an falscher Diagnose als an richtiger Krankheit. Na ja, aber sie sterben doch eben. Nun flenne nicht, Junge. Sei vernünftig und höre auf mich. Also schön, wenn du dich mal in einem Café mit ihr treffen willst, aber nicht, wo ihr gesehen werden könnt. Aber versprich mir hier in die Hand: Keinen Schritt in ihre Wohnung mehr oder irgendwo sonst hin mit ihr, und die Sache ist zwischen uns beiden begraben. Und nicht mehr des Nachts durchbrennen, verstanden?«
Der große Junge patscht endlich schwerfällig und klatschend in die kleine Hand von dem Onkel Doktor ein. Sagen tut er kein Wort.
»Nun komm 'rein«, sagt der, »es wird – es ist halb drei – so gegen Morgen immer kühl. Da wird's schon hell über den Dächern. Und hörst du den Hahn? Wozu die Leute hier Hühner halten? Also jede Nacht schwöre ich mir, dem Biest morgen früh den Hals umzudrehen. Nie kriege ich 'raus, wo er wohnt. Auf dem Einwohnermeldeamt ist er nicht zu eruieren. Komm 'rein, ich will nach einem Auto telefonieren. Hier hast du zwei Mark dafür. Und noch eins, mein Junge«, sagt er, wie er ihn die Treppe herunterbringt und wie sie schon vor dem Auto stehen, »wenn du mich mal brauchst, warte nicht, komme gleich zu mir. Und außerdem, weißt du was, wenn du erst das Examen hinter dir hast, komme sowieso mal in meine Sprechstunde. Oder vorher noch, mein Sohn. Denn es gibt eine Menge Dinge in diesem schwierigen und durchaus komplizierten Dasein, von denen es besser ist, ein junger Mensch weiß sie, ehe er bedauert, sie nicht gewußt zu haben. Verstehste?« Und dann reicht er dem Jungen noch mal die Hand. »Es bleibt dabei. Ja? Und absolute Schweigepflicht auf beiden Seiten. Grüße Mutter. Und, Chauffeur, Klosterstraße achtundzwanzig. Nirgends sonst hin!« Und er gibt dem Chauffeur noch ein Fünfzigpfennigstück und tappt wieder rein.
Wirklich, es hat kaum noch Sinn, sich hinzulegen, es ist schon ganz weiß und hell, und Drosseln flöten. Also mitten in der Stadt flöten Drosseln, auf den Dächern und den Telefonmasten. Oben von den Dächern. Und das Schloß könnte auch mal geölt werden. Wie die Schlösser hier in dieser Gegend alle quietschten. Aber wie er die Tür hinter sich zumacht, sagt er plötzlich vor sich hin: »Da habe ich vielleicht Hanni einen großen Gefallen getan. Vielleicht? Wer kann's wissen.« Denn es war ihm, als ob er sie hörte, nur daß die Stimme neunzehn Jahre jünger war, sie war heute etwas wie eine zersprungene Tischglocke.
»Du weißt, Bobby, ich kann an Menschen keine Enttäuschungen vertragen!«
Eigentlich fühlte er sich zu dem Bengel verdammt hingezogen, beinahe verdächtig. Aber endlich war es doch wohl nur Hannis wegen.
Ja, und während sich der Doktor Arthur Levy und Benjamin, mein Sohn, in platonischen Dialogen über seelische und körperliche Liebe ergingen, waren Rosenemil und die Polenliese längst nicht mehr bei theoretischen Erörterungen, sondern waren sich über die wichtigsten Punkte des Problems durchaus einig geworden.
Also Lissi wohnte sehr angenehm. Gegen seine Schlafstelle in der Zingststraße war es geradezu hochherrschaftlich. Sie hätte bei ihrer Wirtin ebensogut, sagte sie, ja auch das Vorderzimmer haben können. Aber schon im Heraufgehen sagte sie das, daß sie nie nach vorne 'raus wohnen möchte, wegen der Ruhe und wegen de Nachbarn gegenüber. Sie hatte immer nach dem Hof 'raus gewohnt. Da kann ihr keener in de Fenster gucken. Und das traf hier zu. Denn in einer winzigen Entfernung von ihrem Fenster – na also, 'rüberlangen konnte man ja nun gerade auch nicht! –, war eine hohe, schmale, geteerte Brandmauer. Und die hatte keine Fenster. Doch das ist wieder durchaus nicht richtig. Sie hatte sogar Fenster. Neun Stück nämlich. Aber die waren sehr klein. Doch man benutzte sie auch nicht, um da herauszusehen. Nur um sie hin und wieder am Tage zu öffnen. Und des Abends brannte auch da kein fieselndes Gas und keine Petroleumlampe. Wenigstens nicht auf die Dauer. Meistens nur eine Stearinkerze. Und man sah außerdem immer nur für kurze Zeit und immer nur hie und da Licht. Es war ungefähr so wie ein Neunauge, das mal ein Auge aufmacht und mal ein Auge zumacht. Wenn das Neunauge überhaupt neun Augen hätte und nicht Kiemenlöcher, durch die es Luft holt. Ja, und durch diese Brandmauer war am Tage das Zimmer der Polenliese immer, trotzdem es im zweiten Stock lag, in einem Halblicht, jenem Helldunkel, das die Maler lieben, aber das, wenn man etwa näht, die Augen verdirbt. Doch gegen das gleiche Hofzimmer im ersten Stock, wo dran stand: »Hier wird geschröpft« – aber wer das tat, war verschwiegen! –, und gegen das Staatszimmer bei Meta Frischauf: Fremdenlogis, Zimmer auf Monate, Wochen, Tage und Stunden (bisher war nur das letzte von der Polizei festgestellt worden), und gar gegen das Sargmagazin von Karl Wunderlich zu ebener Erde und halb im Keller, gegen das alles war das Licht bei der Polenliese hier oben noch hell wie ein Julitag in Kairo gegen eine Polarnacht. Und von allen Leuten, die in diesem Hause wohnten ... denn es war ein feines Bürgerhaus, weil es nicht, wie seine Nachbarhäuser, drei Höfe mit allerhand Gesindel, sondern eben nur einen Seitenflügel hatte und einen Hof nur, auf dem sogar zwei Geranientöpfe auf einem Kellerhals standen, die zusammen eine Blüte hatten. Deshalb hing auch ein Schild dran, daß die Kinder nicht auf dem Hof spielen dürften. Ebensowenig wie die Leierkastenmänner. Was nicht hinderte, daß beide es taten. Von all denen also, die wieder in dem Bürgerhaus hier wohnten, waren eigentlich die Wirte von der Polenliese wiederum die Feinsten. Denn sie hatten einen Handel mit Bumskeulen. Aber da die Makartbuketts jetzt wieder aus der Mode zu kommen drohten, so hatten sie sich darauf verlegt, Disteln zu trocknen und mit Goldbronze anzustreichen und aus Flechten, die sie bei Fürstenwalde sich holten, Kränze und Kreuze zu machen, die immergrün oder richtiger immergrau den Winter über die Gräber unserer lieben Toten als ein Zeichen des Gedenkens der Hinterbliebenen schmücken sollten. Aber die Season hierfür begann erst richtig im Herbst wieder. Jetzt hatte sie sich auf Wasserflöhe umgestellt, die sie an die Aquarienhandlungen verkauften und für die sie bei Teltow und in der Mäckernitz noch ergiebige Jagdgründe kannten. Sonst war, was Wasserflöhe anbetraf, alles um Berlin sehr abgegrast. Denn in Wasserflöhen war die Konjunktur stark. Und diese vielseitigen und weltwendigen Leute waren eben die Wirte der Polenliese. Aber meistens war der Mann – ein Naturmensch, wie die Frau sagte, und das hatte die Polenliese auch bemerkt, denn sie hatte ihn ein paarmal gehörig zurechtweisen müssen – auf Tour. Während sie Disteln vergoldete oder Kreuze aus Weidenruten für den Winter mit Flechten umwickelte und zum Trockenwerden bei leichtem Feuer wieder in die Bratröhre schob. Und geschmorte Flechten riechen komisch. Halb nach Wald, halb nach nassem Kamm. Ja, und so roch eigentlich die ganze Wohnung, wenn sie nicht gerade nach Kindern, Brühkartoffeln und saurer Milch roch. Aber auch dann behauptete sich der Nasse-Kamm-Geruch. Und dann war noch so ein Geruch von billiger Seife und schlechtem Maiglöckchenparfüm da. Aber er überdeckte weder den Nassen-Kamm-Geruch noch all die anderen, die kein Parfüm waren.
Rosenemil war ganz leise hinter der Polenliese hergeschlichen und ebenso leise eingetreten. Denn es gibt Situationen, wo man es vermeidet, laut zu sprechen, Lärm zu machen und fest aufzutreten, weil man immer zu hören fürchtet: Ssst, stille doch ... die Wirtsleute!
Aber die Russengrüne kannte keine solche kleinlichen Bedenken. Sone Mieterin sollte sich Frau Rutsch noch mal suchen. Die Leute lebten doch beinahe von ihr. Und den Kindern brachte sie immer mal was mit, wenn sie mit dem Referendar bei Kempinski aß: Smyrnafeigen, eine Packung von Baumkuchen. Und selbst, wenn's nur das Silberpapier vom Gervais war; aber mitbringen tat sie was.
»Frau Rutsch«, rief die Russengrüne mit der Pleureuse laut. Und Frau Rutsch kam aus der Küche, wo sie Flechten gebraten hatte oder Disteln bronziert, von denen sie noch vom vorigen Herbst einen Vorrat auf dem Hängeboden liegen hatte. Disteln sind Dauerware. Sie hatte ein Zahntuch um und schien wieder mal die Ratschläge ihrer Mieterin nicht beherzigt zu haben. Denn zu ihren vier Kindern, von denen aber nur zwei noch wach waren – eines schlief ... eines schlief am Ende des Korridors hinter einer grünen Gardine, eines in der Speisekammer (aber das war das Kleinste, das lag noch im Waschkorb), – zu ihren vier Kindern gedachte sie, da wir Dezimalrechnung haben, ein fünftes demnächst mal hinzuzufügen. Nebenbei sahen die Kinder nicht schlecht aus, denn da Rutsch ein Naturmensch war, nahm er sie immer in einem alten, kleinen Kinderwagen mit heraus nach Hankels Ablage. Oder sonstwohin. Da er aber den Kinderwagen auf dem Rückweg für die Schmakeduzien oder das Moos oder die Kienäppel, die auch vergoldet oder versilbert wurden, zusammen mit rot und blau gefärbten Strohblumen, die sehr gefragt grade waren, verwandte, so mußten dann die Kinder mit ihren sechs, acht Jahren von Hankels Ablage oder Schmetterlingshorst wieder bis nach der Lothringer zurücklaufen und sich, hin- und herpurzelnd, todmüde rechts und links am Kinderwagen festhalten. Jetzt aber schliefen zwei. Und zwei waren noch auf. Und sie kamen aus der Küche mit herausgelaufen. Der Junge, der Älteste, hatte sich beide Backen bronziert. Ob bei der Arbeit oder nur zum Vergnügen – denn der Mann liebt so etwas –, blieb ungeklärt. Und das Mädchen, das immer die Baumkuchenspitzen, das heißt die eine, die in der Verpackung geblieben war, von der Polenliese bekam, hielt sich am Rock der Mutter fest und guckte seitlich von hinten herum (wie beim Versteckspielen an de Pumpe uff 'n Hof!) auf den neuen Mann da.
»Na, Wanda«, sagt die Polenliese freundlich.
»Haste mir was mitgebracht?« knarrte Wanda. Denn sie war müde.
»Ick werde dir jleich eine jeben, dämliche Heulliese«, sagte Frau Rutsch.
»Des is Herr Lehmann, Frau Rutsch«, sagte die Polenliese förmlich.
»Ach, des freut mich«, sagte Frau Rutsch und schob das Zahntuch grade. Sonst hatte sie nie Zahnweh. Und immer, wenn se in andere Umstände war. Aber sie verstand ... »Ach, Herr Lehmann«, sagte sie. Verstand sogar alles besser als Herr Lehmann selbst. Ja, sie wußte im Augenblick viel mehr schon, als Rosenemil selbst wußte; denn die Polenliese pflegte sonst ihren Besuch der Familie Rutsch kaum vorzustellen. Und vor allem dann nicht, wenn er das erste Mal kam. Und sicher auch dann nicht, wenn er etwa eine so armselige Kluft hatte wie der da. Aber endlich war es ja, das stellte Frau Rutsch mit Genugtuung fest, doch ein ganz hübscher und gutaussehender Mann, wenn auch ein bißchen jung. Aber das liebte wohl die Polenliese für so'n Posten.
Die kleine Wanda kam auf Rosenemil zu und hielt ihm eine Puppe ohne Kopf und Kleider entgegen, die nur einen Arm hatte. »Des is mein Schwesterchen«, sagte sie.
»Na, nu jeh mal in de Buschebei«, sagte die Mutter.
»Also, Rutschen, schön war das heute draußen in Tegel mit Herrn Lehmann!« sagte die Polenliese. »Ach, wat machen Sie denn da?« Und trat ein und tat, als ob sie das alles das erste Mal hier sähe, machte einen Schritt über die Schwelle der Küche, als ob sie sich da umsehe. (»Wenn der kleine Benjamin kommt, ick bin mit dem alten Herrn nach Dresden gefahren, Frau Rutsch«, denn Frau Rutsch war auf Kommissionen der Art glänzend trainiert, »und komme erst Dienstag wieder.«) »Ach, sone goldene Appel machen Se! Die haben doch meine juten Eltern immer an den Weihnachtsbaum gehangen«, setzte sie laut hinzu, und dann kam sie wieder aus der Küche heraus und nahm ihre Rosen vom Arm. »Na nu wollen wir hinterjehn, Herr Lehmann, die Leute wollen och schlafen.«
»Ick wohn solide«, sagte sie leise wieder. Das aber war, wie so vieles in dieser Welt, nicht wahr. Wenigstens hatte das die Polenliese bis gestern nicht getan. Aber morgen früh um zwölf gleich, wo, wußte sie schon, die hatte die Radaupaula bisher gehabt ... Aber die kam vor drei Monaten nicht aus Barnim. (Und im allgemeinen billigte man das, daß sie dahin gekommen war, denn sie stahl wie'n Rabe. Und so etwas ist nie gut fürs Geschäft.) Morgen also würde sie eben die Kletterbude hier schräg über sich mieten. Bei die Kinder hier paßte ihr das schon lange nicht. Der Junge, der träumte nur so vor sich hin. Aber die kleene Wanda, die paßte trotz ihrer sechs Jahre schon höllisch auf. Was brauch een Kind schon von so wat zu wissen. Und außerdem wollte sie mit ihrem Rosenemil auch 'n bißchen allein sein in de nächste Zeit und auch von ihm was haben.
Eigentlich war das ja doch ein sehr netter Mensch, wenn man ihm erst richtig eingepuppt hätte. Na ja, so den und jenen, der sich hierher gewöhnt hätte, den könnte sie so natürlich auch nicht plötzlich nach da drüben mit 'rübernehmen. Es gibt immer so feine Männer, die wollen das nicht. Die wollen, wie sie das bei ihr gewöhnt sind, ein Glas Tee trinken und eine Zigarette rauchen und sich's bequem machen, um sich mal so das Herz auszuschütten. Also, wat die einem so immer erzählen. Eener, der weint immer erst 'ne halbe Stunde. Na ja, mit denen muß man das eben ausmachen, wenn se kommen sollen.
»Ick wohne solide«, sagte die Polenliese nochmals und stieß die Tür auf. Die Fenster waren offen, die Mullgardinen wehten, und das Neunauge drüben blinzelte mit drei Augen. Über der Zisterne lag ein immer noch heller Himmel. »Erst de Gardinen!« sagte sie und zog die Gardinen vor die offenen Fenster. Rosenemil stand einen Augenblick ohne Orientierung im Halbdunkel. Aber dann flammte die Lampe auf. »Findeste nicht auch«, sagte die Polenliese, »die neue Lampenglocke schmeißt det Licht sehr sauber?«
Ja, das tat sie, denn im Augenblick tauchten viele Dinge zugleich aus ihrem Dämmerleben in eine freundliche Wirklichkeit hinein. Man mag nämlich sagen, was man will, so die alten Petroleumlampen blakten manchmal und rochen auch etwas und qualmten und schwitzten, aber sie hatten ein sehr angenehmes Licht, das solch ein Zimmer mehr vergoldete als erhellte; und selbst die alte, grüngraue, wellig gewordene Tapete hier, auf der der Haussegen hing mit den beiden Raffaelschen Engeln, und der silberne Myrthenkranz des Vaters des Herrn Rutsch (denn er konnte unmöglich 1893 schon silberne Hochzeit gefeiert haben) und der Vogelbauer, der von der Decke »Gute Nacht, Hänschen« jetzt verhüllt war auf dem eisernen Öfchen – alles: die Nähmaschine (»Der Kleinen emsige Arbeitsbiene«, wie Benjamin sagte. Aber das war nicht von ihm, wie manches, was er sagte, sondern von Lilienkron) unter dem Fenster – »Die is nächstens abgezahlt, ick mach' mir nämlich alles alleene; in so wat bin ich sehr bei de Hand« –, die Maschine blinkte leise und die drei gestickten und aufgehefteten Schwertlilien auf den Gardinen mit den Troddeln schillerten und schwankten, wie ihre Urbilder draußen an ihrem Weiher im Wind. Und hinter dem Bett, das links die Wand fast einnahm, dämmerte eine alte Kelimdecke auf. Und die beiden Palmenfächer, die sie in den Ecken rafften. Und sogar die Papiertasche, in der Mitte, ließ ihr gepreßtes Kantenpapier glänzen, in dem ein Kamm und eine Bürste staken. Und außerdem eine rote Postkarte von der Heidelberger Schloßbeleuchtung steckte, auf der ihr die Füchse der Rhenania einen beträchtlichen Streifen sine gekommen waren.
»Des sieht aber sehr mollig bei dir aus, Lissi«, sagte Rosenemil.
»Jaja«, sagte die Polenliese, »feine Leute haben feine Sachen. Und Tapetenflundern gibt's hier nich!« sagte sie und strahlte. »Bei mir herrscht Ordnung.« Und nahm den Hut ab, pikte die Hutnadel mit dem Glasdiamanten in die Sofalehne und stellte den Hut mitten auf den Tisch, daß er dastand wie ein Tafelaufsatz mit einer geleimten Pleureuse. »Bei mir liegt der Kamm uff de Butter. Nicht jedes Mädchen hält so rein! Ach – des hat mal ein junger Freund, sogar ein sehr netter, jüdischer junger Mann, gesagt.«
Rosenemil hatte erst die Rosen genommen und sie hinten in die Ecke in die Waschkanne gestellt.
»Aber Rosenemil«, sagte sie schmollend, »du machst dir ja noch ganz verrückt mit deine paar Röschen.« Er schämte sich ... eigentlich war er sehr glücklich und sehr unglücklich zugleich. Morgen früh ist das Märchen zu Ende, dachte er, wat wer ick'n meiner Schlafmutter aufbinden, denn schließlicherweise muß ick ihr doch bezahlen. Vielleicht is mit Krampfadersalbe was zu machen ... Krampfadersalbe soll sehr gut sein. Wenn auch nich vor Krampfadern.
»Haste mir auch lieb?« fragte er, immer noch beim Waschtisch.
»Des wer' ick dir een andermal sagen«, meinte die Polenliese, die begonnen hatte, sich auszuziehen, denn sie schonte ihre Kleider gern. Und nun stand sie im Korsett da und machte das auf, und ihre wundervolle üppige Schlankheit ... sie hatte auch die Haare gelöst, die den zierlichen Kopf mit den Eidechsenaugen umflogen, wie sie ihn jetzt schüttelte, daß die Nadeln nur so aus den Flechten prasselten ... all das zugleich löste sich befreit aus den Kleidern und all den Dingen, die es verhüllt und so lange gleichsam zusammengepreßt hatten. Es war wie ein Blumenkelch, der sich öffnete. Wirklich – sie war schön, mit den ganz schlanken und langen Gliedern, die doch so rund waren und so weich, wie sie lieblich ineinanderflossen. Schön wie ein römisches schillerndes Glas, wie eine Amphore. Wie eine edle klingende Verszeile irgendeiner klingenden Sprache, die nicht deutsch ist. Sie war aus Perlmutter und Elfenbein so hell und so leuchtend und so farbenspielend.
»Wat kiekste, Karlchen?« rief sie herüber. »Der Blick und die Schlafstelle umsonst.«
»Die will ick ja jrade haben«, sagte Rosenemil.
»Die sollste auch kriegen«, sagte die Polenliese. »Een kleenes Mädchen lieb und nett is besser als een Floh im Bett.«
»Du bist een Dummerchen«, sagte Rosenemil, und das war das zarteste Wort, das er zu vergeben hatte, das war für ihn soviel wie für andere ein ganzer Band von Liebesgedichten.
»Du kannst auch mal 'n neuen Strohhut brauchen«, sagte die Polenliese, wie sie sich ihm auf den Schoß setzte und ihn küßte. »Und ein paar neue Stiebeln würden dir auch nichts schaden. Morgen sin ja die Läden zu, aber morgen gehen wir ja auch nicht weg.«
»Doch«, sagte Rosenemil.
»Ach was«, sagte die Polenliese, »da reden wir nachher noch mal drüber. Ick ängstige mir immer so vor'n Mottenkönig.« Ein Nachtfalter hatte über alle Dächer zu ihnen hereingefunden und zog seine Kreise um die Lampe herum. Aber dann küßte sie ihn und summte leise dazwischen: »Der erste Kuß, der is der schönste, nachher jewöhnste dir langsam dran.«
»Na ja«, sagte sie, »die Leute mußte natürlich zahlen. Des sind arme Leute, die brauchen des. Des würde ich gleich morgen machen.«
»Woher denn?« fragte Rosenemil.
»Aber Emil«, sagte die Polenliese, »denn wirste's mir een andermal wiederjeben, wenn de was hast. Wenn ick een Mann jerne habe! Un de Sache mit de Hefte mußte auch glattmachen, des sind de besten Brüder auch nich. Nachher lassen se dich wegen soner Lappalie noch hochgehen. Die kriegen des fertig.«
Rosenemil schwieg. »Höre mal«, sagte er endlich, »des kann ich doch nich von dir annehmen.« Und plötzlich fragte er: »Wie lange gehste schon?«
»Det kannste!« sagte die Polenliese. »Ach so, sechs Monate. Dazu kann man kommen, man weiß nich wie.« Aber nun zog sie Rosenemil an sich und küßte sie sehr. Weil er sich so schämte ... Beinahe hätte er geweint, so glücklich und so unglücklich war er.
»Aber ich bin for mich, ich habe bloß 'n paar Freunde, des sind alles sehr feine und anständige Männer.« Und da hatte die Polenliese auch recht ... Aber sie verschwieg, daß sie eben von den paar Freunden nicht leben konnte und deswegen doch immer wieder auf die Straße gehen mußte, sich neue suchen. »Ich habe mit de andern Mädchens nichts zu schaffen. Eenmal vor zwee Jahren, damals war ick noch so unerfahren, da hab' ich mit 'ne Freundin zusammen gewohnt; aber die hat mir zwei seidne Blusen und een Jupon gemopst un ist mit losgegangen. Aber was reden wir davon. Mag's kommen, wie's mag, wir können ja doch nichts dran ändern.«
»Nee«, sagte Rosenemil, »des können wir nicht.«
»Jott, un mir is es ja auch immer jut jejangen. Mit de Sitte muß man sich natürlich in acht nehmen. Aber wenn man ihr kennt, denn is des janich schlimm. Und denn is es wie anderswo auch. Es jibt jemeine Hunde darunter, die 'ne Freude daran haben, so 'ne armen Mädchen, wie wir sind, mal 'reinzulegen und nach Barnim zu bringen; un es jibt welche, die mit sich reden lassen. Det is bei die genau wie bei andere Menschen auch. Un wir wissen ja auch, wer jrade Dienst hat. Wir haben da so bei de Polizei unsere Verbindungen. Und der Wurstmaxe sagt es uns auch. Und des spricht sich schnell unter uns 'rum.«
Sie legte ihre schöne weiche Federboa vom Arm dem Kolporteur um den Hals. »Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldne Brücke«, sang' sie, »sie ist entzwei, sie ist entzwei, wir wollen sie wieder flicken.« Und man sah wieder mal daraus, daß alle Erwachsenen Kinder sind und daß jeder Erwachsene sich den andern zum Kind umdenken muß, wenn er ihn lieben will. »Aber kitzele mir nich«, sagte sie, »da wer ick unjemütlich, des kann ich nich vertragen.«
»Und machste dir aus alle die Männer janischt?« fragte Rosenemil, wie er wieder zu Atem kam.
»Nee, nee, woher denn? Aus dir mache ick mir was. Sieh mal, mit dir bin ick jlücklich, un bei die andern bin ick janz unbeteiligt. Ick könnte vielleicht ebenso bei sie jlücklich sein. Aber ick hasse sie. Manchmal möchte ich sie vergiften, weil sie mir bezahlen vor das, was ich nur verschenken möchte. Aber ich lasse mir das nicht merken. Die denken wunder wie verrückt ich nach ihnen bin. Aber eenen muß ich janz furchtbar liebhaben können.«
»Sieh mal ...«, fing Rosenemil wieder an.
Aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Sieh mal, wat willste denn? Denke, du weißt es nicht. Wie oft, denkste denn, biste schon von de Frauen betrogen worden, ohne daß de es jewußt hast. Und ick betrüge dir nich, denn ich mache mir nichts aus die andern.«
Vielleicht, dachte sie, der kleine Benjamin. Aber so was kriegt unsereener ja doch nicht. »Aus alle zusammen, nicht soviel mache ich mir.« Sie schnalzte mit den Fingern. »Also einen Dreck mache ich mir aus ihnen.«
Rosenemil dachte an den da an der Laterne vorhin. »Ach Gott«, sagte er, »aber das sind doch keene Menschen.«
Aber die Polenliese schüttelte ihre schönen Flechten. »Ach Jott«, echote sie, denn sie hatte, trotz Doktor Levy, die Kunst, Halbausgesprochenes zu verstehen, »des sieht nur so aus. Es sind Menschen genauso wie wir ooch. Dadavon wirste nich alle, Emil. Se dürfen natürlich nich betrunken sein ... Aber sonst ... jaja, manchmal kommt ja 'n Mädchen an 'nen falschen, jewiß, det is beobachtet worden. Ich finde immer, je schöner und lieber solch Mädchen is, desto jrößer is de Ballonmütze von ihrem Kerl, mit den se 'rumzieht. Aber das haben wir zwei doch nich nötig!«
»Also komm, Emil, ick schnappe schon mächtig nach 'n Bettzipfel. Komm, Kinder müssen ihren Willen haben, sonst weinen se. Nu jeh mal morgen nich zu die Frau mehr. Nu bleibste mal einfach so lange bei mir, bis de was ordentliches jefunden hast, biste dir was jesucht hast.« Und vielleicht meinte die Polenliese es wirklich so. »Oder biste ooch so einer: lieber die janze Woche nichts tun als am Sonntag arbeiten?«
»Nee«, sagte Rosenemil, »nee! Ick habe Pech nur jehabt in de letzten Jahre. Aber am Fleiß ... nee, nee, fleißig und anständig bin ich immer jeblieben.«
Und als sie dann im Bett lagen und sie sich an ihn schmiegte, sang sie ihm in die Ohren lauter kleine Kinderliedchen, sehr zart und melodiös, und Abzählverschen, wie sie auf der Straße gesungen hatte, als sie noch Zuckeball und Versteck und die schwarze Köchin gespielt hatten. »Une dune Entenschnabel ... wenn ich dir in'n Himmel habe, reiß ich dir een Beinchen aus, mache mir ein Pfeifchen draus.«
»Du hast mir ja in'n Himmel«, sagte Rosenemil. Aber merkwürdig, als Rosenemil in den weichen Verschlingungen der Polenliese gefangen war, da stellte er plötzlich – den ganzen Nachmittag hatte er nicht mehr daran gedacht – in seinem Hirn Vergleiche an, wer denn nun schöner wäre und, sagen wir, stärkere Glücksmöglichkeiten in sich berge ... die schwedenblonde Dame der Gesellschaft, die da zu dem braunen Mann mit dem weichen Strohhut in die Equipage stieg und sich vorher mit dem Patentfatzke mit 'n Judenhelm vielleicht doch getroffen hatte, oder dieses weiche, schlanke, nackte, sich an ihn schmiegende und küssende warme Etwas da neben sich. Und es schien ihm, als ob da die statiöse Schwedenblonde vielleicht doch noch mehr Glücksmöglichkeiten in sich trüge. Ach, Rosenemil ahnte noch gar nicht, wieviel schöner das war, das er hier in den Armen hatte, diese vollen Mengen eines unglaubhaft weichen Haares, leicht bronzen und bräunlich durchspielt – dieser Bronzehelm von Capua! –, wieviel edler so die Linie ihres Rückens, der Ansatz eines Arms oder die weichgeformten Brüste waren, wieviel reiner die ganz hohe und sehr schmale Stirn und wieviel kühner der Säulenschaft dieses Halses, der nicht dadurch erst zustande gekommen war, daß man, künstlich und schmerzhaft, mit feinen elektrischen Brennmethoden die Haare des Nackens, die eigentlich tief herunter wuchsen, entfernt hatte. Daß er hier wild und edel gewachsene Natur umarmte, und die ihn hingegeben umschlang, und daß es dort nur hätte heißen können: Kunst und Natur sei eines nur! Und daß vielleicht beide Männer liebten, aber die eine wie eine Göttin, die sich frei und selig verschenkte, und die andere wie ein fleischgewordener Teufel, der sie – hielt er sie einmal – nicht aus seinen Krallen ließ. Oder meint ihr, daß ihr freiwillig und umsonst Zehn- und Hunderttausende geopfert wurden?
Aber von alledem ahnte Rosenemil noch nichts, als er in den Armen der Polenliese ... wenigstens das Blitzzucken einer Sekunde, dann wurde es wieder überspült, denn unsere Gedanken huschen ja sehr bildhaft und sehr schnell durch unser Hirn ... in der Polenliese Umschlingungen von der großen Brillantenberta träumte, der derzeit ungekrönten Fürstin ihres Standes und Gewerbes.
Mitten in der Nacht, das heißt, draußen war es schon ganz hell, gerade zur gleichen Minute, als Doktor Arthur Levy den kleinen, geknickten Benjamin, mein Sohn, in die Autodroschke setzte, wachte Rosenemil, der so leise vor sich hin druselte, auf, weil die Polenliese elend hustete, so ganz von unten herauf.
»Ach Jott, Lieseken«, sagte er ängstlich und zog sie an sich, »haste dir nich orntlich zugedeckt gehabt? Na wat haste denn?«
»Man erkält sich so leicht«, sagte die Polenliese halb wieder im Schlaf schon. »Jetzt im Sommer ja nich, des hab' ick noch von Winter her. Aber wenn wir uns so einmummeln, da jeht ooch keener mit. De Männer woll'n wat sehn. Die woll'n auch nich – denn koofen se nämlich nich – de Katze in Sack kaufen«, aber kaufen sagte sie gar nicht mehr, da war sie in seinem Arm schon eingeschlafen.
Und richtig, es war früh um zwölf, wie sie endlich aufwachten. Herr Rutsch, der Naturmensch, war gestern spät in der Nacht vom Nachtfang gekommen und war ganz früh schon mit Wanda und Wilhelm nach der Möckernitz wieder gezogen. Weil, wie er sagte, die Wasserflöhe das zweite Mal brüteten. Was jedem, der die sehr komplizierten Fortpflanzungsvorgänge dieser niedrig organisierten Krebsart kennt, nur Lächeln abnötigen kann. Frau Rutsch mit Kind drei, das hinter dem Vorhang auf dem Korridor schlief, aber früh auf war und vergeblich an der Tür der Polenliese sich bemerkbar gemacht hatte (manches Mal holte sie sich ins Bett: das Miezeken war so niedlich; und dafür, daß ihr nichts geschah, sorgte sie schon!), war daheim. Und Kind vier, das nicht mehr im Waschkorb in der Speisekammer war, sondern das eine Bein nachziehend auf den Dielen der Küche herumrutschte, weil es den einen vergoldeten Kienappel sich holen und in den Mund stecken wollte, der unter das Küchenspind gerollt war, und das nun schrie, da es ihn zwar sehen, aber nicht kriegen konnte, und Frau Rutsch selbst also mit dem Zahntuch und der Andeutung von Kind fünf ... alle vier also waren zu Hause geblieben und bereiteten schon das Mittagessen vor, dessen Speisefolge durch die Wohnung, übertönt von dem Geruch gedörrten Mooses, duftete. Über den Dächern draußen und der schwarzen Brandmauer drüben hing das juniblaue Tuch des Sommerhimmels, und sogar ein Schmetterling, weiß und leicht, der sich in die Felsen- und Schluchtenlandschaften der Straße von weit draußen her verirrt hatte, schlug gerade vor dem Fenster seine Saltos, als sie die Gardinen zurückzogen.
Und die Polenliese war wundervoll ausgeschlafen und schnurrte wie ein Kätzchen. Sonst war der Vormittag keine gute Zeit für sie. Eigentlich wurde sie erst nach eins sonst so sie selbst. Aber heute war sie gar nicht müde. Und auch gar nicht blaß. Und sie hatte auch keine Sorgen, denn in der letzten Zeit war es ihr sehr gut gegangen, und sie hatte sogar ein paar blaue Lappen gleich irgendwo hinter dem Kelim versteckt, dort wo sie unauffindbar waren. Erstens eingenäht, und dann mußte man das Bette erst abrücken, um heranzukommen. Darauf verfiel keiner. Und von jetzt an war das Zimmer ja auch nur noch für Rosenemil und einige Ehrengäste, die sie lange kannten und die nicht klauten, reserviert. Denn bei feine Leute war das nich Mode, sie hatten es nicht nötig. Die hatten selbst Jeld wie Heu ... Sie hatte nebenbei mit Rosenemil kein Wort mehr davon geredet, ob er bei ihr bleiben wollte. Sie hatte es ihm angeboten. Ob er es nun tun würde, das war seine Sache. Aufdrängeln tat sie sich einem Mann nicht. Endlich hatte man ja auch seinen Stolz.
»Bleib man noch 'n bißchen in de Falle, wir werden nachher den Lendemain feiern«, sagte sie, »ick muß erst ein bißchen saubermachen, Frau Rutsch bringt uns schon den Kaffee dann. Bei de Ordnung kann ick keene Mannsbilder brauchen. Da stehn se nur 'rum«, und sie hatte wirklich einen roten Morgenrock mit großen eingestickten Blumen an. Die hätte sie allein gestickt, sagte sie. Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er stammte aus der gleichen Quelle in der Kommandantenstraße, und das gleiche Wintergartenmädchen hatte ihn einst in gleichen mittäglichen Morgenstunden um ihre tanzgewohnten Glieder flattern lassen. Aber auch sie war an den Blumen darauf unschuldig, die eine flinke, abgezehrte und knochige Hand ehedem, für einen unvorstellbaren Hungerlohn, in einer Hütte, die auf ein Reisfeld und einen verfallenen Friedhof hinausschaute, mit hastiger Nadel bei Kumamoto zusammengestichelt hatte. Und dann rief sie Miezeken. Und Miezeken, den Finger am Mund und erstaunt und vielwissend auf das neue Gesicht im Bett sehend, schob sich breit und winzig mit ihrem dicken Kopf und den Gummibeinen – denn sie hatte die englische Krankheit, aber das jibt sich – in die Tür, altklug und lieb, wie es solche rachitischen Kinder immer sind.
»Also, Miezeken, hier habe ich dir des eingewickelt. Und auf dem Zettel steht, Jeld zurück! Also verliere es nicht. Und erst gehste zum Zigarrenfritzen, meine Sorte. Er weeß schon. Denn zum Butterfritzen, und zu dem Heringsbändiger an de Ecke zuletzt. Und des Jeld läßte dir immer wieder in den Korb legen, und wenn de nich vorne 'rum 'reinkommst, denn jehste, des weeßte ja, hintenherum. Und laß dir nicht vor'n Blauen sehen«, und sie riß das Kind hoch und wirbelte es in der Luft herum; so was hätte sie auch schon dreimal haben können ... »Kleene Quatschliese, willste den Onkel da mal ›Guten Tach‹ sagen«, und sie ließ das Kind nicht auf den Boden, sondern trug es an das Bett heran, »des is een neuer Onkel – vastehste?«
»Ach«, sagte Miezeken, »sind de andern jesterbst?«
»Nee«, sagte die Polenliese und schwenkte das Kind bis zur Zimmerdecke hinauf, denn das machte ihm besonderen Spaß, und lachte in sich hinein. »Wovon soll der Schornstein rauchen?« Denn Mutterwitz hatte die Polenliese. Und dann turkelte Miezeken auf ihren Gummibeinen ab, so daß hinten das rosa Schleifchen, denn am Sonntag brannte Frau Rutsch ihren Kindern die Locken mit Zuckerwasser, in ihrem Selleriezöpfchen nur so tanzte.
»Kipp nicht aus de Pantinen«, rief die Polenliese hinterher, und dann brachte Frau Rutsch den Kaffee, und da lag auf dem Tablett ein Papierchen mit gekochtem Schinken und eine Dose Sardinen sogar und gleich zwei Eier, und die Brötchen waren von solcher Sorte, wie sie zwischen den Zähnen knackten, und durchaus keine Schrippen, die zwischen den Zähnen hängenblieben. Und es war sehr gemütlich, wie sie sich so gegenübersaßen und sich verliebt ansahen und von ganz gleichgültigen Dingen dabei sprachen und beide dabei an die Nacht doch dachten und, wie die Polenliese sagte, Lendemain feierten. Jetzt hatte Emil Lehmann seine an ihm gerühmte Redegewandtheit, die ihn gestern so völlig im Stich gelassen hatte, schon zu drei Viertel wiedergewonnen, und die Polenliese rief ein über das andere Mal: »Ich lach mir tot, du bist ja ein richtiger Oskar.« Denn das is'n frecher Mann, der immer mit der Schnauze vorwech is. »Des hab' ich ja jarnich in dir vermutet.« Und sie lasen zusammen die Morgenpost und lachten über Mudickes Stammtischreden.
»Au kiek mal, Fritzchen«, sagte die Polenliese, »Baer un Sohn in de Chausseestraße zeigt kurze Sommerpaletots mit Atlasfutter, nach Maß, dreimal gesteppt, für sechsundzwanzig an, un ein Sommersonderangebot in leichte farbige Herrenwesten – das steht hier auch! – in vierhundert verschiedene Dessins und in alle Couleuren von einsfünfunneunzig bis sechs Mark und fünfunsiebzig. Da sollte man doch mal hingehen, sone Weste ziert doch den janzen Menschen.«
»Jaja«, sagte Rosenemil, aber wie sollte er eine Weste, die den janzen Menschen ziert, kaufen? – »Hinjehn kann man ja mal.«
»Ja«, sagte die Polenliese, »nu geh ich. Und du geh man auch und bezahl deine Schlummermutter. Sone Leute brauchen des. Wat kriegt se denn noch von dir?«
»Vier Mark fuffzig«, sagte der Kolporteur leise, eijentlich waren es ja mehr (oder weniger). Aber was brauchte er das dem netten Mädchen auf de Neese zu binden. Die kriegt's fertig un jibt's einem.
»Also hier haste een Fünfmarkstück, Emil; und du kannst es mir immer mal wiedergeben, wenn de willst. Aber sone armen Äser kann man nichts schuldig bleiben, des tut een anständiger Mann nicht. Weeßte, ick jeh jetzt. Ick muß weg.«
»Wo jehsten hin, Lissi?« fragte Rosenemil, als sie sich vor dem Spiegel überm Waschtisch (die Rosen standen immer noch in der Karaffe) die Hutnadel einschob. »Wo jehsten hin?«
»Ick jeh ja doch in'ne andere Richtung, Emil.«
»Wo lang denn?«
»Ick geh auf 'n Marcht«, sagte sie. »Ick geh, wo's scheen is un nischt kostet. Adjeh, mein kleiner Weihnachtsbaumengel!«
Aber die Polenliese ging gar nicht auf den Markt, Sonntag ist gar kein Markt. Sondern sie wollte sich eilen, um die Kletterbude von der Radaupaula, weil da, wie sie gehört hatte, mehrere Kolleginnen scharf drauf waren, zu mieten. Nu war heute Sonntag, und wenn's es auch halb eins war, so war des doch sehr früh am Tag. Und wenn die auch wohl jetzt grade aus den Federn krochen, denn Sonnabend wird es immer ein bißchen später – nich wahr? –, so waren sie doch noch um die Zeit nich so weit angepuppt, daß sie auf die Straße gingen, und so würde sie wohl die sein, die zuerst kam und deshalb auch zuerst mahlte. Aber hochnehmen ließ sie sich nich. Ja, und wenn nun Rosenemil eben nicht zurückkäme, denn sie hatte ihm mit Absicht nicht ein Sterbenswort mehr gesagt, daß er es tun sollte, als sie ihm den Abschiedskuß gab: na ja, denn wäre sie eben nicht wert, daß er wiederkäme! Des wäre wohl dann ihre Schuld, daß sie ihn nicht halten könnte.
Sie war ja doch sehr glücklich mit ihm gewesen die Nacht über. Selbst mit Eduard, selbst mit dem Klamottenede, so glücklich war sie nie, nich mal in der allerersten Zeit gewesen. War sie nur so glücklich mit ihm, einfach, weil sie glücklich sein wollte oder weil Doktor Levy und der kleine Benjamin ja doch recht hatten, daß selbst die körperliche Liebe eben ja endlich auch nur seelisch ist oder zumindest seelisch bedingt.
Aber als die Polenliese eben aus dem Hause kam und noch ein Wort mit dem Sargfabrikanten, Herrn Wunderlich, gesprochen hatte, der sich – er war ein alter Mann und sah selbst wie sein bester Kunde aus, nämlich wie eine unbegrabene Leiche (aber so sah er schon seit zwanzig Jahren aus, sagte Frau Rutsch, die immer so in der Gegend hier gewohnt hatte und die sich schon als Kind vor ihm gefürchtet hatte) – der sich also vor sein Sargmagazin einen Stuhl in die Sonne herausgestellt hatte, um seine Pfeife zu rauchen ... als sie sich mit dem ollen Wunderlich unterhielt, denn der Alte gab hier gerne den Hofdamen Audienz, da kam auch schon Rosenemil vorbei und tat, als ob er sie nicht kannte und als ob er sie nie gesehen hatte, und sagte nur so halblaut und beiseite wie ein Schauspieler in die Kulissen: »Wann bisten wieder oben?«
»Um halb drei«, flüsterte sie, wie in den alten Lustspielen steht (beiseite), die Polenliese, und wurde ganz rot, wie ein kleines Mädchen, vor Glück und Freude und Sehnsucht. Herr Wunderlich merkte wie immer gar nichts, weil er alles merkte.
Und Rosenemil schlenderte weiter durch den Sonntag, sein Röschen und sein neuer Foulardschlips zierten ihn immer noch, und die halbbewußte Erinnerung an die Nacht machte ihn leicht und froh. Es war sehr nett – und ein grader Weg ... Lottumstraße über die Brunnenstraße herunter, am Humboldthain vorbei, bis zur Zingststraße, zu seiner Mutter Radowski, das war wieder seine alte Gegend. Er kannte jeden Laternenpfahl und jede Wellblechbude und jede Eckdestille. Die ganze Straße lag endlos vor ihm, und die Straßenbahn kam angepflügt, und hinten dämmerte die Himmelfahrtskirche auf dem Platz mit ihren vielen Türmchen. Ihm schien es, als hätte er's ein Jahr nicht mehr gesehen. Und in der AEG war es jetzt ganz still und sonntäglich. Und weil es Sonntag war, waren alle Hunde draußen und mit ihnen die meisten Menschen auch. Wie oft hatte er im Humboldthain nachmittags, gegen abend hier gesessen. Es war ihm, als ob er jeden Baum persönlich grüßen müßte. Als hätte er ihn seit wer weiß wann nicht wiedergesehen. Dabei war er gestern um sieben noch an ihnen mit seiner Wachstuchmappe unterm Arm hier entlanggezogen. Wo war er hin? Und wo seine Wachstuchmappe? Aber beides, fühlte er, ging ihn eigentlich jarnichts mehr an. Ebenso wie der janze Emil Lehmann von gestern noch.
Die Radowskischen Kinder spielten heute, mit Schleifen in den Haaren und himmelblauen Schärpen um die Musselinkleidchen und in Matrosenanzügen, auf 'm Hof; statt wie sonst mit Barchentschürzen und zerrissenen Hosen. Denn es war ja doch Sonntag!
Frau Radowski, die Schlummermutter, war alleine zu Hause, denn ihr Mann war wieder bei seinem Freund mit den Brieftauben. Da stand er den janzen Sonntag auf dem Dach und winkte mit einer weißen Fahne wie ein Parlamentär. Des war sein Sonntagsvergnügen. Und Frau Radowski war froh darüber. Da saß er doch nicht in der Kneipe ... Früher war er in der AEG gewesen, aber jetzt war er des nicht mehr, der olle Radowski. Darum hatte sie die Schlafburschen. Aber sie war doch sehr glücklich – und sie gab es auch zu erkennen! –, als ihr Herr Lehmann wieder auftauchte. Sie wollte ihn schon als unbekannt verzogen abmelden. Sie sah sofort, daß er einen neuen Schlips, ein Röschen im Knopfloch und keine Mappe mehr hatte. Na, die konnte er ja beim Budiker jelassen haben. Aber der Schlips war verdächtig. Zahlt den Schlummerkies nich, kooft sich lieber 'ne Krawatte davor mit Pünktchen, een feiner Schlafbursche!
Aber die Radowskin sagte nichts derart. Sondern sie tat sehr freundlich und fragte, ob er nich een Kartoffelpuffer mit Apfelmus haben wollte. Sie hätte gestern nacht welche gebacken. Eenen hätte sie ihm noch aufgehoben. Des andere könnte sie ihm ruhig nachher beibringen, wenn er gar keine Anstalten zu berappen machte. Denn sonst, der Lehmann war immer so empfindlich, könnte er ihr am Ende noch auf und davon jehn.
»Ach nee«, sagte der Kolporteur, »des is sehr nett, aber ich habe schon gegessen, liebe Frau Radowskin. Ich bin eigentlich nur gekommen, um zu zahlen, wat ick noch schuldig bin. Denn ick habe von heute an 'ne andere Schlafstelle, bei sehr noble Leute. Det is mir ze weit bis in de Jegend, wo ick arbeeten muß, Frau Radowskin.«
»Ach«, sagte die Radowski, aber sie wußte, da war nichts zu wollen, er hatte die Schlafstelle ja nur wochenweise, und was nützte das, Krach zu machen, 'rauszuschlagen war ja doch nichts bei ihm. Und wenn sie die paar Klamotten zurückhielt, da hatte sie nichts von und er nichts von, und so, wenn man ihm gut zuredete und er mal was übrig hat, dann würde er ihr vielleicht mal später die zwei Mark noch bringen. Und Rosenemil nahm seine paar Hemden und seine drei Chemisettchen und die Strümpfe aus dem Schrank und zeigte sie der Frau Radowski, daß er auch nichts von den andern mitgehen lasse, und bat sie, den Herrn Radowski, der so ein lieber, jemütlicher Mann wäre, noch janz besonders zu grüßen. Schlug sich seine sechs Sachen, mehr waren es nicht, wenn man den Kamm und die Bürste und die Zahnbürste nicht rechnete, in eine Zeitung und ging langsam und pfeifend, er hatte den Finnländischen Reitermarsch am Wickel, wieder auf die Straße. Ihm war zumute wie Cortez, der die Schiffe hinter sich verbrannt hatte. Jetzt ging er viel schneller und pfiff die ganze Zeit alle Militärmärsche durch, die er kannte, viel schneller, »weil's ihn zog«. Wenn er auch nicht gerade Dauerlauf lief wie der kleine Benjamin.
Ja, und als Rosenemil wieder nach der Lottumstraße zurückkommt, da wartet die Polenliese schon auf ihn und hat sich sehr nett gemacht, sich in den rosa Morgenrock mit de Blumen geworfen. Denn sie schont ihre Kleider. Und der Referendar, der sonst immer am Sonntag um vier kommt, denn des Abends muß er bei seiner regulären Braut sein, und sein Schwiegervater erlaubt doch erst, daß er heiratet, wenn er mit dem Assessor fertig ist – aber der süße Bengel arbeitet ja nicht! –, dem hatte sie durch den Jungen von Fräulein Frühauf, die von dem Fremdenlogis auf Stunden, Tage, Wochen und Monate (ein paarmal hatte sie den Willem von Rutschs für so was genommen, der verdiente sich auch gerne mal einen Groschen, aber der Kerl war wirklich selbst zu so etwas zu dumm, der verquatschte ooch allens! Der Richard von de Frühaufen war helle und in solchen Kommissionen, vielleicht auch, weil er mehr Übung hatte, sehr geschickt und fix), dem also hatte sie den Jungen, den Richard, geschickt, er soll heute nich kommen. Sie wäre auf Landpartie nach Eberswalde. Sie würde ihn, wenn's ihm recht wäre, pünktlich morgen um neun bei Helmholtz da in die Konditorei treffen. Aber warten würde sie nicht. Also den blöden Kerl war sie heute los. Und die anderen, mit denen würde die Rutsch schon fertig. Und bei die Kletterbude, da hatte sie sogar fünf Mark abgehandelt. Aber die hatte sie erst von Montag von sechs an. Also könnte se ja heute abend noch ein bißchen an de Luft gehen. Und vielleicht bei Vater Strehmel nachher einkehren! Na ja, endlich is man ja ooch een Mensch un will mal wat von sein Leben und von de Liebe haben. Un den verlorenen Sonnabend un den Sonntag würde se auch schon wieder einbringen. Und daß se for morgen vormittag noch nichts vorhatte, war ihr ganz lieb. Denn da hatte se was vor. Das sagte sie aber Emil noch nicht. Erst wollten sie mal gemütlich essen. Gefüllte Eierkuchen mit Pilze, die der Rutsch selbst gesucht hatte. Der verstand sich darauf, der Naturmensch. Bei seinen Pilzen war noch nie was vorgekommen. Ja, und einen Abgeriebenen hatte sie auch wieder mitgebracht von Helmholtz. Denn den aß Emil so gerne. Aus Gußzwiebäcken machte er sich nichts. Alles war wieder sehr gemütlich. Sie saß auf dem Sofa und er auf dem Stuhl und hatte das Jackett über die Lehne gehängt. Jetzt war er schon ganz etwas anderes wie gestern. Jetzt kannten sie sich schon richtig und brauchten sich nicht mehr bei der Vorrede aufzuhalten. Er jing auch schon so'n bißchen aus sich 'raus und erzählte von sich. Eigentlich merkwürdig, wie lange so'n Mensch bei all so was doch anständig geblieben is! Und sie fing auch mal so an, von sich wat zu erzählen. Aber sie sagte nicht, daß es von sich war, sondern daß es von ihrer Freundin war. Sie erzählte auch von ihrem Verflossenen.
»Ach Jott«, sagte Rosenemil, »des is doch gräßlich«, denn er war nicht dafür, daß man ein Mädchen, das doch lieb zu einem war, zum Dank dafür schlug oder gar mit 'nem Messer bedrohte.
»Ach Jott, Emil«, sagte die Polenliese, »des is nu wieder übertrieben. Du wirst es ja auch sehen. Du mußt nich etwa glauben, daß des nu alle sone rohen und gemeinen Blutsauger sind und die so'n armes Mädchen so lange schlagen, bis se for ihn auf de Straße geht, un die ihnen denn mit 'ne Pistole in de Hand den Kies wieder abnehmen. Da gibt's hier welche in de Jejend, die sind wie die Turteltauben, een Herz un eene Seele, solange man sich erinnern kann, die sich foreinander in Stücke schlagen ließen, und wenn er auf sechs Monate nach Plötzensee ins Kittchen kommt, sie bleibt ihm treu. Aber wenn eene de Hosen anhat, denn is sie's. Man muß nich alles glauben, was in de Bücher steht, Emil. Es gibt solche Bücher und sone. Des stand in een Buch von dem kleinen Benjamin, een netter Junge. Er is noch auf de Schule. Der bildet mir immer, er hat nur sehr gute Bücher. Ja, und wat se so über die Mächens allens schreiben, det is ja een Quatsch von vorne bis hinten. Meinste, daß die soviel anders sind als die andern? Die sind auch nur Menschen von Fleisch und Blut, wenn se auch arme Äser sind und keine wilden Tiere aus den Zoo. Sieh mich an. Da is jetzt so'n Doktor, der stenografiert alles mit, was ihm Mädchen in de Gitschiner Straße auf seine Station erzählen. Und de Mädchen wissen des und machen sich een Riesenvajniejen draus, ihm die größten Mordspistolen und Räubergeschichten uff de Neese zu binden.« (Merkwürdig, sowie sie davon sprach, war sie ebenso wie alle andern auch, und sonst merkte man doch gar nichts davon, dachte Rosenemil.) »Wie se dazu gekommen sind? Na, die wären ja auch schön dumm, wenn sie ihm etwa die Wahrheit sagen würden. Was braucht'n der Mann des zu wissen. Aber weeßte, nu gehn wir noch 'n bißchen in de Abendluft. Oder wollen wir lieber in de Baba jehn? Ja, und noch eens. Du hast det Zimmer vorne als Schlafbursche, des hab' ich schon mit de Rutschen so ausgemacht, denn se muß dir doch melden. Aber wenn de eenmal da vorne schläfst, sind wir geschiedene Leute – vastehste, Rosenemil? Kiek mal, wie deine Blümekens sich noch gehalten haben. Rosen, Tulpen, Nelken«, sagte sie und drängte sich gegen ihn, »alle Blumen welken. Marmor, Stein und Eisen bricht. Aber unsre Liebe nicht.« Denn die Polenliese schätzte sehr, trotz der Bildungsbücher von Benjamin, mein Sohn, solche Verschen. Die hatten sie sich immer in der zweiten Klasse in de Stammbücher geschrieben.
Beim Vorbeigehn drängte sie sich noch einmal in die Küche hinein, da hatte Rosenemil nichts zu suchen. »Ach, Frau Rutsch«, flüsterte sie. »Also wer auch kommt, ick bin verreist. – Und seh einer an«, meinte sie laut, und zeigte auf zwei Einmachgläser, in denen es schwarz durcheinanderkroch, »was tut Ihr Mann mit die vielen schwarzen Schnecken da drin, die verkooft er? Also ick nehm keene. Wer'n die jebraten? Nee, die zähmen sich die Leute so in Aquarien ... Wat't nich alles jibt.« Leise aber sagte sie wieder: »War mein süßer kleener Bengel, der kleene Benjamin, gestern noch da? Wie sind Se'n losgeworden? – Wat? Is nich gekommen? – Un heute auch nich? Nee, wirklich? – Wat is'n det? Wat is'n da los?«
Die Polenliese hätte ja nun wirklich den kleinen Benjamin nicht empfangen können, und so hätte es ihr ja gleich sein können, daß er nicht gekommen war. Aber das ist das Merkwürdige: es war ihr durchaus nicht gleich. Erstens fürchtet ja ein kleines Mädchen, das nicht mit ihrer Puppe spielen kann, immer, daß ein anderes Kind damit während ihrer Abwesenheit gespielt haben könnte. Und zweitens war sie dadurch, daß der kleine Benjamin nicht gekommen war, nicht nur in ihrem fraulichen Ehrgeiz gekränkt. Sie fühlte sich in ihrem Machtgefühl, das sie über ihn und das sie immer überhaupt besaß, bedrängt. Aber drittens und endlich war sie wirklich unglücklich und fühlte wirklich einen Stich da so in der Herzgegend daherum. Sie brauchte eben doch zwei. Schön, Emil, das war ihr Mann jetzt, aber der kleine Benjamin, für den war nebenbei die andere Stelle vakant – sie war ja fast sechs Jahre älter als er –, die andere, die bei ihr für ein Kind reserviert war ... Und daß er weder heute noch gestern gekommen war, wo sie ihn doch ganz und gar doch nicht hätte gebrauchen können. Nicht mal 'ne Zeile ihr geschrieben hatte – sie hob sich das alles von ihm auf –, das verstimmte sie, so glücklich sie auch grade war, tief. Denn die Polenliese konnte sehr glücklich und in dem nächsten Augenblick schon sehr, hoffnungslos unglücklich sein.
»Was haste denn mit einmal, Lissi?« fragte Rosenemil, als sie wieder aus der Küche kam.
»Ach«, sagte sie, »die Rutschen hat da Tellerschnecken in'n Glas ... Ich glaube, so was essen die reichen Leute; und ick bin doch so eklich.«
»Haste auch deine Schlafwirte bezahlt?« fragte die Polenliese. »Sonst mußte's noch tun! Nachher melden dir die Leute als vermißt.« Denn Polenliese schätzte so was, was vielleicht polizeiliche Recherchen nach sich ziehen konnte, überaus wenig. Sie war der Ansicht, daß man alles vermeiden müßte, was den Staat oder gar die Polizei etwa auf einen aufmerksam machen konnte.
»Aber Lissi«, sagte Rosenemil gekränkt, »wat denkste von mir eigentlich?«
»Na ja«, sagte sie, »ick wollte doch nur mal der Ordnung wegen fragen.« Innerlich sagte sie sich aber, es jibt eben sone Männer, denen darf man keen Jeld in de Hand geben, die kommen an keine Kneipe vorbei. Und des sieht man se oft jarnich an. Des soll sogar 'ne Krankheit sein. Sonst sind se dabei von Gemüt wie'n Kind. Also so eener is det nicht!
Draußen war ein schöner Abend, und die Straßen waren voll von hellen Kleidern und von Kinderwagen und von Kindern mit Stocklaternen und Luftballons und Radfahrern. Sogar ein alter Herr mit einem schwarzen Gehrock und einem weißen wehenden Vollbart fährt noch auf einem ganz komischen Hochrad, und es schien, als ob er frei da oben in der Luft säße, und es sah aus, als ob er da Freiübungen machte, wie er es von Jugend an gewohnt war. Der Hauptunterschied gegen die Woche war, daß die Leute Zeit hatten und daß sie kein Ziel hatten, also spazierengingen, und daß sie nicht wie sonst von der Arbeit eilten, um nach Hause zu kommen. Was sie nicht taten. Und daß die Straßen leer von Geschäftsfuhrwerken waren. Und daß die Straßenbahnen schneller fuhren, weil sie allen Raum für sich hatten. Und die Laternen wurden angezündet zu einer Zeit, wo es noch gar nicht nötig schien. Aber es war nur länger hell heute. Denn es gibt so Tage, an denen man es überhaupt nicht versteht, warum es dunkel und Nacht werden soll ... Der Himmel bleibt dann über den Dächern weiß und glüht weiß in sich, bis sehr lange. Und in den Straßenenden brennt ein schwelendes und sehnsüchtiges Rot am Himmel fast die ganze Nacht über. Die Straßen sind heiß vom Tag und werden nicht kühl von der Nacht.
»Det is komisch in Berlin«, sagte sie, »man mag noch so lange Spazierengehen, und man mag hingehen, wo man will, am Schluß endet man doch immer bei Vater Strehmel ... Ach Jott, wir könnten ja auch zu Helmholtz gehn in die Konditorei. Aber da biste nich nach angezogen, un ich heute auch nich. Da treffen wir uns so, Emil, der janze Herrenklub ›Plötzensee‹ is auch da, wie die Radaupaula immer sagte ... Aber natürlich verkehrt bei Vater Strehmel in de Lothringer Straße auch besseres Publikum. Von außen sieht es ja man einfach aus. Aber drinne is es wirklich gemütlich. Und so sauber, da kannste vom Fußboden essen. Da hält de Strehmeln drauf.«
Rosenemil wäre nun wirklich lieber nach Hause gegangen, nicht, daß er müde war, aber der Mann ist nun mal gerne mit der Frau allein, und die Frau zeigt sich gerne mit dem Mann den anderen. Denn was hat man denn sonst vom Leben! Und außerdem ist man mit dem Manne nachher noch immer lange genug zusammen.
Aber Vater Strehmel war gar nicht in de Lothringer Straße, sowenig wie die Polenliese in de Lothringer wohnte. Das sagte man nur so, wie jemand, der sagt, er is aus Wien und deswegen noch lange nicht aus Wien sein braucht ... Die Lothringer Straße war ein Sammelname hier ... Sondern Vater Strehmel war in de Christinenstraße, und man mußte ein paar Stufen heruntergehen, um in sein Reich zu kommen. Und wenn es auch, was Herr Strehmel nicht wahr haben wollte, eine Kellerkneipe war (es gingen ein paar Stufen herunter, und unter einer war 'ne Schelle, und da hörten es also Strehmels ganz hinten, wenn jemand kam und mal keiner grade vorn war) und viel Phantasie dazu gehörte, es für Parterre anzusehen (es war eine Kneipe, die in jeder Beziehung unter dem Niveau war), so war es doch ein geräumiger Keller, der weit und tief hinterging, allerhand Nebenräume hatte und, wie die Schnäpse hier, halb und halb war. Das heißt, die Fenster waren noch gerade zu ebener Erde, aber der Fußboden war schon Keller. Das Ganze war eben, wie die ganze alte Bruchbude, in der es war, noch vor der Erfindung der Baupolizei. Die sich auch, wie jede andere Behörde, nie um das kümmerte, was war, sondern nur um das, was geschah; kurz, für verjährte Mißstände nicht zu sprechen war. Aber gemütlich – und das sind ja verjährte Mißstände oft! –, gemütlich war's bei Vater Strehmel. Und voll ... voll war es immer von zehn Uhr ab bis morgens früh um fünfe. Es war auch für Komfort gesorgt. Es gab sogar einen Abort da. Man brauchte erst gar nicht hinter auf den Hof. Und das wäre auch bei den Stammgästen, die bei Vater Strehmel verkehrten, den Leuten, die im Hause wohnten, und wenn das auch einfache Leute waren, nicht lieb zu jeder Tages- und mehr noch zu jeder Nachtzeit gewesen. Und außerdem hätte man da auch durch die Wohnung und die Schlafzimmer – denn Vater Strehmel wohnte »erster Hof im Keller« – hindurchgehen müssen. Ja, und der Abort war »für Herren« und »für Damen«. Und doch war's nur einer. Er hatte nämlich zwei Türen und Zugang von zwei verschiedenen Zimmern aus. Und auf der einen Seite war ein Schild an der einen Tür: »Herren«, sogar ein vornehmes Schild. Und auf der anderen Seite eins: »Damen«. Und wer da 'reinging, mußte nun nach beiden Seiten die Riegel vorschieben. Aber – Das verlangte die Sittlichkeit so! – es wär' nie einem Herrn eingefallen, auf der Damenseite, und nie einer Dame, auf der Herrenseite hereinzugehen. Anstand muß sein.
Die Theke ging groß und breit quer mitten durch den Raum, in dem von der Decke drei alte, angeschwärzte Hängelampen, in denen halbverbrannte Auerstrümpfe grünlich und mattgelb glühten, hingen. Also es mochte noch so verrußt sein und verstaubt sein, hell war's hier. Wenigstens des Nachts. Am Tag war's duster. Und wer also etwa glaubte, daß man bei Vater Strehmel im Dunkeln schön munkeln könnte, der war schwer auf dem Holzweg. Im Gegenteil. »Hier herrscht Ordnung!« stand schon gleich oben über der Theke, und ein Schlagring war darunter gemalt. Aber es standen auch freundlichere Worte da: »Wenn die Knie zittern, dann trink 'nen Bittern.« Ein tiefes Wort, wert, daß es in den Weden gestanden hätte, wie Spitzmaus sagte. Und »Hühnersuppe« stand dran, aber es stand nur auf der Pappe, und »Gambrinusbock« stand oben und »Römertrank« und »Spezialität Maitrank«. Aber man durfte ihn nur nicht mit dem aus Mosel und Waldmeister verwechseln. Es war ein grünes Gesöff, süß und sauer zugleich, das einem die Löcher in den Strümpfen zuzog, und deshalb vielleicht nur wurde es von den Gästen nicht verschmäht. Und: »Jeden Montag und Freitag Kartoffelpuffer.«
Und wenn auch der Holzbau der Theke, hinter der nebeneinander Vater und Mutter Strehmel, er beim Bier, sie hinter den Rollmöpsen, Soleiern und Würsten und den Käseglocken, in denen auf zerfließenden Harzern und Goldleisten die Fliegen krabbelten, ihre Plätze hatten, die sie in jeder Beziehung ganz ausfüllten ... wenn auch der Anstrich der Theke schrumplig geworden war und Blasen gekriegt hatte und das Holz an der Theke geschwitzt hatte – und wenn man sich gegen die Theke lehnte, man Harzflecke in die Kleider bekam –, so waren doch die Kleider der Gäste hier meistens nicht so, daß das noch sehr ins Gewicht fiel, und die Gäste selbst hatten sich solchen kleinen Zwischenfällen des Daseins gegenüber einen bewundernswerten Stoizismus angewöhnt. Bei Dressel zum Beispiel hätten sie im gleichen Fall viel mehr Krach geschlagen. Aber was man hier bekam, war vielleicht etwas kräftiger als das bei seinem vornehmen Konkurrenten. Doch es war gut. Die Bulljong, die kochte Frau Strehmel selbst immer, und die Soleier legte sie ein und die Rollmöpse auch, sogar die russischen Anchovis legte sie selbst ein. Und die Karbonaden bekam sie extra des Morgens um fünf gleich aus der Großmarkthalle. Und die Sülze, da kam überhaupt keine fremde Hand 'ran, und der gekochte Schinken und die Würste, die an einer Stange hingen, hinter ihr, über ihrem dicken Kopf an der Wand! Und wer hatte ihre Leberwurst und Blutwurst je versucht, und nun erst ihre Wurstsuppe am Freitag, wenn der Stuhl mit de Schürze drüber draußen vor der Tür stand, ohne sie zu loben? Frau Strehmel war überhaupt die Seele von's Jeschäft, und jeder, der sie sah, wie sie, mit ihren dicken, bloßen Armen und ihrem mächtigen Vorbau, rot und lachend sich übern Schanktisch beugte, um einen Stammgast zu begrüßen, glaubte das. Er war zwar ein Säufer, aber er verstand die Leute 'rauszuschmeißen, dabei war er eher gemütlich als grob. Und selbst bei diesem Geschäft ganz witzig. Denn er wünschte durchaus keine Feindschaften und auch keinen Kunden zu verlieren. Er kam auch, selbst mit dem rabiatesten Burschen, mit dem Rausschmeißen zurecht; weil Rausschmeißen sein Beruf war und die andern viel seltener 'rausgeschmissen wurden, als er dieser Tätigkeit oblag. Außerdem sahen es auch die meisten ein, wenn sie nüchtern waren, daß sie Vater Strehmel gestern zu Recht 'rausgesetzt hatte, und kamen freundlich, wenn auch etwas beschämt, wieder. Zum Schluß konnte Vater Strehmel ruhig ohne sie auskommen. Aber sie nicht ohne Vater Strehmel.
Aber sie hielt ihn kurz. Er war nur dazu da, um Bier und Schnäpse einzuschenken und mal mit einem guten Kunden einen zu trinken, und vor allem, um hier Ordnung zu halten, wenn sie zu sehr randalierten, und um sich mit de Polizei zu stellen.
Die Strehmel-Kinder jedoch lernten Französisch, denn sie gingen in de hohe Schule und machten vorne in der Kneipe ihre Arbeiten, die Spitzmaus überwachte. Ja, wenn es auch nur lange Holzbänke waren und ein Tischtuch hier nie gesichtet worden war und wenn auch die Aschbecher und Streichholzbehälter angeschlagen waren und die Mostrichfäßchen verkrustet und verschmiert, auf den Tisch kam nichts zu schnabulieren, was nicht ganz sauber war. Dafür sorgte sie. Und gemütlich war's. Ein Regulator pendelte sogar an der Wand, und ein Grammophon mit 'ner großen Blechtute hatten sie sich jetzt angeschafft, um den Jästen auch mal was bieten zu können.
Rechts und links auf den beiden Flügeln des großen Büfetts hinter dem Schanktisch standen als Bekrönungen von den großen Schnapsbuddeln, in denen rot, grün und gelb und kristallen Anis und Korn und Ingwer und Gilka und Himbeer und Curaçao – aber er tat nur so als ob – und Nordhäuser und Kümmel und Pfefferminz (des war für die Damen) und Pommeranzen (gleichfalls für die Damen) standen, die Gipsbüsten des Kaisers und der Kaiserin. Eigentlich war er ja Sozi, der Strehmel – des hätten ihm seine Kunden schwer übelgenommen, wenn er das nicht gewesen wäre –, aber er mußte sich doch auch mit de Polizei verhalten. Das verstanden seine Kunden nur zu gut. Un darum standen eben die Büsten da. Na ja, ein bißchen eng war es ja hier bei Vater Strehmel; aber es ist nun mal so. Je reicher die Leute sind, desto mehr Raum ha'm se um sich und brauchen se um sich. Und je ärmer se sind, desto mehr rücken se sich auf den Leib. Und das wird nun wohl auch so bleiben auf der Welt vorerst.
Aber das war nicht alles! Rechts und links waren noch zwei Nebenräume, die nach dem Hof herausgingen. In dem einen stand ein Billard sogar. Warum stand denn draußen dran: »Hier kann zu jeder Tages- und Nachtzeit kalt und warm gefrühstückt werden« und »Franz. Billard«, wenn es hier nicht die ganze Nacht fast und noch länger offen gewesen wäre? Und wenn Gäste, die mal 'ne Partie Proppenboule spielen wollten, etwa kein Billard gefunden hätten? Nee, es war sogar ein schönes Billard, und daß sich Strehmel die alten Löcher drin immer wieder von Neulingen, die das erste Mal da waren, bezahlen ließ, aber sie schon aus diesem Grunde nie stopfen ließ, das war eine böswillige Verleumdung, die der Palisadenkarl aufgebracht hatte ... So was tat er nicht!
Und daß da der Steckbrief hing mit tausend Mark Belohnung wegen des Raubmords an der Prostituierten in der Zimmerstraße, den hatte Vater Strehmel auch nich hinjehängt, sondern des hatte er nur der Polizei zu Gefallen getan.
Ja, und auf der andern Seite war eigentlich das Zimmer für geschlossene Gesellschaften, und da stand sogar ein Klavier, und da konnte man tanzen, wenn man die Tische solange auf den Hof gebracht hatte. Das war eigentlich der netteste Raum. Da waren sogar Mullgardinen und Plakate an den Wänden, und Ketten von Eichenlaub und Fähnchen darin waren kreuz und quer gezogen, so daß man ewig hängenblieb, wenn man größer wie einssiebzig war ... Aber jemütlich war es, urgemütlich hier hinten. Außerdem saßen hier hinten gerne welche, die grade nicht gerne vorne gesehen werden sollten und die wußten, wo der Schlüssel zu dem Fenster lag und wie man das Eisengitter dann in dem Fensterschacht hochheben konnte, und die überhaupt mit die Lokalitäten des Hauses, vom Keller bis zum Boden, ja bis zum Dach des Nachbarhauses, sehr gut Bescheid wußten und längst verduftet waren, wenn vorne die Polizei kam, sie suchte oder eine Razzia einmal wieder der Form wegen für notwendig erachtete. Denn die Polizei stand auf dem gleichen Standpunkt wie Doktor Arthur Levy; wenn sie auch gegen die Krankheit nicht ankonnten, denn die hätte man nur bekämpft, wenn man den ganzen Organismus von früh an umgestellt hätte, so gab er doch immer einem Medizin, damit es der Patient nicht merkte, und ut aliquid fiat ... damit noch irgend etwas geschähe.
Das Lokal war noch nicht sehr voll, immerhin wäre manch besseres im Westen froh gewesen, wenn es soviel an Gästen gehabt hätte. Aber die meisten Mädchen, die hier sonst waren, waren eben noch auf der Straße, denn es war Sonntag. Und Sonntag ist ein Tag, den man nicht versäumen darf. Aber langsam trudelte doch schon die und jene ein, zu ihrem Freund, der hier auf sie wartete, und die noch keinen und die grade keinen Freund mehr hatten, kamen eben mit ihren Freundinnen oder allein und fanden dann gerade heute einen Freund fürs Leben, wie die Polenliese den Rosenemil gefunden hatte. Doch die Liebe ist sehr komisch, man kann da nie etwas vorherbestimmen.
Rosenemil fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut. Nein, gewiß nicht! Die andern Männer hier waren sehr frisiert und hatten durchgezogene Scheitel, hatten auch meist ihre Sonntagsanzüge mit breit paspelierten Westen und seidenen Patten an den Jacketts und sehr weiten, breit gestreiften Hosen an. Und manche hatten sogar gesteppte Lackschuhe, wie der Patentfatzke mit dem Judenhelm da gestern ... Wann war des doch? Rosenemil erschien es, als ob es vor einem Jahr gewesen war. Einer hatte sogar ein Armband, wie der auch hatte. Und er dagegen war immer noch ... denn er hatte ja nur einen Anzug, aber die Polenliese hatte ihn unter Spektrol gesetzt und die Hosenränder – dadurch wurden sie zwar etwas kurz, die Hosen – noch mal umgekippt (schon ganz früh des Morgens, noch ehe er aufgestanden war), aber sehr vornehm war es dadurch auch nicht geworden. Und dem Hut hatte sie die Krempe vernäht und zurechtgebogen ... »Aber so'n Hut von Tietz hält auch nicht ewig, und wo würde auch Tietz dann hinkommen«, hatte Rosenemil gesagt, »wenn seine Hüte ewig hielten? Der Mann will doch welche verkaufen. Davon lebt er.« Immer noch sah er verdammt schäbig aus. Und er fühlte sich etwas bedrückt hier, und vor allem noch dadurch, daß die Polenliese mit ihm gleich an die Theke ging und ihn Herrn und Frau Strehmel vorstellte. Aber der war, was sich bei einem richtigen Wirt ziemt, in Hemdsärmeln und in einer weißen Schürze, und Frau Strehmel gleichfalls in Hemdsärmeln – das nun gerade nicht, aber im Effekt kam es mit ihren bloßen Armen auf das gleiche heraus! – und in einer weißen Schürze. Nur, daß Herr Strehmel auf seinem Kopf nichts wie eine Glatze trug und Frau Strehmel eben an dieser Stelle ein hochgedrehtes braunes Knötchen von Haaren hatte, in dem ein breiter Schildpattkamm mit Brillanten steckte. Nein, das ist ungenau, es war kein echtes Schildpatt, aber dafür waren es echte Bijouteriesteine, und die funkelten im grünlichen Licht der Auerstrümpfe noch mehr als echte Steine. Wie ja Unvornehmheit immer auffälliger als Vornehmheit ist. Und daran erkannt wird. Bis auf diesen kleinen Unterschied aber sahen sie beide, Mann und Frau, was Figur anbetraf und auch was das Gesicht anbetraf, sich fast gleich. Das Gesicht Strehmels hatte scheinbar ebensoviel von dem seiner Frau angenommen wie das ihre von dem Strehmels. Wenn man sie umgezogen hätte und sie die Plätze gewechselt hätten, hätten es selbst die Stammgäste kaum gemerkt. Es war die Geschichte vom Swinegel und seiner Frau.
Rosenemil war eigentlich scheu, und er liebte es gar nicht, Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Denn das war er mit einmal.
Es gibt nämlich so gewisse Gesetze in der Gruppenbildung. Da ist plötzlich jemand der ungekrönte König. Oder, wo Matriarchat herrscht, die ungekrönte Königin. Und hier herrschte Matriarchat, wie überall dort, wo die Frau die Schaffende und Verdienende ist und der Mann die Drohne. Man kann nicht sagen, daß die Männer gar nichts verdienten. Aber es lohnte sich kaum eigentlich. Denn die Hehler, die doch nun wirklich ein viel geringeres Risiko hatten, hielten sie so knapp und drückten – sie behaupteten, es herrsche Überangebot! Bei den besten Seiden und Pelzwaren drückten sie so – den Preis, daß wirklich kaum noch etwas Nennenswertes heraussprang. Früher, wie Berlin noch kleiner war, waren die Zeiten eben besser gewesen, so daß eigentlich der Nebenberuf der Männer zwar gefahrvoller und nicht ganz risikolos, aber, praktisch gesehen, recht uneinträglich war und eher als ein Sport, denn als etwas anderes zu werten war. Aber trotzdem, das sah man ja, ging es den meisten hier nicht schlecht, und sie trugen sogar herrliche Sonntagsanzüge, was Emil Lehmann – und wenn er sich die Hacken abgelaufen hätte – nie erreicht hatte! Ja, und in diesem Matriarchat, das hier herrschte, war, das ahnte Rosenemil nicht, die Polenliese die ungekrönte Königin. Und wenn sie nun plötzlich mit einem Mann hier ankam, den sie gleich Herrn und Frau Strehmel vorstellte, so hieß das soviel, als ob ein neuer Prinzgemahl von ihr erwählt worden wäre. Beileibe kein König! Sie war in diesem Amazonenreich die Hippolyta. Und das – die Sache, die andere, lag ein Jahr bald zurück – war natürlich nun eine Sensation und machte, daß sich alle Köpfe nach ihr und nach ihm umdrehten. Wenn auch keiner vorerst ein Wort zu ihm darüber oder zu der Polenliese sagte. Das eine sah man, er war ein ganz hübscher und schlanker Mann, aber keiner aus der Zunft. Das sprach bei manchem für ihn, bei manchem gegen ihn. Sonst würde er nicht am hellen Sonntag so ärmlich und so bescheiden 'rumlaufen. Na ja, die Spitzmaus, die da drüben am Tisch in ihrer Talentwindel saß, und der Laubfrosch – aber sie hatten sie weit offen! – sahen auch nicht viel besser aus. Laubfrosch hielt Cercle, denn er hatte zwei jüngere Studenten im Stadium der ersten Verbummelung um sich versammelt, denen er und Spitzmaus den Relling und Molvig aus der Wildente in natura vorspielten. Und denen er gestattete, das Bier zu bezahlen. Und vor denen er sich als den alten Sozialisten aufspielte ... Die beiden jüngeren Semester (auch das ist nur wieder relativ), von denen jeder, wie er behauptete, vor allem hierhergekommen war, um wieder einmal Studien zu einem naturalistischen Drama zu machen, das er seit sieben Jahren schreiben wollte, hörten ihm begeistert zu.
Und der Laubfrosch erzählte gerade von den schönen Zeiten des ersten Sozialistengesetzes, wo er direkt von der Universität weg, weil er einer verbotenen Verbindung angehört hatte und verhaftet werden sollte (nun war die Suevia wirklich nie verboten worden!), sich nur durch die Flucht nach England den dräuenden Gefängnisstrafen hatte entziehen können. Er verwechselte England mit der Schweiz. Denn man war damals gerade irgendwie wegen betrügerischen Schuldenmachens hinter ihm her gewesen. Und so hatte er es so lange für opportun gehalten, die Schweizer Landesgrenzen zwischen sich und die Behörden zu bringen, bis ... sein Alter Herr das wiedermal gedeckt hatte. Jetzt war jener tot und das Pflichtteil längst verputzt. Nu konnte er nicht mal mehr Schulden, geschweige denn betrügerische Schulden machen. Denn: Wer pumpte einem Mann im Havelock ohne Jackett darunter was? Früher, als er noch mit einem Mietswagen vorgefahren kam und ein breites Couleurband über der Hemdbrust trug, hatte er viel mehr Kredit bei seinen Manichäern gehabt.
Nun wird man sagen, daß Laubfrosch doch ein Lügner war. Keine Ahnung davon. Er glaubte es nicht. Und die beiden glaubten es auch nicht. Sie wußten ganz genau um Laubfrosch Bescheid. Und sie kannten auch seine Schweizer Reisen von früher und deren Gründe ebenso genau. Die hatte ihnen Spitzmaus nicht vorenthalten. Aber sie hörten ihm so gerne zu: er renommierte so nett!
Rosenemil wollte sich erst zu denen da setzen, denn sie waren doch die einzigen, die er hier kannte, und für Spitzmaus hatte er etwas übrig. Er war, wie so schwache und lebensunfähige Leute meist es sind, eigentlich ein netter, lieber, freundlicher und amüsanter Mensch. Leute, die im Leben stehen, sind immer viel unangenehmer als solche, die draußen stehen. »Der Handelnde hat immer unrecht«, hätte der kleine Benjamin zitiert, »nur der Betrachtende hat recht.« Aber Goethe vergaß hinzuzusetzen, daß der Handelnde es auch zeigt, daß er unrecht hat, und daß dem Betrachtenden meist viel zuwenig an dem ganzen Dreck liegt, um zu zeigen, daß er recht hat. Doch die Polenliese – heute hatte sie ein dünnes Musselinkleid an, fraise und schwarz, das ihren schlanken Körper wie eine Abendwolke umfloß, und ein schwarzes Cape dazu aus ganz dünner Futterseide und eine kühne Kiepe von Hut – wollte das nicht! Nee, zu die Brüder setzte se sich nich hin!
Sie machte Rosenemil mit allerhand Leuten bekannt, denen sie ihn sehr förmlich vorstellte. »Das is der Kletterwillem«, sagte sie vorher, wie ein Haushofmeister, der die Gäste ankündigt beim Hoffest, und zeigte auf ein kleines, ganz harmloses Männchen in Schwarz, das still für sich sein Bierchen trank. »Der klettert, det traut man ihm jarnicht zu, an de Häuserwände hoch wie'n Affe. Und auf jeden Balkon 'rauf. Un er klemmt sich durch jede Gittertür und jeden Fahrstuhlschacht mit seinem mageren Körper. Ohne Kletterwillem wüßten de andern manchmal janich, was se machen sollten. Und stark is der, det soll keener bei ihm vermuten! Der nimmt einen Hund an een Hinterbeen un haut'n jejen een Bretterzaun, daß er hinjeht. Des kriegt er sauber fertig. Dabei tut er sonst keener Flieje was. Jetzt bei Nebelmann und Maier in de Parochialstraße, wo se die dreitausend Belohnung ausgeschrieben haben – wegen die Nerz-, Biber- un Persianerfelle; wenn se des vorher jewußt hätten, denn hätten se lieber es im Abflußrohr oder inner Kanalisationsröhre wiedergefunden und wieder hingebracht. Sie haben jrade man fünf blaue Lappen vor die janze Sore jekricht. Da haben se also fünfundzwanzig Blaue glatt verloren. Da war er auch mit. Aber man weeß nich recht und traut ihn nich mehr so janz über'n Weg. For'n Taler läßt der sich 'n Loch ins Knie machen, und for'n Joldstück verkauft er Spandau. Letzthin sind wieder zwei Kumpels in de Plötze un eener sogar nach Spremberg gekommen. Aber entbehren könn' se ihn doch nich. Erstens hat er Erfahrung. Und zweitens klettert er wie'n Affe ans Jitter.«
Die Polenliese stellte ihn vor, und Kletterwillem gab ihm die Hand und starrte immer noch melancholisch vor sich hin aus seinen fast ängstlichen Fledermausaugen. »Na, Rosenemil«, sagte er, »wir werden schon ganz gut auskommen, bei uns is gemütlich, un wenn de mal in de ›Harmonie‹ kommst, des is unser Verein, da wirste ooch nich von alle. Fallen lassen wir keenen.«
Woher hatte er schon den Namen, den ihm die Polenliese gegeben? Wie sich das 'rumsprach! Kletterwillem sah ihm das an. »Weeßte«, sagt er sehr leise, »es is bei uns immer besser, man weiß nich jenau, wie der andere jetauft is, und da kann man immer sagen, man kennt ihn nicht. Jenannt kann jeder werden, wie er will. Des is nich gerichtsnotorisch.«
»Na, wat hörste von Paula, Willem?« sagte die Polenliese mitfühlend.
»Ach Jott«, sagte Kletterwillem traurig und starrte in sein Bierglas, daß das abgestandene Bier sicher davon sauer geworden wäre, wenn es das nicht ohnehin schon geworden war. »Se hat mir heute einen Kassiber durch die Riesendame geschickt, die doch jestern aus Barnim grade entlassen ist, daß se sich reene um vor Sehnsucht bringt ... Weeßte eijentlich, wer ihre Kletterbude gemiet't hat?«
»Keene Ahnung!« sagte die Polenliese und beugte sich 'runter, gab Kletterwillem einen leisen Kuß zum Trost und ging.
»Des is een sehr unglücklicher Mensch«, sagte sie sachlich, »un tun können sie ihm doch nischt, wegen einundfuffzig. Er hat'n Jagdschein. In den hätte ich mir beinahe mal verliebt, weil er mir so leid tut, Emil. Aber so wat verstehen Männer nich! Weeßte was – setzen wir uns da drieben hin, da zieht's nich so. Und dann jehn wir wieder bald. Morgen mußte nach de Belle-Alliance-Straße und des mit de Hefte in Ordnung bringen. Sonst lassen die dir noch hochgehen wie'n Ballon; sone Jungs kriegens fertig.«
Merkwürdig, dachte Rosenemil, sowie Lissi hier is, spricht sie doch ganz anders wie zu Hause. Wenn er Soziologe gewesen wäre, hätte er was vom Einfluß des Milieus geredet.
Zwei Mädchen setzten sich mit an den Tisch. Eine war auffallend hübsch und lachte immer, die andere war dicklich und sah wie ein weißer Neger aus und war gepudert wie eine gekalkte Wand. Und die Hübsche blinzelte immer zu Rosenemil, der still an seinem Glas Bier trank. (Er kannte viele Kneipen, das brachte sein Beruf von vorher mit sich; man kann nicht immer treppauf und treppab laufen, man muß sich auch mal ausruhen zwischendurch! Aber in so was hatte er sich noch nie verirrt.)
»Wanda«, sagte die Polenliese, »es wird dir vergeblich gelingen, mir eifersüchtig zu machen.«
Aber Wanda stand auf und setzte sich noch einen Stuhl näher an Rosenemil und lachte vor sich hin. »Du, Schatz«, sagte sie, »ich hab' heute noch kein Handgeld.«
»Von mir aus jib ihr ruhig was. Ein Groschen is genug«, flüsterte die Polenliese, »de dicke Wanda is bißchen schwach in'n Kopp. Jib ihr man.«
Die Wanda lachte, grapschte ihren Rock hoch, spuckte auf das Geld und steckte es dann umständlich in den Strumpf. »Du bist een süßer Mann«, sagte sie und verdrehte die Augen, und dann fährt sie in ihrer Erzählung fort und wendet sich wieder ihrer Freundin zu.
»Da sagt er nu zu mir: ›Komm' Se mit, Frollein Wanda.‹ Aber vor besoffene Männer ängstige ich mir. Besoffene Kerle kann ich nämlich janich leiden.«
»Ick jrade«, sagte die andere, »die kennen das Jeld nich mehr so jenau auseinander.«
»Wat, Sie woll'n mir?« hört man drüben Kletterwillem sagen. »Wie ick schon mein'n ersten Einbruch gemacht habe, haben Sie ja noch mit Sandformen jespielt.« Na ja, wenn man den 51 hat, kann man ruhig so was laut sagen, des kann ruhig eener hören, nachher hat er's nich so gemeint.
Drüben entsteht ein Lärm, denn jetzt ist die Stunde, wo Spitzmaus zu deklamieren beginnt, und richtig, schon ist er aufgesprungen (jetzt bekam er den großen Moralischen), er wickelte sich ganz in seinen Mantel, streckte nur die eine Hand vor wie Hamlet mit dem Schädel.
»Das Dach stieß fast an die Sterne, / vom Hof her stampfte die Fabrik, / es war die richtige Mietskaserne / mit Flur und Leiermannsmusik ... / und bis ins vierte Stockwerk hatte« – das brüllte er wie ein Wildeber – »das Großstadtelend sein Quartier. / Dort saß er nachts bei seinem Lichte ... / duck nieder, nieder« – jetzt duckte er sich wirklich wie ein Heinzelmännchen zusammen – »wilder« – jetzt kam Hohn, bitterer Hohn in seine Stimme – »wilder Hohn. / Und fieberte und schrie Gedichte. Ein Träumer, ein verlorner Sohn!«
Die Spitzmaus liebte es, die Menschen über den Autor im unklaren zu halten. Endlich konnte er ja das Gedicht ebensogut gemacht haben wie Arno Holz. Laubfrosch renommierte nach oben. Aber Spitzmaus nach unten. Und das ist viel raffinierter. »Mensch, Spitzmaus, mach noch so'n Witz«, rief einer aus einer anderen Ecke. Herr Strehmel überlegte, ob er eingreifen sollte, aber wo fand er wieder einen Mann, der für ein paar Schnäpse seine Kinder unterrichtete. Und außerdem machte es den Gästen Spaß, zumindest wunderten sie sich, daß ein gebildeter Mensch sich so zum Affen machte.
Ein verlorener Sohn war er. Aber ein Träumer war er nie gewesen. Denn es ist grundfalsch, anzunehmen, daß alle, die im Leben sich nicht zurechtfinden, Träumer sind. Es sind ebenso häufig klare und sehr nüchterne Menschen darunter.
Plötzlich kam ein sehr breitschultriger und sehr stiernackiger Mann langsam durch das Lokal geschlendert, auf ihn zu. Er mußte eben hereingekommen sein. Er hatte eine sehr weite, gestreifte Hose, Lackschuhe mit Steppnähten, wie der Patentfatzke da gestern, einen schwarzen, geschweiften Hut, eine rote Krawatte und Handschuhe, richtige braune Glacéhandschuhe mit Steppnähten, wie die Lackschuhe. Und seine Melone saß bis fast über die Augen, während sie den ganzen kurzgeschorenen Hinterkopf freiließ. Er war nicht freundlich, nicht unfreundlich. Aber gleichgültig. Er stupste beim Gehen einen Stuhl beiseite und drehte die kleine Spitzmaus mit einem Griff an der Schulter um, daß sie sich still wieder setzte. Wenn der Palisadenkarle was intus hatte – und das hatte er, das sah man –, war mit ihm nicht zu spaßen.
»Halt doch die Schnauze, olle Hottepeese«, sagte er gleichgültig (keiner ahnte zwar, was eine Hottepeese ist, aber man sagt's in besseren Kreisen eben so), »biste wieder mal besoffen. Dir soll ich wohl mal die Fensterladen anstreichen. Nu sei stille, oder ich werde unangenehm!« Langsam schlenderte er, Stühle und Tische mit dem Fuß beiseite stoßend, auf den Schenktisch zu und reichte die Hand in dem braunen Glacéhandschuh zu Frau Strehmel 'rüber. »Mir jelüstert nach einem Rollmops, Mutter Strehmel. – Tag«, sagte er, »gute Nacht, Vater Strehmel. Jib mir mal eenen Streifen wat ze trinken. Hat keener von die janzen Jungens hier nich eenen Jroschen für mich? Ich möchte mal eenen Nordhäuser mit Trotteln. Haste vastanden, altes Arschloch! – Ick habe mir zwölfe in de ›Blaue Zwiebel‹ in de Kehle jeschwenkt. Da woll'n wir doch zu was anderes überjehn, mein geliebter Freund und Gönner.« Plötzlich sah er die Polenliese da sitzen mit Rosenemil. »Wer ist denn der fremde Herr aus Kottbus?« rief er durch den ganzen Raum, wie er dann zu den Billardspielern hereinschlenderte. Man merkte ihm an, er wollte krakeelen. Und er war natürlich über Hippolythas Prinzgemahl, so was spricht sich schnell 'rum, ganz im Bilde.
»Een juter Bekannter von mir«, rief die Polenliese, »aber Karle, laß doch die Leute!«
»Wat is det for 'ne Boulette?« schrie er schon aus 'n Billardraum heraus, wo er die Spieler beiseite schob. »Merkwürdig«, sagte er dann ruhig, »die Billardspieler sind einem immer im Weg, wenn man mal zuschauen will.«
»Weeßte was«, sagte Rosenemil, »woll'n wer jehn!«
Wirklich, wie der Bruder da jestern an de Laterne jestanden hat, war es viel angenehmer gewesen, heute, mit 'n Hut, hatte er was von einem kleinen bösartigen Stier, der sich losgerissen hat und noch nicht weiß, was er auf die Hörner nehmen und in die Luft werfen soll. Aber etwas wird er schon sicher anstellen, bis man ihn wieder einfängt oder er von selbst in den Stall zurückkommt.
»Ach, weeßte, Emil, setzen wir uns noch hinten ins Nebenzimmer. Da is es nett, und ruhig is es auch. Nach zwölf hat Strehmel schon immer frische Würstchen und frische Brötchen, solange bleiben wir noch. Da stört uns keiner.«
Und richtig, dahinten war es sehr gemütlich, nur noch rauchiger als vorne, denn der Rauch hatte gar keine Ventilation, und da stand auch das Klavier, und das stand offen, und wenn nun Rosenemil keine Blume sehen konnte, ohne sich eine wenigstens fürs Knopfloch davon abzuknipsen, so konnte er noch weniger ein offenes Klavier sehen, ohne sich erst daran zu stellen und zu klimpern und in zwei Minuten daran zu sitzen. Er hatte gewiß keinen Sinn für Musik – woher sollte er auch. Aber er war musikalisch, wenn es auch nicht viel über »Fischerin, du Kleine« oder »Im Grunewald is Holzauktion« und den »Rixdorfer« oder die Walzer von Waldteufel hinauskam. Und dann noch ein paar Märsche und ein halbes Dutzend andere Schlager ... Das, was gerade gesungen wurde und was gerade nicht mehr gesungen wurde und über die »Washingtonpost« oder die »Post im Walde« hinauskam, Noten fehlten ihm wenigstens nie, denn er konnte sie doch nicht lesen.
Jedenfalls aber konnte Rosenemil sich stundenlang damit amüsieren, und dort, wo er es tat, amüsierten sich die Leute auch.
Und die Polenliese war nun wirklich stolz darauf. Also so was hat sie doch gar nicht hinter dem Mann vermutet, daß der sogar wirklich Klavier spielen konnte, wenn er auch gestern so geredet hatte. Ihr schwatzten ja die Männer so vieles vor und renommierten so gerne vor ihr!
Nun war des ja wirklich nicht richtig, daß er Klavierspielen gelernt hatte, er spielte nur eben, der Rosenemil. Und die anderen, die sich herangedrängt hatten, hatten auch nicht Singen gelernt, sie sangen nur eben mit. Der neue Prinzgemahl war doch eine ganz annehmbare Nummer: setzte sich hier einfach so hin und spielte ihnen was vor. Die Sympathie war auch bei den Mädchen zuerst sehr geteilt gewesen. Aber seitdem die doofe Wanda mit ihren ewigen Glücksgroschen hier noch mit ihrer Freundin dazu scherbeln konnte, wie er spielte, war eigentlich die Stimmung für ihn ziemlich günstig, zumindest fifty-fifty. Man kannte ihn ja noch nicht und wußte noch nicht, was des eijentlich für ein Mensch war. Aber wenn die Polenliese ihn sich 'rangeangelt hatte – nich wahr? –, dann würde sie schon wissen, weshalb. Und er hörte gar nicht auf wie die anderen, die gleich wieder aufstehen und sich tun, als ob sie den andern nun genug von ihrer Kunst geschenkt hätten. Nee, er ging von einem ins andre über, von »Mein Herz, des is een Bienenhaus« in den »Walzertraum« und von »Ach du liebe Tante, du kannst lachen« in »Sone janze, janze, janze, janze, janze kleene Frau«, und Rosenemil war gerade beim »Kleinen Cohn«, und alle sangen mit, die sich 'rangedrängelt hatten, als sich der Mann mit dem Cut durch die Menge schob, die mit den Ellbogen beiseite schob, ihn im Genick packte und umzudrehen versuchte ... aber nur versuchte, denn er ging, zum Staunen der Gäste, nicht umzudrehen. »Kellner«, sagte er, »for den Jast een andern!« Aber er sagte es doch schon etwas lallend: »For den Jast lieber 'nen andern!«
Im Augenblick war Rosenemil aufgesprungen, das ging verdammt fix, wozu war er Mittelstürmer bei den Schönhauser F. C. gewesen, un er war nüchtern und der andere, der kleine Stier da im Cut, mit seiner Melone im Genick und den sehr tückischen, händelsuchenden Augen darunter, war das eben nicht. »Nich anfassen! Haben Se mich verstanden, Herr!«
Man muß es der Polenliese lassen, Mut hatte sie; denn sie versuchte es und flog zur Seite.
»Mit dir hab' ich hier janischt zu tun«, sagte er, »Polenliese!« Auch noch in diesem Augenblick, denn er war gegen Frauen nie roh, selbst, wenn er betrunken war, nicht, auch jetzt noch war er eigentlich Kavalier.
Im Augenblick rückte alles auseinander, und da der Raum nicht groß war, waren die Tische und Stühle auch schon beiseite geschoben, es war ein richtiger Kampfring um sie, das erkannte Rosenemil und stand da kleiner geworden und zusammengezogen, breitbeinig, mit krummen Knien, und die Hände auf dem Rücken aneinandergelegt, und ging ganz langsam und behutsam etwas zurück, und plötzlich hatte er sehr scharfe und sehr, sehr drohende Augen, die den Palisadenkarle in seiner Melone doch fast nüchtern machten. So fix, wie der Kerl da drüben, war Emil Lehmann sechsmal. Der war nicht Mittelstürmer im Schönhauser F. C. gewesen. Der machte keine Sturzwelle und keine Totenwelle. Gewiß, kräftiger war der. Aber er hatte sich, wenn's drauf und dran ging, besser im Zug.
»Ach wat, du Topplude, dir lass ick ja am steifen Arm verhungern«, sagte Palisadenkarl noch immer ruhig und fast freundlich, eigentlich hatte er gar nicht die Absicht, eine Schlägerei anzufangen. Aber der da, den sich die Polenliese angekratzt hatte, gefiel ihm einfach nicht. Irgendwas hatte er im Gesicht, so die glatte Hübschheit, der er mißtraute. Wenn er auffallender, häßlicher, unregelmäßiger gewesen wäre, hätte er vielleicht gar nichts dagegen gehabt, aber durch das Gesicht sah er nicht hindurch. Er wußte nicht: ist der gut oder schlecht da von Charakter. Un een Mensch muß gut sein. Auf 'n Menschen muß man sich verlassen können. Un jrade die Polenliese mußte det. Die is selbst zu jut. Die läßt sich ausnutzen. Is det een Scheinheiliger? Oder een janz Dummer? Jedenfalls war es nicht der Richtige für die Polenliese. Endlich war der Klamottenkarl denn schon eher was gewesen. Un des war auch nich das Richtige for sie gewesen. Der Palisadenkarl war hier so der Mann, der auf Ordnung sah, un der da paßte ihm nich, der mußte weg. Und außerdem, wenn es die blonde Wanda gewesen wäre, na schön! Aber die Polenliese war hier doch die ungekrönte Königin. Die brauchte einen andern. Erst würde er mal dem Knaben ein bißchen Angst machen. Vielleicht geht er dann schon von alleene ... In Wahrheit aber hatte er etwas, was er nicht kannte, nämlich Angst bekommen. Denn er war lange nicht mehr gewohnt, daß sich ihm einer stellte. Die andern ließen es gar nicht dazu kommen.
»Dir is wohl lange keen Blut übers Chemisett jeflossen«, rief Palisadenkarl, »wenn de jetzt nicht bald Leine ziehst, jib's 'ne Reinigung, jib's eene 'rin, ich hau dir eene rin, daß dir sämtliche Jesichtszüge entgleisen. Du tust mir ja bloß leid. Ick will ma bloß nich an dir dreckig machen. Die Patsche, sieh mal, hängt draußen beim Handschuhmacher. Da kannste nachher dein'n Kopp uff'n Mond suchen. Een Schlag – un de Neese sitzt hinten.«
Aber der Mann da ihm gegenüber, das Pfündchen Mitleid, sagte gar nichts und sah ihn nur an und hatte immer noch die Hände auf dem Rücken und den Kopf etwas eingezogen und die Beine breit und den Rücken krumm und blieb ganz ruhig, nicht mal einen roten Kopf kriegt er. Endlich war er nicht umsonst Mittelstürmer im F.C. gewesen. Wenn's drauf ankam, war er siebenmal so fix wie der da und wußte Arme und Beine zu gebrauchen. Eventuell auch die Beine als Arme. Un im Oberschenkelmuskel hat man verdammt viel Kraft. Mit so'n Stoß kommt kein Bizeps mit. Die rohe Kraft allein macht's nicht. Mit achtunddreißig – und das war der da drüben, in dessen Hirn sich die Wahrnehmungen und Entschlüsse nur langsam formten, besonders jetzt, nach zehn Seideln Bier. Des hatte er ja selber vorhin gesagt. Und wer sich einmal bei der Sturzwelle beinahe das Genick gebrochen hat, weil der Talkum feucht war, un mit een Loch in'n Kopp, das se eenen mühsam verklebt hatten, es gleich wieder versucht hat, der hat auch, der kennt auch keine Angst nich. Und wenn det nich so ging, er war ja der besondere Liebling von Kikisama gewesen. Und im Augenblick – solche Sache geht ja blitzschnell – sah er dieses kleine Äffchen, lächelnd und krummbeinig, in'n Turnsaal in de Prenzlauer Straße kommen. Er sah die ganze halbhelle Halle mit allen Geräten und dem großen geöffneten Fenster – und Riegen auf- und abmarschieren und weiße Trikots sich an Ringen und Barren schwingen und über Pferde grätschen. Doch dazwischen den kleinen Mann, der zehn Verbeugungen machte und sagte: »Herr Kikisama! Ich belieben mitturnen zu wolle.« Und dann am Schluß stellte er sich mitten in den Saal und sagte: Ich und Fritz Hilgers und Karl Knese, wir sollen mal jeder 'ne Schwingkeule nehmen. Jeder von de andere Seite. Und uff ihn loslaufen – sagte er – und ihn hauen. »Das tut nich weh«, sagte er noch und grinste über das ganze Gesicht, von einem Ohr bis zum andern. So janz freundlich. »Wir werden Ihnen doch nich hauen!« sagen wir. »Ach«, meinte er und grinste noch freundlicher, »des macht nischt, ich gewöhnt.«
Na, wenn er durchaus will, warum sollen wir den jungen Mann den Gefallen nicht tun. Un im Augenblick ... liegt doch – wir sind janich an ihn 'rangekommen – jeder von uns in der anderen Ecke vom Turnsaal und reibt sich die Schienbeine. Und die Keulen liegen jede auch in 'ne andere Ecke. Und er steht und jrinst janz ruhig in de Mitte von'n Saal. Un des nächste Mal hat er uns doch jedem ein seidnes Schnupftuch mitgebracht mit bunte Vögelchen drauf. Mir und Fritze Hilgers und Karl Knese. Also wir haben den Kikisama direkt jeliebt alle. (»Jiu-Jiu« oder so hieß det.)
Also erst mal ruhig bei den kleenen Jungen da drüben – aber nur, wenn er mir angreift! – den Kiolosa versuchen. Und wenn des nich zieht, dann jibt's 'n paar Sächelchen, die sie auch in Japan drüben nich gerne machen. Da kann immer was passieren bei. Die konnte ich nachher fast so gut wie er. Jedenfalls besser, wie se Karl Knese konnte. Na ja, wenn's eben nich anders geht. Also, wenn er mir anrennt, zuerst mal die Kiolosa! Und wie war der andere? Ach ja ...
Vielleicht hatte aber, so blitzschnell – denn Gedanken sind ja elektrische Vorgänge oder mindestens mit solchen vereint – diese Überlegung und die Reproduktion der Hunderte Erinnerungsbilder auch ging, der Palisadenkarl vielleicht doch so etwas wie eine kleine Abspannung in seinen Augen bemerkt. Außerdem machte der Mann doch gar keine Anstalten, sich zu drücken; und wenn er das nicht tat und er wieder abzog, so stand doch hier so was wie seine Ehre auf dem Spiel ... Denn jeder Kreis hat seinen ungeschriebenen Ehrenkodex. Zuhälter so gut wie Offiziere, Bankdirektoren sowie Staatsbeamte und Couleurstudenten. Das steht in jeder Soziologie.
Und so griff er – aber das ging sehr schnell! – mit der Hand hinter sich, und das ging schneller, als man das erzählt, und hatte einen Stuhl an der Lehne gefaßt, schwang ihn über die linke Schulter und hatte ihn im nächsten Augenblick nach den Mann da gegenüber geworfen, der immer noch die Hände auf dem Rücken hat. Und in dem darauffolgenden Augenblick lag, ohne daß man eigentlich eine Bewegung gesehen hatte, der Stuhl mit einem angeknickten Bein in der einen Ecke neben dem Klavier. Und der Mann stand wieder mit den Händen auf dem Rücken da ... Jott, wie primitiv, ein'n ein Stuhl an'n Kopf werfen zu wollen! dachte Rosenemil. Mensch, man schmeißt gegen die Brust. Oder gegen die Beine. Aber doch nich an'n Kopp, son Stuhl! Wo man sich nur bücken braucht, und dann jeht er drüber weg.
Palisadenkarl war etwas ängstlich geworden und plötzlich sehr nüchtern, jetzt hieß es handeln. Mit freundliche Redensarten war bei dem nischt ze machen. Und er legte ein, wie ein kleiner Stier, der gegen einen Zaun will, schmiß nur seine Melone in de Ecke des Raums, krempte sich nicht mal wie sonst die Rockärmel hoch, sondern schob sie nur etwas zurück, daß da eine tätowierte rotblaue Fahne und der Kopf einer Frau mit fliegenden Haaren – sie schwang sich nämlich auf einem Trapez, aber das sah man natürlich nicht – herauskam ... und stürzte sich – ihm schien es sehr schnell, Rosenemil sehr langsam – gegen den da an. Also, den Kiolosa oder wie das Ding hieß, sagte er sich und stand immer noch mit den Händen auf dem Rücken ... Je wuchtiger er anrannte, desto schlimmer für ihn ...
Und noch ahnte keiner, was geschehen war, als Palisadenkarl sehr verstaubt – denn hier im Nebenzimmer war lange nicht aufgewischt und lange nicht gekehrt worden – sich wieder von seiner zerquetschten und flach gedrückten Melone aufrappelte und sich beide Schienbeine rieb.
Aber bei einem Palisadenkarl dauert solch Schmerz nicht lange, und schon war er wieder auf, und alles kreischte ... vor allem die Mädchen, denn die haben für so was etwas übrig, und bisher hatten sie auch nur interessiert zugeschaut; aber jetzt kreischten sie wild und hysterisch auf. Die Polenliese, die bisher eigentlich stolz gewesen war, am lautesten. Jetzt hatte er nämlich plötzlich einen Schwedendolch in der Hand. Nicht mal ein Taschenmesser, das einschnappen kann, sondern einen ganz richtigen griffesten Schwedendolch mit ner Blutrinne. Wo er das Ding mit einmal hergekriegt hatte und wie er es so schnell auseinandergebracht und umgesteckt hatte, das war ein Rätsel.
Na ja, sagte sich Rosenemil, und er hat wieder de Hände ganz fest hinter dem Rücken. Ei verflucht, jetz muß ich des eben doch machen. Ick übernehme keene Verantwortung. Aber ich kann mir doch nich hier in die Kaschemme einfach von so'n Kerl übern Haufen stechen lassen. Daher der Name Selbstverteidigung.
Und der Palisadenkarl rannte aus seiner Ecke an dem Klavier wieder gegen ihn an, das blitzende Ding hoch in der Hand. Und eine Wolke von Gekreisch und Geschrei flog auf; und Vater Strehmel, der ganz bleich mit beiden Armen die andern auseinanderzudrängen suchte, um durch die Menschenmauer hindurchzukommen – wenn's soweit war, nützte auch meist sein Schlagring nichts mehr! –, schrie mit!
Aber man sah eigentlich kaum eine Bewegung mit den Armen, nur ein paar Körperdrehungen von Rosenemil. Eher zwei angezogene Knie, die plötzlich rechts und links um den dicken schweren Mann irgendwie zu schweben schienen, und der Palisadenkarl turkelte durch den Raum zurück, drehte sich zweimal um und lag der Länge lang da auf seinem Gesicht, und der Schwedendolch lag neben ihm.
»Ick hole schnell Doktor Levy«, rief der Kletterwillem.
Vater Strehmel sagte kein Wort, war ganz grün (oder machte es nur das Auerlicht) und zitterte nur so. Des war ja ein netter Junge, den die Polenliese mitgebracht hatte. Der wird noch sein janzes Lokal in Verruf bringen. Wenn der Mann nu tot is, denn muß er doch die Polizei holen. Und er war sonst froh, wenn sie ihn nicht auf die Polizei holten.
»Ach Quatsch«, sagte Rosenemil, »der spielt in fünf Minuten wieder Billard. Setzen wir'n erst mal auf 'n Stuhl. Und bringen Se mir mal eenen Kognak. Aber 'n scharfen!«
Ja, und dann saß der Palisadenkarl auf 'n Stuhl, und Rosenemil stützte ihn wie ein Sanitäter und flößte ihm tropfenweis Kognak ein. Das hatte Kikisama bei ihm auch gemacht.
Er war ganz ruhig und der andere sehr klein und immer noch sehr dumm und drehig im Kopp. »Aber Karl«, sagte Rosenemil, jetzt hatte er auch seine ganze Redegabe zurück. Sehr freundlich sagte er das und wie zu einem Kind, das wieder artig is. »Aber Karl, wat willste denn mir hauen? Und sogar mit 'n Messer stechen! Sieh mal, ick hab' dir nu wirklich und wahrhaftig janichts getan. Ick tu' ja keen Menschen wat. Ick bin sehr friedlich, aber ick verlange auch, daß man mir nichts tut. Denn kann ich nämlich scheußlich eklich wer'n, verstehste? Aber ich tu's nich gerne. Ich haue überhaupt keen Menschen gern. Das macht mir ja keene Freude, oder macht dir des etwas Spaß? Karle ...?«
»Nee, nee«, sagte der Palisadenkarl, immer noch trübselig – übel war ihm auch, »jar keenen Spaß macht det mir.«
»Un ick will dir jewiß nischt wegnehmen.«
»Nee, nee«, sagte Palisadenkarl, »des willste ja wohl nich, Rosenemil ... aber du hättest doch nicht gleich bei die kleene Unterhaltung so gewöhnlich zu mir werden sollen.«
»Aber Karle, nu höre mal zu« – eigentlich hatte er solche Jungens furchtbar gern ... »Ein Gemüt wie'n Kind«, hatte die Polenliese gesagt –, »wenn du mit 'n Messer auf mir losjehst ... Na ja, du wolltest mir ja nischt tun, Karle. Du wolltest mir nur 'n Schreck einjagen.«
»Tun tun wollte ick dir nichts«, sagte Palisadenkarl. Jetzt war er ganz freundlich.
»So is des keene kleene Unterhaltung mehr, da kann een Wort das andere geben, und nachher hat man sechs Zoll zwischen de Rippen sitzen. Es macht mir keene Laune, du magst sagen, wat de willst, Karl. Aber da bin ick kein Freund davon.«
»Mir hat auch schon mal eener jestochen«, sagte der Palisadenkarl sachlich; er hielt so was für 'n kleinen Berufsunfall scheinbar.
Aber dann zerrte er den Kolporteur neben sich her (Also das ging ja wieder ganz sauber mit's Gehn eijentlich doch!) an die Theke zu Vater Strehmel. »Du«, sagt er, »Vater Strehmel, das is mein Freund, der Rosenemil.«
»Ich hatte schon den Vorzug, Herr Lehmann«, sagte Vater Strehmel höflich.
»Un nu jib uns zwee Korn mit Luft, ich brauch' was Scharfes heute.«
Vater Strehmel grinste. »Soso«, sagte er, »ick dachte wat Sauret, Karl? Oder haste schon genug Saures heute?«
»Halt de Schnauze, Mensch«, sagte Palisadenkarl und langte über'n Schanktisch. »Det is mein Freund hier: uff den lass' ick nichts kommen. Doch verstehste mir recht, Emil: Du kannst des andere machen; aber für de Ordnung, was so de Ordnung unter de Mädchens is, da sorge ich for! Verstehste, Emil!«
»Aber selbsmurmelnd«, meinte Emil, »aber des habe ick ja nie anders jewollt.«
»Ja«, sagte er, »des hab' ick eben geglaubt!« Und er war wieder ganz traurig, dann aber legte er Rosenemil die Hand auf die Schulter und kam ganz dicht mit seinem dicken Kopf an den des andern. »Die Polenliese«, sagte er leise, »des is det schönste und auch det anständigste und auch det beste Geschöpf von se alle. Ick kann eenen Menschen eintaxtieren, Emil. Ick kenn' se doch alle. Bis weit über'n Alexanderplatz 'raus ... Also, vastehste – behandle ihr jut!«
»Aber Karl«, sagte Rosenemil, und jetzt hatte er schon ganz den Ton, »des brauchste mir doch nich erst zu sagen! Vor wat hältste mir denn? – Lissi!« rief er durchs Lokal. »Woll'n wir nich nach Hause jehn?« Und Lissi flog auf ihn zu und hängte sich an seinen Arm. Benjamin hätte wieder gesagt: Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand.
Da kam Spitzmaus heran ... Laubfrosch war nach dem zehnten Schoppen in seinen unheilbaren Stumpfsinn zurückgefallen. »Ich beuge mich vor dir«, sagte Spitzmaus. »Laß dich nicht kirren«, piepste er, »laß dich nicht wirren, durch goldne Äpfel in deinem Lauf ... die Pfeile schwirren, die Schwerter klirren ... doch halten sie nimmer den Sieger auf. – Das ist zwar nicht von mir, aber doch schön«, quietschte er.
»Bin ich der goldne Apfel, Spitzmaus?« fragte die Polenliese.
»Nee, nee, mein Liebling«, piepste Spitzmaus und fuhr hoch, um ihr die Backen zu streicheln, »da haste mich gerade vorbeiverstanden. Das war ja eben das, was ich nicht meinte.«
Palisadenkarl drehte sich halb von dem dicken Vater Strehmel weg und sah den beiden nach, wie sie aus dem Lokal gingen, und schüttelte seinen schweren Schädel, der immer noch brummte. »Un ick täusche mir in meinen Gefühlen doch nich, so besoffen bin ick janich«, sagte er, »der Junge mag een janz netter Junge sein und een janz anständiger Junge, und hinterhältig is er auch nich, aber schwach. De Polenliese tut mir leid.« Und damit nahm er Vater Strehmel das dritte Glas Korn mit Luft ab und kippte es hinter de Binde.
Am nächsten Morgen tauchte Herr Rutsch zum ersten Mal am Horizont auf. Er war ein hagerer, nußbrauner Naturmensch in Wolle, und er hatte, wie alle solche, lange Haare, die sicher über den Kragen gefallen wären, wenn er solchen nicht als unnatürlich verabscheut hätte. Er ließ Rosenemil in eine Blechkanne sehen, in der es von Wasserflöhen rotbraun durcheinanderwimmelte. Und er versprach ihm, ihn mitzunehmen, wenn er wieder auf Fang ging, er hätte Stellen, die keiner kenne und die er natürlich auch niemandem verraten dürfte. Und er flüsterte ihm ins Ohr, daß er ihm sogar eine Stelle zeigen könnte (bei Buch), wo's Kreuzottern gäbe. Mit Salamandern wäre es jetzt vorbei. Die Saison wäre unergiebig gewesen. Denn eine rigorose Forstverwaltung hätte seine besten Gräben trockengelegt. Aber er hätte auch eine Eingabe ans Landwirtschaftsministerium und das Kultusministerium geschrieben, die sich die Herren dort oben nicht hinter den Spiegel stecken würden. Denn Herr Rutsch war so einer, der es mit de Eingaben an die Behörden hatte und immer schrieb: Der Herr Minister möge ... Eigentlich hätte Rutsch religiös wahnsinnig sein müssen. Aber da die Religion nur sehr unvollkommen seinen Weg gekreuzt hat, so hatte er sich eine freundlichere Art von Verrücktheit ausgesucht, bei der man wenigstens braun und nicht bleich wurde. Doch die Polenliese hatte Rosenemil nur deshalb heraus zu Herrn Rutsch geschickt, sich mit ihm als seinem neuen Wirt bekannt zu machen, weil sie ihn nicht im Zimmer haben wollte, wenn sie das Bett abrückte und den Kelim auftrennte, der dahinter herunter bis an den Fußboden ging – es war nebenbei einer aus Annaberg –, und einen blauen Schein herausnahm und den Kelim wieder zunähte. Denn so vertraut, Rosenemil wissen zu lassen, wo sie ihr Geld und daß sie überhaupt Geld hätte, war sie bei aller Verliebtheit noch lange nicht. Männer nämlich sind komisch, wenn sie wissen, daß so arme Mädchen, wie sie, sich was gespart haben. Das ist vorgekommen, daß den nächsten Morgen sie weg waren und das Geld auch. Und sie konnten sie nicht mal anzeigen bei de Polizei. Und dabei war se mit Emil doch sehr glücklich. Sie blühte ordentlich auf in den Tagen. Die Zeit vorher hatte sie sich immer so gefühlt, als ob sie garnischt in sich mehr hätte, sone aufgepustete Gummipuppe nur wäre. Und so matt manchmal. Und geschwitzt hatte sie auch. Selbst wenn's kalt war de Nacht. – Und jetzt war se vergnügt und munter, hatte wieder Fleisch und Knochen und was drin in de Knochen. Sie würde doch mal wieder zu Levyn jehn. Das waren sicher die kleinen Kügelchen, die braunen, die so scheußlich schmeckten (und die sie, nachdem sie die zweimal genommen, dann ins Nachtgeschirr geschüttet hatte). Man muß nur an so was glauben, dann hilft's ... Ja, zu Levy wollte sie gehen ... Aber sie konnte nun auch nicht mehr so viel Zeit verlieren wie in den letzten beiden Tagen. Gestern waren, das hatte ihr die Frau Rutsch schon schnell gesagt, wie sie die Waschkanne noch mal füllte draußen – denn waschen soll sich der Mensch, und heute würde sie sich eine zweite Kanne kaufen, für Emil –, gestern waren fünf weggeschickt, und der Referendar war sogar noch um elf gekommen, weil das Haus doch auf is, wegen der Fremdenlogis von die Frühaufen. Nachdem er von seiner regulären Braut weggegangen war. Er war gar nicht abzuweisen gewesen. Jut, daß er nicht noch vorm Haus gewartet hat ... Das hätte einen Krach mit Emil gegeben ... Der hätte ihn wie den Palisadenkarl mit die Knie in'n Bauch gestoßen. Des derf er nich. Des muß ick ihm sagen. Wer zu mir kommt oder nich, des jeht ihn nischt an.
Und dann waren sie auf der Straße, und sie hatte wieder wie am Sonnabend ihr Russengrünes an, die Polenliese, um zu zeigen, daß sie spazierenging und daß sie eine Dame wäre. Und Rosenemil ging neben ihr ... sie hätte eine Überraschung für ihn, sagte sie. Was das aber für eine Überraschung wäre, sagte sie nicht ... Es war ein schöner Tag und ein freundlicher Tag ... sehr blau und sehr lustig. Ein Tag, an dem alle Kinder sauber und alle Frauen hübsch aussehen. Denn Frauen richten sich darin sehr nach dem Wetter. Und man mehr pfeifen und singen auf den Straßen hört als sonst in einer Woche. Aber Rosenemil war recht gedrückt. Denn erstens war ihm die Sache da unten im Gesellschaftszimmer bei Vater Strehmel – aber er hatte doch wirklich nicht angefangen – nicht lieb! So was lag ihm nicht, machte ihm wirklich keine Freude! Er kam sich gräßlich dumm vor, wenn er den andern schlagen mußte. Innerlich war er in solchen Augenblicken ganz unbeteiligt. Irgendwas sagte immer in ihm: Tue ich das denn eigentlich? Was habe ich denn, ich, Emil Lehmann, eigentlich damit zu schaffen? Das bin ich doch gar nicht, sondern ein anderer. Und ich stehe daneben und gucke nicht mal interessiert zu ... sondern mehr nur erstaunt, in was für eine Lage dieser Mensch da gekommen ist, für den ich mich zu handeln verpflichtet habe.
Gewiß, die Polenliese war nett zu ihm gewesen. Und so lieb, heute Nacht noch viel lieber als gestern. Er erinnerte sich nicht, daß je ein weibliches Wesen so zu ihm gewesen war. Alle andern hatten im besten Fall sich von ihm lieben lassen, so lange, bis er eine andere oder sie einen anderen liebte. Manchmal war das zu gleicher Zeit gewesen. Manchmal war er der erste und manchmal sie die erste gewesen. Und dann gab es betteln auf seiner Seite oder Heulszenen auf ihrer Seite. Das war immer das gleiche. Und sie hielten doch den Gang der Dinge nicht auf. Verzögerten ihn nur schmerzhaft und überflüssig ... Aber das war etwas anderes, das spürte er. Vielleicht nicht so sehr von ihm bislang wie von ihr. Aber auch für ihn war innen ein Gefühl dabei, wenn er so im Gehen zu ihr herübersah, das sehr hübsch, sehr warm und sehr neu und ungekannt war. Und doch war er bedrückt. Gestern war er anders gewesen, gestern war er frei und gleichberechtigt neben ihr hergegangen, da war er der Freund, der Liebhaber, und heute, das machte er sich zwar nicht klar, war er eben das nicht mehr. Heute war es etwas anderes ... Etwas, das er eigentlich bislang immer aus einem gewissen Reinlichkeitsgefühl heraus verachtete, zum mindesten verachtet hatte: Man nimmt von een Mädchen nichts, und von so einer schon gar nichts.
All das sagte sich Rosenemil gewiß nicht im Augenblick, aber er fühlte es. Ick wer mir doch nich von ihr ernähren lassen. Ihr Freund – ja. Aber ernähren: nee, nee! Des tut Emil Lehmann nicht!
Komisch. Ich habe noch nie gehört, daß ein armer Junge, wenn er ein reiches Mädchen heiratet oder die gut verdienende Frau, sagt: Aber ich werde doch mich nicht von ihr ernähren lassen! Aber habe dafür oft gesehen, daß, wenn ein armer Mann ein Mädchen erheiratet hatte und der Ehebruch bei ihr endemisch wurde, er beide Augen zudrückte, weil er sich zwar vielleicht von der Frau, aber doch nicht von den Vorteilen ihres Geldes trennen wollte. Und ich habe sogar oft gesehen, daß Männer sich totstellten, wenn ihre Frauen reiche Freunde hatten, und nie fragten, wo denn plötzlich der Pelzmantel herkam, den ihre Frau trug, oder der Gänsebraten, den sie sich mitschmecken ließen, oder Geld zur Miete, die bezahlt war, und sich dabei als lilienweiße Ehrenmänner fühlten. Wer, der je in einer Großstadt gelebt hat, kennt ihn nicht, diesen Typ der armen Männer reicher Frauen, dieser Rosenemils der Gesellschaft. Aber das sagt sich unser Rosenemil hier durchaus nicht, er war ja gar nicht so ausgestoßen aus der Gesellschaft, wie er sich im Augenblick vorkam. Im Gegenteil: Er hätte sich sogar darauf berufen können, daß er sich in allerbester Gesellschaft befand. Doch das tat er nicht! Und während er gestern ganz unbefangen neben der Polenliese hergegangen war, hatte er heute das Gefühl, als ob ihm alle, die vorübergingen, nachsehn müßten. Aber das tat natürlich kein Mensch. Denn die meisten haben mit sich viel zuviel zu tun, um sich um Leute noch zu kümmern, die auf der Straße an ihnen vorübergehen. Nur ein Mann, der zufällig in einer Eckkneipe saß und ein sehr ruhiges, gleichmäßiges Gesicht hatte und wie ein Viehhändler gekleidet war, aber einen Stock mit einem Elfenbeinknopf hatte, tat das. Denn Baumüller wollte doch einmal sehen, wie der Junge eigentlich aussah, der gestern den Palisadenkarl in dem Hinterzimmer von Vater Strehmel so ohne weiteres umgelegt hatte. Er kannte den Palisadenkarl, und er kannte sich. Und er kannte alle Polizeigriffe. Aber er zweifelte, daß ihm das so ohne weiteres gelungen wäre. Der Junge interessierte ihn, das mußte ein gefährlicher Ganove sein. Wo kam der eigentlich her? Denn eigentlich konnte man Baumüller nicht verargen, wenn er wissen wollte, was in seinem Revier an interessanten Dingen vorging. Wofür zahlte man ihm denn?
»Na«, sagte Rosenemil, »wo willste eigentlich hin mit mir, Lissi?«
»So fragt man Leute aus«, sagte Lissi und lächelte ihm glücklich zu, »das wird nich verraten.«
Es wird immer behauptet, man schenkt einem anderen etwas, um ihm Freude zu machen. Im Gegenteil, man macht sich eine Freude damit. Denn zum mindesten fällt der Beigeschmack von Beschämung, der auf der Gegenseite unvermeidbar ist, weg. Daher wird auch die Hand, die das Futter reicht, immer einmal gebissen. Und so ganz leise tippelte, den Kopf nach den vielen Schaufenster gewandt, die Polenliese an einem großen Herrenkonfektionsgeschäft vorbei, das ganze Stadtteile und weithin die Provinz versieht, denn es hatte viel Versand. Und viele Kunden kamen eigens von Küstrin und von Frankfurt a. d. O. zu Blumenfeld & Fröhlich. Und sie schielte aus ihren etwas geschlitzten, großen, weichen Augen so ganz heimlich dahin, während ihr Mund nach der anderen Seite herüber süße Belanglosigkeiten in die Luft redete. Sie musterte die Puppen, die in erstarrter Geste und Verrenkungen mit filmlächelnder Unwiderstehlichkeit oder mit angegrauten Würdegesichtern, und zu zwanglosen Gruppen vereint, die weite Auslage bevölkerten und zeigten, wie vornehm und der jeweiligen Altersstufe entsprechend jeder Herr für gar nichts fast gekleidet sein könnte, wenn er eben hier und in keinem andern Schwindelunternehmen kaufte.
Doch da stand im Schaufenster und lächelte mit den Naseflügeln, als ob er sich ewig über die Welt und die Mädchen, die in ihn verliebt waren, lustig machte, ein geradezu charmanter junger Mann, so in Emils Alter. Nur, daß der keinen Holzkopp hatte und keine roten Bäckchen und nicht steif in den Gelenken war! In der einen Hand trug er ein paar quittegelbe Handschuhe und in der anderen einen Stock mit Silbergriff. Und man sah deutlich die Scharniere der Finger, wo sie herumgebogen waren. Aber den Draht, mit dem er noch eigens befestigt war, sah man nicht. Und er hatte einen Schlips mit Streifen – wie die eine Dahlie, die »Schweizer Flagge« –, einen rot und weiß gestreiften. Na, und einen Strohhut mit einem ganz niedrigen und flachen Kopf und einer ganz breiten Krempe wie ein Strohdach in den Weinzelten im Schwedischen Pavillon, so groß. Da war sie mal mit dem Referendar gewesen ... Aber, da er den Onkel von der regulären Braut gesichtet hatte, war er denn nach de Retirade ausgekratzt und war nich wiedergekommen. Und erst am Bahnhof Wannsee hatten sie sich wieder zufällig getroffen. Und sie hat ihm keine kleine Szene gemacht ... bis nach dem Bahnhof Alexanderplatz. Sie wäre nich so eine, mit der man sich schämen brauche, wenn er mit ihr gesehen würde. Janz kleen is er geworden. Und solchen Lausejungen wie ihn kriege sie alle Tage. An jedem Finger zehne. – Ja, und die Hosen waren oben weit und spitz wie'n Bleistift unten und mit ganz engen Pepitakaros. Und das Jackett war aus schwarzem Marengo mit weißen Fädchen drin, und die Weste auch. Und beide waren sehr vornehm, mit breiten tiefgrauen Seidenpaspeln besetzt. Un der gefiel ihr vor allem, der da hinter der Scheibe. Also des war was für Emil ... Da müßte er überhaupt wie'n richtiger Graf drin aussehn. Und man könnte sich mal auch wo mit ihm zeigen. Und neununddreißigfuffzig stand auf ein Schildchen, das wie ein Sportabzeichen war. Un die Lackschuhe dazu. Also Herren mit sone Lackschuhe, dafor schwärmte die Polenliese jradezu. Aber, ob des nu for alles war. Oder ob nur der Anzug sone Menge Geld kostete ... Na, jedenfalls einen blauen Lappen und des Goldstück und einen Taler hatte sie ja in ihrem Pompadour!
Und dann zog sie den erstaunten Emil, der eigentlich nicht mit herein wollte, durch die etagenhohe, gläserne, mit riesigen bronzenen Seerosen geschmückte Tür, die ein galonierter Diener aufmachte, der da, riesig in einer rehbraunen, phantastischen Uniform mit Messingknöpfen, die das Monogramm B. F. trugen, und einer Mütze, gleichfalls mit dem Monogramm B. F., sich förmlich vor ihnen verneigte. Denn Blumenfeld & Fröhlich hatten richtig erkannt, daß in Uniform gepreßte Angestellte ein kostenloses Inserat wären. Sie bildeten einen Staat im kleinen mit ihren dreihundert Angestellten, mit allen Schwächen und Narreteien eines Staats im großen.
Und ein anderer Herr stürzte sich, kaum daß sie drei Schritt auf den Lichthof (in dem ein Palmenarrangement mit Vogelbauern, aus denen arme Luders von Kanarienvögeln trillerten, wie eine weltferne Insel schwamm) zugegangen waren, geblendet durch allen Glanz, der sie umfloß ... ein anderer Herr stürzte sich mit den geschmeidigen Bewegungen einer Blindschleiche, aber mit den hypnotisierenden Augen einer Hornviper, die ganze Hose nur eine Bügelfalte, auf sie zu und flüsterte: »Die Herrschaften wünschen?« (Ja, was wünschte denn Rosenemil denn eigentlich?) Aber er kam gar nicht dazu, hier zu antworten. Denn schon sagte die Polenliese ganz von oben herab: »Mein Mann möchte den einen Anzug mal sich näher ansehen, wissen Se, junger Mann, der aus dem vierten Fenster, wo ›Letzter Kick‹« – »Chic« meinte sie, aber Fremdwörter sind immer Glückssache, und die arme Polenliese hatte nicht viel Glück im Leben, und warum sollte sie es mit Fremdwörtern haben? –, »wo ›Letzer Kick‹ oder so was dransteht, for neununddreißig. Der gefiel ihm so!«
»Zweiten Stock rechts, ersten Gang links. Der Fahrstuhl im Mittelgang«, schoß der Mann mit der Bügelfalte, der eine Nummer wie ein Kellner an der Rockpatte hatte, unter einer Weltkugel, über der ein verschnörkeltes B. F. schwebte, seine Kanone ab. Und winkte einem Groom, der als Siegellackstange, mit einem goldenen Käppi (es gibt solche in Geschäften für feine Schreibwaren), mit den Emblemen B. F. kostümiert war und im Laufschritt herangesprungen kam. »Robert«, sagte er, »führe die Herrschaften zum Fahrstuhl Nummer fünf!« Sagte es und verbeugte sich. Denn es war Montag, und da kamen auf jeden Käufer bei Blumenfeld & Fröhlich fünfundsechzig Verkäufer.
Und der Fahrstuhlführer – er hatte die phantastische Uniform eines Generals von Nikaragua, nur, daß er auch ein verschlungenes B. F. auf den Knöpfen zeigte – schob fachgemäß mit einem Ruck die Scherentür auseinander und sagte nichts wie: »Aufwärts, nach oben!«, als er die Order durch die Siegellackstange empfing, die Herrschaften weiterzutransportieren. Und der Kasten aus Metall und Glas schwebte durch seine goldene Vergitterung, während unten die Ladentische mit den Krawatten, den Sportwesten und den Wollstrümpfen, die langen Reihen der Regale, in denen die leeren Menschenhüllen schwankten, zurücksanken und die Kanarienvögel aus der Oase Biskra trillerten, in die Fülle des Lichts zum Glasdach empor. Die ganze Zeit wollte Rosenemil protestieren. Und die ganze Zeit protestierte er nicht; er hielt es ungefähr so wie die Frau Rutsch, als sie ihre Kinder zur Weihnachtsbescherung der Kinderhilfe Nord schickte. »Ick mache da mit«, sagte sie, »des macht die Damens Freude!«
Wirklich, die Polenliese strahlte, und Rosenemil mußte immer wieder in die Kämmerchen verschwinden und sich umziehen und sich umziehn.
»Ich komme mir wie der Kaiser vor«, sagte er.
»Warum?« fragte die Polenliese und strahlte noch mehr.
»Der zieht sich auch mindestens zwanzigmal am Tag um.«
Aber dann fand die Polenliese heraus – vor allem, da der nette junge Mann abwechselnd »Gnädige Frau« und »Meine Gnädige« zu ihr sagte –, daß sie doch da mit in die Kabuse, die, nach oben offen, in das Glasdach ausstrahlte, mit hineingehen könnte. Wo nichts wie ein Stuhl, ein Tisch und ein großer dreiteiliger Spiegel war. Und endlich, nachdem sie ein ganzes Regal durchprobiert hatten, saß einer wie angegossen, und das war natürlich der aus dem Schaufenster mit den Hosen, die oben weit wie Mehlsäcke und unten spitz wie Bleistifte waren, mit Pepitakaros. Und dazu das Marengojackett mit den Seidenpaspeln.
»Mein Mann«, sagte die Polenliese, »wird den Anzug gleich anbehalten. Und wo is die Hutabteilung?« (Leise aber sagte sie: »Oberhemden und ein paar neue Träger kannste auch brauchen! Und wie is es mit so'n gestreiften Binder? Des zeige ich dir, wie des gemacht wird. Ich habe mal auf Bindeschlipse gearbeitet.«) Laut jedoch sagte sie wieder: »Die Quittung schicken Sie besser an die Hauptkasse. Wir brauchen noch mehr, junger Mann.«
Und der junge Mann verbeugte sich und flüsterte: »Wie Sie wünschen, gnädige Frau.« Und dann nickte er Rosenemil, der sich zu seinem Staunen drüben in einem Spiegel sah (ungefähr in den gleichen eckigen Bewegungen – wie lange das dauert, bis ein Anzug einem wirklich gehört ... manchmal Wochen, bis wir die Fremdheit zu ihm und er die Fremdheit zu uns verloren hat –, wie sie unten die Puppe im Schaufenster gehabt hatte), vertraulich zu. Privatgespräche gab's bei Blumenfeld & Fröhlich nicht. Wenigstens erst, nachdem der offizielle Teil erledigt und zur Zufriedenheit erledigt war. Denn der Verkauf ist die Hauptsache. Und außerdem der »Dienst am Kunden«. »Na, wie jeht's, Emil?« sagte er jetzt. Denn er war einer aus seiner Riege. Mit dem er in Bernau bei der Kür zwei Kränze 'rausgestochen hatte. Aber das merkte Rosenemil erst jetzt. Der war ihm auch gleich so bekannt vorgekommen. »Biste verheiratet?«
»Ja«, sagte Rosenemil und wurde sehr rot. »Aber entschuldige mich ... ich lasse Lissi ungern warten.«
Und wie Rosenemil wieder auf der Straße stand, da hatte er das Sonnendach von Strohhut auf, ein paar gelbe Handschuhe mit Steppnähten in der Hand, ein neues, weiches Hemd an, eine gestreifte Krawatte wie die neue Dahliensorte und Lackschuhe mit Steppnähten. Ein kurzes weißgelbes Sommermäntelchen, eine richtige Baubaujacke mit drei Steppnähten, kam sogar mit den Sachen, die wieder ihm zugeschickt wurden ... kostenlos ... natürlich kostenlos, das is alles inbegriffen bei Blumenfeld & Fröhlich.
Und die Polenliese war furchtbar stolz auf ihn. Wie hübsch er aussah. Er aber war in diesem Augenblick weniger stolz auf sich selbst ... Also jedenfalls, ich habe mir das genau gemerkt, wieviel das macht. Sowie ich 'ne neue Stellung habe – un in die feine Kluft, da muß es ja eine Kleinigkeit sein, was Anständiges zu finden, denn wie sieht man denn aus, wenn man sich so abgerissen vorstellt? –, denn jeb ich eben Lissi des wieder ... Aber ich werde doch von ihr keen Jeld nehmen. Des tut Emil Lehmann nich ... Des is durchaus unmoralisch.
»Höre mal«, sagte die Polenliese, »paß mal auf, nun gehe ich hier 'runter, und du gehst jetzt da 'runter, und dann steigste da gleich uff den Omnibus und fährst – da kommt er schon! – bis zu Schultze in de Belle-Alliance-Straße. Da haste zehn Mark, und zahlst de Leute aus, daß die dir nachher keene Schwierigkeiten machen können. Und sage ihnen, du hättest des nicht nötig mehr, da zerreißte mehr an Stiefelsohlen, als bei det Geschäft 'rauskommt ... Jib mir nich hier 'nen Kuß vor alle Leute ... Ick habe noch eenen Gang. Du kannst ja een bißchen aschingern. So um sechs bin ich wieder zurück. Oder iß was nachher bei Vater Strehmel ... Das is billiger un besser, un Mutter Strehmel hat überhaupt gesagt, daß se dir sogar sehr gut leiden kann ... Mit der muß man sich verhalten ... Also nu mach schon. Sonst fährt dir der Einser vor de Nase weg. Adieu, Rosenemil.«
Und er schwang sich auf den Omnibus, der die lange Chausseestraße in der Sonne, im Gewühl und zwischen den Menschenmengen, die unten an den riesigen Schaufensterscheiben vorbeiflossen, hinabfuhr, und sah noch lange unten die Polenliese mit dem russengrünen Kleid und der geleimten Pleureuse auf 'n Hut, die ihm mit ihrem Pompadour nachwinkte, bis das Russengrün sich trübte und sie hinter andern Menschen und Wagen verschwand.
Rosenemil war doch sehr frei zumute, als er, so neu von Kopf bis Fuß eingepuppt, ohne Mappe und mit den gelben Glacés in der Hand und den Stock mit dem Silbergriff schwenkend, vom Wagen am Kanal herabgeklettert war und nun in der Sonne den Weg an der Kaserne vorbei zu Schultzes Großbuchhandlung ging. Wie oft war er diesen Weg herabgestürmt. Er kannte jede Granitplatte hier auf dem Pflaster! Die Mappe am Riemen schwenkend, nur noch schnell, eh' geschlossen wurde, sich neue Hefte holen und die Quittungen abgeben, sich die paar Groschen Provision einstreichen, die kaum für Aschinger reichten. Schnell, ehe der Quantmeier, dieser alte Hund, die Drahtgitter vor seiner Luke geschlossen hatte. Denn darin war er peinlich pünktlich. Und man ihn erst lange betteln und ihm erst schöne Worte geben mußte, bis er unter Gebrumm es wieder 'raufschob und tat, als ob er einem damit eine Gnade erwiese. Und betrügen tat einen der alte Hund auch noch. Immer hatten Hefte gefehlt, oder er hatte eins mehr mitgegeben! »Hier schwarz auf weiß stand es«, sagte er. Aber es stand gar nicht da. Immer war man bei ihm in der Kreide. Immer im Vorschuß. Und sagen konnte man nie was. Man war ja schon froh, wenn man die paar Kröten grade noch kriegte. Wenn man Krach schlug, war man draußen. Kündigung gab's nicht. Man bekam einfach keine »Verstoßene Gräfinnen« mehr. Und damit lag man auf der Straße, wo man eigentlich hergekommen war. Und ein anderer konnte statt seiner die Hintertreppen 'raufrennen und die Treppengeländer mit den Rockärmeln scheuern.
Da Quantmeier sich als Beamter fühlte, so trennte ihn natürlich ein Tisch und ein Drahtgitter von der subalternen Schar der Hausdiener, Reisenden, Reklamierenden und solcher, die sich mit mächtigem Krach beschwerten, sie bekämen immer Hefte überbracht. Man verlange Zahlung von ihnen. Aber sie erinnerten sich, nie derartiges je bestellt zu haben. Es hätte mal einer ein Probeheft zwar bei ihnen abgegeben, der es wieder abholen wollte. Aber er wäre nie wieder erschienen. Und Drucker und Boten und Packer und wer immer Geld oder sonst etwas von Herrn Quantmeier wollte: arme, abgehungerte Winkeljournalisten und verkommene Dichter, die hier Beschäftigung hatten oder Beschäftigung suchten. (Was im Effekt auf das gleiche ungefähr herauskam!) Das Haus und alles, was hier ein und aus ging, sah ungefähr so aus wie das, was hier hergestellt und gehandelt wurde. Nämlich wie Dreck. Und unsichtbar und deutlich stand auch über der Türe: »Hier wird aus Dreck Gold gemacht.« Und das war richtig. Hier wurde aus Dreck Gold gemacht. Die Schundromane in fünfzig Fortsetzungen wurden nach einem Plan vergeben ... Und keiner kannte das, was der andere schrieb ... Nur die Namen und seine Handlung in groben Umrissen ... Der Drucker wurde gedrückt. Der Zeichner, der die Umschläge zeichnen mußte und die Bilder in Texten, wo Gräfinnen auf Chaiselongues lagen und Grafen den Revolver zückten, Offiziere den Kavaliertod im Duell erlitten und Zigeunerinnen mit flatternden Haaren gräfliche Kinder entführten, Pastoren knieende Bräute in Myrtenkränzen segneten, man Schlösser brennen und Rosse durchgehen sah ... wurde gedrückt; der Kolporteur wurde gedrückt. Die Angestellten wurden gedrückt. Der Lieferant des Packpapiers, auf dem man druckte, wurde zugrunde gerichtet. Allen ging's jämmerlich.
Gewiß, sie machten Schund, vor denen ihnen selbst grauste, waren heruntergekommen, elend und versoffen meist ... man zahlte ihnen nichts, weil es Schund war ... Doch anderes verlangte man nicht von ihnen ... Aber da Gold draus gemacht wurde, hätten sie doch anderes verdient. Denn das war wirklich eine Goldgrube mit einem Maximum an Verdienst und einem Minimum an Spesen und Gegenleistungen. Nur der Besitzer arrondierte jährlich den Garten seiner Villa in Schlachtensee um einen halben Morgen, weil er sagte, er liebe es nicht, daß man von seinem Fenster aus Nachbarhäuser sehen konnte, und es wäre doch möglich, daß sich einer nebenan ankaufen könnte ... Aber in Wahrheit hielt er den Grundbesitz hier draußen für eine gute und gewinnversprechende Kapitalsanlage, und deshalb spielte er den menschenscheuen Sonderling. Denn irgendeine Maske muß jeder Lump aufsetzen.
Der Hund auf dem Hof der Großbuchhandlung Schultze (denn wo sollen Hintertreppenromane auch anders vertrieben werden als im Hinterhaus, aber sie flatterten von da weit hinaus in die Welt!), der Hund, der sonst immer herausgekommen war, knurrte Rosenemil an und betrachtete ihn mißtrauisch. Der Hund des Odysseus erkannte seinen Herrn als Bettler wieder. Aber der nicht Rosenemil als Grafen. Er war wirklich nicht gewohnt, daß die Dichter, die abgehalfterten Journalisten, die abgeschabten Zeichner und die Scharen Kolporteure gut angezogen waren und all die, die hier ihr letztes Niveau erreicht hatten. Er hatte im Gegensatz zu andern Hunden ein tiefes Mißtrauen und eine knurrende, ja sogar beißende Aversion gegen besser gekleidete Leute.
Als Rosenemil die Holztreppe, die von außen in die Büroräume von Schultze führte, hinaufstieg ... stieß er die wippende Doppeltür mit den Lackschuhen auf, genauso wie der Patentfatzke da in der Friedrichstraße vorgestern die Tür zur Kognakstube ... er machte das ganz instinktiv. Mensch, sagte er sich im gleichen Augenblick, des schickt sich nich! Ein feiner Mann stößt keine Tür mit 'n Fuß auf. Ach wat, sagte er sich dann, für die Bande hier is ein Fußtritt viel zu schade.
Der Raum war so, wie er sein mußte. Holzbänke waren schmal – man sollte zwar sitzen und warten, vor allem warten, aber sich nicht ausruhen können –, an den gekalkten und mit Bildern und Inschriften verzierten drei Wänden herumgezogen. Hier kamen die Literatur und die Malerei hin und die Kolporteure, und das leuchtete aus den Mauerinschriften und aus den mühsam abgescheuerten Palimpsesten deutlich hervor ... Wie die ja überhaupt manches enthüllen, was einem Psychoanalytiker zu wissen nicht gleichgültig sein würde. Man sagt, daß Räume von den Menschen und Sorgen, die in ihnen ein und aus gehen, annehmen sollen. Nun, hier schwebte dieses Fluidum von beiden fast zum Greifen deutlich über allem, in den verklierten Scheiben, in den Spinnweben in der Ecke, in dem abgeplasterten Holzboden der Diele, in dem braun lackierten Verschlag, hinter dem Herr Quantmeier hauste. Und in der großen Karte von Berlin, die in Distrikte eingeteilt war, die wieder numeriert waren: für die Herren Kolporteure. Und vor allem eben in Quantmeier selbst, der sich scheinbar aus einem Dickensschen Roman hierhergerettet hatte. Und der, wie eine Figur bei Dickens, mit großem Gänsekiel statt mit Stahlfeder in seine Bücher noch schrieb. Genau wie weiland Theodor Fontane. Nur weniger erfreuliches ... Irgend etwas muß jeder Mensch vor anderen voraus haben. Und wenn's auch nur ist, daß er mit Gänsekielen schreibt. Und da er sich hin und wieder die Gänsekiele in seiner Nervosität in seinem grauen, ja mehr noch weißen Haar abwischte und die weißen Gänsekiele mit seinen tintigen Fingern anpatschte, so waren die Flügel der Schreibfedern genauso schwarz und weiß meliert wie seine Haare, die ihm borstig und aufrecht über dem Kopf standen. Leute mit starren und hochgerichteten Haaren sind immer grob und hart. Und einen andern hätte Herr Schultze nicht an diesem Posten brauchen können.
Jetzt war er aber doch ziemlich erstaunt, als draußen ein Herr mit einem Sonnendach von Strohhut und mit einer rot und weiß gestreiften Krawatte und in einem Marengojackett, das wie angegossen saß und nach Ungetragenheit einfach noch roch, in seine Luke hereinguckte und er darin Emil Lehmann, der immer den miesesten Bezirk von ihm gekriegt hatte, den er keinem, dem es weniger schlecht ging – besser kann man hier nicht sagen –, anzubieten gewagt hatte ... als er den zu sich in die Luke hereinsehen sah.
»Sie wünschen, Herr Lehmann?« sagte er. Bisher hatte er noch nie »Herr« zu dem Kolporteur gesagt.
»Hören Se, Quantmeier« – bisher hatte Rosenemil noch nie anders wie »Herr Quantmeier zu ihm gesagt –, »hören Se, Quantmeier, ich habe da Sonnabend meine Mappe verloren, da waren noch dreiundzwanzig ›Verstoßene Gräfinnen‹ drin, die möchte ich Ihnen bezahlen.«
Quantmeier sah Rosenemil verständnislos an ... Es war schon vorgekommen, daß jemandem Hefte abhanden gekommen waren, es war auch schon vorgekommen, daß sie dann mit Gericht und Klagen und der Drohung einer Anzeige wegen Unterschlagung das Geld aus den armen Hunden von Kolporteuren herausgepreßt dafür hatten. Aber daß jemand gekommen war und ganz klipp und klar gesagt hatte, ich habe meine Hefte verloren und möchte sie bezahlen, das hatte es nicht gegeben ... solange Schultze bestand. Und das war seit 1879.
Quantmeier blätterte in seiner Kladde. »Es waren aber fünfundzwanzig, Herr Lehmann.«
»Schön! Es waren zwar nur dreiundzwanzig, Sie Idiot, hier steht's in meinem Notizbuch ...«
»Das is für mich nich maßgebend«, sagte Quantmeier.
»Aber ich zahle Ihnen fünfundzwanzig ... mal fuffzehn ... hier, ziehen Sie drei Mark fünfundsiebzig ab, Quantmeier.« Und er schmiß so aus der Hand heraus das Zehnmarkstück, das hell klang auf der Holzplatte.
»Und wieviel«, sagte Quantmeier, »woll'n Se wieder mitnehmen? Der beste Distrikt Chaussee- bis Invalidenstraße is frei geworden. Wie wär's damit, Herr Lehmann?« Denn Quantmeier sah im Augenblick, daß für seine Kundinnen solch ein Kolporteur, der so daherkam, unwiderstehlich wäre. »Wieviel wollen Se haben?«
»Haben? Nee, Quantmeier, dafür sind mir meine Stiefelsohlen zu schade. Und außerdem, ich heirate jetzt, und die Familie meiner Braut wünscht das nicht. Ich soll in die Firma meines Schwiegervaters eintreten und muß mich erst einarbeiten.«
»Soso«, sagte Quantmeier und wischte sich vor Staunen und schlechtem Gewissen und in Nervosität den Gänsekiel durch das Haar, daß es einen langen Streifen gab. »Dann gratuliere ich Ihnen auch, Herr Lehmann, und was für 'ne Branche bittää?«
»So fragt man Leute aus«, sagte Rosenemil, »aber wenn Se's durchaus interessiert: Alteisen – en gros.«
»Na, da is ja für Sie ausgesorgt«, sagte Quantmeier, »Alteisen! Da bleibt 'ne Menge hängen!«
»Nich mehr, als bei de ›Verstoßene Jräfinnen‹, denn wir bezahlen nämlich die Reisenden. Adjeh, Herr Quantmeier.«
Eigentlich sollte man mit 'n Stock durchs Gitter langen un ihn eins übern Kopp hauen, dachte Rosenemil, den falschen Fuffzjer. Aber er dachte das nur und wandte sich ab ... Nachher macht man so was wirklich, und die Leute reden sich ein, man wollte die Kasse mitgehen lassen, nee, nee! »Adjeh.«
Herr Quantmeier blättert hastig und ängstlich in seiner Kladde.
»Einen Augenblick noch, einen Augenblick noch!« rief er ganz hoch. »Einen Moment, Herr Lehmann, ich habe mich da eben geirrt: Es waren ja doch nur dreiundzwanzig ... und nicht, wie ich sagte: fünfundzwanzig ... Sie bekommen noch dreißig Pfennig retour.«
»Na, denn behalten Se se zum Andenken an Emil Lehmann, und kaufen Se sich een Rittergut von«, sagte Rosenemil und ging zur Tür.
»Jehn Se nicht zum Chef«, schrie, wie ein wimmerndes Käuzchen, Herr Quantmeier, »jehn Se nich gleich zum Ollen ... es war wirklich nur ein Irrtum ... ein Irrtum, ein Schreibfehler, ein Versehen!«
»Solche Irrtümer kennt man!« sagte Rosenemil und ließ die Tür, die er wieder mit dem Fuß aufgestoßen hatte, hinter sich zupendeln. Innerlich aber sagte er sich: Na Jott, endlich is ja der Quantmeier mit seine hundertfünfundzwanzig Emmchen man auch nur ein armer Deibel, un wenn er mal nich so'n bißchen Schmu macht, so kommt er ja nich durch. Nur, daß er des denn bei den noch ärmeren Deibeln von Kolporteuren macht, des nehme ich ihn übel. Jewiß: einen mächtigen Schreck hat er ja gekriegt. Aber wie lange wird das vorhalten?
Aber Rosenemil sah doch die Sache ein ganz klein wenig schief: Wenn Quantmeier den Kolporteuren zuviel abnahm, aber richtig buchte, so konnte es nicht herauskommen. Wenn er aber den Kolporteuren nur das auszahlte, was er oder sie zu kriegen hatten, und dann erst falsch buchte, so mußte es eben doch ... eins greift so bei einem Geschäft in das andere ... eben doch über kurz oder lang herauskommen. Und dann kam er ins Kittchen. Denn darin war Schultze von striktesten Ehrbegriffen, und er hätte ihn, schon um des Prinzips willen, einer Mark wegen der Staatsanwaltschaft übergeben. Trotz der fünfundzwanzig Jahre, die er schon auf dem Kontorschemel bei ihm saß ... Da kannte Schultze keinen Pardon, und er sagte es mindestens jede Woche zweimal: »Ich bin ein Ehrenmann, und ich dulde auch nur solche um mich.«
Vielleicht war auch der Quantmeier gar kein solcher Hund; nur weil er getreten wurde, trat er nach unten. Jott sei Dank, die Bruchbude sah er zum letzten Mal.
Die Polenliese war indessen langsam nach der Stadtbahn vorgetrendelt; eigentlich hätte sie in der gleichen Richtung gehen müssen, aber was ging das Rosenemil an (sie war aus dem Märchen bei Kipling »die Katze, die allein spazierengeht«). Am Tage machte sie nicht gerne Bekanntschaften. Und obwohl sie viermal auf dem Weg, bis zum Bahnhof Friedrichstraße viermal, angesprochen wurde – mehr oder minder höflich, aber es waren alles sehr miese Kunden –, reagierte sie nicht. Ja, einmal, als der Onkel sich nicht gleich drückte, murmelte sie sogar etwas von Belästigung und Schutzmann, so daß der allzu Zudringliche schnell wieder hinter ihr zurückblieb. Heute, Montag vormittag, hatte sie immer draußen im Grunewald zu tun. Bei dem Mann mit dem Erbbegräbnis und dem Kandelaber und den schwarzen Vorhangwänden, der in solcher feierlichen Parodie eines Krematoriums schlief. Das war ein sehr komischer Mann. So komisch, daß er selbst die Polenliese, die an alle Menschlichkeiten gewöhnt war und sich jeder Marotte der Männer fügte, die nebenbei sämtlich an ihr abglitten wie Wassertropfen an einem Gummimantel – ach, so dichte, wasserdichte Gummimäntel gab's wohl kaum oder nur in den Inseraten der Zeitungen –, ja sogar sie in Erstaunen setzte. Er erzählte, das heißt, er flüsterte immer, denn er hätte nie die Stimme erhoben, daß er ein Ästhet sei. In ihren, der Polenliese, Kreisen hatte man dafür einen anderen Fachausdruck. Aber die Dinge und Handlungen werden ja nicht von allen Menschen gleich benannt. Und so hielt man das wohl, was er trieb, in seinen Kreisen für Ästhetik. Der Mann in dem Sammetjackett war heute besonders matt, weil, wie er sagte, schlechtes Wetter war. Er haßte den Tag an sich und einen, da Sonnenschein, wie heute, und in seinem Park die Rosen sich öffneten und die Nachtigallen zum Abschied brüllten, besonders. Und wenn der Himmel blau ... so machte ihn das krank. Blau wäre trivial als Farbe, verursache ihm physische Übelkeit, und er zitierte ein paar Strophen in einer unbekannten Sprache der armen Polenliese vor, die von einem Mann wie Boleer oder so ähnlich sein sollten und aus den »Blumen des Bösen« (als ob Blumen je böse sein könnten!) sein sollten. Und dann rief der Diener in den Frühstücksraum, wo sie, wie immer, unter dem Weinglas das Kuvert mit dem Geld fand. Denn da er Ästhet war, der Mann, so faßte er einen so ekelerregenden Gegenstand, wie es doch Geld war – doppelt schmutzig, weil doch durch so viele Hände vorher gegangen war und weiter an so vielen schmutzigen Dingen beteiligt schon gewesen war –, nicht mit seinen beringten Fingern an.
Und die Polenliese war erst wieder glücklich und froh, als sie in der Wanne des Marmorbades sich das heiße Wasser über den Leib laufen lassen konnte ... Gewiß, es war viel Geld für sie ... da im Kuvert ... aber leicht verdient war es nicht. Aber dann schüttelte sie den Gummimantel ihrer Seele mit ein paar Bewegungen hin und her, und alles war wieder sauber und trocken. Und draußen ... hier waren alle Fenster dicht verhangen gewesen, und aus den versenkten Beleuchtungen war gleichmäßiges Licht durch die stillen Räume, das rote, das gelbe, violette und das grüne Zimmer und das schwarz verhangene Sanatorium des Schlafraums, geflossen. Und nun war draußen Sonne, und der wilde Wein kletterte lichtgrün an den Bronzestämmen der Kiefern wieder hoch, und die weißen Schmetterlinge flogen über die Rosenrabatten in den grünen Sammet des geschorenen Rasens.
Und da es schönes Wetter war, so setzte sich Polenliese noch ein bißchen in die Sonne in eine richtige Konditorei mit einem echten Vorgarten hier draußen und freute sich wie auf dem Reitweg die Kavalkade der Reiter und der Reitdamen, die, sowie sich das Pferd unter ihnen in Galopp setzte, auf ihren Damensätteln wie die Gummibälle, die sie als Kind immer so auf dem Pflaster in der Grünstraße (das war »ihrer Jugend goldnes Stromgebiet« gewesen, denn auch die Grünstraße kann das sein) aufgetupft und wieder mit dem flachen Handteller niedergeprellt hatte ... wie die Damen da also genau wie Gummibälle so hochprellten und wieder auf ihre Sättel zurückfielen, nur um im nächsten Augenblick wieder hochzuprellen. Und automatisch fing sie, wie als Kind, an zu zählen: eine ... zweie ... dreie ... viere ...
Sie hatten Zylinder wie die Herren auf und wehende Schleier daran und Röcke mit Schleppen, die gleichfalls wehten. Schade, daß Emil nicht da war, dem hätte das sicher Spaß gemacht. Aber er kam vor sechse nicht. Das hatte sie mit ihm so abgesprochen. Sonst hatte der Mann mit dem Erbbegräbnis sie immer länger aufgehalten. Und plötzlich fiel ihr ein, daß sie doch vielleicht 'reinfahren und zu Doktor Levy gehen könnte, heute. Des Abends um acht käme dann der Referendar, das Kamel, mit dem würde sie mal 'rübergehen und ihre neue Kletterbude einweihen. Aber nicht lange, denn sie hatte so eine Ahnung, daß so um halb elf der ... vielleicht der kleine Benjamin sie zu sprechen wünschen würde; und den Jungen hatte sie eine ganze Woche nicht gesehen ... Und se hatte – denn der Mensch hat doch Gefühle, und wer kann für seine Gefühle? – eigentlich ganz reguläre Sehnsucht nach den süßen Jungen, obwohl sie in diesem Augenblick auch Sehnsucht nach Rosenemil hatte, daß er bei ihr sitzen sollte. Denn das hatte sie Sonnabend nachmittag in Tegel gesehen: die Bäume sind noch mal so grün, un die Finken trillern noch mal so laut, und die Sonne scheint doppelt so hell, wenn man nicht allein ist. Und einer neben einem sitzt oder im Gras liegt, und den man gern hat. Sie rechnete aus, was sie der Tag heute gekostet hatte und was er ihr – aber solche Ästheten hatte sie leider nur einen, mit Fünfziger im Kuvert – bringen würde, und sagte sich, daß sie das kleine Minus, das noch blieb, doch in einer Woche spätestens wieder eingebracht hätte. Denn leichtfertig mit Geld war sie durchaus nicht, eher sparsam ... die Polenliese! Ja, sie hatte wirklich Sehnsucht nach dem süßen Bengel. Emil brauchte gar nicht gleich eifersüchtig zu sein. Sie liebte ihn ja janich so, wie man einen Mann liebt! Obwohl er auch bei ihr die Vorrechte des Mannes genoß. Sondern er hatte in ihrem Gefühl den Platz, wo das Schildchen »Liebe zum Kind« darüber hing, jenes Fach, das ohne ihn ganz leer gewesen wäre. Das war eben so gekommen. Es kamen manchmal zu ihr Primaner, spielten den Lebemann, waren dumm und roh und gingen wieder, ebenso dumm und aufgeblasen und roh, wieder fort, und der war zaghaft, lieb und galant und wahnsinnig glücklich gewesen und dankbar, hatte ihr stundenlang nachher noch die Hände geküßt, als sie ihm die Mysterien ihres Leibes und die des Weibes zugleich erschlossen hatte. So war das eben gekommen. Aber trotzdem hätte die Polenliese ihrem Emil die Augen ausgekratzt, wenn sie geahnt hätte, daß der vielleicht, wie sogar gestern nacht manchmal in ihren Armen, in diesem Augenblick, wo er langsam und den Stock schwenkend die Friedrichstraße, sie ist ja viele Kilometer lang, herunterschlenderte, an die statiöse und wunderherrliche Dame dachte, mit dem fliederfarbigen Sonnenschirm und den Resten der vernichteten Reiherkolonie auf dem Kopf und der blauen Schwanenboa um den Hals ... daß er überhaupt an eine andere dachte. Denn darin ist Liebe komisch ... So etwas ist ein Vorrecht, von dem jeder es für sich zu beanspruchen sich berechtigt glaubt, das er aber bei einem anderen, und gar bei seinem nächsten Partner, durchaus nicht gelten lassen will. Ja, und die Bücher wollte er sich doch auch holen! »Heinrich« hieß es, aber weit war se nicht gekommen. Jaja, der gelbe Heinrich – »Blauer Heinrich« is was andres. Und ob sie morgen Zeit hätte, des wüßte sie nich. Da wäre es auch ganz gut, wenn se heute mal zu Doktor Levy gehen würde, und außerdem war der Wein seit vierzehn Tagen alle schon. Vielleicht ließ er ihr draußen von seiner Krankenschwester eine neue Pulle einpacken. Er machte des ganz nett. »Schwester«, rief er, »geben Sie der Patientin doch gleich die Medizin mit, dritte Stärke. Gebrauchsanweisung steht auf dem Etikett!« Und klappt die Tür zu, eh man auch nur das Maul aufkriegt, um »Danke« zu sagen.
Ja, und dann war sie bei Doktor Levy, und der kaute mit seinem Entenschnabel und sah sie über die Kneifergläser fort an. Augenblick ... Augenblick! Stimmte de Diagnose? Oder habe ich mal wieder eine Fehldiagnose gelandet? Eigentlich sah das Mädel doch famos aus. Zum mindesten ist die Sache doch scheinbar, denn Doktor Levy zweifelte alles an, scheinbar doch vielleicht (?) zum temporären Stillstand gekommen. – Die Drüsen sind sogar zurückgegangen. Also das ist ja famos! Ach das ist ja prachtvoll! Na, das ist ja überhaupt ganz reizend! So freute er sich sonst nur, wenn er einen besonders virulenten Fall in seiner Spezialpraxis hatte, der eine Arbeit für die Wochenschrift für Urologie hergab. Eigentlich hatte er nämlich sogar schon an Beelitz gedacht. Hatte auch schon mal mit dem Chefarzt da draußen in der Lungenheilstätte telefoniert. Aber da war natürlich alles überfüllt. Ja, und wer sollte es zahlen? Und dann erkundigen sie sich immer nach dem Beruf ... diskret wie sie sind. Und solch Beruf wie den, den die Polenliese hatte, den erkannten sie da als Beruf nicht an. Den gab's gar nicht für sie. Von dem hatten sie nie was gehört. »Also sieh an, Simonetta«, sagte er (der Mann macht doch immer den Quatsch), »es geht ganz herrlich.« Und streckte die Hand nach der Polenliese aus, um sie zu streicheln, und zog die Hand langsam, als sie sich auf wenige Zentimeter ihrem Gesicht genähert, wieder zurück.
Komisch, dachte die Polenliese, merkwürdig, dachte die Polenliese, eigentümlich, dachte die Polenliese, daß große Männer das auch haben: des macht doch der süße kleene Max immer so. Ach, und sieh mal, Lissi, den kleenen Finger an der rechten Hand, der is doch auch so kurz, un der an de linke Hand nicht. Also des muß doch bei de Juden öfters vorkommen.
»Na, Simonetta«, sagte der Doktor Levy, und jetzt tätschelte er ihr wirklich die Wange, »komm, jetzt is der offizielle Teil der Festlichkeit ... (Soll ich dir hinten die Druckknöpfe zumachen, oder geht's auch ohne mich? Also wieder mal überflüssig, wie die Männer überhaupt!) – erleddigt; nu beginnt die zwanglose Fidelitas ... Sind noch Patienten draußen? Nein, Schwester? Denn schön! Wenn noch welche kommen un se können nich warten, schicken Sie se ruhig wieder weg, Schwester. Kommen Se, Simonetta, gehen wir nach drin 'rein. Woll'n wir 'n Glas Burgunder trinken? Oder lieber Tee oder Kaffee? Oder ein Schnäpschen Schnaps. Ganz wie Simonetta befiehlt. Sind Sie noch nie drin gewesen? Da können wir ja doch gleich die lebende Simonetta mit der ehedem gelebt habenden konfrontieren, tut wirklich nicht weh. Noch weniger weh als perkutieren.«
Die Polenliese war nicht gewohnt, daß man sie ohne Gegenleistung zu einem Glas Wein aufforderte, und sie fühlte sich eigentlich dadurch, daß der Sanitätsrat – wie sie ihn nannte – das tat, geehrt und war innerlich stolz, daß sie vor allen Kolleginnen den Vorzug hatte. Der Mann war nicht ansehnlich, hübsch war er nun mal erst recht nicht, dieser Entenschnabel. Er war auch nich jung, älter sicher als ihr Vater. Ihr wenigstens kam er mit den paar grauen Haaren im Schnurrbart wie ein Meergreis vor. Alter ist relativ und richtet sich nach dem Betrachtenden. Für einen Baum, der auf einen Menschen heruntersieht, ist ein Greis ein Jüngling. Aber das macht endlich nichts. Der Schwager vom Gurkenhandel war viel, viel, viel älter und ein dummes Ekel. Aber der da war doch sehr nett. Warum sollte nich mal eine Bauernfrau einem Landstreicher einen Apfel durch den Zaun reichen. Warum sollte sie das nicht tun? Aber der war nun wirklich sehr unerfahren, dachte die Polenliese. Er setzte sich aufs Sofa, und statt sich neben sie zu setzen, setzte er sich mit seiner weißen Jacke ihr gegenüber auf die andere Seite von dem breiten, runden, blanken Tisch. Dann machte er weder die Tür noch die Fenster nach der Loggia zu. Da konnte ihm doch jeder von drüben 'reingucken, wer wollte. Wirklich, sie wäre beinahe aufgestanden und hätte selbst die Tür zugemacht, wenigstens die Mullgardinen zugezogen. Aber Männer sind sehr komisch. Vielleicht liebte er des gerade so! Un nachher is es auch wieder nicht recht! »Fräulein Lissi«, sagte nach einer Weile der mit dem Entenschnabel, aber hier in seinen vier Pfählen sieht er gar nicht so übel aus, und blickte beobachtend über seine Kneifergläser weg. »Na, nun nehmen Sie man ordentlich Erdbeeren. Passen Sie mal auf, da machen wir eine raffinierte Sache. Die zuckern wir ein und gießen dann einen Schuß Rotwein darauf. Eigentlich sollten Sie natürlich nicht rauchen. Aber praesente medico ... oder zu deutsch: Geschenke schaden dem Arzt nie was. – Sitzen Sie da bequem? Nehmen Sie das gestickte Kissen hintern Rücken. Das mit den Papageien drauf. Denken Sie mal, so was hat meine Großmutter noch gestickt ... Puh, was 'ne Arbeit! Na ja, die Frauen sind doch damals nicht aus dem Haus gekommen. Aber dafür unter die Haube. Beides war gleich langweilig, aber vielleicht haben sie sich gar nicht so gelangweilt, weil sie es nicht anders gekannt haben.« Und während der ganzen Zeit sah er sein Visavis an, als ob er vergleichende Anatomie treiben wollte.
»Aber Doktor, was sehen Sie mich so an ... man kriegt ja ordentlich Angst vor Ihnen«, sagt die Polenliese. Also die Männer, jeder war anders und wollte anders behandelt sein.
»Da drüben«, sagte er, »Fräulein Lissi, hängen eine Menge Bilder von einer alten, sogar einer sehr alten Liebe von mir.« Und er zeigte auf die Reihe gerahmter Fotos von Alinari. »Wenn ich sie so ansehe ... mir der Reihe nach, man kann eigentlich nicht sagen, welches Ihnen besonders ähnlich wäre; ach ja, wohl der Kopf mit den offenen Haaren am meisten, sehen Sie, der da, der bunte auf blauem Grund, aber alle zusammen sind sie doch eigentlich sehr ähnlich. Von jeden Kopf haben Sie etwas, auch die Finger. Ich habe ja nur den Vorzug gehabt, Ihren Halbakt bisher zu sehen, obwohl er vielleicht mehr so nach einer der Nymphen auf dem Pansbild von Lucca Signorelli ist.« (Aber so was, sagte sich doch der Levy selbst im Augenblick, müßten ja für die wunderschöne Polenliese doch nur böhmische Dörfer sein. Sie war sicher der Meinung, daß der Meister aus Orvieto eine Schokoladenmarke wäre.) »Wie gefällt Ihnen denn meine alte Liebe?«
Die Polenliese sah die Reihe herunter und dann zu ihrem Konterfei herüber, das ihr drüben aus einem hohen Pfeilerspiegel entgegenlächelte. Sie begann eine Attacke auf die Tugend des Doktor Levy zu erwägen ... sie fühlte sich irgendwie betrogen ... Ladet een'n der Mann zum Glas Rotwein und Erdbeeren ein und spielt nachher den keuschen Josef. Endlich war sie eine Frau, und da kränkte sie so was!
»Soll ick mir mal ausziehen?« sagte sie und begann schon an ihrem Kragen zu nesteln. »Ick bin viel schöner als die olle Spinatwachtel.«
»Beinahe, Lissi ... oder Fräulein Lissi, obgleich das ein großes Wort ist. Aber ich kenne jemand, der findet, daß Sie noch schöner als meine alte Liebe da, viel, unvergleichlich viel schöner sind als die olle Spinatwachtel!«
»Ach – na, so habe ick det auch wieder nich gemeint, Doktorchen!« sagte die Polenliese. (Endlich wurde der Mann vernünftig, jetzt brauchte das nur noch 'n kleenen Stups von ihrer Seite, denn fiel er um. Des kannte sie, ja, es war eigentlich sogar ihr Beruf, diesen einen kleinen, letzten Stups zu geben.) »Kränken in Ihre Gefühle wollte ich Sie natürlich nich. Überhaupt soll man die Gefühle von eenem Menschen ehren.«
»Ja«, sagte wieder Doktor Levy, »ich kenne jemand, der da vollkommen Ihrer Ansicht ist, den sie rädern und vierteilen könnten, er würde nichts anderes sagen. Wie sagten Sie eben, Lissi? ›Man soll die Gefühle von einem Menschen ehren!‹«
Die Polenliese war jetzt verwirrt ... Eben hatte sie ihn beinahe, und nun ging er ihr wieder aus'm Garn und machte Redensarten.
»Der kleine Max Benjamin findet das nämlich auch, daß Sie viel, viel tausendmal schöner sind als meine alte Liebe da. Vielleicht hat er wirklich recht, der Junge, damit ... Ich kann das ja leider nicht beurteilen.«
Die Polenliese war rot geworden, wie ein Schulmädchen aus der ersten Klasse, dem der Lehrer einen Liebesbrief von ihrem Primaner abgefangen hat, der aus ihrer Mappe fiel.
»Des bin ich auch«, sagte sie trotzig, »soll ick mir ausziehn?«
»Der kleine Max Benjamin würde sagen: Erwarte nicht die stärkste von meinen Künsten.«
»Ja«, sagte die Polenliese, »genauso würde er sagen.« (Merkwürdig, die Juden singen doch alle so'n bißchen, eigentlich sprechen sie alle gleich.)
»Und wegen des kleinen Benjamin will ich mit Ihnen reden, Fräulein Lissi ... Sie kennen ihn doch, nicht wahr?«
»Das tue ich auch, Herr Doktor!«
»Sie sagten vorhin, man soll die Gefühle eines Menschen ehren; ich glaube, der kleine Max hat Sie sehr gern.«
»Wissen Sie, Herr Doktor, so eine wie ich soll keine Männer gern haben ... außer einem vielleicht. Des kann ich Ihnen schwer sagen, Herr Doktor; aber weil wir so viele haben, haben wir doch jar keinen, und da is das wohl so, daß wir endlich einen haben müssen, für den wir dasein können und von den wir wissen, daß er for uns dasein muß. Ick, ick kann Ihnen des nich so erklären, weil man ja über sone Dinge überhaupt nich sprechen kann. Aber det is ja der kleene Benjamin janich ... Nee, nee, det müssen Se nich glauben, Herr Doktor – dafor is ja auch Max viel zu jung. Aber jerne habe ick ihn, sogar sehr gerne ... Aus allen andern mache ick mir janischt, jerne habe ich ihn. Und, daß er heute und gestern nich gekommen is, darüber bin ich janz unglücklich jewesen.«
Doktor Levy guckte wieder über seine Kneifergläser. »So«, meinte er.
»Jewiß«, sagte sie trotzig, »ick hätte ihn wieder weggeschickt; aber kommen hätt' er doch sollen.«
Doktor Levy sah wieder über die Kneifergläser ... Ein wunderschöner Kerl doch, dieses Mädel da – auseinanderbringen wird man sie nicht können, und sie sagte: »Man soll die Gefühle anderer Leute ehren!«
Ob mit Geld was zu machen is? – Aber die da, das erkannte er jetzt, verkaufte wohl ihren Körper für Geld, aber sie ließ deswegen noch lange nicht ihre Gefühle sich abkaufen. Die waren ihr privatestes Eigentum, genauso – ja vielleicht noch mehr, gerade durch die besonderen Umstände ihrer Lebensführung bedingt – wie bei anderen Menschen.
Also mit Geld war nichts zu machen bei ihr, das war plump und seiner unwürdig und ihrer auch. Nachher, wenn's sein muß, soviel sie haben will. Gewiß, Benjamin, mein Sohn, hatte ihm in die Hand versprochen, nicht mehr zu ihr zu gehen. Höchstens sie mal in einer Konditorei zu treffen. Aber das sah er, sie brauchte nur den Finger krumm zu machen und zu winken, dann flog er zu ihr, und wenn es das Leben kostet. Wenn er wüßte, er muß nachher den Kopf auf den Block legen. (Was man doch für dumme Phantasien hat!) Und würde er es denn anders machen? Diese Simonetta da brauchte doch bloß den Finger krumm zu machen und zu winken, und er würde genauso fliegen, trotz tausend Eiden. Also was sollte er eigentlich von dem Jungen da, von Benjamin, mein Sohn, verlangen? Aristoteles und Phryne, oder hieß sie anders? Wie sie da jetzt so auf dem Sofa saß und das Licht und die Sonne um ihr Gesicht und um ihre Haare spielt und in ihnen spielte – wundervoll! Der Mensch kann doch schöner sein als alles, was wir kennen, wenigstens für uns Menschen. »Hören Sie, Lissi«, sagte er, »würde es Sie sehr traurig machen, wenn Sie den kleinen Benjamin nur selten jetzt noch sähen und nur sähen?«
»Ja, das würde es wohl – ich kann ja auch nichts dafür.«
»Aber der Junge soll sein Examen machen. Nach Oktober habe ich meine Mentorpflichten beendet. Er steht nicht gut auf der Schule.«
Die Polenliese kaute an den Lippen.
»Lissi«, sagte der Entenschnabel, »Sie sagen, daß Sie den Jungen mögen, da wollen Sie doch nicht daran schuld sein, daß er ein Jahr seines Lebens Ihretwegen verliert. Nicht wahr, das wollen Sie nicht. Eltern sind nun mal in der ganzen Welt eigentümliche Leute. Albern und ehrgeizig, sie lieben es nicht, wenn ihre Söhne, und die da haben nur einen ... er ist das einzige Kind, verstehen Sie! Und deshalb geben sie doppelt und dreifach mit ihm an ... Wir dürfen es mal jetzt nicht tun. Wenn man einen Menschen gern hat, will man ihm doch nicht schaden?«
Aber die Polenliese sah weiter und hörte durch die Worte hindurch.
»Nee, nee, Doktor, krank bin ich nich. Da können Sie sich selbst überzeugen, und dann können Sie ja Ihren Kollegen vom Alexanderplatz fragen ... Krank bin ich bisher Gott sei Dank noch nie gewesen. Und krank bin ich nich – nein, wirklich nich; Sie, Herr Doktor, da brauchen Sie nichts zu fürchten. Und vorsichtig bin ich, und Bescheid wissen wir.«
Ja, was sollte er da sagen? Sollte er sagen: Liebes Kind, Ihr Wort in Gottes Ohr, aber wissen Sie, daß Sie mir gar nicht gefallen und daß ich nichts sehnlicher wünsche, als mich zu täuschen? Gewiß, das Röntgenbild hat nichts ergeben. Ein paar Schatten und Schleier, keine infiltrierten Stellen. Aber man hört an zuviel Stellen zugleich etwas. Und die Drüsen ... die Drüsen! Wenn der Junge sich sonstwas holt bei dir, mein Kind, das wollen wir nicht so tragisch nehmen, das bringe ich schon wieder zurecht ... Aber wenn er sich sone verdammte Tbc ansteckt ... und die kann er ebensogut von deiner Bude sich holen wie von dir, die bringe ich nicht weg ... Und Liebchen, Liebchen, Bella Simonetta ... ich fürchte, ich fürchte, lange wirst du diese Erde nicht beschweren mit deinen leichten Sohlen. Die schönsten Frauen, das habe ich hier in meiner Praxis gelernt, gehen am ersten vor die Hunde. Der Knabe Benjamin würde sagen: daß Glück und Schönheit dauernd nicht vereint ... Persephoneia nimm den Knaben auf und mich ... (Was man für blöde Phantasien hat.)
»Hör mal, Simonetta«, sagte er, »wir wollen einen Pakt zusammen machen, der Junge soll mal ein paar Monate nicht zu dir kommen. Wie ist denn der Bengel nur immer des Nachts ausgekratzt von Hause? War er sehr oft bei dir ... fast jede zweite oder dritte Nacht? Man soll die Gefühle anderer Leute ehren ... aber wo hatte er eigentlich das Geld her? Wenn du ihn mal sehen willst bei Helmholtz – schön. Aber nirgends sonst und nicht mehr mit ihm zusammen sein, Simonetta.«
Die Polenliese bekam einen sehr bösen Zug im Gesicht und wollte aufspringen: »Geld? – Feine Leute«, sagte sie wegwerfend, »sind doch immer unfeiner wie gewöhnliche! Gott sei Dank, daß ich nur 'ne Hure bin!«
Doktor Levy schämte sich. »Ach so«, sagte er, und er begriff ... man soll die Gefühle anderer Leute achten. Und wirklich, es hätte wenig gefehlt und er hätte, denn jetzt weinte sie, die Polenliese in den Arm genommen, um sie zu trösten und ihr abzubitten, und dann wäre es sicher so gekommen, wie die Polenliese sich das von vornherein vorgestellt hatte, als er sie zu einem Glas Rotwein in seine gute Stube hereingebeten hatte.
»Sieh mal, Lissi«, sagte er, »ich bin ein armer, alter Junggeselle, und ich sehe von morgens bis abends hier nur Dreck und Elend und Gemeinheit und sehr viel Herzensroheit um mich. Da wird man nu mal so, daß man immer das Häßlichste von den Menschen denkt. Komm, trink noch einen Schluck, der ist gut ... Habel ... ein prachtvoller Volnay ... den Jahrgang kriege ich in ganz Berlin nicht mehr.« Er machte ein Album auf und blätterte in italienischen Fotos. »Gefällt dir das? Das ist Venedig, Santa Maria Miraculi. Also innen – hier sind die Details von den Pilastern –, innen ist es noch viel entzückender. Und siehste: das is Fiesole, oben das Franziskanerkloster mit den Zypressen über der Mauer. Und das is der kleine Tempel in Tivoli da über den Wasserfällen – das heißt, sie haben nicht immer soviel Wasser wie hier – und das ist der Hof vom Bargello ... Gefällt's dir? – Nun paß mal auf, wir machen einen Pakt: Wenn du den Jungen jetzt nie mehr zu dir mit 'raufnimmst und du nie zu Hause bist, wenn er kommen will, bis er sein Examen macht, da wird der kleine Benjamin – Benjamin, mein Sohn – dahin fahren, wo man all das sehen kann, und da wird zufällig in demselben Zug jemand mitfahren, und er wird hinter Lichterfelde zufällig den kleinen Benjamin im D-Gang oder Speisewagen bei einer Tasse schlechten Bohnenkaffees treffen. Der Jemand kriegt von mir das Billett fertig in die Hand gedrückt, er braucht nur die Kupons sich 'rausreißen zu lassen, und das Reisegeld in Reiseschecks für vierzehn Tage ... gemacht, Lissi? Aber jetzt die nächsten drei Monate ganz vernünftig! Wird mir das versprochen?« (Innerlich aber sagte er sich: In drei Monaten weiß ich genau, woran ich bin ... entweder kann sie nicht mehr reisen, oder der Junge kann ruhig mitreisen. Wenn sie sich das Billett von mir holt, untersuche ich sie mir noch mal gründlich ... in jeder Beziehung!)
Die Polenliese sagte immer noch nichts ... sie sagte nicht ja und nicht nein, und an ihrem Gesicht war auch nicht zu erkennen, ob sie ja oder nein meinte; sie überlegte sich vieles: Gewiß, Max kommt fast jede zweite, dritte Nacht. Aber das wird er doch jetzt nicht mehr können, und ich werde es nicht mehr können. Und werde auch nicht mehr das für ihn sein, was ich jetzt seit einem halben Jahr für ihn war. Und vielleicht wird auch Emil eifersüchtig auf ihn, lauert ihn auf, prügelt ihn zusammen, und das will ich nicht, nein, ich will es nicht. Aber ich will auch Emil nicht wieder hergeben. Das will ich nicht. Nein, nein, das will ich auch nicht. Und beide werde ich nicht behalten können. Ich will den Jungen, den ich so hübsch streicheln konnte, und den Mann, der mich so hübsch streichelt, nicht aufgeben. Eigentlich brauche ich beide, aber ich weiß wirklich nicht, wie das zu lösen ist ... So also werde ich wenigstens jetzt einen von beiden aufgeben müssen. Was anderes werden wir wohl da nicht kochen können, Lissi Morgen!
»Na ja«, sagte sie, »aber Sie brauchen das auch nicht zu tun; ich tu' es auch so.«
Der Doktor Levy zog seinen Rezeptblock aus der Tasche. »Für Fräulein Lissi Morgen«, kritzelte er mit seiner Doktorklaue, »eine vierzehntägige Erholungsreise (auch auf drei Wochen ausdehnbar) nach Venedig, Florenz, Rom. Zahlbar laut bestimmter Vereinbarungen am 5. Oktober 1903, Dr. Arthur Levy«.
»Das ist sogar einklagbar, Lissi, und kein Vertrag contra bonos mores! Das steck dir in den Pompadour. Und sagste immer noch, daß meine alte Liebe eine Spinatwachtel ist?« Verflucht noch mal, beinahe hätte er sie auf den Mund geküßt ... Aber er lenkte noch gerade ab und küßte sie auf beide Augen, und Lissi seufzte tief auf. »Nicht«, sagte sie, »laß das! Das kann ich nicht. Da werde ich ganz schwach. Das hat Max auch immer getan.«
»Also, Simonetta, es bleibt dabei«, sagte Doktor Levy, und es fiel ihm verdammt schwer, seine Arme wieder zu öffnen, in denen die Polenliese zitterte ... Aber es ging doch, mußte eben gehen ... wie hätte er es vor sich selbst rechtfertigen können, wenn er das nicht mal vermocht hätte ... Da klopfte die Schwester: »Herr Doktor«, rief sie, »es sind noch drei Patienten da, ein neuer und zwei alte, und dann habe ich noch drei Besuche aufgenommen am Telefon, einer ist sicher sehr dringend. Da habe ich Ihnen schon das große Besteck zurechtgemacht. Ich glaube, ich muß da doch mitkommen und assistieren ... Die Blutung soll schon sehr stark sein.«
»Also adjö, Fräulein Lissi«, sagte Doktor Levy überlaut, »und in zirka vierzehn Tagen, auch am Montag also, um die gleiche Zeit ... Und die Pillen weiter nehmen. Sie helfen ja vorzüglich, und Schwester: für die Patientin Medizin eins – Die Gebrauchsanweisung steht auf dem Etikett, Fräulein Lissi.«
Die Polenliese ging langsam die breite und abscheuliche, ungekehrte Treppe hinunter. Ihr ging so manches durch den süßen kleinen Schädel. Wie schwer es doch ist, in diesem Leben sich zurechtzufinden! Seit sechs Jahren hatte sie ihr Leben ganz allein in die Hände genommen. Von siebzehn an. Manchmal war sie drauf und dran gewesen, es wegzuwerfen. Wie schwer das doch alles war und wie gräßlich kompliziert! Das heißt, das sagte sie sich nicht in Worten. Aber das fühlte sie nur desto intensiver. Aber schon auf dem zweiten Treppenabsatz wurde sie vergnügter. Lange hielt so was bei ihr nicht vor! Au ja! Das mit der Reise mach' ick. Denn sage ich Emil, der Mann mit den Erbbegräbnis nimmt mir mit. Und dann schossen ihre Gedanken wieder woandershin. Und dieser komische Entenschnabel mit den Reihen von Fotos ... Jott, er muß ihr doch wohl mächtig jeliebt haben. Denn sonst hätte er se doch nicht so aufgeputzt oder so nackt ausgezogen und sich gleich sone janze Reihe von ihre Aufnahmen aufgebammelt. Die sieht janz so aus, als ob se mal in Tingeltangel war. Und in Öl hat er ihr ja auch noch malen lassen. Die wird, nehme ich an, mit 'n andern ihn durchgegangen sein ... Und darüber kommt der olle Mann nu bis heute nich drüber weg. Wenn sie ihm einfach tot gegangen wär', denn hätte er janich so'n Feez mit ihr gemacht. Dann hätt' er gleich zehn andere gehabt. Oder wär' verheiratet. Wie hat er doch immer gesagt? Timmonella oder so ähnlich war det sicher. Also des muß ich Emil erzählen. Des wird ihm Laune machen ... Des andere mit meinem süßen kleenen Max, meinem Jungen, des erzähle ich ihm nich. Wozu auch? Een Mensch brauch ja nich alles zu wissen ... Nachher lauert er ihn bloß auf und haut ihn mir zu Appelmus ... den kleenen Süßen!
Indessen aber saß Rosenemil bei Vater Strehmel. Er hatte zwar sich bei Schultzes Großbuchhandlung einen guten Abgang verschafft, und wenn ihn auch kein Publikum vor die Rampe geklatscht hatte, so war er sich doch sehr groß vorgekommen, wie er's den Leutchen da gegeben hatte und wie dieser alte Hund, der Quantmeier, vor ihm gewinselt hatte. Gewiß, er war ein Hund, aber er war doch nur, was Rosenemil erst später erkennen sollte, denn soweit war er noch nicht, doch auch nur ein armer Hund, wie alle und wie er auch.
Er war die Friedrichstraße heruntergebummelt und hatte sich vor jedem Schaufenster da im Spiegel an seiner neuen Vornehmheit geweidet. Er hatte sich die Mädchen angesehen, die an den Ecken, an all den Nebenstraßen standen; denn um diese Zeit war es für sie nicht ohne Gefahr, die Friedrichstraße zu betreten ... Er hatte sich Läden und Schaufenster betrachtet, er hatte sich eine Zeitung gekauft, um zu sehen, ob sie den Bankier Kniehase – wieviel der unterschlagen hatte, damit hätte man sich herrlich zur Ruhe setzen können! – immer noch nicht hätten, daß sie wieder mal drüben in Amerika eine große Weltausstellung eröffnet hätten, daß der »Kluge Hans« entlarvt sei ... Anna Rothe ihre Blumen auf dem Winterfeldtplatz gekauft hätte und daß die Metallarbeiter immer noch streikten ... aber eigentlich wollte er das gar nicht lesen. Er wollte nur sehen, ob es nicht eine Stellung irgendwie für ihn gäbe auf dem Arbeitsmarkt; aber keene so minderwertige wieder! Jetzt könne er was verlangen. Und jetzt könne er auch ganz anders fordern. Kleider machen Leute. Aber, wie das so kam – er saß auch wieder einen Augenblick auf der gleichen Bank wie vorgestern Unter den Linden, aber heute waren alle Leute von vorgestern nicht da, weder die Nutten noch die Strichjungen. Weder Laubfrosch noch Spitzmaus. Kaum Provinzler. Nur die alten Halbirren mit den Packen von Zeitungspapier unter den Pompadours und den Röcken aus abgetragenen gemusterten Türkenschals, mit ihren Strohmorcheln und den violetten Schleifen auf dem Kopf, saßen da wieder und mimmelten an Stücken Weißbrot, die sie mit dem Finger von einer Schrippe brachen. Nichts an den Dingen hatte sich geändert. Nur andere Menschen, die die Zwischenräume zwischen ihnen füllten. Nicht mal die Dame mit der blauen Schwanenboa oder der feine Säugling mit 'n Schwalbenschwanz kam.
»Was unter de Linden als Hujo kommt in'n Topp, det schmeißt man an de Frankfurter Linden den Schlächter an'n Kopp«, summte Rosenemil vor sich hin. Aber, als er dann aufstand, da hatte er doch nicht die Inserate und den Arbeitsmarkt sich angesehen.
Na ja, heute machte er eben so ganz einfach mal blau (nur bis er was fände natürlich). Der Mensch muß sich doch mal ausruhn. So eilt das ja auch nicht gerade. Er wollte sich mal einreden, daß er sich furchtbar glücklich fühlte ...
Gewiß – der Tag war sehr schön, aber er war leer. Er trank hier einen Schnitt und da mal und ging in 'ne Kneipe mit Musik. Aber dadurch wurde der Tag auch nicht gefüllter, er sehnte sich eigentlich, ohne es sich einzugestehen, nach seiner Wachstuchmappe, den »Verstoßenen Gräfinnen« und all den Schmuß, den er so den Frauen vormachte, bis sie, die erst nicht wollten, seiner Suggestion unterlagen und die fünfzig Hefte über'n Hals und eventuell einen Prozeß noch dazu am Hals hatten.
Wie ausgestorben das jetzt hier unten war und wie dunkel trotz der Sonnenhelligkeit draußen, und eine Luft, in der man den Qualm von Jahren noch roch. Allein ein paar fiese Burschen suchten einen, den sie aufgegriffen hatten, mit den Finessen des Kümmelblättchens bekannt zu machen. Nur zum Spaß, wie sie immer betonten. Und in einer anderen Ecke, grade unter dem Fenster, da konnte man Gedrucktes lesen, saß in seiner Talentwindel Spitzmaus, und rechts und links von ihm Kätchen und Gretchen mit Zöpfen und rosa Schleifen im Haar, sehr sauber mit blütenweißen Arbeitsschürzen und sehr nach Seife riechend, die ihre Backen rot und rauh gemacht hatte, hatten die Kopfe über ihren Büchern und Schreibheften und lernten Französisch. »Less parents de noss voisiins sonnt tress risches«, buchstabierten sie. »Tu aas trois plumes.«
»Also, Gretchen, du willst doch mal nach Paris gehn und dort eine große Lebedame werden«, sagte Spitzmaus.
»Ja«, sagte Gretchen, denn obwohl sie hier wohnte, ahnte sie doch mit ihren zwölf Jahren keineswegs, was eine Lebedame ist.
»Und du, Kätchen, doch auch?«
»Mach' ich«, sagte Kätchen, denn da sie elf Jahre war, so sagte sie alles der großen Schwester doppelt nach.
»Da versteht euch kein Comte und kein Marquis, selbst der Oberst Dreyfus würde den Kopf schütteln. Also sag noch mal«, und Spitzmaus spitzte noch mehr seinen Mund als gewöhnlich, »lä paran de noo voasän son trää richs ... tüa troa plüm.«
Aber Gretchen und Kätchen blieben bei ihrer Aussprache. Das andere war ihnen zu schwierig. Dazu waren ihre Mündchen nicht gebaut.
»Also schön«, meinte Spitzmaus friedlich, »man kann es vielleicht auch so aussprechen, meine jungen Damen«, und dann ging er zum Büfett und ließ sich drei Schnäpse geben, die er sich für die Nachhilfestunde in Französisch ausbedungen hatte. Und wie er die getrunken hatte, war er fidel und ganz glücklich, und seine Hände zitterten auch nicht mehr so. Das taten sie nur, solange er nichts getrunken hatte, und er setzte sich zu Rosenemil, dem Frau Strehmel als einem neuen Gast ein besonders leckeres Mahl vorsetzte, in dem Kalbsbraten und Essigpflaumen dominierten. Denn sie sagte sich, daß sie sich mit diesem Mann da gut stellen müsse, weil er sicher demnächst, nach dem gestrigen Debüt hier, eine einflußreiche Persönlichkeit werden würde. Sie hoffte sich dessen Gunst auf dem kleinen Umweg über seinen Magen zu erwerben. Selbst Vater Strehmel setzte sich fünf Minuten zu ihm, ihn hofierend, und ließ von seiner Frau einen besonders alten Nordhäuser und einen Leichenwagen mit Troddeln bringen, den zu spendieren ihm eine Ehre und Hochgenuß war. Aber Lissi kam nicht, und wo sollte er solange hin? Zu Herrn Rutsch traute er sich noch nicht recht alleine wieder herauf. Da müßte sie eben mitkommen. Eigentlich wußte er gar nicht, wohin er da gehörte und ob er da so einfach in Lissis Zimmer auf sie warten könnte. Denn seine Unverfrorenheit war nur Maske, und im Kern war er schüchtern und schämte sich leicht vor Leuten.
Und dann kam der Palisadenkarl die Stufen heruntergeklappert ... heute war er nicht in dem Jackett, mit der Melone und dem roten Schlips, heute hatte er wieder sein gestreiftes Trikot und seine schlimme Augenmütze und die Jacke nur übergehängt. Heute war Arbeitstag, und am Arbeitstag trägt man eben seine Arbeitskleidung ... Er schob, die Hände in den Taschen, durchs Lokal, guckte eine Weile den Spielern in die Karten, spielte für sich ein paar Stöße auf der Berg-und-Tal-Bahn von Billard und saß plötzlich neben Rosenemil.
»Jeht mal weg«, sagte er und schubste Spitzmaus beiseite, »verdufte mal, Vater Strehmel! Mutter Strehmel, es riecht hier so angebrannt. Jeh doch mal nach de Küche. Ich glaube, die Kartoffeln sin angebrannt an den Topp, nachher jibt's wieder eene 'rin von Vätern. Wir haben nämlich sone janz kleene private Unterhaltung von wegen jestern abend noch zu führen, Rosenemil«, sagte der Palisadenkarl und legte Rosenemil den Schraubstock von Hand auf die Schulter.
Eiweh, sagte sich Rosenemil, jetz kommste hier nich heil weg!
Aber Palisadenkarl beugte sich nur zu ihm herüber und sah ihm lange und treuherzig in die Augen. »Na, Emil«, sagte er, »wie befindest du dich? Komisch, bei dir is wohl anders wie bei andere Leute. Gestern war bei dir Wochentag, und heute is Sonntag, weil de heute nämlich sone feine neue Kluft hast un den dicken Willem spielen tust.«
Rosenemil lachte; denn darin war Palisadenkarl eigentümlich: wenn er seinen Witz machte, und sei es auch auf Kosten des anderen, so wünschte er zum mindesten, daß die andern auch darüber lachten, sonst konnte er eklich werden.
»Du, Rosenemil«, fuhr er fort und brachte seinen dicken Kopf ganz nah an das Ohr seines Nebenmannes, »du, Rosenemil«, und jetzt senkte er den Kopf und blickte Rosenemil mit seinen großen Ochsenaugen – aber wie wir wissen, konnten sie manchmal die eines bösen Stieres sein – eine ganze Weile an, und jetzt wurde er ganz leise, »du, Rosenemil, woll'n wir zusammen wat unternehmen?«
Rosenemil sagte gar nichts.
»Also die Sache ist koscher, wat anderes fasse ick janich an, un bis in's letzte vorbereitet.« Palisadenkarl sagte »prima, prima«. »Wir könnten auch wieder Kletterwillem mit in de Firma nehmen ... aber da is was brenzlich, un denn is es ooch keen feiner Mann; mit dem verkehr' ich nich mehr, der nährt sich ja«, und jetzt brachte er wieder den Mund ganz nah an Rosenemils Ohr und hauchte: »Der nährt sich doch von Burschenfang in Bedürfnisanstalten. Mit so'n Menschen will ick auf die Dauer nichts zu tun haben. Den einundfuffzig hat er auch. Wenn der uns verpfeift, denn lacht er sich eens. Er kommt höchstens nach Herzberge, und da spielt er wieder den wilden Mann vier Wochen un schlägt sich den Wanst voll, un wir sitzen zwei Jährkens bei blauen Heinrich un Heringsstampe – Des bekommt mir nich jut! – in Zuchthaus Luckenwalde. Des kriegt der fertig, mein Freund Kletterwillem. Nee, nee, den will ick nich viel so bei de Partie haben. Ick glaube auch, daß er mit Joel Süßappel unter eene Decke steckt, wo wir bisher immer Diebesware verkauft haben. Der zieht eenen doch zu sehr det Fell über die Ohren ... Aber ick hab's ihm det letzte Mal gegeben: ›Joel‹, hab' ich jesagt, ›du bist keen Jentelmenn!‹ Ich glaube, der kriegt ooch Prozente von Joel Süßappel, der Kletterwillem. Und von uns kriegt er auch zwanzig, det is een Doppelverdiener. Ja, det is er! Aber wir brauchen ihn eben, also, verstehste: er kundschaftet die Zugänge aus, und er klettert dann durch een Fahrstuhl- oder Lichtschacht oder durch ein Gitter oder über een Balkon 'rin un macht uns von innen uff ... und die Arbeet dann, die janze Arbeet, die haben wir drei eben. Ick un meine zwei andern Freunde. Die janze Jefahr dann, die nehmen wir auf uns. Findest du nicht auch, Rosenemil, das dafor zwanzig Prozent eine verdammte Menge is? Hab' ick da recht? Wat zuviel is, is zuviel. Wozu braucht der Mann die Masse Jeld bei uns verdienen? – Du kannst doch ooch jut turnen. Der is noch bei zwei Kolonnen. Wat der kann, kannst du doch lange. Und dieses Mal is die janze Sache doch von vornherein abgesprochen. Wir woll'n doch bloß mal sehen, wie du dir zu so wat eignest ... und fünfundzwanzig ... un nich mehr zu Joel Süßappel ... Ick habe zu meine beiden Kollegen gesagt: ›Wir woll'n dir wie'n Bruder behandeln, der Junge hat Mumm‹, hab' ick gesagt. Kommste nächstens mit nach Mariendorf zum Trabrennen, Emil? Ick lass' dir mit mir mitjehen. Ick kenne den eenen Oberschieber da. Ick habe meene Tips, von den eenen Fahrer selbst, der verliert doch mal det Rennen, un der andere macht's, des is allens schon vorher längst ausgemacht zwischen die Brieder; eene Hand wascht de andere.« Die Schelle ging. »Ssst, Baumüller!« Der Schatten eines schweren Mannes fiel in den Keller, der nach Aussage des Vaters Strehmel kein Keller war. »Stieke«, tuschelte Palisadenkarl, »der Schien tippelt.« Rosenemil sah Palisadenkarl verständnislos an. »Polizei kommt, Dussel!«
Im gleichen Augenblick hieb er – wo er sie her hatte, hatte niemand gesehen – auch schon mit einer Karte, die er aus einem Spiel sehr klebriger Karten gezogen hatte und von dem er Rosenemil ein halbes Dutzend zusteckte, auf den Tisch. »Mensch«, schrie er, daß es von der niedrig gewölbten und verrußten Decke widerhallte, »Mensch, du spielst wie 'ne abgebrühte Sau. Also det As noch ... Na 'raus mit de Bilder! Un den Karo König, die janze Flöte von oben bis 'runter.«
Und dann kam die Polenliese und setzte sich neben die beiden Spielenden. »Na, Lieseken?« sagte Rosenemil. Und er wußte nicht, daß das das einzige war, was man nicht fragen durfte. »Wo warste denn, mein Schnukkeken?«
»Uff 'n Markt«, sagte die Polenliese, »und heute abend muß ich noch zum Friseur, weißte, bei uns geradeüber, wo dran steht: Hier werden Damen vier Stock hoch in und außer dem Hause frisiert.« Und dann beugte sie sich 'rüber und küßte ihn auf den Mund. »Kleene Kinder«, sagte sie, »sollen nicht neugierig sein.«
Und somit war Rosenemil – wie es bei Kipling heißt – eingereiht ins große Spiel.
Ja, und dann war Rosenemil eingereiht in das große Spiel ... Es ist nicht richtig, daß die Polenliese ... es ging ihr nebenbei ganz gut, und das hing vielleicht damit zusammen, daß sie eigentlich mit Rosenemil glücklich war, und ein Mensch, der glücklich mit einem andern Menschen ist, bringt viel leichter die Kräfte auf, die ein Körper braucht, um einer Krankheit Herr zu werden, als jemand, der einsam und unglücklich ist; in gesundes Holz kommt kein Wurm, oder er geht drin ein ... Es ist auch falsch anzunehmen, daß ihn also die Polenliese nun ganz erhielt; er verdiente schon etwas, denn der Tip, den ihm Palisadenkarl für das Trabrennen gegeben, hatte zehnfaches Geld gebracht, und Rosenemil hatte plötzlich statt zehn Mark soviel in der Tasche, wie er sonst kaum in einem Monat im letzten Jahr je zusammen gebracht hatte ... Ja, und dann kannte Palisadenkarl in Hoppegarten noch einen Jockei, und der plazierte Wetten gegen sich im Tepperlaskirennen; da bekam er auch dreiunddreißig Prozent von ab, und das machte sogar einhundertfünfundzwanzig. Davon kaufte er sich noch einen blauen Cheviotanzug und einen grauen Kammgarnanzug und drei bunte Oberhemden, wie sie grade aufkamen, und bei Chajim Goldberg einen Silberfuchs, damit sie sich nicht wieder erkältete, seine Lissi, wenn es mal nicht so warm grade war und sie des Nachts ging. Na ja, ein echter Silberfuchs war's ja auch nicht grade. Sowie die Pleureuse auf ihrem Hut ja auch nur eine geleimte Pleureuse war. Es war einer, den man gefärbt hatte und dem man weiße Ziegenhaare mit einer feinen Nadel in den Pelz gezogen hatte. Aber wer sieht das bei Nacht, ob so'n Silberfuchs gefärbt oder echt ist? Und einmal hat Rosenemil sogar acht Tage eine Stelle gehabt, als Aushilfskraft in einem Kontor von einer Kartonagenfabrik in der Grünstraße. Die hatte ihm Palisadenkarl, der den zweiten Buchhalter durch seine Witwe kannte, verschafft. Palisadenkarl hatte ihm nämlich gesagt: »Es kann nie was schaden, wenn de nachweisen kannst, du hast Arbeit gehabt. Alle zwei Monate acht Tage, das genügt vollkommen. Er kann dir ruhig noch vierzehn Tage länger in seine Bücher führen. Hinjehn brauchste ja nich mehr. Der, der die Arbeit erfunden hat, der muß auch nichts zu tun gehabt haben, du jlaubst jarnich, mit wie wenig Arbeet ich zufrieden bin. Markthelfer is sehr jut, is sogar ausgezeichnet. Die Markleute sagen immer for eenen aus. Aber dadazu biste zu fein, Rosenemil. Und was nutzt des? Wenn de des nicht nachweisen kannst, biste doch einen schönen Tages im Grauen Bären oder in Rummelsburg im Arbeitshaus. Denn der Baumüller hat sein Ooge auf dir jeworfen. Aber wat soll er dir denn tun? Du kannst ja doch Beschäftigung nachweisen. Des is wichtig: Da sagt nämlich nachher nich der Herr Jerichtshof, wie lange de da drin zu bleiben hast, des bestimmen die. Nee, nee ... for ›man so tun‹ is des sogar sehr wichtig, Emil!«
Man wird erstaunt sein, warum hier von der Witwe des Palisadenkarl gesprochen wurde, da dieser keineswegs in dem Zustand war, daß von ihm eine Witwe vorhanden sein konnte, und wer ihn so sah, meinte auch nicht, daß er so bald in diesen andern menschlichen Aggregatzustand übergleiten werden würde. Im Gegenteil, jeder war überzeugt, daß er, wenn nicht ein unglücklicher Zufall es wollte, daß er hinter schwedischen Gardinen eines Tages enden würde, als behaglicher Budiker nach Art des Vaters Strehmel und als Bezirksvorsteher sein irdisches Dasein beschließen würde. Denn Palisadenkarl hatte die feste Absicht, wenn er zu seinem Beruf zu alt geworden sein sollte – und er fühlte sich schon bald an der Grenze, die Sache mit Rosenemil hatte ihn mächtig gestaucht, kommt da so'n blutiger Außenseiter und knockt ihn aut wie 'ne tote Fliege! –, sich von dem Zurückgelegten eine kleine Destille hier in der Gegend zu kaufen und Vater Strehmeln und Mutter Strehmeln mit seiner Witwe scharfe Konkurrenz zu machen. Aber dichthalten konnte er: Bisher wußten das eigentlich nur Palisadenkarl und seine Witwe. Aber nun sind wir trotzdem noch nicht im Bilde, warum das seine Witwe war. Denn es klang doch immerhin etwas rätselhaft, wenn ihn die Freunde begrüßten: »Tag, Karle, wie jeht's deiner Witwe?« Und er antwortet: »Danke, sie befindet sich.«
Manche sagen, die Sache war so gewesen, daß die Humpelmartha – denn sie lahmte ein ganz klein wenig, und da sie lahmte, war sie ziemlich schwer und schwerfällig –, als der Schieberfriedrich, mit dem sie, ob verheiratet oder nicht, wird nie ganz geklärt werden, zusammen lebte, plötzlich – auch der Totenschein wußte hierüber nichts Genaues und schrieb »Herzschlag« – verstorben war, daß die Humpelmartha sich Trauerkleider hatte machen lassen, und nun eben, da ihre andere Kluft auch in einem desolaten Zustand sich befand, in dieser Witwentracht mit wehendem Schleier ihrem Wandergewerbe nachzugehen sich entschloß. Und damit, ohne daß sie es eigentlich wollte, die Schöpferin einer ganz neuen Mode wurde. Sie, die früher eigentlich recht wenig Zuspruch gefunden hatte, war plötzlich derart überlaufen, daß sie es selbst kaum noch schaffen konnte, und sie erwog sogar ernstlich, sich noch ein paar Assistentinnen anzustellen. Und sie hätte es auch sicherlich getan, wenn sie nicht grade, nach der für Witwen üblichen Karenzzeit, doch wieder ihr Herz an einen Nachfolger, eben an Palisadenkarl, verschenkt hätte. Von der Stunde an aber hatte sie niemand mehr anders denn als trauernde Witwe mit dem wehenden Schleier des Nachts durch die Straßen – n'ja, humpeln ist zuviel, sagen wir also: wie einen Schaukelstuhl, der in den allerletzten Zügen liegt, »wippen« sehn. Denn wie sie sagte: »Schwarz hebt den Menschen und macht auch schlanker.« Und das also war, ob nun diese Geschichte so oder anders sich zutrug, Palisadenkarls »Witwe«.
Ja, und Chajim Goldberg war das, was Joel Süßapfel nicht war, ein Gentleman; und so gemein die Preise drücken wie jener tat er auch nicht. Vielleicht gar nicht so aus besonderer Herzensgüte, sondern weil er stolz war, seinem Konkurrenten die Kundschaft abspenstig gemacht zu haben, und diesen Stolz sich auch etwas kosten ließ. Platzen sollte Joel Süßapfel! Den Ausschuß, den er jetzt noch hatte, ließ er ihm gern. Das war alles nur miese Baldower. Heutzutage redet sich jeder ein, er is 'n Ganeff. Die Kolonne Palisadenkarl, das waren noch Leute, die was fertigbrachten.
Eigentlich hatte Rosenemil auch zuerst gar keine Lust, des Ding mitzudrehen. Er sah durchaus nicht ein, wozu das für ihn nötig war. Es ging ihm so gut, wie es ihm bisher in seinem Dasein nie gegangen war. Er hatte anständige Anzüge, es fehlte ihm an nichts. Er war satt. Und wenn er hungrig war, aß er wieder, bis er satt wurde. Er hatte soviel Liebe, wie er sich, der immer nur flüchtige und kurze Zufallsbekanntschaften bislang gemacht hatte, nie erträumt hatte. Alle respektierten ihn. Erstens als den Prinzgemahl der Königin dieser Gegend. Denn das mächtige Berlin ist, das weiß der Kenner, in viele Distrikte geteilt, die als kleine Reiche für sich bestehen. Und die Lothringer Straße und ihre Provinzen sind nun mal eins dieser kleinen Königtümer eines nächtlichen Amazonenstaats. Und zweitens war er angesehen als der einzige seit langem, der bislang dem Palisadenkarl nicht nur gestanden hatte, sondern ihn – weiß der Deibel, wie er das fertiggebracht hatte! – sogar umgelegt hatte; trotz seines Schwedendolchs mit der Blutrinne. Und was man ihm besonders hoch anrechnete, das letzte verschaffte ihm mehr allgemeine Achtung als das erste: Er hatte trotzdem keinen Ehrgeiz. War weder stolz noch roh. Versuchte, niemandem die Bräute abspenstig zu machen – Bräute ist keine stilistische Entgleisung, denn manche hatten ja mehrere –, und dachte gar nicht daran, sich hier nun als Thronfolger Palisadenkarls aufzuspielen oder etwa einen Staatsstreich zu planen. Er saß viel bei Strehmel herum und viel an dem alten Klavier hinten, um seinen Pankower und seinen Rixdorfer und seine alten Märsche zu trommeln und seine Walzer von Waldteufel und »Anna, zu dir ist mein liebster Gang«. Und Vater Strehmel setzte ihm immer etwas Besonderes vor und lehnte die Bezahlung mit großer Geste ab. Endlich, sagte er sich, kommt mir so ein versoffener Musikus noch teurer; und so'n Mann zieht mir noch Kunden hin.
Denn seit Rosenemil noch Mitglied in dem Geselligkeitsverein »Harmonie« geworden war – Palisadenkarl hat ihn dort sogar eingeführt und dafür gesorgt, daß er nicht wieder herausballotiert wurde –, also seitdem war ein neuer Zug in die »Harmonie« gekommen. Und sie trug ihren Namen mit Recht. Der Mann hatte nicht allein Rednergabe, sondern wirklich gesellige Talente. Keiner konnte so witzig einen Kontre mit »schöne Damens« und »schnieke, mein Herzchen, alle an die Plätzchen« beim Sommerfest bei Kreideweiß in Tempelhof kommandieren. Und wenn es hieß, für einen sammeln, der eine Ferienreise nach Tegel oder Plötzensee angetreten hatte, so rührende Worte finden über das unverschuldete Elend, in das der Kollege hineingeraten war; und der verdeckte Teller, der herumging, klapperte nicht nur von Talern, sondern auch von Goldstücken. Und wer von diesem neuen Zug am meisten profitierte, war Vater Strehmel. Denn die »Harmonie« tagte oder richtiger nächtigte einmal wöchentlich in jenem mit Girlanden und Lampions geschmückten Hinterzimmer, allwo Rosenemil und Palisadenkarl, was beiden heute in der Seele leid tat, ihren ersten Kampf ausgefochten hatten.
Ja, aber eben aus all diesen Gründen mußte doch Rosenemil sich an dem Einbruch, der so gut vorbereitet war, mit beteiligen. Und zwar fiel ihm, als einem blutigen Anfänger, die Hauptarbeit gleich zu. Denn Palisadenkarl hatte einen Freund (Wo hatte er ihn nicht? Er war ja auch eine treue Seele und im Kern ein lieber Bursche), einen Freund, der sich zufällig oben auf den Boden von Nummer siebenundsechzig in der Kommandantenstraße – und das ist 'ne jute Geschäftsgegend! – Tauben hielt. Es gibt so Leute, die Interesse für Tümmler und Möwen und Kropftauben und Brieftauben und weiße Franzosen haben, nicht wahr?
Und sein Freund aus der Kommandantenstraße siebenundsechzig hatte das eben. Und oben vom Dach konnte man, wenn man ein bißchen über die Dachkante hinauskletterte und wenn man um den zweiten Schornstein herumstieg und dann den Telefonmast links ließ, einfach auf das Dach von Kommandantenstraße Sechsundsechzig herübersteigen. (»For dich is des eine Kleinigkeit!«) Denn war man also nu auf Sechsundsechzig. Und da waren Luken. Und die dritte Luke von links war offen. Warum sollen Bodenluken in Gottes Namen nicht offen sein? Und wenn man sich nun in die Bodenluke, sie war achtundvierzig breit, hineinquetschte und zwei Meter herunterließ, war man auf 'n Boden. Und da war wieder die Tür offen. Und dann ging man zur zweiten Tür 'raus und kam da an einen Fahrstuhlschacht, der war wieder offen. Draußen am Haus jing er lang, und der Fahrstuhl war des Abends grade unter dem zweiten Stock steckengeblieben, und weil man dran gearbeitet, hat man die Tür zu Finder & Wolfsohn, seidene Futterstoffe en gros, grade offengelassen. So was kann vorkommen. Man konnte ihr nicht zumachen.
»Un durch die Tür mußte nu reinjehn. Und dann – die Schlüssel liegen auf dem Pult unterm Fenster in dem zweiten Raum, des andere steht an de Wand, des nich! – von innen de Tür aufschließen. Denn inzwischen sind wir (also wer des is, des brauchste janich zu wissen, det jeht dir een Dreck an!), wir sin eben von vorne herum hereingekommen und stehen draußen. Eventuell mußte auch fünf Minuten warten, Geld wird nich ville da sein. Jedenfalls nehmen wir des Sauerstoffgebläse mit. Richtig, ich hab's vergessen: Du mußt aber erst die Arlarmglocke, hier auf 'n Plan habe ich sie genau eingezeichnet, abstellen. Da haste nischt zu tun, wie'n Stöpsel 'rauszuziehen, und nachher, wenn de weggehst, darfste nich vergessen, ihn wieder 'reinzustecken – verstehste? Schreib dir uff, Emil: Stöpsel 'reinstecken, nich verjessen! Die Arlarmvorrichtung muß janz unberührt aussehn. Des is eine Spezialität von uns.«
»Ja, aber Karle«, sagte Rosenemil, »warum soll ick denn übers Dach krauchen, und ihr jeht vorne herum die Treppe 'ruff?«
Palisadenkarl sah Rosenemil (das war am Nachmittag um drei bei Strehmel im Hinterzimmer, vorne gab Spitzmaus den Strehmelschen Kindern Stunde in Rechtschreibung, weil sie gegen Hochdeutsch und mehr für die phonetische Schreibweise waren; aber die Schule wollte das nicht anerkennen!) mit 'n langen Blick an. »Du bist wohl kopfschwach«, sagte er verächtlich. »Du mußt eben nachher von innen wieder abschließen und legst den Riegel von innen vor und steckst wieder den Stöpsel wieder in die Arlarmanlage. Und denn jehste eben so genau wieder zurück, wie de gekommen bist, verstehste, Emil? Und dann kommt de Karla und de Meta und vielleicht auch die doofe Wanda, die haben sich die Kleider also von ihre Wirtinnen angezogen, und die fahren mit 'n Kinderwagen voll Zeitungen weg zu Chajim Goldberg, verstehste?«
Rosenemil verstand nicht. »Aber was tun wir denn mit Zeitungen, Karle?«
»Du bist wohl aus Dummsdorf?« sagte Karle freundlich, wie man mit einem Kind spricht. »In dem Wagen da sind Zeitungen, wie sie so des Nachts immer de Zeitungsfrauen, die die Zeitungen austeilen tun, 'rumfahren. Aber des sind olle Zeitungen. Und die liegen hochgestellt in dem Wagen, und dann legen wir de janze Sore, also allens, wat mitjeht, da schnell rin und klappen die Zeitungspacken um, und denn sind es eben so olle Kinderwagen mit Zeitungen, wie sie jede Nacht so durch de Straßen fahren. Da kiekt keen Blauer nach. Ja, des is eben eine Spezialität von uns: Wir brechen keene Tür auf, wir arbeiten auch mit keene Werkzeuge, denn kriegen sie's 'raus. Und de Schlösser dürfen nicht berührt sein. Und wir nehmen auch nur die Stücke mit 'n roten Sternchen, des sind de besten, verstehste?«
»Ja, un wenn nu jemand da is?«
»Des laß man unsere Sache sein, der wird dir schon nicht beißen«, sagte der Palisadenkarl. »Meine Erfahrung ist: Montag is am besten. Zwar dauert es Sonnabend länger, bis es gemerkt wird, aber Montag is des Nachts der wenigste Verkehr in de Straßen. Da wollen se sich alle von Sonntag ausschlafen. Montag is für uns der beste Arbeitstag. Ick habe 'rausgefunden, gute seidene Futterstoffe sind besser als richtige Seidenkupons. Erstens werden se immer gebraucht, verstehste? Zweitens haben se keene Muster, die man erkennen kann, wenn se bei Chajim Goldberg oder bei de Liesegang im Keller 'rumliegen, verstehste? Drittens werden se nich nach zwei Monaten unmodern, und viertens, verstehste, Emil, kann man nicht die falschen fassen, und der Mann freut sich, daß die Ladenhüter geklaut sind und läßt sich von de Versicherung das dreifache Geld wiedergeben, das er je von dem Ramscher dafür gekriegt hätte, verstehste? Des sieht immer so aus, als ob wir in de Geschäfte klauen, da brauchste jar keen Mitleid mit de Leute haben, die sind alle versichert gegen Diebstahl. Wir klauen bei de Versicherung, verstehste? Un wenn de lesen kannst: De Versicherung, zum Beispiel die Frankfurter, hat vorjes Jahr, verstehste, noch dreiundzwanzig Prozent gegeben. Des is Wucher, Wucher, Wucher, sage ich dir, Emil, janz strafbarer Wucher. Die Kerle sollten aus'n Zuchthaus überhaupt nicht wieder 'rauskommen. Da is ja Joel Süßappel ein Menschenfreund jejen die Volksbetrüger. Denn, wat meenste, schluckt noch außerdem der Herr General von Direktor« (Palisadenkarl war kein feiner Mann), »das Arschloch! Also verstehste, Emil, wenn dir mein Freund mit de Tauben – bei den kloppste – wieder aus'n Haus jelassen hat, denn machste janz schnell, des de zurück zu Vater Strehmeln kommst, und wenn de da bist, denn sagste: ›Jotte doch, Kinder, wie spät is des eijentlich?‹ Wie sagste? Also des sagste: ›Meine Uhr is stehengeblieben‹, sagste, und denn sagt dir Vater Strehmel oder sonstwer, det is halber zwei oder wieviel des grade is, und denn jehste zu Hause zu deine Polenliese, wenn se nich bei Vater Strehmel is, und legst dir zu sie ins Bette und sagst, wie spät des geworden is; jetzt is es schon auf halb dreie, verstehste, oder so, was des gerade is, Emil. Denn der Mensch muß nämlich immer eenen Alibi haben. Un der Alibi muß beschwören können! Un wir wer'n doch keenen zum Meineid verleiten wollen! Des darf man nich tun, Emil. Des is verboten!«
»Jaja, Karle«, meinte Rosenemil, »aber wenn se nun eenen fassen, und dann im Jeschäft is 'ne Stechuhr gewesen, un man kann an de Stechuhr sehen, daß man vorher ...«
»Aber Mensch«, unterbrach ihn Palisadenkarl, »du hast ja Klumpen im Kopp.« Und sah mit einem Blick tiefen Mitleids zu Rosenemil herüber. »Die Stechuhr wird doch drei Stunden vorgestellt und dabei langsam gestochen, so daß eben der Einbruch nach de Stechuhr drei Stunden später stattfand, und dann wird se kaputt gemacht, de Stechuhr.«
»Jaja«, meint Rosenemil bedenklich, »aber wer macht denn des?«
»Aber sei doch nich so gräßlich neugierig, Rosenemil! Hab' ick det Ding ausgeblindt oder du?«
»Jaja ... aber«, warf Rosenemil noch mal ein, »wenn se euch nu fassen, wenn ihr mit de Stücken aus'm Haus kommt.«
»Dir ham' se wohl mit 'n Sack voll Wäscheklammern gepudert. Mensch, Emil, nu hör uff! Dummheit is ne Jabe Jottes, aber man derf ihr nich mißbrauchen. Also, wenn de es wissen willst, drüben, genau gegenüber, da is een Fenster hell, in ersten Stock, und aus dem Fenster kiekt een oller Mann uff de Straße mit 'ne Pfeife im Mund. Det is 'n Freund von mir. Hat er die Pfeife im Mund, sone mit 'n Porzellankopp, des sieht man besser (des is ausgeprobt), is die Sache koscher, un wir jehn 'raus. Hat er se nich in'n Mund, ist se treife, und wir jehn wieder 'rin un kieken oben durchs Treppenfenster, bis er se sich wieder in de Schnauze steckt. Ick bin een gutmütiger Mensch, Emil, aber dein Mißtrauen beleidigt mir wirklich.«
Ja, und dann kam der Montag, und Rosenemil war schon den ganzen Tag wieder so grün um den Magen. Er sagte sogar, die frische Wurst bei Vater Strehmel ... da wäre was dran gewesen. Un wenn er nich da immer Klavier gespielt hätte, so hätte ihm Frau Strehmel ihr Lokal verboten. Denn das war, wie die meinte, eine Ehrenkränkung.
Es war nebenbei ein feuchter Abend und ein stiller Abend. Die Straßen waren fast leer, und hier draußen in der Kommandantenstraße war es doppelt leer; denn hier wohnten nicht mehr viele Leute, hier waren Geschäfte, hier war es voll von Menschen bis acht oder bis sieben, da im Sommer die Engrosgeschäfte und die Werkstätten schlossen. Im Winter, und wenn Saison war und Überstunden gemacht wurden, war hier manchmal die halbe Nacht durch Betrieb. Aber jetzt war tote Zeit.
Und die andern, die konnten eben zusammen gehen. Und er mußte ganz alleine gehen. Er war nebenbei, Anfänger wie er war, im Irrtum. Die andern gingen auch jeder alleine, und ganz langsam und harmlos vor sich hin pfeifend – Arbeiter, die noch ein bißchen eingekehrt waren und nun sich durch die schwüle und regnerische Montagsnacht nach Hause zu Muttern trollten. Und der Mann mit den Tauben machte unten in Pantoffeln das Haus auf, das heißt, er stand zufällig in der Haustür, und Rosenemil sagte sich wieder, als er leise mit ihm zusammen über den dunklen Hinterhof ging: Dem möchte ich auch nicht im Dunkeln begegnen! Was er doch schon tat. Und er, der in den letzten drei Jahren viele Tausende und Tausende von Treppen gestiegen war, damals, als er noch für Schultze mit de »Verstoßene Gräfinnen« unterm Arm ging, hatte solches Herzklopfen, daß er gar keine Puste bekam, und das grüne Gefühl war stärker, als es den ganzen Tag vorher gewesen war. Und der Taubenzüchter brachte Rosenemil auf den Boden und zeigte auf eine Luke, deren Klappe so weit zurückgestellt war, wie es ging. Und sagte nichts wie: »Nu los, Rosenemil, und Masseltoff.«
Und dann machte Rosenemil einen Klimmzug, zog den Oberkörper und die Beine nach – er hatte seinen alten Anzug angezogen, denn dem schadete es nichts, wenn er schmutzig wurde – und stand auf dem Dachrand.
Eigentlich war es doch ganz schön so hier oben. Der Regen fisselte einen von allen Seiten an. Die Schornsteine und die Firmenschilder verdämmerten. Aus den Schluchten der Straßen kam ein mattes Licht, von all den vielen Hunderten von Laternen da unten weit herum. Die Kirchtürme von der Marienkirche und der Parochialkirche und der Nicolaikirche konnte man deutlich unterscheiden! Ja, sogar der Rathausturm, der viereckige, und die Kuppel vom Schloß schwammen unbestimmt in dieser von unten heraufsteigenden Dämmerung über den weiten Wellentälern von Dächern und Plätzen dazwischen. Bei Nacht sieht so was doch ganz sauber aus, sagte sich Rosenemil. Aber, was nutzte das, jetzt konnte er sich nich noch lange umsehn hier. In zehn Minuten waren die andern an de Türe. Und so des Nachts, wo man nichts Rechtes erkennen kann, so auf 'n Dach un an de nasse und glitschige Kante lang um de Schornsteine 'rumklettern. Un jetzt aufs andere Dach, dann sich 'runterlassen – und man hat kein Talkum, wenn's glatt ist –, des is ganz anders, ganz was andres, als auf dem Schwebebaum in de Turnhalle in de Prenzlauer. Un so in einen Fahrstuhlschacht, der offensteht, sich 'reinhangeln, das is janz was anderes wie ans Klettergerüst die Stangen wechseln. Unten is es nämlich duster, un es is janischt da. Und wenn man da 'reinfällt, in so'n Schacht, is man hin. – Jawoll, det is man. Wat habe ick eijentlich davon, daß ich mir uff den Schwindel mit die Brüder eingelassen habe? Wat hat denn Emil Lehmann mit den janzen Unsinn eijentlich zu tun? Ick will des doch jarnich! Ick bin doch des jarnich! Wat brauch' ich denn hier an die Notleine vom Fahrstuhl, an den Hanfseil, 'runterhangeln wie'n Affe im Zoo an de Gitterstangen? Verstehst du des, Emil Lehmann? Und wenn da wirklich ein blauer oder selbst ein brauner Lappen auf mein Teil kommt – wat hab' ich denn davon? Ick kann ja doch nicht zwei Anzüge übereinanderziehen. Und zwei Schweinskarbonaden auf einmal essen!
Die Tür zu Finder & Wolfsohn steht wirklich offen, und auf dem Pult am Fenster liegt ein Schlüsselbund. Die zackigen zu den Patentschlössern, die werden sicher zu der Tür vorne sein. Und nicht vergessen, Mensch, den Stöpsel aus der elektrischen Sicherung 'rausnehmen! Un Handschuh! Handschuh! Mit einmal jeht sonst die Glocke, und Emil Lehmann sitzt hier in de Rattenfalle. – Also der Strehmeln mit ihre frische Wurst, der lange ich noch eene übern Ladentisch. Des tu' ick! Reene Magenkrämpfe kricht man ja!
Um Himmels willen, da jeht doch einer hinten uff'n Jang – da jeht doch eener –, des is doch janz deutlich, Emil Lehmann. Du hast doch immer so jute Ohren gehabt, Emil. Des is nich nebenan. Des is hier, hier! – Ick türme. Von mir aus können die Jungens machen, was sie wollen. – Aber wenn der nu 'ne Waffe hat? Wenn der nu een Revolver hat und hinter mir her schießt, wie ick da den Fahrstuhl wieder 'ruffrutsche! Ick, ick krauche hier hinten untern Tisch. Jaja – und wenn er nu een Hund hat, der … der … da bin ick doch auch nicht jut aufgehoben untern Tisch. Lieber, lieber klettere ich oben auf das Regal 'rauf. Jott sei Dank – det es nich janz dunkel heute is, da könnte man sich hier zwischen de Bretter den Kopp einstoßen sonst wirklich. Aber die Schritte, die jehn nach hinten. Nach hinten jehn se. Und jetzt – bums! – is de Tür zu. Wie laut des so hallt hier in so'n leeres Jeschäft. Er hätte mir aber doch finden können. Wat hätt' ick denn sagen sollen? Ick kann doch nich sagen: Ick bin hier des Nachts um zweie in de Sommerfrische, oder ick warte hier auf de Straßenbahn. Das glaubt einem doch niemand. Jetzt is es janz still wieder, ick klettere wieder 'runter. Nachher, da warten die draußen und denken etwa, ick hätte Angst, ick hätte mir gefürchtet! Emil Lehmann hätte Bammel gehabt. Furcht kennen wir nich, wir nich!
Und dann schlich er vor, nahm den Stöpsel – nur nicht den Stöpsel vergessen! – aus der elektrischen Alarmglocke und schloß ganz leise von innen auf, schob noch mal die Riegel zurück, und da fiel ihm ein heller Schein aus einer richtigen Blendlaterne ins Gesicht. Genau wie auf den Umschlägen der Nick-Carter-Hefte, die die Seitenwände des Kiosks am Belle-Alliance-Platz immer tapeziert hatten, stießen ihn drei Männer mit schwarzen Masken zur Seite und stürmten sofort den langen Seitengang herunter, dorthin, wo die Tür geklappt hatte.
Emil lehnte sich an ein Regal mit Stoffen, ihm war kotzübel wieder. An einem Mord will ich nicht beteiligt sein, da macht Emil Lehmann nicht mit! Wenn da Blut fließt, denn geh' ich morgen auf die Polizei! Und dann schwankte Rosenemil hinterher.
Aber er war noch keine zehn Schritte geschlichen, als er deutlich die Stimme von Palisadenkarl vernahm, leise, aber sehr gemütlich. »Also, Paule«, sagte Palisadenkarl, »nu mach keen Quatsch, det muß sind. Jib dir schon.«
»Mensch«, sagte die andere Stimme, »aber Karle, du tust een ja weh, du schnürst een ja det janze Blut ab.«
»Ach wat, Paule, nu hab dir nich so. Spaß muß sind bei de Beerdigung. Wirklich, dir muß man zureden wie'n kranken Schimmel – nu gib dir man.«
Langsam schlich sich Rosenemil heran. Also gemordet schien hier nicht zu werden; denn der andere sprach genauso leise wie Palisadenkarle.
»Nu paß mal jut auf, jib mal Achtung«, sagte Palisadenkarl, »jetzt lege ich den Mundknebel hier auf den Karton, so daß er mit 's dicke Ende nach dir zu is. Nu versuch mal, ob du mit 'n Kopp so weit 'rumkommst, daß den mit de Zähne packen kannst. Oogenblick, Oogenblick, des werden wir gleich haben! – Denn leg' ick'n dir noch zehn Zentimeter nach links 'rüber. So – jeht's jetzt? Also – famos! Weeßte nämlich, wenn man sone ganze Nacht über so'n Knebel im Mund haben muß, des is nich anjenehm, man kann ihn ooch dabei hinterschlucken, und dann können de schlimmsten Dinge passieren – nich wahr, Paule? –, des wollen wir lieber nicht. Also, so um sechs rum – da hängt ja die Uhr. (Is des des Privatkontor? Wozu braucht dein Chef da det Chaiselongue?) Also wenn es da so ungefähr sieben is, denn mußte den Kopp 'rüberdrehen un den Knebel mit de Zähne fassen, un so tun, als ob de ihn essen willst. Denn rutscht er von selbst ein Stück 'rein. Aber det mußte auch tun, Paule! Sonst is uns de janze Fahrt vermasselt. Denn wenn de den Knebel nich in de Schnauze hast, denn sollste dir mal eenen Kommissar auf den Alex suchen, der dir den Schmus glaubt. Denn fragen se dir: Warum haben Se denn nich um Hilfe jerufen, mein Lieber, des scheint mir doch sehr verdächtig, mein Guter. So dumm, wie du glaubst, sind die nämlich jarnich. Also det machste, und schlaf wohlriechend, Paule. Mittwoch um eins bei Vater Strehmel. Zwanzig Prozent, wie ick dir gesagt habe. Wort bleibt Wort. Un wir jehen nich mehr zu Joel Süßappel. Jetzt verschärfen wir die Sore (un weeßte nu endlich, wat ›Sore‹ is? – Det Jestohlne) janz woanders. Da springt wenigstens was 'raus bei des Jeschäft! Is'n wat in'n Arnheim drin, Paule? – Alles jestern Mittag auf de Mitteldeutsche! Ach, schade! – Na, wat wird doch noch drinne sein. Meinste, des lohnt sich janich det Nachsehn. Ach, mit dem Schränkeken da bin ick in eene Minute fertig, während die andern zweimal die Treppe 'runter sind, is der uff. Da jibst's jetzt eene janz neue Serie zu, die hab' ick mir erst vorige Woche anjeschafft. Die arbeitet einfach sauber … und das Gebläse kannste dir beinah in de Tasche stecken. So zierlich is des.«
Ja, und kaum drei Minuten später, da schloß Rosenemil wieder hinter den drei Männern mit Masken und Handschuhen ab und kletterte – leise vor sich hin pfeifend, und merkwürdig, jetzt war ihm gar nicht mehr übel, sogar wohl, überaus wohl und vergnügt fühlte er sich – den hänfernen Strick wieder hoch. Auf den Dächern war es hübsch. Irgendwo mußte sogar ein Feuer sein, ein Dachstuhl brennen in der Oranienstraße. Denn da so herüber war ein sehr heller Schein am Himmel.
Wie das jetzt immer gemacht wurde – warum, verstand kein Mensch! Das war sicher ein Verrückter. Lissi meinte, sone jäb's. Und die wären auch sonst verrückt. Und der Mann, der die Prostituierte in der Zimmerstraße ermordet hätte, des wär' sicher der gleiche wie der, der jede Nacht wo een andern Dachstuhl anzündete. Aber jedenfalls von hier oben machte sich das Feuer ganz hübsch.
Und der Taubenzüchter empfing ihn, als er sich die Bodenluke hinabließ.
»Na, Rosenemil, wie war's? Haste Angst, haste jroßen Bammel jehabt? Haben se viel mitgehen lassen können?« Denn das interessierte ihn. Wenn er auch nur drei Prozent bekam, so'n Taler mehr oder weniger ist viel Geld für 'n armen Menschen!
»Ich – Bammel? Warum denn? Nee, bei mir wird Furcht klein geschrieben.« Und dann ging er pfeifend über'n Spittelmarkt durch das leere und nächtliche Berlin, in dem der Regen fisselte und hin und wieder ein Schutzmann oder ein armseliges Kontrollmädchen auf und ab patrouillierte. Beide, weil sie es mußten. Sonst wären auch sie schon längst schlafen gegangen. Ja, und am nächsten Abend saßen Rosenemil und der Palisadenkarl hinten bei Vater Strehmel und lasen die Abendblätter, die … Es begann schon die Sauregurkenzeit, und die Zankereien in der Sezession langweilten schon die Leute, und der Reichstag mit seiner Kanalvorlage: »Und er wird doch gebaut! Und er wird nicht gebaut!« noch viel mehr, und so war der Einbruch bei Finder & Wolfsohn groß aufgezogen; und Rosenemil war stolz, wie ein Schauspieler, der eine gute Presse gehabt hatte. Besonders das Kleine Journal gefiel ihm. Da las es sich ordentlich romantisch. Aber Palisadenkarl war nicht im gleichen Maße zufrieden. Die Darstellungen stimmten nicht überein. In einem Blatt waren es zwei, im anderen vier, im dritten – das war im Kleinen Journal – sogar sechs maskierte Männer, die den Wächter – und die Firma hatte sich wegen früherer Einbrüche schon einen Wächter engagiert! – überwältigt, gefesselt, ja sogar mit einem Knebel am Schreien verhindert hatten, so daß man ihn halb ohnmächtig und dem Ersticken nahe auffand. Da die Türen von innen verschlossen waren und die Sicherungen der Alarmanlage intakt waren, so muß die Bande sich auf eine nicht erklärliche Weise Eingang verschafft haben. Vielleicht sogar vorher sich haben einschließen in den Räumen lassen. (»Zeitungen schreiben immer so ungebildetes Zeug, man verstehts janich«, sagte Palisadenkarl.) Da der Fahrstuhl in Reparatur war, so konnten die Diebe den Fahrstuhl nicht benutzt haben und müssen – auch die am Fensterkreuz gefundenen Spuren sprechen dafür! – die Ware an Stricken aus den Fenstern gelassen haben und vielleicht selbst Strickleitern benutzt haben (»Wie macht denn der letzte die oben los, wenn er unten is?« fragte Palisadenkarl. »Was nich jeht, jeht nich.«) Die Beute, die den Dieben in die Hände fiel, ist sehr bedeutend.
»Also ick hab' schon mal 'n größeren Zwerg gesehen«, sagte Palisadenkarl.
Es ist als ein glücklicher Zufall zu betrachten, daß gerade am Nachmittag vorher die Tageseinnahmen zur Bank gebracht worden sind. Immerhin sind beträchtliche Werte an Devisen der Bande in die Hände gefallen. Palisadenkarl hieb, wie er es manchmal liebte, mit der Faust auf die Tischkante, daß Rosenemil dachte, entweder ist die Tischkante kaputt oder seine Faust. Aber beide waren heil geblieben.
»Also«, schrie er, »wenn ick immer so was höre, kann ick mir scheußlich ärgern! Eene eenzige lausige Dollarnote und zweitausend Portojiesen. Aber olle! Chajim hat gesagt: ›Eiweih, Karle‹, hat er gesagt, ›des war de Spesen nich wert. Damit kannste dir die Stube tapezieren lassen. Vor was anders sind se ungeeignet im Format!‹ Und da quatschen de Brieder was von nennenswerten Werten … un so. Emil, du kennst mir, ungerecht bin ick nicht; aber das is'n janz jemeiner Betrug, wie man se sone Leute auch nich anders zutrauen kann.« Er war schon reichlich betrunken. »Also des sind Schweine. Möchtest du mit solche Leute verkehren, Emil?«
»Der Schaden is«, las Rosenemil weiter, »zum größten Teil durch Versicherung gedeckt.«
»Also wat habe ick dir jesagt? Finder un Wolfsohn, die lachen sich eens. Emil, wat habe ick gesagt – die Jungens sind klug! Die sagen sich man auch, die Versicherung kann blechen. Wat jeht das uns an? Bei uns können se alle Tage einbrechen. Mit noch so'n halbes Dutzend soner Einbrüche können wir uns gesund machen. Das sagen die sich.«
»… die eine Prämie von tausend Mark auf die Ergreifung der Täter und die Wiederbringung der gestohlenen Waren ausgesetzt haben«, las Rosenemil weiter.
»Wat, tausend Mark!« schrie Palisadenkarl. »Des möcht' ich haben, was Finder un Wolfsohn« (Pardon, Palisadenkarl war kein feiner Mann) »die Versicherung wieder beschissen hat! Wir haben gerade neun blaue Lappen gekriegt, neunhundert Emmchen, det is Jeld, und Chajim zahlt gut, besser wie die Liesegang, bei der hätten wir sechse gekriegt, und bei Joel drei, höchstens viere – des sind Betrüger, die Finder un Wolfsohn, des sind Betrüger, da is unsereener een ganz trauriger Anfänger gegen. Hab' ich recht oder nicht, Rosenemil? Nee?«
Rosenemil, der eben hundertachtzig Mark bekommen hatte und auch mit Palisadenkarl keinen Streit wünschte, sagte freundlich, während er das Schnapsglas an den Mund führte: »Recht haste, Karle.«
So also hatte Rosenemil gleichsam die Offiziersepauletten seiner Gilde bekommen, war bei seiner Garde avanciert, weil er sich bewährt hatte. Man kann nicht sagen, daß es sich gerade herumsprach bei den Kollegen, aber man kam immerhin, mit Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit fast neunzigprozentiger Sicherheit zu der Annahme, daß da Rosenemil dabeigewesen sein müßte. Die Kolonne, die den großen Konfektionseinbruch bei Finder & Wolfsohn getätigt hatte, konnte für jemand, der die Marktlage gerade übersah, nur die Kolonne Palisadenkarl eigentlich gewesen sein. Denn die andern Kolonnen gleicher Spezialität, nämlich Textil, Seide und Konfektion, waren zur Zeit dienstfrei, versprengt oder gaben, auf Tournee, Gastvorstellungen. So die einen in Hamburg und die andern in Frankfurt am Main. Andere aber kamen eigentlich nicht in Frage. Denn es war nicht anzunehmen, daß sich schnell zu diesem Behuf eine fliegende Kolonne aus Klingelfahrern, Bodendieben und Geldschrankknackern gebildet haben sollte. Dazu war das Geschäft zu schwierig geworden und hatte sich in den allerletzten Jahren, mit der Umformung Berlins in eine Weltstadt, zu sehr spezialisiert, als daß ein Ding wie das von Außenseitern hätte gedreht werden können. Da man aber wußte, daß der Kletterwillem aus der Kolonne Palisadenkarl wegen Abrechnungsdifferenzen ausgeschieden war, und da Rosenemil und Palisadenkarl sehr gut miteinander standen und eigentlich ein Herz und eine Seele waren, so war man allerseits der Überzeugung, daß eben Rosenemil, dem man ja auch eine große körperliche Gewandtheit und Mut und Tatkraft nachsagte – niemand sah es ihm an, diesem blonden jungen Mann, der immer so adrett war und immer so freundliche dunkle Augen hatte –, daß der eben an die Stelle des Kletterwillem getreten war.
Auch Baumüller war der Ansicht. Nur störte ihn das eine in seiner Kette, daß in den Stunden, wo nachweislich der Einbruch stattgefunden hatte, er die Verdächtigen nicht nur gesehen hatte, ja sogar mit Rosenemil und mit Palisadenkarl – denn Baumüller hatte sich mit Rosenemil sogar angefreundet, der junge Mann, der so nett sprach und eigentlich ruhig und höflich immer war, interessierte ihn (Wie kam der hier unter diese Brüder?) –, er, Baumüller, grade zu dieser Stunde mit ihnen eine Partie Schafskopp gespielt hatte.
Ja, und Rosenemil lernte noch manches in diesen ersten Wochen und Monaten, er lernte durch zwei Finger pfeifen, daß man es drei Nebenstraßen weit hörte, und er lernte Menschen einschätzen und durch die Maske hindurchsehen, bei Frauen und Männern. Denn hier, in seinen Kreisen, kam oft die Gelegenheit, daß jemand die Maske abnahm und plötzlich seelisch nackt dastand, und dann mußte man wissen, was man von ihm oder ihr gewärtig sein konnte. Sonst konnte man verdammt schief anlaufen, verpfiffen werden, einen Messerstich wegkriegen, ehe man sich's versah. Aber die Polenliese hatte recht gehabt: Die Menschen hier waren genauso wie andere auch. Es gab rohe und feine, kluge und blöde unter ihnen. Aber sicher war das eine: sobald man sie kannte und zu nehmen wußte, konnte man sich eher auf sie verlassen wie auf die in Rosenemils alter Welt. Wenn die Mädchen oder ihre Freunde ja sagten, dann meinten sie auch ja. Und wenn sie nein sagten, meinten sie auch nein. Wenn sie etwas versprachen, so hielten sie es, und wenn sie einem etwas erzählten – nicht, wenn sie schmusten oder renommierten oder phantastisch übertrieben (aber das taten sie eigentlich mehr, um sich und die andern über die langweilige und eintönige Leere des hoffnungslosen Daseins wegzutäuschen) –, so war es eben auch so, während Rosenemil … er brachte nebenbei der Polenliese von jedem Rennen, in dem er gewann, von jedem Ding, an dem er beteiligt war, einen Strauß mit Rosen von dem Mann mit dem Bulldoggengesicht und dem Stelzfuß am Alexanderplatz mit – schöne langstielige Rosen, reizende Kinder Floras! –, schon damit nicht vergessen würde zwischen ihnen, daß er den Namen »Rosenemil«, den er jetzt trug und auf den er irgendwie stolz war – die seiner Kollegen waren alle ziemlich, ja manche sogar sehr gewöhnlich! (Seinen anderen kannte hier kaum einer) –, ihr verdankte … Während Rosenemil also bisher immer gefunden hatte, daß das einzige, was man mit Sicherheit sagen konnte bei den andern, bei denen da draußen, das war, daß, wenn sie etwas erzählten oder behaupteten, man genau wußte, es ist nicht so. Wie es aber war, das wußte man deshalb noch lange nicht. Hier aber war man viel verläßlicher. Und vor allem zehnmal bürgerlicher und in allen Gefühlsdingen geradliniger, wenn man an die Maßstäbe sich gewöhnt hatte, mit denen gemessen wurde. Und die Polenliese hatte ganz recht gehabt: Palisadenkarl war wirklich ein sehr anständiger Mensch. Er hätte ebensogut einen Menschen besinnungslos aus der Spree gezogen, ohne daran zu denken, daß er selber dabei versaufen könnte, wenn er es für richtig gehalten hätte, es zu tun. Und er hätte einen Menschen ebenso besinnungslos in die Spree geschmissen, wenn er das für richtig gehalten hätte. Aber er hätte sich nie von dem einen oder dem anderen gedrückt. Und er hätte beides nie ohne Überlegung getan. Und solche Leute hatte er unter seinen Kolporteuren und den Schlafburschen und den Arbeitern und den Schlummermüttern und den Freunden seiner Mutter eigentlich bisher nie kennengelernt. Und irgendwie fühlte er sich doch deshalb sehr zu denen hier hingezogen. Auch wenn er manchmal des Nachts unten bei Vater Strehmel oder in der Lottumstraße, des Nachts, wenn er den Mädchen Winke gab, ob die Luft rein wäre oder ob heute noch mal die Sitte käme, bei kleinen Fahrten in Lebensmittelgeschäfte oder Trikotagenläden – wenn er über Kirchhofsmauern kletterte, um frische Kränze und Rosen zu holen, die gleich weggebracht wurden mit jenen alten, klapprigen und knarrenden Kinderwagen vergangener Generationen – sich manchmal, wie aufwachend, erstaunt fragte: Wozu machst du das eigentlich? Was hast du, Emil Lehmann, eigentlich damit zu schaffen?
Wie aber die Liebe des Mannes zur Frau abnimmt, nimmt die Liebe der Frau zum Mann im gleichen Grad zu. Ja, noch etwas ist seltsam. Wenn Doktor Arthur Levy sich immer über die Indiskretion der Kollegen aufregte: »Wenn mir mal was fehlen sollte, jeh' ich nur zum Kurpfuscher, von der Medizin verstehen sie ebensowenig, und sie quatschen wenigstens nicht 'rum« – und wenn sein drittes Wort »Schweigepflicht« war, über die unbrechbare Verschwiegenheit der Polenliese wäre er entzückt gewesen. Sowie sie mit Rosenemil wieder zusammen war, war alles, aber restlos alles, was sie indes erlebt hatte, wie weggewischt, und man sah ihr kaum an, ob sie Ärger, Aufregungen, Szenen gehabt hatte. Sie war nur noch für ihn da und sprach nie auch nur einen Ton, wo sie gewesen. Rosenemil ahnte kaum, wer zu ihr kam oder mit wem sie sich traf und zu wem sie etwa ging. Nur einmal hatte er sie am Nachmittag mit einem Jungen bei Helmholtz sitzen sehen, und das war der gewesen, sagte sie, mit dem sie die reine Freundschaft hätte und der ihr immer die Bücher gebracht hat. Das waren manchmal sehr ulkige Bücher, in denen auch Rosenemil las, wenn er auf die Polenliese wartete. So genau konnte sie ja doch nie sagen, ob sie wiederkam und wann sie wiederkam. Manchmal welche, aus denen man gar nicht klug wurde, manchmal sehr hübsche Bücher, mit denen man gar nicht aufhören konnte, wie die Sache von dem Mann, von dem keiner wußte, wie er eigentlich hieß und wer er war. Und der sich dann, weil er doch – ein komischer Vorname: Dagni – Dagni Kielland so sehr liebte und sie ihn nicht liebte, weil ihr Bräutigam zur See war, sich dann doch ertränkte. Und Geige spielen konnte er auch. Das war ein nettes Buch. Erst kommt man gar nicht 'rein, un denn kann man gar nicht aufhören mit. Hansen hieß der Mann oder so, kann auch Hamsun gewesen sein. Und der Titel war so was wie Mistereien, oder war's Mysterien? Der paßte doch janich. Bei de »Verstoßene Jräfinnen« da wußte jeder gleich, woran er is. Und der schwarze Junge – Benjamin heißt er nebenbei, das stand vorne im Buch drin – hat, wie der da zuerst in de Gaststube kommt – und richtig, Nagel, wie dieser Justav Nagel, der Naturheilige, heißt er –, hat da an den Rand geschrieben: Das bin ich! Also, wenn eins nicht stimmt, so des. Aber es war doch sehr freundlich von dem Jungen, daß er ihr immer die Bücher brachte. Wenn ick nich wüßte, es is nischt, denn könnte ich auf den Jungen wirklich eifersüchtig sein. Denn Lissi hat sich immer mit seine Bücher, als ob se aus Gold wären. Aber ich finde eifersüchtig immer so dumm; unsereiner ist auch nicht seit gestern auf de Welt, und Lissi kennt den Jungen doch schon seit über neun Monate, sagt se, und mir doch nich … Erst doch seit nich neun Wochen kennt se mir. Und mir hat sie jedenfalls auf ganz andere Weise gern, wie se den Jungen etwa gern hat. Dadafor, daß des nischt is, leg' ich meine Hand ins Feuer. Des hätte mir Lissi auch gesagt, so is se nich, des se mir betrügt.
Wirklich, sie war nich so. Und er war ja auch nicht so, daß er sie betrog. Und das wäre ein leichtes gewesen. Denn erstens war er so hier, als Freund und als Sieger über den Palisadenkarl, plötzlich ein Mann geworden, für den die schwärmten, ebenso wie die Backfische für den Tenor oder den Leutnant. Denn sie waren hier nicht anders wie andere Frauen auch und trotzallem sentimental. Und selbst wenn sie nicht für ihn schwärmten, so hätten sie ihn doch gerne – und darin waren sie auch nicht anders als andere Frauen – ihrer Freundin, der Polenliese, ausgespannt. Und es hätte ihnen durchaus genügt, wenn das auch nur eine flüchtige Stunde gewesen wäre. Wie ja zudem, nach einem seltsamen Gesetz, eine Frau viel leichter einem Mann ihre Gunst zuwendet, wenn sie weiß, daß er in den Händen einer anderen Frau ist, als wenn ihr davon nichts bekannt ist. Aber von alledem konnte bei Rosenemil nicht die Rede sein. Und wenn manchmal durch seine Nächte und durch seine Tagträume so etwas wie die Erinnerung an die Dame da mit den violetten Sonnenschirm und der Reiherkolonie, der Schwedenblonden, zog, die da zu den Mahagonibraunen mit dem Panama in die offene Equipage mit einem Tritt sich hineingeschwungen hatte, so war das auch etwas, dem zu befehlen außerhalb der Machtsphäre des Willens liegt. Und genauso in der Wesenheit der männlichen Erotik bedingt ist wie die Leutnantsschwärmerei im Wesen des Backfischs und die Bemühungen einer Frau, der anderen den Mann auszuspannen, selbst dann, wenn ihr eigentlich an diesem Mann nichts liegt.
Ja, und warum sollte Rosenemil nicht auch jenem anderen Gesetz unterliegen, das da besagt, daß unsere Gefühle sich genau wie die Schallwellen über den Raum mit Wellen und Tälern fortpflanzen und daß sie den Hebungen und Senkungen unterworfen sind wie alles Bestehende überhaupt. Nur, daß sie meist bei Mann und Frau nicht nebeneinanderher laufen und daß, da es die Regel ist, daß die Liebe der Frau später erwacht als die des Mannes, eben die Liebe der Frau zum Mann im gleichen Maß zunimmt, wie die Liebe eben jenes Mannes zur Frau abnimmt! Aber von alldem wußte Rosenemil nichts. Und wenn er es gewußt oder geahnt hätte, so hätte er es mit aller Macht abgestritten. Und wenn zum Beispiel sein Freund, Palisadenkarl, ihm gesagt hätte, daß er der Polenliese nicht mehr so aus ganzem Herzen, intima de corde, zugetan wäre wie in den ersten Wochen, während ihre Neigung zu ihm sich fast krankhaft gesteigert hatte, so wäre es bestimmt, sosehr Rosenemil das vermied – denn wer einmal Sieger war, setzt das nicht gern ein zweites Mal aufs Spiel –, zwischen ihnen zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen. Und doch hatte Palisadenkarl recht: Er mag ein ganz netter Mensch sein und auch kein unanständiger Mensch und ein brauchbarer Mann, und das sogar sehr … aber schwach … schwach! Die Polenliese tut mir leid!
Doch wie dem so ist: Weder ahnte er etwas davon, daß dem so war, noch die Polenliese, die sich durch jede streichelnde Handbewegung von ihm glücklich beschenkt fühlte. Einfach vielleicht, weil sie sie brauchte und weil ihr ihr Dasein sonst unerträglich gewesen wäre. Weil sie den einzigen, der ihr ihn hätte ersetzen können, ja nie mehr, wenigstens jetzt nicht, in ihren Armen halten konnte. Der Junge trug es nebenbei heldenhaft. So heldenhaft, daß die Polenliese immer wieder drauf und dran war, ihn dafür belohnen zu wollen. Aber immer wieder dann doch ihrem Versprechen, ihrem Wort, und nicht ihren Gefühlen folgte.
Doktor Levy war aber mit ihr sehr zufrieden. Das heißt, er war mit sich unzufrieden. Jedesmal, wenn die Polenliese kam, sich mal wieder abhören lassen und sich ihre Flasche Medizin zu holen, die jetzt, da Rosenemil auch da mit von nahm, noch schneller als vorher alle wurde, ging es ihr besser. Das letzte Mal hatte er schon fast gar nichts mehr gehört, wenigstens an den meisten Stellen. Er fühlte sich desavouiert und in seiner ärztlichen Ehre bedroht und sagte sich, während er seinen Entenschnabel in klappernde Bewegung setzte: »Ich muß sie sicher falsch behandeln, denn bei richtiger Behandlung müßte sie doch schon viel, viel leidender sein, als sie es ist, und durchaus nicht viel besser als vor einem Vierteljahr, da sie zu mir kam. Ich muß da unbedingt einen Kunstfehler gemacht haben. Na ja … es ist ein schöner, warmer und trockener Sommer geworden aus einem schönen, milden und lauen Frühling, aber solche Äußerlichkeiten dürften eigentlich auf den Verlauf der Krankheit keinen Einfluß haben.« Doktor Arthur Levy übersah schwer, daß die Polenliese ein Medikament brauchte, das er ihr gar nicht verschrieben hatte und daß er durchaus keinen Kunstfehler gemacht hatte und daß es wirklich nicht an seiner falschen Behandlung lag, wenn es hier über alles Erwarten gut ging, daß dafür Imponderabilien mitwirkten, die der Arzt nur selten mit einkalkuliert in seine Erwägungen. Nebenbei erwähnte er nie mehr das Versprechen, das Gespräch, was damals sich zwischen ihnen ergeben hatte. Wenn die Polenliese ihn gefragt hätte: »Wollen Sie mich nicht meiner Zusage entbinden, Doktorchen?«, so hätte er sicher erstaunt getan und gefragt: »Welcher?« und dann »Ach so« gemurmelt und »Wer viel fragt, kriegt viel Antwort«. Im Vertrauen, eigentlich war der Entenschnabel fest davon überzeugt, daß das Versprechen weder von Benjamin, mein Sohn, noch von der Polenliese eingehalten würde. Sicher hätte der kleine Benjamin ihm gesagt, in freier Abwandlung, wenn er ihn darob zur Rede gestellt hätte: »Du stehst gleich jenen in der Sünder Reihe, verzeih mir drum, damit ich dir verzeihe.« Aber die Polenliese fragte ihn eben nicht. Und das war ein Fehler. Und ein verhängnisvoller Irrtum. Und Doktor Levy fragte nicht einmal den kleinen Benjamin, und das war noch schlimmer als ein Fehler und ein verhängnisvoller Irrtum, das war die Katastrophe.
Im Juli regnet es manchmal gern, weil da die Kinder Ferien in Berlin haben. Und die erste Hälfte August auch noch. Besonders die letzten Ferientage nimmt der Regen meist all seine Kräfte zusammen, ein paarmal vierundzwanzig Stunden lang. Vielleicht aus Gutmütigkeit, um den Kindern den Abschied von den Ferien nicht schwer zu machen. Um die Erwachsenen kümmert er sich nicht, für die gibt es ja doch keine Ferien.
Und an einem solchen Abend wollte Rosenemil eben von Vater Strehmel – das heißt, es war so gegen halb zwölf schon, das ist für Leute, die meist die Nacht zum Tage machen, noch Abend, für andere, die tagsüber arbeiten müssen und morgens um sechs wieder 'raus, auf den Bau, in die Fabrik, in die Arbeitsstuben, eben schon Nacht –, wollte Rosenemil grade von Vater Strehmel die Kellertreppe heraufsteigen, um von de Christinenstraße nach de Lottumstraße herüberzugehen, denn Lissi kam heute nicht, wußte nicht, wann sie frei war; saß – das wußte Rosenemil aber nicht! – gerade bei Kempinski mit einem Herrn im Smoking, in dessen Glatze sich die Glühbirnen spiegelten. Gerade so, wie sich das Rosenemil selbst einst erträumt hatte, mit dem Fräulein Lissi da zu sitzen.
Und wie er eben aus der Tür war, begann es mit Gießkannen zu schütten unter Blitzen, die den Himmel aufhellten und wieder verfinsterten. Solch ein Regen war das, daß im Augenblick die Straße schwimmt und es am nächsten Tag in der Zeitung steht; vor allem im Norden hauste das Unwetter schwer: Die Feuerwehr mußte dreiundzwanzigmal alarmiert werden, während hingegen im Westen nur geringe Regenfälle niedergingen. Na, de reichen Leute haben es immer besser! Eben also wollte er 'rauf und stand einen Augenblick auf den Stufen und sah nach rechts und links in den Regen, ob er nicht aufhören wollte, übers Pflaster zu peitschen und in Gießkannen zu schütten, aber statt dessen begann es jetzt mit Mollen zu gießen. Die Blitze, die erst nur wie Blinkfeuer gewesen waren, die in bestimmten Pausen wiederkehrten, waren jetzt wie ein Feuerwerk bei Sternecker in Weißensee, in dem zugleich die Schwärmer und die Raketen und die Sonnen abgebrannt werden, und setzten die ganze Straße unter ein grünliches Licht, durch das die Regengüsse peitschten wie die Wasserschleier einer Leuchtfontäne und vom Pflaster, dem Damm und dem Rinnstein wieder hochspritzten. Wirklich, an Gehen war jetzt nicht zu denken! – Und wie Rosenemil eben den Kopf zurückzog und sich umwenden wollte, da lösten sich von drüben aus dem einen Hauseingang zwei Figuren ab. Rannten in spitzen Schuhen, auf den Fußspitzen storchend, mit langen Schritten über den Damm, auf den Leuchtturm von Vater Strehmel zu. Sie hatten – denn wenn man einmal den Beruf von Rosenemil hat, interessiert man sich für alles, was auf der Straße vorgeht, und will jeden, der auf der Straße und vor allem des Nachts auf der Straße ist, schnell und richtig einschätzen –, sie hatten also … das fiel Rosenemil trotz der dürftigen, nur durch Blitze verbesserten Beleuchtung, die aber wieder durch die Regenschleier noch einmal verschleiert wurde, auf … hatten kurze Paletotchen an, die zwischen quittegelb und lehmfarben waren, und die Kragen hatten sie hochgeklappt. Jeder hatte einen Spazierstock mit einer langen Elfenbeinzwinge, die ihm, ein gehißter Mast, aus der breiten, aufgesetzten rechten Manteltasche wuchs, in der er ihn umkrallt hielt. Zwar gehörte es zu ihnen, daß sie Glacéhandschuhe an den Fingern hatten, auch wenn man die Finger nicht sah. Sie hatten graue Melonen auf, richtige Judenhelme; die Beinkleider, die unter den Mänteln hervorsahen, hatten sehr breite schwarzweiße Streifen und messerscharfe Bügelfalten. Beide aber waren sie von einem ausgelaugten Blond. Das sah man grade im Licht eines besonders vergnüglichen Blitzes. (Donnern tat es nebenbei kaum, das richtige Gewitter war also noch ziemlich weit. Bisher tobte sich nur der Regen aus bei bengalischer Beleuchtung, der immer mehr zunahm, je näher das Grollen von Osten kam, von wo es herüberzog.) Sie waren beide so um die Dreißig, weißblond also und mit den hochgewichsten Schnurrbärten »es ist erreicht«. Und hatten, da sie wohl unter dem Koks Poposcheitel hatten, die Haare, rechts und links von den Ohren weg, wie zwei Paar Fledermausflügel gebürstet.
Was wollten die hier? Und wie hatten diese beiden sich gerade hierher verirrt? Gerade bei Gewitter und Sturm in die Christinenstraße. Und was suchten sie dazu noch … aber da gingen sie schon an ihm auf den Stufen vorbei, und er konnte sie noch mal bei besserem Licht sehen und erkennen … noch dazu grade bei Vater Strehmel? Das muß doch irgendwas bedeuten! sagte sich Rosenemil. – Wirklich: es bedeutete gar nichts. Turfkarl und sein Freund und Kollege, der Jardefranz (das heißt, er behauptete, ein Leutnant bei der Garde in Potsdam gewesen zu sein und ein ganz feines Aas dazu. Was aber beides Lügen waren. Er hatte nur die Anlage zum Hochstapler. Auch wenn er sich in dieser Branche nicht direkt noch betätigte!), waren auf einer Bierreise, die sie über den »Strammen Hund« in die »Blaue Zwiebel«, in die »Schmale Weste« und zum Schwof – denn sie mischten sich ab und zu doch mal ganz gern wieder unter die Hefe des Volks, aus der sie aufgestiegen waren – in den »Dollen Hengst« geführt hatte, in der Lothringer Straße überrascht worden von dem Guß. Da sie viel zu vornehm waren, um etwa Straßenbahn zu fahren herüber zur Friedrichstadt, und da weiter die wenigen Droschken schnell besetzt waren und für sie keine blieb (»Kommt eenmal eene leere Droschke, sitzt sicher eener drin«), mußten sie sich erst mal hier wo in ein Haustor flüchten, um in dem Augenblick, da sie glaubten, daß es etwas nachließ, da 'rüber in die Kaschemme zu rennen, wo es gewiß – sie dachten an Anfänge, heute gingen sie auch manchmal zu Borchardt oder zu Mitscher, Kempinski war ihnen zu gewöhnlich, oder zu Gerold in de Passagebar und in die Mohrensäle oder tranken bei Stallmann ihr Pils –, wo es jewiß janz schnieke wäre und sie so lange bleiben könnten (das wäre schon auszuhalten!), bis der Regen nachließ. Vielleicht könnte man auch von da, wenn der Bulettenaujust sich bis zu einem Telefon aufgeschwungen hätte, nach 'ner Autodroschke rufen, denn sie mußten noch in die Mohrensäle heute, wo sie ihre Damen so gegen eins erwarteten.
Dem einen von den beiden mußte Rosenemil doch schon einmal begegnet sein! Aber wo? Aber wie? Aber wann?
Und Rosenemil kehrte deshalb noch mal um und setzte sich unten still in die Ecke und beobachtete die beiden, die da drüben so ganz still, genau wie er – und leise miteinander sprechend, obwohl sie doch ziemlich betrunken waren! –, in der andern Ecke einen ruhigen Tisch sich gesucht hatten, solange bis es aufhören würde mit regnen. Vater Strehmel hatte geknurrt: »Telefon … jibt's hier nich. Da müssen Se nach de Friedrichstraße jehn.« Er war ein besserer Kenner der verschiedenen Spezies des Homo, der zu Unrecht den Beinamen sapiens führt, und hatte – ganz im Gegensatz zu Rosenemil, der die Empfindung hatte, Reichtum und Vornehmheit besucht vereint die Hütte der Armut – auf den ersten Blick gesehen, was des für Brüder waren. Sone Brüder liebte er hier nich! Das gab unnütz Krach. Er hatte ihnen das Bier vor die Nase geschoben, daß es überschwappte, ohne ein Wort zu sagen dazu. Am liebsten hätte er sich schon die Ärmel hochgekrempelt und jeden ans Genick genommen, wie ein Paar Stallhasen, den eenen in de rechte Hand und den andern in de linke, und sie wieder die Treppe 'raufbefördert, die sie eben heruntergekommen waren. Lange Zeit hatte es bei ihm nichts gesetzt. Das roch nach Keilerei, obwohl keiner sprach und an allen Tischen getuschelt wurde; auch die Mädchen, die sonst gerne mal auflachten oder kreischten, waren ganz still geworden. Das Lokal war ziemlich voll, weil alle sich von der Straße weggeflüchtet hatten. Bei solchem Wetter beißen die Barsche nicht an.
Palisadenkarl hatte sich – sie schienen doch wieder Freundschaft miteinander zu halten, zum mindesten war in der letzten Zeit nichts zu sehen, daß sie Feindschaft hatten oder auch nur Spannung zwischen ihnen bestand – zu Kletterwillem gerade gesetzt und würfelte still nach »Lehmanns Sprung vom Turm« mit ihm einen Schnaps aus. Es war so ruhig im Raum, daß man sogar das Klappern der Würfel im Lederbecher hörte, wieviel mehr erst das Scheppern der Würfel, wenn sie über den Holztisch kullerten.
Es bereitete sich etwas vor. Das lag in der Luft. Genau so, wie die Luft vor dem Gewitter immer ganz unbewegt und lautlos ist, so spürte man das hier. Warum eigentlich? Gewiß, die beiden da mit den beringten Fingern, mit den schwarzen Jacketts und den gestreiften Beinkleidern, mit den angeleimten, durchgezogenen, gelackten Scheiteln und den hochgewirbelten Schnurrbärten, denen die Bartbinde noch unsichtbar auflag, mit den stillen, wäßrigen Augen und den kleinen graden Nasen – wirklich, sie sahen sich eigentlich ähnlich, sie hatten auch beide die gleichen goldenen Kettenarmbänder, die ihnen aus der Manschette über das Handgelenk fielen –, die beiden waren zwar etwas betrunken, aber sie benahmen sich nicht laut, noch belästigten sie irgendeinen Menschen. Sie sahen nicht mal viel nach rechts oder links. Sie saßen einfach da – und doch, das empfand auch Rosenemil, kamen Wellen von Haß und Feindschaft von allen Tischen und Gruppen her zu ihnen herübergeschwappt. Es waren doch oft hier noch andere hergekommen: Studenten auf Bierreisen, sogar würdige Spießer und selbst höhere Beamte mit ihren Frauen. Manchmal spät nach Mitternacht noch. Der Ruf der frischen Würstchen und Brötchen und knusprigen Salzstangen, die bei Mutter Strehmel auf der Theke standen, reichte weithin. Sie hatten sogar mit den Mädchen und ihren Freunden an einem Tisch gesessen und geplaudert. Es war nie etwas passiert hier, dafür hätte schon Vater Strehmel gesorgt, und keiner dachte daran, die Mutter Strehmel um ihre Kundschaft zu bringen. Aber jetzt und hier war das anders, das war keine Feindschaft, das war Bruderhaß. Der geht tiefer. Die da kamen aus einem andern Revier. Denen da ging's gut. Die waren feine Pinkels, die schweren Jungens, diese Toppluden! Das war allererste Friedrichstadt. Und sie waren eben doch nur Vorstadt, Troß, Nachtrab. Wenn in eine Herde ein Bulle von der anderen Herde kommt – Pferde können ruhig zwischen ihnen weiden! –, dann gibt's Kampf, dann fallen sie über ihn her, dann wenden sich alle gegen einen, dann muß er weggeboxt werden, oder wenn er sich behauptet, nehmen sie ihn auf oder ordnen sich ihm sogar unter. Das ist überall da ein Gesetz, wo es Gruppen gibt. Das ist bei allen anderen Tieren so. Wieviel mehr erst bei einem Wesen mit soviel ausgesprochen tierischen Zügen wie der Mensch.
Rosenemil hörte nach draußen; jetzt schien es ihm, als ob der Regen nachließe, und er saß unter einem Fenster, so daß er, wenn er hochsah, die nasse Kante des Pflasters sah, von der es nicht mehr hochspritzte, und drüben die Häuserreihen, die die Blitze immer seltener für Sekunden mit Phosphor bestrichen, so daß jede Gardine und jeder Fensterrahmen überhell aus der Dunkelheit sprang und in der nächsten Sekunde wieder in die von neuem geschlossene Finsternis zurücktauchte. Einen da von den beiden hat er doch schon mal gesehen! Aber wie, aber wann, aber wo? Und er stand auf, um zu gehen, winkte noch so Vater Strehmel nach dem Schanktisch 'rüber. (Aber wie, aber wann, aber wo?)
Auch Palisadenkarl war zugleich aufgestanden und schlenderte so langsam – er hatte wieder, wie immer in der Woche, seine Arbeitstracht an, die übergehängte Jacke über dem gestreiften Trikot und die Schirmmütze dazu –, langsam zwischen den Tischen hindurch. Der Kletterwilhelm, der sonst fast immer so still und melancholisch auf seinem Platz hockte, seinem Stammplatz da in der Ecke, wo es nach dem Billardraum herüberging – denn da die Radaupaula immer noch in Barnim war und dort sogar wegen ungebührlichen Benehmens (sie sah durchaus nicht ein, warum sie sich gebührlich benehmen sollte) länger bleiben mußte, als es ihr eigentlich von Beginn an verordnet war, und von dort ihm klägliche Kassiber schickte, war er in der letzten Zeit noch melancholischer, als er es schon vorher gewesen war –, selbst Kletterwillem hatte sich erhoben und ging sehr gleichgültig hinter Palisadenkarl her zwischen den Tischen durch.
Rosenemil wollte noch Palisadenkarl zuwinken und rufen: also morgen um halb elf, Karle … da hatten sie nämlich eine Verabredung, bei einer Laubenkolonie, wo es Hühner gab – die Witwe hatte eine besondere Art, Hühnerfrikassee zu machen, mit gefüllten Krebsnasen –, als Palisadenkarl, ohne ein Wort vorher zu sagen, ganz still an den Tisch der beiden stillen Leute da mit den goldenen Armbändern herantrat und mit einer Handbewegung die beiden Bierseidel vom Tisch fegte, daß sie weithin durch das Lokal flogen und alles unter Nässe und Schaum setzten, so daß die Mädchen, die da in der Nähe saßen, aufschrien, weil ihnen die dünnen Sommerblusen bespritzt und sie darunter naß geworden waren.
Kletterwillem stand hinter Palisadenkarl und guckte um dessen breite Schultern herum. Er wollte erst aufpassen, wen sich Palisadenkarl vornahm, damit er dann den anderen packen oder zum mindesten so beschäftigen könnte, daß er ihm nicht etwa, denn so was haben sone Jungs immer bei sich, mit 'n Schlagring über'n Deez hauen kann oder mit 'n Daumen, des jeht auch von de Seite her, die Pape eindrücken kann. Da jibt's nämlich 'n janz besonderen Pfiff, den kannte er. Die beiden, die im Augenblick sahen, was gespielt wurde, waren auch ziemlich fix, vielleicht hatten sie so was erwartet, auch fix aufgesprungen und hatten im gleichen Moment die Stühle umgedreht, sie mit einer Hand erhoben, so daß sie wie Schilde wirken konnten, und suchten in den Hosentaschen, um da etwas herauszufischen, so schnell, wie es geht, denn es wäre ja ein Kunstfehler von Turfkarl und Jardefranz jewesen, bei sone kleine Bierreise, von der man nie vorher ahnte, wo und wie sie enden könnte, Schlagring oder Totschläger – die Gummiindustrie war damals noch nicht soweit, sie waren primitiv aus Korb geflochten und hatten nur Bleikugeln drin – zu vergessen. Aber das hätte ihnen wohl hier verdammt wenig genützt, und sie wären in einem Augenblick, vor allem, da ja auch noch Vater Strehmel hinter seinem Schanktisch hervorgekommen war und der innere Missionar plötzlich neben seinen Freund Kletterwillem getreten war und sich noch ein paar Amateure aus dem Stemmklub »Doppelzentner« gleichfalls erhoben hatten, in einer Sekunde so zugedeckt gewesen, daß Doktor Levy noch einen Assistenten hätte hinzuziehen müssen.
Na ja, die Sache ging nicht so ganz lautlos – eigentlich war das Zufall, aber es war eine kleine Pause entstanden, die beiden hatten sich gegen die Mauer zurückgedrückt, sie lehnten sich da an, und nun waren sie wenigstens nicht mehr zu umringen, nicht vom Rücken mehr zu fassen, und dann standen sie dicht zusammen und waren dadurch immerhin etwas widerstandsfähiger, als sie es gewesen wären, wenn jeder frei für sich gestanden hätte. Aber auch das hätte ihnen wohl kaum genützt, nur die Katastrophe verzögert. Immerhin war es nicht mehr so lautlos wie vorher, der Haß und die Feindschaft, die bislang stumm geblieben waren, entspannten sich zwar nicht, aber entluden sich in Worten, wie draußen die mit verschiedenen Elektrizitäten geladenen Wolken in Blitzen.
»Mutter Strehmeln!« rief Palisadenkarl, sich halb umdrehend. »Reich mir mal das Beil 'rüber, ick will den Jungs da noch enen zweiten Poposcheitel über ihre dämlichen Schädel ziehen.«
Selbst die Billardspieler mit den Queues in der Hand waren aus dem Nebenraum nun gekommen, um eventuell mit den umgekehrten Queues, und damit kann man verdammt zuhau'n, mit dabeizusein.
»Du hast wohl lange keene kleene Abreibung gekriegt, du Topplude«, rief der Jardefranz zurück, aber man merkte, er glaubte selbst nicht sehr an seine Drohung. »Wat, du willst mir mit 'n Schlüssel hauen, du mir?« meinte der Turfkarl, aber immerhin ziemlich bescheiden, und die helle Angst bibberte aus seiner Stimme. »Meinste, vor so einem Gewaltsluden haben wir Angst? Wir nicht, verstehste!« Und er hatte verdammt tückische Augen. Sie wurden klein wie Schweinsaugen unter den weißen Brauen und ganz grün zugleich.
»Fresse, Franz«, brüllte Palisadenkarl, »so dämlich wie du bin ick doch lange, Jungeken, dir stoß ick aus'n Anzug! Du Aas, du willst mir auf 'n Arm nehmen? Dir tret ick det Mittag aus'n Bauch! Mir hauen, wenn ick dabei bin, willste. Du bist wohl brustschwach in'n Kopp jeworden«, und er ging einen kleinen Schritt näher, »det is wohl bei euch in eure Zylinderdestille so üblich?« Was, das verschwieg Palisadenkarl. »Du laß dir man mit deine polizeiwidrige Visage nich uff 'n Alex sehen.«
Kletterwillem wollte auch was sagen. »Ick hau' dir eene in de Fresse, du Affenkopp«, meinte er bedächtig, wie es seine Art war.
»Mutter Strehmel, bring man immer schon den Besen 'rein, damit wir die paar Pfündchen Elend nachher hier uffkehren können.«
Solange hatte sich das Rosenemil mit angesehen. Er begriff nicht recht, welche Farbe Atout war. Und vielleicht, weil er der einzige hier, außer den beiden an der Mauer, war, der einen Kragen umhatte – die andern hatten Trikots an, gestreifte und gewürfelte und glatte, oder einen Schal um den Hals oder nur ein Chemisettchen heute um, in denen ein spitzes weißes Kragenknöpfchen die Stelle verriet, an der man den Kragen befestigen konnte –, da er einen Kragen umhatte, so fühlte er sich irgendwie mit denen da solidarisch. Außerdem hatte er sicher den einen – den, der da eben gerufen hatte: »Du willst mir mit 'n Schlüssel hauen, du mir?« – schon mal gesehen. Aber wie, aber wo, aber wann? Er war mit den Leuten hereingekommen. Die Leute hatten nichts getan, niemand hier gestört. Sich sogar sehr anständig eigentlich benommen, keinem seine Braut belästigt, und mit einmal wollten sie alle über sie her. Warum eigentlich? Schön, wenn es einer gewesen wäre, so wäre das eine ehrliche Sache gewesen. Aber so zu zehn; und Vater Strehmel war auch gegen sie, das sah er – aber so zu zehn über zwei herfallen, die gar nichts wollen, als in Ruhe ein Glas Bier trinken und den Regen hier abwarten, das ist doch eine aufgelegte Gemeinheit. Er hatte es zwar inzwischen gelernt, Rosenemil, sich in Dinge nicht einzumischen, die einen nichts angehen. Aber als Mensch, der noch etwas auf sich hält, kann man doch solche Gemeinheiten nicht zulassen. Das klingt nun sehr schön und sehr edel. Aber in Wahrheit und von sich aus waren die andern natürlich weit mehr im Recht als Rosenemil, der als Neuling die Dinge noch nicht so ganz übersah und die alten Feindschaften und das Hin und Her unter den Kreisen und Vereinen nicht kannte. Und der nicht ahnte, daß es zum Beispiel Palisadenkarl nicht einen Deut besser gegangen wäre, eher schlechter, wenn er sich zufällig in den »Dorotheenkeller« oder in den »Halbseidenen Unterrock« – aber das war nur ein volkstümlicher Name! – in die Taubenstraße verirrt hätte, wo Jardefranz oder Turfkarl und seine Kollegen von der »Abundantia« sich gegenseitig mit gezinkten Karten zu betrügen pflegten. Und mit silbernen Zigarettendosen, die sie beim Geben zufällig neben sich gelegt hatten, so daß sich darin jede Karte, die sie austeilten, spiegelte.
Und so sprang Rosenemil kurz entschlossen – das heißt, er merkte gar nicht, daß er sich dazu entschlossen hatte –, plötzlich, flink war er ja (ehe er es noch tun wollte, hatte er es getan), mitten in den freien Raum zwischen den beiden Gruppen hinein und schrie: »Zum Donnerwetter, laßt die Herren! Sie haben doch keinem Menschen hier was getan! Was wollt ihr denn von sie eijentlich? Aber Karl, sei doch vernünftig! Du machst dir doch bloß unjlücklich! Nu setz dich wieder auf deinen Platz, Willem! In een anständiges Lokal, wie bei Vater Strehmel, muß jeder doch ungehindert sein Jlas Bier trinken können!«
»Misch dir hier nich in Dinge, die dir nichts angehen«, sagte Palisadenkarl, »hier hat dir keener um deine Meinung gefragt, Emil. Aber wenn dir die«, er spuckte das Wort in weitem Bogen aus, »die Herren da«, und jetzt spuckte er wirklich durch die Zähne, »besser jefallen wie wir, dann kannste ja ruhig mit se mitjehn. Denn biste jenau so einer, wie die da sind, du falscher Fuffziger. Die Jungens holen wir uns schon ein andermal, die decken wir mal janz stille zu«, sagte Palisadenkarl.
Auch Vater Strehmel war jetzt nicht anderer Meinung geworden, aber er sagte sich, wenn Palisadenkarl, un Palisadenkarl is ein Mann von Wort (des is er!), das sagt, daß die schon mal ihre Abreibung bekommen werden, so genügte das eigentlich. Wozu brauchte das gerade eijentlich in sein Lokal vor sich zu gehen? Nachher hetzten die einen bloß die Polizei auf den Hals. »Nu laß man schon ruhig die beiden Patentluden loofen, Karle«, sagte Vater Strehmel gemütlich. »Ick würde mir doch nich an die die Finger dreckig machen. Daderzu wär' ick mir doch viel zu schade. Ick glaube, die wollen jetzt sowieso zahlen, aber dalli, meine Herren. Dalli … sonst werd' ick unjemütlich un mach von meinen Hausknecht Gebrauch. Sie haben überhaupt meine Gäste beleidigt. Und Rosenemil, du brauchst dir auch bei mir die nächste Zeit nich blicken lassen. For sone Kunden, die hier Krach machen, bedank' ick mir. Komm, Karle, setz dir wieder hin! Dazu, mir mit sone Jungs einzulassen, würd' ick mir an deine Stelle janich herablassen.«
Rosenemil dachte nun, es würde doch irgend jemand hier von allen für ihn, wenn auch mit bescheidenem Widerspruch, Partei ergreifen. Aber es tat keiner, nicht mal die Mädchen, die sonst immer nur freundliche Blicke – und sie verstehen mit Blicken zu arbeiten, das ist ein Teil ihres Metiers – für ihn hatten und ihn anlächelten, wenn sie ihn auch nur von weitem sahen; die Mädchen selbst taten, als ob er Luft wäre. Er war wieder der Eindringling, der Außenseiter, wie an jenem Sonntag vor neunzehn Wochen. Er hatte die ganze kompakte Majorität wieder gegen sich. Alles, was in den Wochen sich ereignet hatte, war weggewischt. Der Boden, auf dem er noch vor zehn Minuten gestanden hatte, war ihm, ohne daß er verstand, wie das kam, unter den Füßen weggezogen worden. Es hatte wirklich keinen Sinn, auch nur noch eine Minute, noch eine Sekunde hier länger zu bleiben. Morgen würde sich das vielleicht alles anders ansehen. Die Leute waren hier ja doch Kinder. Jott sei Dank wenigstens, daß Lissi nicht so war! Na ja, jetzt wer' ick eben zu Hause auf Lissi warten.
Nur Spitzmaus schlich an ihn heran, der sich bei der Schlägerei solange im Hintergrund gehalten hatte. (Wenn der wilde Stier sich losgerissen hat, soll man hinterm Zaun bleiben!) »Bleib doch, Rosenemil«, sagte er leise, »laß doch den feinen, süßen Pöbel da laufen.«
Aber Rosenemil blieb nicht.
Und er war noch nicht an der Ecke, als ihm die zwei nachkamen, und der eine von den beiden, der mit den weißen Augenbrauen, den er schon mal gesehen hatte, klopfte ihm auf die Schulter. »Junger Mann«, sagte er herablassend. Also, angenehm war ihm der Kerl nicht in seiner hochnäsigen Art, er verstand jetzt eigentlich schon, warum die andern über ihn her wollten. »Jüngling, Sie haben ja die Sache jroßartig jefingert«, sagte er, »des müssen wir Ihnen lassen. Also wenn Sie mal in die gleiche Lage kommen sollten … die hätten einen ja ganz kühl lächelnd da in der Kaschemme einfach kaltmachen können, die Brieder, un nachher in de Spree schmeißen können … des hätte Palisadenkarl« (Woher wußten denn die den Namen? dachte Rosenemil) »ganz sauber fertiggebracht. Zutrauen kann man denen so was. Nich, Jardefranz?«
»Also des wäre nich der erste bei dem, Turfkarl«, sagte der Jardefranz nachdenklich. »Wissen Sie, wir sind Ihnen wirklich dankbar, daß Se uns aus die Rattenfalle wieder lebendig 'rausgebracht haben.«
Rosenemil begann es schon leid zu tun. Die Jungens gefielen ihm nicht. Des waren janz Unzuverlässige und Scheinheilige, die jetzt nur so taten.
»Schafför«, schrie der Turfkarl, als jetzt eine Autodroschke an ihnen durch die platschenden Pfützen vorbeiratterte, daß es Fächer spritzte … von oben kam zwar keine Feuchtigkeit mehr hinzu, aber unten auf dem Boden war noch genug. Alles blinkte und blitzte, und im Asphalt und auf den Steinen spiegelten sich lange Lichtbrücken von Laternen. »Schafför!«
»Na«, sagte der Jardefranz, als der Wagen hielt und der Chauffeur herunterkletterte, um den Schlag aufzumachen, »kommen Se een bißchen mit uns mit. Brechen wir noch 'ne Pulle den Hals.«
Er liebte so leutnantshafte Redewendungen, das lag in seiner Hochstaplerrolle.
»Ich muß noch ins Mohrenkasino«, sagte Turfkarl.
»Na, jehn wir doch dahin einfach«, sagte näselnd der Jardefranz.
»Also kommen Se schon mit, Jüngling«, sagte wieder der Turfkarl, »Sie sind heute mein Jast, Hannibal hat achtzehnfaches Geld gegeben.«
Rosenemil wollte eigentlich nicht. Die ganze Sache war ihm zuwider. Und Lissi, wenn sie nach Hause käme un er wäre nicht da, die würde sich nur aufregen und ängstigen. Ach Gott, er hatte sich oft genug um sie geängstigt, wenn sie später, viel später kam, als sie gesagt hatte. So schlimm würde das einmal nicht sein. Und er war so lange des Nachts nicht mehr in der Friedrichstraße jewesen. Früher, wo er die Freundin in der Gneisenaustraße gehabt hatte, die er immer in der Hasenheide getroffen hatte, war er oft des Nachts da noch durchgegangen. Da war doch wenigstens Leben. Doch was anderes wie hier auf dem Kietz, der schon von elf an wie ein toter Fisch lag. Und er stieg mit den beiden ein.
Plötzlich sagte Turfkarl (eigentlich war das doch ein doofes Schwein, der andere hatte sicher mehr Grips in seinem Kopf, der Jardefranz, und legte ihm die Hand mit dem grünen Ring auf die Schulter): »Du, höre mal, bist du vielleicht der … Rosenemil? Nu, weeß ick doch. Von dir hab' ick schon jehört.«
Und das Auto ratterte 'rüber in die Chausseestraße, wo es schon heller war wie hier draußen, von Laternen und Lichtreklamen und Schaufenstern, die auch des Nachts beleuchtet blieben und ihre Auslagen nicht verhüllten, von Bahnen und Wagen, und belebt war von pulsenden Menschenmengen, ratterte weiter und weiter mit Rosenemil der Friedrichstraße zu und in sein Schicksal hinein.
Also die Mohrensäle hießen, obwohl der Jardefranz, als er eben sein Monokel gebrauchsfertig machte, zu Rosenemil das sagte, keineswegs deswegen die Mohrensäle, weil da soviel Kaffern von Zivilisten, die mal ooch den Kavalier spielen wollten, hinkamen, sondern weil die Straße, in der sie sich befanden, die Mohrenstraße, aus, wie es sich bei diesem Namen geziemt, irgendwelchen dunklen Gründen so hieß. Doch die Mohrensäle waren, wie man dem Namen nach doch hätte vermuten können, keineswegs dunkel und (was ja, wenn es auch gebildeter klingt, das gleiche sagen will) obskur, sondern sehr hell, licht und strahlend. Und wenn man den Inseraten und den Plakaten an der Litfaßsäule Glauben schenkte, so waren die Mohrensäle das Ballhaus der vornehmen Gesellschaft der Reichshauptstadt und die große Attraktion für den Fremden, der das elegante Nachtleben eben dieser kennenlernen wollte. Prostitution verkehrte hier nich. Sondern »Demimong«, wie sie sich selbst nannte. Und der Zuhälter hieß hier, um im Stil zu bleiben, Alfons.
Eine Weile hatte man sogar Frack, Smoking und Gehrock zur Bedingung machen wollen, weil die Provinz meist nur über das letzte dieser drei Kleidungsstücke, nebst dem Zylinder vom Kriegerverein her, verfügte, war aber wieder auf Abendanzug und Gesellschaftsrobe zurückgegangen. Vor allem auch deswegen, da einige Gäste, die wegen nicht vorschriftsmäßiger Toilette des Saals verwiesen werden sollten, den Direktor und die beiden Verbeuger und Gutausseher verprügelt hatten und erst mit Hilfe der gesamten Kellnerschaft herausgeworfen werden konnten, die teilweise sogar für jene mit Partei ergriffen hatten. Trotzdem blieben die Mohrensäle, selbst nachdem der Frackzwang aufgehoben war, doch das vornehmste und teuerste Lokal des Berliner Nachtlebens; wie ein König auch ein König in Unterhosen bleibt.
Denn nicht nur, daß der Sekt noch um ein Drittel teurer war als bei der Konkurrenz, so wurden hier auch von den Kellnern die halb angeschenkten Flaschen sofort vom Tisch gerissen (während man woanders nur die zwei Drittel angeschenkten wegriß) und sofort zum glasweisen Ausschank ans Büfett gebracht (während bei andern Nachtlokalen das letzte Drittel hinter einer Gardine vom Kellner selbst ausgetrunken wurde).
Und zum Schluß wurde nicht – wie in andern Lokalen! – eine Flasche mehr aufgeschrieben, sondern zwei! Auch hatte der, der vorher weggegangen war, nie bezahlt, selbst wenn es die ganze Tafelrunde hätte beschwören können. Dann war es nur das Gebäck oder die Salzmandeln gewesen. Wirklich, alles war hier besser organisiert als bei der Konkurrenz. Die Mohrensäle befanden sich gleichsam im Recht, wenn sie zivile Preise inserierten, denn die Höhen der Zivillisten sind durchaus verschieden. Und wenn sie erstklassige Musik inserierten, ebenso. Hierüber sind die Ansichten geteilt. Nur wenn sie phänomenale Stimmung inserierten, waren sie nicht im Recht. Denn da alle Leute, die hierherkamen, sich um sechstausend Prozent vornehmer taten, als sie waren, war ein Tanzstundenball ein Bacchanal dagegen, so steif, kalt und öde war es.
Einige Paare drehten sich, und die andern saßen an Tischen und Logen ringsherum oder im Nebensaal, wo gleichfalls ein Orchester tobte, und ließen sich neppen und sahen zu. Jeder beobachtete den andern und schätzte ihn für seine Zwecke ein. Keiner war bereit, aus sich herauszugehen. Keiner wollte den andern amüsieren. Jeder wollte dezent verstohlen dazu gähnen, wenn der andere vielleicht irgendwie ihn in Stimmung zu bringen versucht hätte. Die Damen der ganzen Welt, die mit ihren Männern hier waren, sahen sich die Damen der halben Welt an und stießen ihre Männer mit dem Ellbogen an, wenn eine mit einem Paradiesvogel auf dem Hut und mit großem Rückenausschnitt vorbeiwippte: ob das nun auch so eine wäre; fanden es skandalöös und stahlen mit den Augen, wie jetzt der Spitzenschleier bis zur Nase nur getragen wurde, welche Molièreschuhe modern waren und daß man Unterärmel aus cremefarbenem Tüll zu der Gesellschaftstoilette trüge, kommenden Winters. (Was bei den Vorstadtkokotten schon im letzten Winter passé gewesen war.)
Trotzdem mußte man bekennen, daß das Rosenemil sehr imponierte; wenn auch vielleicht nicht im gleichen Maße gefiel. Aber das gestand er sich nicht ein. Es war ungefähr ähnlich wie bei einer Bergtour. Ein Gletscher imponiert immer, aber er gefällt eigentlich den wenigsten, und weil er imponiert, reden die meisten sich ein, er gefiele ihnen deshalb auch.
Es war sehr hell um Rosenemil, und die Logen drinnen waren aus rotem Damast mit roten Sammetsesseln. Es kann in den Nachtlokalen, das war wenigstens damals die Mode, heute erinnern sie mehr an die Lichteffekte der Aquarien, nicht königlich genug zugehen. Die Türen und die Decken waren also mit großen nackten Stuckpuppen beworfen. Ebenso groß wie nackt. In üppiger Schlankheit. Zwischen denen Amoretten wimmelten. Endlich war ja dieser Ort, wenn auch nicht der Liebe direkt, so doch ihrem Vorspiel, dem Tanz, gewidmet. Alles schwamm in Gold: Decken, Wände, Türen, Nischen und Alkoven mit Rokokogekringel. In diesen Alkoven wurde nur Sekt und nur komplette Soupers serviert. Gemeine Liebfrauenmilch konnte man auch anderswo, an den gewöhnlichen Tischen, trinken. Gemeine Liebfrauenmilch soll nun gewiß keine Beleidigung dieses erlesenen Tropfens sein, sondern nur die Kennzeichnung des Zeltingers, der darauf frisiert worden war.
Doch Rosenemil kam nicht in die Verlegenheit, ihn zu proben, denn Turfkarl und Jardefranz und die beiden anderen Herren, die sich da noch an den Tisch setzten, tranken Sekt, ejalweg Sekt, gossen ihm ein und guckten mit stillen, gelangweilten Blicken, scheinbar, und sehr blasiert den Tanzenden zu: wer mit wem da tanzte und wen sich gerade ihre Freundin angekratzt hatte und wie er materiell einzuschätzen war. Sie grüßten sie weder, noch kannten sie sie oder tanzten gar einmal mit ihr, sie waren hier nur ein Tisch mit Kavalieren, die einen Abend standesgemäß verbringen wollten. Sie sprachen wenig, waren aber freundlich, ja fast zuvorkommend zu Rosenemil. Und der, der sich in der letzten Zeit in Worten sehr hatte gehenlassen, war froh, einmal seine ganze geölte Redegewandtheit von ehedem wieder spielen lassen zu können.
Sie hatten alle die gleichen Schnurrbärte, auf denen noch unsichtbar die Bartbinde saß, und die gleichen pomadisierten, durchgezogenen Scheitel und breite samtene Rockkragen, die hinten im Genick sehr hoch gingen; und dazu die neue Sorte von ganz hohen Stehumlegekragen, auf denen der Kopf kaum noch zu drehen war und wie ein Kinderball auf einem Schneemann saß. Sie hatten alle unter den hellen Brauen die gleichen wäßrigen Augen, deren Blick durch die Dinge hindurchging, ohne an etwas zu haften. Da war in den Augen von Palisadenkarl schon anderes Leben. Das merkte selbst Rosenemil noch in diesem Augenblick, unter der Suggestion von Weiß, Rot und Gold, von den Stuckleibern, die sich an Decken und Wänden wälzten, und (Pardon, ich liebe den Ausdruck wenig – aber hier sagt man doch so!) dieser Weiber, die da vor ihm im Tanz sich hoheitsvoll drehten und mit der Miene von regierenden Fürstinnen bei der Audienz sich von ihren Kavalieren zurück an die Sekttische führen ließen. Es schien ihm nebenbei, als ob alle bei dem Eintritt ihre Geburtsscheine hatten vorlegen müssen; denn es war keine unter dreißig. Alle schwere Kaliber. Die von achtundzwanzig waren die Küken hier. Es gab keine der kleinen, schlanken und freundlich lächelnden Nymphen, die dem nächtlichen Wanderer schöntaten, wie er sie aus seiner Gegend – wie weltfern das von hier war? – kannte. Im Gegenteil: alle waren sie hier schon übergroß und zeigten mächtige Arme unter den Ärmeln von Tüll und Spitzen, die ihnen bis über die Handgelenke fielen. Sie hatten Hüte auf der Fülle ihrer Haare, die blonde Massen waren oder kupferfarben oder schwarz wie japanische Teebretter. Sie hatten viel Schmuck umgehangen und Fächer an Ketten um den Leib, die mit Brillanten – wenigstens taten sie so, und vielleicht waren auch wirkliche darunter – besetzt waren. Beim Tanzen hoben sie die Schleppen und hatten sie über den Unterarm gelegt, und manchmal sah man sogar, und das war sehr aufregend und undezent, über den Spitzen Saffianschuhen weiße Strümpfe, fast bis zur Mitte der Wade herauf. Doch das immer nur – das war eben das neckische Spiel der Erotik – für den Bruchteil eines Augenblicks. Wenn sie gingen, so schleiften die Schleppen ihrer Abendkleider, dieser Damenabendtoiletten – bitte! –, wie Pfauenschwänze, und manche ebenso bunt und bestickt, hinter ihnen her. Sie waren alle mit breiten Schultern versehen und Gigotärmeln, aus denen der Tüll bis über die Handgelenke fiel, sehr statiös aufgemacht und ganz eng geschnürt dazu, mit langen Wespentaillen und sehr engen Schleppröcken. Sie waren tief ausgeschnitten und trugen die mächtigen Brüste, die durch Spitzen schimmerten, wie einen Balkon vor sich her. Und ebenso quollen weiße Rücken aus den ovalen Ausschnitten. Ihre Hüte waren Kunstwerke, wie Tortenaufsätze. Manche hatten richtige Lyren auf. Andere sahen ähnlich wie eine Fregatte mit vollen Segeln aus. Und andere trugen ganze Paradiesvögel und gelbe Aras und blaue Tukans auf den Strohbauten, die ihre majestätische Höhe noch überflogen. Sie trugen den bunten Staub einer ganzen Schminkefabrik auf den Wangen. Und der Duft einer Parfümfabrik wehte hinter ihnen her, wenn sie hoheitsvoll vorüberwandelten von dem Tanzraum zu ihren Plätzen.
Rosenemil verstand eigentlich nicht, wie seine drei oder vier neuen Freunde hier am Tisch – denn ab und zu wechselten sie! – dem so völlig unberührt zuschauen könnten. Er hatte, während er sprach, und er fühlte den Beruf in sich, die Gesellschaft zu unterhalten, die Augen überall. Es regte ihn auf, daß man in einer solchen Welt, wo die Goldstücke nur so flogen am Sekttisch und jede Frau gewiß tausend für eine Nacht forderte … ach, er ahnte nicht, daß das alles nur für die Fassade zurechtgemacht war und, von innen und von näher gesehen, unendlich armselig, ja eigentlich noch viel armseliger wie seine Lothringer Straße war, vielleicht mit ganz wenigen Ausnahmen (nur die, so die Freundinnen reicher alter Herren in der Provinz waren, und die kamen mehr hierher, um zu tanzen, als Bekanntschaften zu suchen) – es regte Rosenemil auf, daß die hier von allen Sensationen so unberührt bleiben konnten. Außerdem gehörte er nicht hierher. Er war nicht schlecht gekleidet. Er hatte sogar sein schwarzes Jackett mit den Paspeln an. Und die Pepitahosen, die unten spitz wie Bleistifte waren … Aber hier ging keiner so. Und er hatte seinen rot und weiß gestreiften Schlips, wie die neue Dahlie, die Helvetia, um. Hier die Herren aber an seinem Tisch trugen Scarfs, schwergebundene, breite, schwarze und dunkle Scarfs, mit dicken Goldnadeln mit einem fingernagelgroßen Brillanten drin. Oder wie Turfkarl einen Hundekopf mit Rubinaugen … Nee, nee! Es war ja mal sehr belehrend für ihn, aber für Emil Lehmann – seiner Mutter einzigen Sohn – war das doch eigentlich nichts. Ich werde hier nun bald mich abmelden, Lissi wird schon warten, dachte er. Den Mann habe ich doch mal gesehen! – Aber wie, aber wann, aber wo? Rosenemil hatte ihn sogar gefragt, ob er ihn schon mal getroffen hatte, aber Turfkarl hatte nur leise gegähnt und genäselt, er wüßte sich nicht zu erinnern und halte es auch für schwer möglich, da er ja nicht an den Orten zu verkehren pflegte, wo er verkehrte, und Rosenemil wohl kaum an jenen Orten, wo er aus und ein ging.
Rosenemil überlegte sich gerade, ob er ihm doch nicht noch zum Abschied eins in die Fresse hauen sollte und wozu er eigentlich diesen Patentluden da aus seinem Schlamassel herausgezogen hätte. (Ein zweites Mal würde er es nicht tun.) Er gab sich schon einen Ruck, um aufzustehen. Er wollte sich einfach so drücken. Nach der Toilette gehen und dann nicht wiederkommen. Nachher lassen ihn sonst noch die Brüder für sich zahlen. Außerdem, wer nickte denn da 'rüber? Wer is denn der elegante olle Lebemann mit 'n Monokel un de Brillantknöppe im Oberhemd? Is des nich Baumüller? Also kiek an, der olle Baumüller is auch hier in de Mohrensäle. Der hat jewiß heute seinen freien Tag, und nu will so'n Mann auch mal sein Amüsement haben. Tag, Herr Kriminalkommissar! Aber ich glaube, der hat's nicht gerne, wenn man ihn in einem besseren Lokal begrüßt. Vielleicht is er auch grade in Geschäften da ... Sone Jungens wie die hier haben jrade immer wat auf 'n Kerbholz. Also ich verschwinde jedenfalls schleunigst.
Doch Rosenemil kommt gar nicht dazu, aufzustehen, denn plötzlich sehen alle Leute, auch Baumüller, zu ihm oder wenigstens zu seinem Tisch herüber. Irgendein Hündchen, das vielleicht eine Dame auf dem Arm hatte, denn manche haben solche kleinen Zwergpinscher mit großen Augen, wie eine Eule, in den hageren Köpfchen, solche Pillepiehündchen, mit denen sie zärtlich tun und die, kleine überzüchtete Halbidioten, wie sie sind, ständig ihre roten Zungen spielen lassen. Aber das ist kein Zwergpinscher, sondern ein rehfarbenes, braunes, ganz niedriges, ganz langes und sehr kleines und häßliches Wesen mit einer Gardinenquaste als Schwanz und mit allzulangen Schlackerohren, die ihm bei jeder Bewegung um den Kopf fliegen. Das also kommt durch den ganzen Saal über den Boden gefegt, ein Kerlchen mit dem Gesicht einer schwarzen Bulldogge und Raffelzähnen saust heran, bläfft nicht, bellt nicht, sondern quäkt. – Ach, das ist doch ein Chinese. Die sind selten, denkt Rosenemil, die habe ich schon gemalt gesehen. Aber richtig habe ich noch nie eenen gesehen! – Kommt also auf sie grade zugefegt und springt, das hat man solchem kleinen Biest gar nicht zugetraut, mit einem Satz Turfkarl vom Boden aus auf den Schoß, daß dem beinahe das Monokel in das Sektglas fällt, und bleibt da sitzen und kuschelt sich da sofort ein. Und der ganze Saal bricht dazu in Gelächter aus. Selbst Baumüller lacht mit. Und Turfkarl will ihn noch herunterstupsen, aber er lacht dann auch. Der muß den Mann doch kennen! denkt Rosenemil und faßt mit der Hand nach der kleinen, lebendigen braunen Schlummerrolle hinüber, die nach ihm schnappen will und wieder quäkt.
Und da erscheint in der Saaltür eine statiöse Dame mit ein paar schwarzen Feuerkugeln von Augen (wie Rita de Salinas von der Litfaßsäule) und mit einem hohen Bau schwedenblonder Zöpfe darüber, in dem ein Chasseurhütchen balanciert, aber vorn eine breite Diamantagraffe als einziges großes Schmuckstück funkelt. Und die Diamanten sind echt. Das sieht man. Sie ist fast noch stattlicher als all die weibliche Stattlichkeit um sie, eine Göttin, mit Armen, die durch zehn Lagen violetten Tülls schimmern ... mit violetten Molièreschuhen, mit Brillantagraffen. Mit einem meergrünen und silberbestickten Schleppkleid. Und an einer langen, brillantsprühenden Kette mit einem Fächer aus meergrünen Schwanendaunen spielend.
»Au – die Brillantenberta!« schwirrt es durch den Raum. »Die Brillantenberta«, tuschelt es am Nebentisch. Die Hälse recken sich aus den Sektlogen, Damen nehmen ihr Stielglas, Herren lächeln sich verständnisvoll an: »die Brillantenberta«. Endlich war sie doch eine stadtbekannte Persönlichkeit, genau wie irgendeine große – und daran sonnte sie sich –, große Schauspielerin auch. War repräsentativ, war wirklich das, was man eine Lebedame nennt. Ein Stück nach Berlin verschneites Paris. Noch aus der Zeit der Eugenie. Die Paiva, die den Henckel-Donnersmark dann heiratete, war ja auch eine Deutsche und eine Jüdin gewesen. Vielleicht wäre sie woanders, in London, New York, Petersburg, zweite Garnitur gewesen. Hier war sie erste. Niemand begriff, was sie an diesen Beruf noch band. Von ihrem Schmuck alleine hätte sie sich eine Villa kaufen und von den Zinsen außerdem leben können. Und heiraten hätte sie zehnmal gekonnt, trotz alledem. Sie hätte sich dann wohl auch mit der Familie, die reich war, ausgesöhnt. Aber vielleicht lag ihr das alles gar nicht. Denn sie wäre so nämlich Frau Sowieso nur geworden, und die Gesellschaft hätte es sich überlegt, ob sie sie in Gnade wieder aufnehmen sollte. Und so war sie die Brillantenberta. Oder, wie sie sich nannte, Evelyn de la Croix. Trotzdem nachweislich keiner ihrer Vorfahren das Kreuz auf sich genommen hatte.
Rosenemil wurde wirklich so rot, als wäre er einer der Rosarosen, die er immer dem Mann mit dem Bulldoggengesicht am Alexanderplatz abkaufte.
»O chéri«, sagte die Dame und grüßte, wie eine Dame Besuch begrüßt, wenn sie die Ballherrin ist, »o chéri ... komm doch, mein kleiner Buddha! Aber nu laß doch die Herren zufrieden!« Denn alle sind nun aufgestanden, die Dame mit der Brillantagraffe zu begrüßen, ja sogar ihr die Hand zu küssen. Kavaliere wissen, was sich schickt.
Man kannte die Brillantenberta hier auch schon, wie man eine große Schauspielerin kannte, und man war trotzdem erstaunt, sie wieder mal hier zu sehen. Denn so absurde und gewöhnliche Lokale pflegte sie sonst nicht zu besuchen. Aber vielleicht hatte sie mal Lust bekommen zu tanzen. Vielleicht wollte sie sich hier mit irgend jemand unauffällig treffen. Was weiß man denn von den Launen einer großen Dame und von ihren Absichten. Die Brillantenberta war nämlich klug und tat nichts ohne Sinn, Zweck, Ziel oder Berechnung. Aber vielleicht wollte sie auch nur mal wieder die Luft atmen, wo sie groß geworden war, so wie jemand mal an seiner alten Schule gern vorübergeht, wenn er selbst auch schon Universitätsprofessor geworden ist. Genug, sie war jetzt da.
Aber den einen von den Herren kannte sie eben nicht. Sie war erstaunt, ihn hier zu sehen. »Das ist ...« (»Wie heißte denn, Rosenemil?« sagte Turfkarl leise.) »Das is Herr Emil Lehmann. Seine Freunde nennen ihn Rosenemil! Sind wir da, Jardefranz un meine Wenigkeit, heute uff 'ne kleene Bierreise und werden von 'n Juß überrascht. ›Jardefranz‹, sag' ich, ›jehn wir da unten solange in de Kaschemme und warten den Regen ab.‹ Setzen uns also janz bescheiden zum Töppchen hin, die Sache gefiel mir gleich nicht – man soll eben doch in solche Lokäler doch besser nich jehn –, mit eenmal Krach da, und die janze Bande da, also zentnerschwere Jungens, alle jejen uns los, un zu de Tür nich 'rüberzukommen. Un da war zufällig der junge Mann auch da, der anscheinend die Leute da kannte ... trotzdem er doch was Besseres is ... und er einfach zwischenjesprungen und hat de Leute zur Räson gebracht. Sonst würden wir vielleicht schon als totige Leichen irgendwo in de Spree 'rumschwimmen! Man muß eben doch bei solche Sachen een Revolverchen mithaben. So'n Schlagring nützt einem da een Dreck gegen sone Bande.«
Brillantenberta liebt solche Sensationen. Sie hätte sich zwar nie da 'reingemischt und hätte sofort eine Ohnmacht markiert, aber ihre Phantasie beschäftigte sich gerne damit. Vielleicht auch, weil sie trotz eines Kraft-Ebing mit allen Grenzgebieten des Sexuallebens nicht nur theoretisch vertraut war. Sie war aber nicht allein, wenn man sie von ferne sah, sondern auch so, von der Nähe, ein, wenn auch etwas allzu rundliches, doch exzeptionell schönes Wesen, von ganz anderer Art wie die Polenliese. Eine getigerte Feuerlilie ist schön eben, auch wenn man eine duftende Dolde Flieder oder einen Strauß bunter Wicken, süß duftender Wicken, mit ihren Pastellfarben dagegenhält. Sie hatte ein Paar sehr große, glühende Augen und ein feines geistvolles Näschen dazu. Sie hatte einen geschwungenen Mund und eine weiche, flaumige Haut. Sie hatte Alabasterschultern, und vielleicht hatte sie sogar die Arme der Venus von Milo gestohlen. Und wenn man je so geschmacklos sein sollte, sie nachzumodellieren und anzusetzen, tät' man sicher noch am besten, die der Brillantenberta zum Modell sich zu wählen. Und all das wußte sie, und sie kämpfte seit Jahren im Verband mit zehn Schönheitsinstituten darum, so zu bleiben, wie sie war. Sie war nicht umsonst die Königin eines Standes. Denn niemand, weder Mann noch Frau, erreicht etwas zu Unrecht. Und jeder und jede, der oder die einen großen Namen in dieser Welt hat, hat ihn irgend einmal zu Recht bekommen. Dazu beteiligen sich – was es immer sei, entweder Kunst oder Prostitution – zu viele am Wettlauf. Und das Urteil der Welt ist viel zu kritisch, um sich auf die Dauer von irgend etwas bluffen zu lassen. Und doch war sie »die Brillantenberta«!
»Na, da haste wohl wieder mal gebebbert, mon petit«, sagte die Brillantenberta und lachte (während sie ihren Hund wieder streichelte und an sich drücken wollte, aber der zog es vor, sich nicht hochnehmen zu lassen.) Es war ein Weibchen, und die sind nun mal lieber bei Männern. Außerdem aber kannte sie ihren Turfkarl ganz genau und wußte nur zu gut, daß Feigheit, die immer mit Roheit verbunden ist, noch nicht mal die allerschlechteste seiner Eigenschaften war.
»Ich und feige!« sagte Turfkarl.
»Also kommen Sie, Lebensretter«, sagte sie und lächelte Rosenemil direkt mitten ins Herz hinein; sie konnte alles, was sie wollte, und sie konnte lächeln, wie sie wollte. »Da dürfen Sie zum Lohn auch mal mit mir tanzen ... meine kleine Laune.«
Und es war auch eine Laune, daß sie sich zu ihrem Tänzer nicht allein den schlechtangezogensten, sondern auch den am lächerlichsten angezogenen wählte. In Paris, in den Faubourgs, sagte sie sich, sind sie ja auch so, aber da haben sie einen andern Schmiß. Das ist doch Blumberg und Fröhlich aus de Chausseestraße in Reinkultur! Und diese Blasphemie von Krawatte! Wo gibt es nur so etwas? Dabei ist es doch ein ganz hübscher Junge, wenn man ihn erst richtig einpuppte. Und mehr Schmiß, wie die blöden Drohnen da, hat er schon, der süße kleene Alfons. Der sieht fast wie Saint-Antoine aus. Und das gibt einen Hauptspaß, wenn ich mit ihm hier tanze.
Nun aber hatte die Polenliese ihn in den letzten acht, zehn Wochen gut trainiert, und musikalisch war er von Hause her, also hatte er Rhythmus im Leibe und in den Knochen, und die Polenliese tanzte wie ein wirbelndes Blatt so leicht und so sicher, sie trillerte ordentlich mit ihren Füßchen.
Die Brillantenberta nahm also, während sie sich in den Saal von Rosenemil führen ließ, ihre Schleppe über'n Arm und drückte den Arm gegen die Seite Rosenemils. Die fuhr doch mit 'n Mahagonibraunen in Equipagen immer sonst und funkelte hier man so von echte Steine ... man muß doch wissen, warum der Name »Brillantenberta«. Seine Polenliese hatte nur einen Ring, und darauf war sie stolz, er war auch von dem Chormädchen aus'n Wintergarten aus de Pfandleihe. Und Chajim Goldberg hatte gesagt: Es kommt gar nich drauf an, was so was wert ist, es kommt nur drauf an, wie wert es einem is. Un die hier hatte Brillanten sogar auf den Schuhen und eine Agraffe wie eine russische Fürstin. Und jetzt wollte sie sogar mit ihm hier zwischen all dem Gold und dem Rot und dem Gekrabbel von nackten Weibsbildern an de Wand in dem vornehmsten Nachtlokal von der Friedrichstadt vor allen Leuten tanzen. Un das war doch die, von der er doch immer geträumt hatte ... nein, geträumt gerade nicht; aber mit offenen Augen geträumt von ihr und ihrer himmelblauen Federboa. Wenn man lange genug wartet, kommt eben alles in diesen unsern Dasein. Die Brillantenberta nahm seinen Arm und machte sich auf ein Fiasko bereit. Der ganze Tisch, eigentlich das ganze Lokal sah zu. Nun schön, dann hatte sie eben Kopfschmerzen. »O quel douleur! Mal à la tête«, würde sie sagen und würde ihn stehenlassen. Eigentlich müßte er doch zufrieden sein, daß sie einmal mit ihm tanzte.
Aber die Brillantenberta ließ ihn nicht stehen und sie ließ ihn auch beim Twostep nicht stehen und beim dritten Tanz auch nicht, und sie setzte sich mit ihm an ein kleines Trompetertischchen sogar, das irgendwie weitab von der Musik stand. Und wie es Rosenemil damals, als er noch der Kolporteur Emil Lehmann war, mehr mit dem Ohr seiner Einbildung als mit dem wirklichen Sinnesorgan gehört hatte, er hörte nun in Wahrheit, wenn sie tanzten, neben sich das Froufrou ihrer Jupons. Denn die Brillantenberta hatte einen eigens aus Paris verschriebenen Seidentaffet, der knisterte wie eine elektrische Maschine. »Meine Laune« hatte ihn die Brillantenberta getauft, und Rosenemil schnurrte zum Vergnügen der Brillantenberta, die nur an einem Gläschen Sherry – der Sekt wäre hier eine Strafe Gottes, sie hätte aber noch einen guten Cliquot von einundneunzig zu Hause liegen – nippte, rasselte das ganze Programm von Palisadenkarl herunter und beschrieb ihr die Szene von vorhin, in der doch die beiden eine ziemlich jämmerliche Rolle gespielt hätten, so daß die Brillantenberta über soviel Naturwüchsigkeit ein Mal über das andere – o mon dieu, mon dieu, mon dieu – lachte und selbst unter der Schminke rote Backen bekam. Und er, der seiner Zeit bei der Polenliese keinen Ton herausgebracht hatte, hier hatte er seine ganze geölte Redegewandtheit, die die Brillantenberta innerlich, denn an Witz fehlte es ihr sowenig wie an Beobachtung und scharfer Aufnahmefähigkeit, doch belustigte. So gut amüsiert hatte sie sich lange nicht mehr. Sie brauchte nicht auf dem Quivive zu sein und die Dame zu spielen bei ihrer »Laune«. Außerdem wollte sie eigentlich diesen Blödian, diesen Turfkarl, der sie, wie sie wußte, aber nicht beachtete, auch hinten und vorne mit den traurigsten Nutten, vor denen er den Schwerenöter spielte, betrog, endlich mal auf anständige Weise los sein. Sie wußte nur noch nicht, wie. In letzter Zeit hatte er sie sogar mal bedroht, und soviel Geld, wie er bei Rennen und im Ekarté verspielte oder verspielt zu haben vorgab, war ihr, die für alle solche Dinge tiefstes natürliches Verständnis aufbrachte, selbst ihr auf die Dauer zuviel. Außerdem würde das sicher Geld kosten, wenn man ihn ohne Skandal loswerden wollte. Es war nicht der erste, den sie herausgesetzt und abgefunden hatte. Einem hatte sie sogar ein Zigarrengeschäft in der Mittelstraße gekauft; und da bezogen jetzt alle ihre gewesenen Freunde ihre Importen her. Aber dem Burschen, dem Turfkarl, könne man so was nicht in die Hände geben. Der verbummelt es in acht Tagen. Oder versäuft den ganzen Laden in einer Nacht. Ferner hatte sie auch noch ganz andere Pläne mit Panchite. Und eigentlich brauchte sie solch einen Alfons überhaupt nicht mehr. Sie hielt ihn sich bloß des Prestiges wegen wie chéri. Oder wie sie gern sagte: »Bertha, wenn de schon mal zur Demimong gehören willst, so benimm dir auch danach.«
Sie war nämlich ein guter Kerl und ein sehr böser Kerl zugleich. Die menschliche Seele, und gar noch eine wie die ihre nämlich, ist ja aus sehr vielen, scheinbar unvereinbaren Gegensätzen zusammengesetzt. Jedenfalls aber hatte sie ungeteilt und ungebrochen bei allem Theater, aller Teufelei, allem Charme, allem Witz, aller Liebe und allem Haß, aller Wut und aller Zärtlichkeit ungeteilt und unbrechbar die ganze Selbstironie ihrer Rasse und konnte sich viel bewußter, als etwa Rosenemil, aus sich selbst herausstellen und ihr eigener Zuschauer sein.
Beinahe nebenbei hätte Emil hier noch jemand getroffen. Denn der Herr mit der Glatze, mit dem die Polenliese sich reichlich bei Kempinski gelangweilt hatte, wollte durchaus mit ihr noch in die Mohrensäle. Sie aber sagte, daß sie nicht soviel Zeit mehr hätte und es ja ein andermal tun könnte. In Wahrheit sehnte sie sich auch nach Hause und nach ihrem Emil. Und das war sehr schade. Denn wäre sie in die Mohrensäle gegangen, so wäre vielleicht diese ganze Geschichte ungeschrieben geblieben.
»Ich habe sie schon mal gesehen, Fräulein«, sagte Rosenemil, »ich erinnere mich noch ganz genau, ich habe da gerade zufällig meine Aktenmappe mit wichtige Papieren verloren.« Jetzt wurde aus der geflickten Wachstuchtasche eine Aktenmappe. Das Milieu und Turfkarl und Jardefranz hatten ihn schon angesteckt. »Sie hatten eine blaue Federboa um und stiegen zu einem braunen Herrn mit einem Panama in die Equipage.« (Ja, damals hatte Panchite ja noch kein Auto, jetzt hat er seinen Wagen mit 'rübergebracht.) »Linden, Ecke Friedrichstraße war das, Fräulein. Sie sind mir gleich aufgefallen, weil Sie so schöne Haare haben.«
Die Brillantenberta lächelte aus den Nasenwinkeln, beinahe hätte sie gesagt: Jaja, meine kleine Laune, solch Haar ist verdammt teuer. Aber was soll man tun, wenn die Herren von drüben das eben wünschen? Das sind nun mal Geschäftsspesen, mon petit Bébé. Aber sie war viel zu klug, Illusionen vorzeitig zu zerstören. Sie unterhielt sich mit Rosenemil so gut, daß sie sogar zwei Körbe austeilte, was hier als eine große Schmach für den Betreffenden galt und manchmal Prügeleien oder zum mindesten Kräche zum Gefolge hatte, in die dann auch die Damen hineingezogen werden konnten. Solche Nachtlokale haben immer eine etwas gespannte Atmosphäre, und da jeder Mann hier der Hahn sein will, sind alle im Ehrenpunkt etwas kitzlich.
Aber sie habe Kopfschmerzen, sagte die Brillantenberta und führe sowieso gleich nach Hause. Und richtig, da kam schon ein kleiner, wirklicher Negerboy herein und auf den erstaunten Rosenemil zu. Vielleicht war die Brillantenberta überhaupt nur dieses Negerboys wegen hierhergekommen. Denn sie liebte – wie sie gern sagte –, und ihre ganze Lebensführung war darauf eingestellt: épater le bourgeois! Also ein kleines, grinsendes Negerchen in einer roten, seidenen Groomtracht und mit Augen, die noch weißer als seine »fünfundsiebzig« Zähne waren, die er grinsend zeigte, und mit Zähnen, die noch weißer als seine träumerischen Tieraugen waren, kam auf sie zu und kauderwelschte etwas, was spanisch sein konnte. Die Brillantenberta hatte natürlich nicht den Negerboy, sondern Panchite hatte ihn zugleich mit seinem schwarzen Chauffeur und mit seinem Auto herübergebracht; aber jetzt, er war gestern geschäftlich nach Wien für kurze Zeit gefahren und von da weiter nach Osten, hatte Panchite de Ramiro gesehen, daß das doch hier in dem provinziellen Berlin unangenehm auffiel, und so hatte er alle drei der Brillantenberta zur Verfügung gestellt. Und das war der eigentliche und letzte Grund, weswegen die Brillantenberta hier heute – jedenfalls war das sehr schick – in die Mohrensäle gekommen war. Was hat man denn von dem schönsten Niggerboy, wenn man ihn nicht vorführen kann? Falls etwa ihre Position erschüttert war, denn es gibt immer Nachwuchs hier, der plötzlich hochkommt und en vogue ist, wo etwas festigt sie wieder. Mit Niggerboys konnten die andern jedenfalls noch nicht aufwarten.
»Wo wohnen Sie denn?« sagte die Brillantenberta so beiläufig.
Rosenemil genierte sich etwas. »Ich? Da ganz hinten in der Lothringer Straße. Ich komme schon nach Hause, Fräulein Berta.«
Das hörte sie nicht gern ... »Fräulein« sagte man zu besseren Hausangestellten, zu ihr sagte man »Madame de la Croix«, aber der sagte eben »Frollein«, o comme il est gentil et drôle ce petit Alphonse là!
»Der Nachtomnibus jeht noch!«
»Ich kann Sie auch in meinem Wagen mitnehmen«, sagte die Brillantenberta. »Was brauchen Sie soviel Zeit zu verlieren? Das macht mir kaum einen Unterschied, ich muß ja doch auch in diese Richtung. Und ob Jim eine Minute früher oder später ins Bett kommt ...«
Rosenemil ahnte zwar nicht, wer Jim war, denn zu dem kleinen Nigger hatte sie Black gesagt, aber er verstand. Und so ging es eigentlich in eins hin.
»Black«, sagte sie, »va chercher mon adorable Li«, und als Black verständnislos grinste (er hatte zwei Arten von Grinsen: verständnisinnig und verständnislos), stampfte sie mit dem Fuß: »Le petit chien là.«
Und Black wiegte sich, er ging sehr hübsch in den Hüften, nach dem Tisch herüber, wo Turfkarl und Jardefranz und jetzt wieder zwei andere Kollegen von ihnen, die ihnen auf ein Haar glichen (wenn eine große Schauspielerin in Mode kommt, sieht man plötzlich hundert Frauen von ihrem Typ, und hier war eben gerade der Typ des abgetakelten Leutnants Mode; in fünf oder zehn Jahren wird es vielleicht ein sehr brünetter, zigeunerhafter vom Stil der Stehgeiger sein!), sich erhoben. Und auch die Brillantenberta erhob sich gleichfalls, um mit herüberzurauschen, knisternd vor Froufrou, gefolgt vom Pfauenschweif ihrer Schleppe, und wie ein Mastlicht leuchtete ihre Agraffe aus den schwedenblonden Flechten ... Rosenemil folgte in kleiner Entfernung, um sich zu verabschieden. Endlich hatten die ihn doch hierhergebracht. Rosenemil hatte feine Ohren, aber er hörte nur so ein paar Gesprächsfetzen: »Heute nicht«, sagte die Brillantenberta, »Panchite is da ... Du kannst ja ins Hotel ... jeh doch in den ›Jrünen Baum‹ ... dein Stammhotel. Komm denn morgen um zwölfe ... Wieder nichts? – Na, hier vor allen Leuten? – Dann laß dir von Turfkarl solange 'ne Kleinigkeit ... Ich ... ich werde noch deinen neuen Freund unterwegs absetzen«, sagte sie laut und lachte.
Ja, und dann gab er, Rosenemil, die Hand an Turfkarl – das schickte sich wohl so, denn endlich hatten ihn die Leute doch zum Sekt eingeladen und hier in dieses feine Lokal verschleppt, unsereiner kommt sonst nie zu so was, da hat er schon janich die Sachen, um sich hier sehen lassen zu können.
»Du hast mir eenen juten Dienst erwiesen, Rosenemil«, sagte Turfkarl sehr leise, während sich die Brillantenberta mit Jardefranz unterhielt oder, richtiger, während sich Jardefranz mit der Brillantenberta, gar nicht leise, unterhielt, damit er eben das dem Rosenemil stecken könnte. »Nu will ick dir eenen erweisen: Laß dir nicht mit die ein, das is een Aas, ick kenn' se.«
»Unsinn«, sagte Rosenemil, »ick bin in sehr feste Hände.«
»Junge, Junge, Junge«, sagte Turfkarl noch leiser und sprach eine tiefe Wahrheit aus, wenigstens für den Mann ... eine Wahrheit, die so wahr, so tief und so unbestreitbar ist, daß man sie gar nicht ganz wiederholen kann und deren möglichere Hälfte, die auch kaum möglich ist, dahin ging, daß bei gewissen körperlichen und physiologischen Veränderungen sich der Verstand in die Fortsetzung des Rückens zu verfügen pflegt, mit Verlaub zu sagen, in den Arsch fliegt.
Rosenemil fand Turfkarl (denn er war nicht nur schüchtern eigentlich, sondern auch prüde!) sehr gewöhnlich, was aber nicht hinderte, daß Turfkarl nur allzu recht behalten sollte.
Ja, und dann riß wirklich ein großer, schwarzer Neger, wirklich Jim, den Verschlag des Autos – es war lila gestrichen und gar nicht so hoch wie die Autos, die man hier sah, sehr lang und sehr bequem und weich – auf, und Rosenemil saß in einer Wolke von Parfüm neben der Brillantenberta im Auto, die ihm sofort, ohne sich mit irgendwelchen Vorreden aufzuhalten, den Arm wie einem Lasso um den Hals warf und ihn mit dem Schlachtruf: »O mon petit Alphonse, comme je t'aime, mon cochon sucré« an die tüllverhüllte Fülle ihres Busens zog ... Rosenemil hatte kaum Zeit, das Sonnendach seines Strohhutes, als sie ihn ins Ohrläppchen biß, neben sich auf das Polster zu werfen. Was das Sonnendach mißverstand und ihm von da herab zwischen die Beine auf den Boden rollte. Aber man ließ ihm auch nicht Zeit, ihn wieder aufzuheben.
Turfkarl aber zog zufrieden mit der Similijrete ab. Des Jeld fors Hotel konnte er sparen. Wenn er es auch zu verrechnen beabsichtigte.
»O mon chéri«, sagte sie, »über dich könnte ich mich bis zum Weißglühen amüsieren, Liebling, wo in der Welt gibt es diese ungemein ulkige Krawatte? Wo kauft man die? Das mußt du mir verraten. Ich muß jemandem un petit, ein kleines Cadeauchen machen, die mußt du mir morgen schenken, ich will sie dem Märkischen Museum überweisen. Die hat Zille vergessen. Du kriegst von mir ein niegelnagelneues englisches Scarf von Tripelouri dafür, mein kleiner Rosenemil.« Und sie gluckerte nur so vor Lachen, die Brillantenberta, wie ein Teekessel – einfach goldig fand sie ihn. »Du goldig Oos du«, sagte sie, denn sie frankfurterte auch, wenn es darauf ankam.
Davon, daß sie ihn nach Hause bringen wollte, die Brillantenberta, war gar nicht die Rede mehr, und auch Rosenemil erwähnte das nicht mehr. Er tat gar nicht erstaunt, als sie statt nach der Chausseestraße die Linden herunter und zum Brandenburger Tor herausglitten. Denn der Wagen ratterte nicht – er glitt. Heute würde er das mitmachen, morgen würde er sich englisch drücken. Schön dumm wäre er, wenn er das nicht mitnähme! Dieses herrliche Weib! Alle Dinge, die man sich wünscht, gehn in Erfüllung eben, und grade dann vielleicht, wenn man es nicht erwartet. Neulich war Lissi auch erst des Morgens gekommen, und er hatte nicht einmal gefragt, wo sie gewesen war. Warum sollte er nicht mal auch eine Nacht wegbleiben?
Ja, und dann brannten draußen noch die Laternen in zwei gußeisernen und stolzen Kandelabern, als sie in der Roonstraße neben einem villenähnlichen Privathaus einfuhren und Jim den Schlag indiskret aufriß. Das ging so schnell, daß die Brillantenberta kaum von Rosenemils Schoß herunterkam. Nun war die Brillantenberta wirklich alles andere als ein Schoßkind. Und Rosenemil war, wie wir wissen, gewiß von guten Körperkräften. Und wenn die Polenliese einmal auf seinen Knien saß, hatte sie ihn nicht mehr als eine Feder belastet. Aber hierfür wäre doch eher eines der Mitglieder des Athletenklubs »Doppelzentner« geeignet gewesen. Aber Chauffeure jeder Hautfarbe bemerken nie etwas und sind immer diskret.
Es gibt so gewisse Herrschaftshäuser einer gewissen Zeit, die das Portal nur auf der Seite haben können. Von der Straße wäre es unvornehm. Sie haben alle sehr hohe Fenster und sehr große Zimmer und Öfen wie Denkmäler. Um 1860 waren sie der Inbegriff alles Komforts und aller Vornehmheit. Heute ist nur die Vornehmheit geblieben, und man fragt sich, worin eigentlich der Komfort bestanden haben soll. Denn das Marmorbad hatte die Brillantenberta selbst einbauen lassen. Doch die Treppen hatten rote weiche Läufer, denn die Brillantenberta bewohnte, wie sie sagte, nur ein Appartement. Das heißt eine Sechszimmer – nein, das wäre falsch, eine Sechssälewohnung. Es sah sehr lauschig bei ihr aus. Eigentlich war jeder Saal in vier Boudoirs geteilt. Mit niedern Causeusen und Polstersesseln, mit Troddeln geziert, die sich um Polisandertischen zwanglos gruppierten, auf denen Cuivre-poli-Vasen mit Makartbouquets standen, deren Schmackeduzien, das heißt die Schilfkolben (dachte Rosenemil), sicher von dem Naturmenschen Herrn Rutsch stammten. Und es war sehr, sehr hell aus riesigen Prismenkronen und Kristalleuchtern, in die Glühbirnen neuerdings eingearbeitet waren, aber die Gasglocken und die Kerzen – das war der Rest aus ihrer vorigen Seelenwanderung! – geblieben waren.
Es waren Bilder an den Wänden, auch sogar von dem Mahagonibraunen mit dem Panamahut, von Schneevogt oder so. Lauter Klexe. Aber doch ganz schön. Richtige gemalne Ölbilder, sagte sich Rosenemil, als er staunend, denn so weit reichte seine Geographie der Berliner Wohnungen noch nicht, sich umblickte. Sogar französische! Denn so nackte Frauen sind immer französisch, dachte Rosenemil. Woraus wieder ersichtlich ist, daß man nie generalisieren soll, denn es war eine Nymphe von Böcklin. Und die Brillantenberta hing auch da. Einmal, das erkannte er sofort, als zwölfjähriges, lebensneugieriges Mädchen in einem Garten vor einem Rosenbusch stehend, in seidenem weißem Kleidchen mit roter Schärpe mit ein paar Märchenaugen und ein paar nacht schwarzen Zöpfen mit roten Schleifen, die ihr über die Schultern hingen. Von Meister Gussow gemalt. Denn die Eltern hatten ihr das Bild, da sie es zu schmerzlich bewegte, ihre ungeratene Tochter im Stadium der Unschuld ewig vor sich zu sehen, mit einem sentimentalen Briefchen vor einigen Jahren zugeschickt. Einen Brief, den die Brillantenberta dahin beantwortet hatte, daß sie vielmals von Herzen also für den charmanten Gussow danke. Und nur eine kleine Unrichtigkeit in dem Brief der lieben Eltern korrigieren müsse, daß das Bild sie im Stadium der Unschuld darstelle. An Witz fehlte es ihr ja nicht. Auch nicht an Selbstironie.
Und dann hing sie sich nochmals gegenüber in reifen, je mehr schon in reifsten Jahren der allerletzten Zeit, mit Haaren, wie ein ausgeblichenes Kornfeld nach dem Gewitter, mit großen grünen Flecken im Gesicht, mit dem Ausdruck eines Vampirs in den Augen und mit einer Fleischfülle wie ein ganzer Schlächterladen, die von einer wieder aus großen flackernden Flecken bestehenden, rosa wallendem Robe nur mühsam sich bändigen ließ.
»Das is von einem modernen Maler«, sagte die Brillantenberta und lachte wie ein Teekessel, »einem Norweger; Münch heißt er. Ein armer Deibel, aber sehr épatant!« Sie liebte alles, was mit épater zusammenhing, die Brillantenberta.
Rosenemil lachte auch. Er fand die Schmiererei scheußlich. »Det kann ick ooch«, sagte er. Oder lachte er nur darüber, daß die Brillantenberta als Kind gefärbte Haare schon trug, die anscheinend mit den Jahren erst ihre Naturfarbe wiedergefunden hatten.
»Du Böser, o quel bétise«, rief die Brillantenberta und schlug beim Ablegen der seidenen Abendmantille mit dem Fächer nach ihm. Denn sie liebte es, sich schmollend und lieblich zu geben, und knuddelte dann Li, der sich das manchmal gerne gefallen ließ, auf einem Sessel herum.
Ja, und dann führte sie den Rosenemil, der große Augen machte, durch die Säle, die alle, eigentlich alle, gleich aussahen. Mit Teppichen bis in die Winkel hinein, mit Bildern in fußbreiten Goldrahmen, mit Sitzgelegenheiten, soviel wie in einem Sommerlokal. Mit Tischchen und Tabourette mit Troddeln und Pompons. Mit Porzellanpüppchen in kleinen Konsolen. Mit Boullemöbeln. Mit einem kleinen Frühstückszimmer und einem Eßsaal für große Gelegenheiten, dessen Kronen und Sessel in Gazeschleiern träumten. Und sie ließ ihn, wie sie sagte, schon einen vorzeitigen Blick in die église de notre dame, in das Paradies ihres Boudoirs, werfen, das ganz in Himmelblau war und von französischen galanten Stichen wimmelte und die gleiche Seidentapete hatte wie die Vorhänge des breiten Himmelbetts. Und auf dessen vier Toilettentischen ganze Arsenale von silbernen und goldenen Dosen und Kristallflakons und Manikürkästen und Scheren aller Größen und Formen und Nageletuis und Massierkugeln und Walzen und Kämmen und Schildpattbürsten und Schminktiegeln und Parfümflaschen aller Formen und Farben, die nur eine verpestete Friseurphantasie je ersinnen konnte, und was sonst noch alles der internationale Markt auf diesem für den Fabrikanten sehr aussichtsreichen und für die Abnehmerinnen sehr aussichtslosen Gebiet brachte, in prächtigen Auslagen sich zur Schau stellte, während der Rest noch die Brettchen des hohen Frisierspiegels verzierte.
Was die alles hat! dachte Rosenemil, und was die alles braucht! Bei Lissi steckt der Kamm und die Bürste in de Tasche aus Kantenpapier über unserm Bett. Und sie riecht wie'n Honigkuchen so gut. Und sieht immer aus, wie aus'm Ei gepellt. Aber das sagte er sich nur so, aus einem allerletzten inneren Widerstand heraus. Es war wieder die Sache mit dem Gletscher: er imponiert, aber er gefällt zuerst nicht. Doch dann, weil er imponiert, gefällt er eben auch. Und man wagt nicht mal, sich einzugestehen, daß er doch ein gefährlicher und abscheulicher Eisklumpen nur ist, der sich einen Dreck um den Menschen kümmert, wenn er sich auf ihm die Knochen zerschlägt oder elend in einer Gletscherspalte erfriert und zugrunde geht.
»Ja«, sagte die Brillantenberta, »nun, weil du so artig bist, meine kleine Laune, nun kommt die Hauptsache.« Und sie führte Rosenemil in den Salon zurück und öffnete eine geheimnisvolle Tapetentür, die nur ein Glasknopf in der Tapete verriet, und wirklich: sie standen in einem Baderaum mit langen Polsterbänken und marmornen Wänden (aber es war nur Kunstmarmor) und einer tiefen eingelassenen Marmorwanne, zu der sogar Stufen hinunterführten. Und zwischen die Marmorwände waren Spiegel eingesetzt, daß man sich zehnmal von allen Seiten auf einmal sah. Wie bei Aschinger am Alexanderplatz, wo sich damals Lissi hundertmal zugleich den Hut aufgesetzt hat, dachte Rosenemil.
»Das ist nur für die Intimen des Hauses, mon petit«, sagte sie, »willst du noch ein Bad nehmen, meine Laune? Es ist immer warm. Man braucht nur aufzudrehen.« Und damit drehte sie an einem vergoldeten Hahn, und aus dem Maul eines Löwenkopfes, eines vergoldeten, stürzte sich ein breiter Fächer rauschenden und dampfenden Wassers in das Marmorbassin. »Black bringt dir nachher gleich einen Pyjama. Was liebst du mehr, blau oder rot? Nein, ich glaube, daß dir blau noch besser steht, mein petit cochon sucré. Halte die Seife da in Ehren.«
Zum Donnerwetter! dachte Rosenemil.
»Es ist echte Jacksonsoap. Die braucht auch der Prince of Wales. Ich weiß es genau, sogar sehr genau.« Aber Rosenemil imponierte es diesmal nicht. Weil er nicht wußte, wer der Prince of Wales war. Hätte sie der dicke Eduard gesagt, wäre er eher im Bilde gewesen. »Also, wir nehmen dann den Tee im Boudoir«, sagte sie, »ich lasse noch ein bißchen Brötchen machen. Liebst du Gurkenbrötchen, mein süßer Alfons?« Und sie gluckerte wieder – denn sie hatte oder begann doch schon zu kriegen, trotzdem sie bei drei Spezialisten zugleich in Behandlung war, ein Doppelkinn – wie ein Teekessel vor Lachen. »Ich mache mir es dann – auch bequem.« Und damit zog sie die Tapetentür zu. Und ließ Rosenemil allein mit dem spuckenden Löwenkopf und den Spiegeln und den falschen Marmorwänden und den langen Ruhelagern rings um die Wände. Im ersten Augenblick war Rosenemil sehr ungehalten, und am liebsten hätte er sämtliche Spiegel kaputtgeschlagen, denn wenn er auch dumm war ... so dumm war er doch nicht, daß er nicht merkte, was gespielt wurde. Ganz gleich, wie es immer gegangen war, und ganz gleich, wie er heruntergekommen war: am Körper hatte er sich immer saubergehalten. Da war er schon viel zu eklig dazu, um das nicht zu tun. Und endlich wusch er sich doch jeden Morgen von Kopf bis Fuß. Das hat er beim Sport gelernt so. Und da steckte ihn die hier wie ein Kind, das in die Mistgrube gefallen ist, in die Badewanne! Dann aber plätscherte doch aber das Wasser so hübsch und melodisch in das Marmorbecken, das sich langsam und schillernd im Licht füllte, und machte ihm wirklich Freude, da 'reinzusteigen und sich so recht lang und angenehm auszustrecken, und die großen Badetücher lächelten ihn so freundlich an. Und die Badsoapseife (das stand drauf) roch so weich und gut. Und warum sollte er nicht mal so baden, wie des alle reichen Leute alle Tage tun. Und Black klopfte und grinste mit seinen »fünfundsiebzig« Zähnen noch mehr als sonst, als er hereinkam – denn Rosenemil hatte gedacht, es wäre die Brillantenberta (und jetzt brauchte er sich doch wirklich nicht mehr genieren), und legte ebenso grinsend einen tiefblauen Seidenanzug (Seit wann zog man sich des Abends noch mal um?) mit Schnüren (Die red' sich wohl ein, ick bin ein Husar!) auf die Ruhebank und glitt auf seinen roten Lederschuhen wieder ebenso unhörbar hinaus, wie er hereingekommen war.
Und als dann Rosenemil wieder herauskam, als Husar – er hatte sich von allen Seiten fünfundsechzigmal gesehen und hatte sich doch sehr gut gefallen (Wo hatte sie gleich so'n Ding von seiner Größe her? Ach, er vergaß, daß Turfkarl und er fast von gleicher Statur waren!) –, da ging er hinter in das Boudoir, und da stand, sich umziehend, vorher hatte sie schnell noch ein Billettchen geschrieben und durch den Chauffeur nach dem »Grünen Baum« bringen lassen, die Brillantenberta in einem Panzer da, der ihr vom Hals fast bis zu den Knien reichte und das Museumsstück des ersten Pariser Korsettfabrikanten war. Und als es dann knackend aufging, quoll sie eigentlich nach allen Seiten auseinander. Es war etwas Ähnliches, wie bei Tiefseeforschungen beobachtet wird, wenn man diese armen, bunten und seltsamen Biester mit ihren Leuchtapparaten oben auf der Stirn und ihrer schreckhaften Seltsamkeit der Formen aus den Tausenden von Metern heraufgeholt hat und sie unter einen andern Atmosphärendruck kommen, so quellen sie auf, und manche zerplatzen sogar mit hörbarem Knall.
Nun, das tat die Brillantenberta nicht; aber sie quoll doch, als die Korsage sich gelöst hatte, vor den Augen Rosenemils zu einer ihm kaum vorstellbaren Formfülle auf. Doch dann warf sie einen mit riesigen Drachen bestickten chinesischen Männerrock über, und sie war eigentlich wieder die Brillantenberta, die ihn als Tagtraum durch Wochen begleitet hatte. Und sie war wirklich sehr nett zu ihm und stopfte ihn mit Gurken- und Tomatenbrötchen, die rot aussahen, aber violett schmeckten (er kannte das nicht!), voll und goß ihm einen Tee ein, der nach Orangenblüten duftete. Und nur einmal dachte er an die Polenliese noch, als er seine Arme um die Brillantenberta legte. Die Polenliese umspannte er mit einem Griff des Arms, fühlte den ganzen geschmeidigen Weidenkorb ihres Brustkastens gegen sein Herz dann pochen. Und hier kam er wirklich kaum mit beiden herum.
Aber das eine mußte man der Brillantenberta zugeben: Ich sagte schon, niemand bekommt zu Unrecht oder unverdient einen Ruf, und er behauptet ihn auch nicht zu Unrecht ... Die Brillantenberta verstand es, einen Mann alle anderen Frauen vergessen zu machen.
Und am nächsten Morgen ... Rosenemil hatte es ganz vergessen, daß er sich englisch drücken wollte, und die Frau war wirklich nett zu ihm gewesen (nicht nur im Bette). Er hatte zwar die Hälfte von dem nicht verstanden, was sie sagte, aber er hatte doch immer gelacht, wenn sie lachte, denn da vergibt man sich nichts. Und sie hatte über ihn gelacht, wenn er im Stil von Palisadenkarl etwas sagte. Das war wenigstens, wie sie meinte, ein »urwüchsiger Bursche«, auch wenn er aus der Lottumstraße und aus keinem Roman von Ganghofer kam. Das war doch ganz etwas anderes wie die näselnde, verlogene und leere Blasiertheit, die falsche Vornehmtuerei von Turfkarl, der von Anfang an ein Mißgriff gewesen war. Wenn sie ihn solange behalten hatte, so war das eitel Schlamperei von ihr gewesen und eigentlich nur des Prestiges wegen. So sagte sie sich. Aber sie verkannte sich da, obwohl sie sich sonst ziemlich genau über sich Rechenschaft abzulegen pflegte: sie hatte ihn aus dem Instinkt der Frau solange behalten, die jemand braucht, mit jedem Laut ihrer Seele nach jemand schreit, den sie lieben kann. (Und wenn's ein Hund ist.) Vor allem dann, wenn sie von so vielen geliebt wird, die sie nicht liebt. Und wenn sie ihm nicht schon längst den Laufpaß gegeben hatte ... und sie hatte, wie wir noch sehen werde, in diesen Fällen eine sehr rationelle Methode oder richtiger eine doppelte Methode: Zuckerbrot und Peitsche; oder um es noch richtiger zu sagen: erst Peitsche und dann Zuckerbrot ... so lag es doch daran, daß gewisse physiologische Bindungen vorlagen, für die sofortigen Ersatz zu finden sie kaum hoffen konnte. Nun aber, da sie Ersatz gefunden hatte, sah sie nicht ein, warum sie diesen Imbécile – denn sie sagte sogar in ihren Selbstgesprächen nicht Stiesel! –, diesen verbrecherischen Idioten auch nur eine Stunde länger behalten sollte. Die Sache würde etwas kosten. Aber wenn man wirklich zur Demimong gehören wollte, durfte man in Geldsachen, vor allem, wenn es ja doch aus der Tasche anderer ging, nicht kleinlich sein.
Langschläfer aber war nun mal Rosenemil nicht. Und am andern Morgen war er natürlich der erste auf, während die Brillantenberta noch neben ihm leise durch die Nase ihren Odem blies ... und er sah sich selbst zu seinem Staunen als himmelblauer Husar in einem dämmerigen himmelblauen Himmelbett, und er strich mit einer Handbewegung (Wo war er eigentlich, und was hatte er geträumt oder nicht geträumt?) die herabhängenden Portieren zurück, und das erste Licht des Tages durchzitterte den himmelblauen Raum, und die Morgensonne warf von draußen die Schatten der Linden auf die Tüllgardinen. Und so im Licht des jungen Tages sah die schlafende Brillantenberta doch verdammt wüst aus. Aus den verfärbten Haaren, deren Fülle sich reduziert hatte, hingen ihr ein paar schwarze Strähnen heraus. Augensäcke hatte sie, und die Backen hingen wie zwei Taschen herab, und am Hals war ein Delta von Fältchen. Der Busen, der wenigstens noch eine Andeutung von Form unter dem Büstenhalter gehabt hatte gestern abend, war zu einer amorphen Masse auseinander geflossen. Und die schönen, hohen Augenbrauen, deren Schminke und Kohle abgerieben, hatten ihre Linien verloren.
Die Brillantenberta erwachte vom Licht, und es war ihr sehr peinlich. Sie liebte es nicht, so im hellen Sonnenlicht zu erwachen ... Sie war eine Abendschönheit. Wenn sie den chinesischen Mantel übergeworfen hatte und die »trauliche« Stehlampe mit dem goldigen Seidenschirm brannte, war sie unwiderstehlich. Des Morgens, so ohne alles Geschirr, war ihre miserabelste Zeit. Und sie war viel zu klug, um das nicht zu wissen. Und sie war auch viel zu klug, um nicht zu sehn, woran Rosenemil jetzt dachte. Sie wußte genau, daß Rosenemil in diesem Augenblick an eine andre dachte, die des Morgens keine Augensäcke hatte und keine Falten am Hals, sondern ein paar Brüste wie Quitten und ein paar lustige, große geschlitzte Augen, so munter wie der Morgen selbst und so ausgeschlafen ... Denn sie hatte sich natürlich noch gestern abend vorher sehr, sehr genau über ihn und alles, was ihn anging, informieren lassen. Wenn auch nicht grade von Rosenemil selbst!
Und die Brillantenberta zog ihn schnell noch mal an sich, um ihm die Erinnerung aus dem Hirn zu wischen. Endlich konnte sie das ja noch. Wozu war sie denn die Brillantenberta!
Dann bat sie aber doch Rosenemil, herauszugehn, bis sie fertig mit anziehen sei. Er solle solange den Morgenanzug sich aus dem Schrank nehmen ... den aus dem Flauschstoff. Die Engländer gingen immer so. Hier kenne man das noch nicht. Und die Havannas und die Liköre befänden sich im zweiten Schränkchen drin, links. »Und hier ist – das ist das Zeichen meines höchsten Vertrauens! – sogar der Schlüssel dazu, und Black bringt dir schon immer ein Brötchen und eine Tasse Tee. Frühstücken tun wir dann noch mal zusammen. Ich nehme des Morgens wenig ... Aber bitte, mon chéri, lasse dich dadurch nicht beirren oder etwa in deinen Gewohnheiten stören.« (Meine Gewohnheiten, dachte Rosenemil, des sind des Morgens zwei Salzkuchen ohne Margarine ... nich mal ohne Butter ... du Affe!) »Ich muß mich nämlich anziehn, Liebling, und das dauert nun mal bei einer Dame eine ganze Weile ... jaja, so bequem wie ihr Männer haben wir arme Frauen es nun mal leider nicht ... Also mach dich auf eine geraume Zeit gefaßt, mein dummer Süßer, ein Stündchen kann's dauern ... Vorher gib mir noch einen Gutenmorgenkuß!«
Und Rosenemil ging herein und war innerlich wütend. Aber wie er so zehn Minuten – der Mensch ist nämlich unbestechlich! – mit dem weichen Morgenanzug in einem weichen Sessel saß und seine Havanna glimmte und ein echter Curaçao im Gläschen neben ihm blinkte – er hat schon eine ganz andre Farbe wie seine falschen Brüder, nicht nur, daß er anders schmeckt –, da war er doch wieder mit dem Leben sehr ausgesöhnt, und mit der Brillantenberta auch; und die arme Polenliese schwirrte nicht mal wie ein verwehter Zitronenfalter irgendwo in den Tiefen seines Unterbewußtseins herum.
Drinnen aber kamen der Masseur. Die Friseuse. Die Dame, die das Gesicht erst unter warme Tücher legte und dann zurechtschminkte oder besser in Pasten und Schminken nachmodellierte. Die Maniküre. Und die Pediküre. Man hörte elektrische Apparate schnurren, die der Haarentfernung dienten. Und klatschende Wasserströme aus dem Baderaum, die ihren Körper peitschten. Und sogar der Arzt kam, um irgend etwas zu tun und nach ihr zu sehn. Denn sie liebte es hin und wieder, wie sie nachher ostentativ zu Rosenemil sagte, prophylaktisch den Arzt zu sehn, wenn sie gesund wäre. Damit sie ihn um so seltener sähe, wenn sie krank wäre.
Die Brillantenberta prägte so kleine Bonmots gleich gebrauchsfertig.
»Ick seh ihn nie«, sagte Rosenemil. »Bisher is solch Karbolfritze noch nie an mir 'rangekommen.«
Und dann schob Black zum Lendemain einen ulkigen kleinen Karren in das Frühstückszimmer, solchen, wie sie die Eisverkäufer manchmal haben, nur kleiner und aus Silber und Glas (oder sah das nur so aus, es wird ja kein reines Silber sein; aber bei die is alles möglich). Und die Brillantenberta sagte ihm, während sie ein Gesundheitsbrot knabberte, daß sie noch erst wohin fahren wollten, damit sie um zwei wieder zurück sein würden. Denn sie möchte ihn, das wäre doch ein sehr angenehmes Schauspiel, nach Hoppegarten mitnehmen zum Wallburgrennen. Und vorher hätte sie noch eine Konferenz, und sie hätte auch Geschäftliches noch zu erledigen, und sie wollten auch dann un petit dejeuner vorher nehmen. Selbst wenn auch Hoppegarten nicht mit Longchamp mitkäme oder mit den großen historischen Rennen in England in einem Atem zu nennen sei, bei denen der Prince of Wales stets persönlich anwesend wäre (Rosenemil verstand nicht ganz, wie jemand unpersönlich anwesend sein könnte. Aber er fragte nicht. Schweigen ist der bessere Teil der Klugheit), der im Frühjahr wie im Herbst dort die Herrenmode kreiert.
»Ach so«, sagte Rosenemil, aber er dachte: Warum sollte eigentlich die Herrnmode krepieren? Jedenfalls von ihm aus konnte sie es.
So könnten sie sich noch einen angenehmen Nachmittag versprechen, und er würde dort die beste Gesellschaft der Weltstadt einmal vorbeidefilieren sehen.
Aber Rosenemil hatte gar kein Interesse an der besten Gesellschaft. Die sollte ihn, dachte er. Hingegen riet er der Brillantenberta, auf einen bisher nicht genannten Außenseiter zu setzen. (Er war Feuer und Flamme!) Was er wußte aber, verschwieg er: Der müsse das Rennen machen, weil Freddy Wetten auf ihn und Wetten gegen sich plaziert hätte. Und Freddy ritt doch den todsicheren Favoriten. »Goldstück« würde die Sache schmeißen, nich Aurora! Aber die Brillantenberta hörte nicht auf diesen Tip. Und das kostete sie hundert Mark. Im andern Fall hätte sie das Chinchillamäntelchen sich von kaufen können, das sie bei der Marsfeld gesehen hatte. Denn das kostete auch nicht mehr wie das fünfundzwanzigfache Geld von hundert. Das Pelzmäntelchen war ihr nämlich von der Marfels persönlich für fünfundzwanzighundert (und nicht mal sofort Kasse statt für fünfunddreißig sofort Kasse!) versprochen worden, wenn sie – wie der Prince of Wales die neue Westenform beim Derby – diese neue Kragenform beim ersten Herbstrennen in Hoppegarten kreieren – ein ulkiges Wort! – würde.
Ja, und dann kam wieder Black und sagte, daß der Wagen wartete, denn Black war das Musterbild eines Grooms.
»Ach«, sagte die Brillantenberta – heute war sie ganz auf Dame und Einfachheit in einem dunkelbraunen Tailormadekleid, das sie noch mehr einpreßte als ihre Korsage –, »ach, Schatz, hast du eigentlich schon mal vorne im Auto gesessen? Das ist eine Sensation, wenn einem so der Wind um die Nase pustet! Wenn ich müde oder nicht ausgeschlafen bin, mon chéri, so setze ich mich gerne vorne zu Jim hin – und wir haben ja doch nicht allzuviel grade geschlafen« – sie zwinkerte ihm zu –, »mein süßes Zuckerschweinchen, meine kleine Laune du! Und ich lerne sogar jetzt bei Jim etwas chauffieren, das ist sehr aufregend. Paß auf: innerhalb fünf Minuten bist du wieder munter wie ein Fisch im Wasser.«
Rosenemil hatte nun wirklich manche Nacht weniger geschlafen und anstrengender verbracht. Denn der Rabbi Sowieso sagt nicht zu Unrecht, man soll sich zwei Wesen zum Muster nehmen: das Kind, weil es nicht eine Sekunde unbeschäftigt sei, auch wenn wir meinen, es spielt bloß, und den Dieb, weil er auch bei Nacht arbeite. Und Rosenemil war gar nicht müde, und er sah auch wieder, was gespielt wurde – aber er war schon viel zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen. Und außerdem imponierte ihm der Gletscher nicht nur, sondern er begann verdammt ihm schon zu gefallen. Dann sagte die Brillantenberta: »Weißt du, ich habe sehr viel Bekannte in Berlin, man kann so leicht in einen schlechten Ruf kommen, wenn man so ganz öffentlich mit einem Herrn in einem Auto fährt. Paß auf«, sagte sie, »du wirst noch sagen, daß ich deine gute Fee bin.«
Und dann saß Rosenemil vorne neben Jim, und die Brillantenberta winkte ihm mit blauen Schwedenhandschuhen aus ihrem Glaskasten zu. Das darf man nicht vergessen: um 1903 war auch der vornehmste amerikanische Wagen noch recht primitiv, und der Führer schwebte vor dem Glaskasten auf einer Art von Balkon. Und Rosenemil fand es zwar hübsch, sich so in sausender Fahrt, wie es ihm schien – von dreißig Kilometern! –, den Wind um die Nase wehen zu lassen, aber sonst lobte er diesen Balkon nicht. Denn Jim roch jedenfalls nicht nach der Marke Badsoap, mit der er sich gestern abgeseift hatte.
Und die Brillantenberta rief durch das Klappfensterchen: »Also paß auf, ich bin deine gute Fee«, denn sie war selbst gerührt, wie sie sich des armen Jungen annahm.
Ja, und dann hielten sie vor einem sehr diskreten Haus. Es hatte keine riesigen Glasdächer und keine Oase Biskra, in der die Vögel zwitscherten. Man kam in keine Halle, wo zehn Uniformen herumliefen und fünf Manager auf einen zugleich losstürzten und einen einschüchterten mit »die Herrschaften wünschen« und »dritter Stock, zweiter Gang rechts«. Und kein Fahrstuhl tänzelte zwischen vergoldeten Seerosengittern nach oben. Und keine Stuckpuppen saßen über den Türen und kratzten sich mit Merkurstäben. Kein hallender Parkettboden erweckte Größenwahngefühle. Rosenemil sah auch gar keine Kleider oder Mäntel oder Hosen. Im Gegenteil, man ging über dicken Sammetboden wie über Sumpf. Durch kleine und intime Salons schritt man, in denen gelbgrüne Rokokoschränke und Mahagonischränke mit resedafarbenen Gardinen die Wände bis zur halben Höhe nur deckten. Oder sogar nur verhängte, eingelassene Bücherschränke, wie ihm schien, waren. Alles war auf Dezentheit gestimmt. – Ware ist unvornehm. Die zeigt man nicht. Wir verkaufen nicht. Wir arbeiten zufällig für unsere Freunde. Oder halten uns ein paar Anzüge auf Lager.
Und es gab nur einen leisen jungen Mann, der wattierte Schultern hatte. Und den Gastgeber und den Privatmann in höflich zurückhaltender, flüsternder Nonchalance spielte, weder über dem Kunden stand noch unter ihm, sondern gleichberechtigt: ein Herr, den man auf einer Gesellschaft zufällig trifft.
Rosenemil kam sich hier wieder etwas deplaciert vor und hatte das Gefühl, daß seine Pepitahosen, die wie Bleistifte zuliefen, und sein paspeliertes Jackett nicht ganz in dem Stil der Environs wäre. Auch sein Schlips nicht gerade.
»O Moußiö Daladier«, sagte die Brillantenberta nach einer zeremoniellen Begrüßung, »mein Vetter hier, der sich nur wenige Tage in Berlin aufhält, findet, daß er für das Berliner Gesellschaftsleben doch nicht die passende Kleidung mitgenommen hat. Er möchte gerne, daß Sie ihm ein paar Anzüge vorzulegen die Liebenswürdigkeit haben mögen. Aber wir haben nicht allzuviel Zeit, da mein Neffe, Herr ...« (eben war ick doch noch ihr Vetter!) »Lehmann, noch heute zu einer Aufsichtsratssitzung muß.«
»Sage mal lieber Vetter« (Also wat bin ick nu? Vetter oder Neffe? Bei einem muß's bleiben!), sie wandte sich an Rosenemil, »deine Skarfs hast du auch nicht eingepackt? Es ging ja so Hals über Kopf. Also – dann legen Sie uns auch nachher ein paar von vor. Da hat neulich der junge Radowitz ein reizendes Dessin ... ich vermute, ich vermute« – sie wurde schelmisch –, »es stammt von Ihnen, lieber Daladier.«
Ja, und wie sie wieder aus der als Privatvilla getarnten Schneiderwerkstatt traten und Rosenemil eigentlich nicht mehr ein Stück am Leibe hatte, mit dem er gestern weggegangen war, und außerdem noch ein Anzug und ein Sportmantel morgen geliefert werden würde, wegen kleiner Änderungen, und er die seidenen Unterzeuge, so weich und warm und kühl zugleich, auf dem Rücken und den Schenkeln fühlte, auch sein Stock durch einen mit echtem Silbergriff ersetzt war (der andere war ja nur versilbert gewesen!), da sagte die Brillantenberta zu ihm: »Ach weißt du, setz dich nicht wieder vorne hin, da zieht's so. Und du erkältest dich nur.« Jetzt fürchtete sie gar nicht mehr für ihren Ruf. »Nun, mein Schatz, meine Laune, bin ich nicht wirklich deine gute Fee?« sagte sie, als er einstieg. Ja, und als sie dann wieder beim Dejeuner saßen, kam Black herein und flüsterte der Brillantenberta etwas ins Ohr. »Einen Augenblick«, sagte sie und erhob sich, »ich habe nur noch eine kleine und kurze geschäftliche Besprechung.«
Klein war sie nicht, das mußte Rosenemil ja hören; denn wenn die Prismen an de Kronen zittern und einer wie ein Brüllaffe trompetet und dazwischen eine keift, daß man Spiegel damit zerschneiden könnte, dann kann man das kaum behaupten, daß das eine kleine und kurze geschäftliche Besprechung ist.
»Des mir nich de Hand ausrutscht ... verstehste«, trompetete der Brüllaffe. »Dir steche ich noch mal mit 'n gefrornen Seiflappen tot.« (Also fein war er nicht jetzt, so vornehm und blasiert er sonst tat!) »Du Sau, meinste etwa, ich bin ooch so eener wie dein voriger Ludewig? Wenn de mich dafor kaufen willst, dann mußte früher uffstehen. Berta ... Von so eener wie du soll ick mir an die Luft setzen lassen. Unsereener hat ooch sein Ehrgefühl!«
»Also ich lass' dir hochjehn wie'n Ballon!« schrillte der Glasschneider dazwischen. »Ins Zuchthaus kommste!« Das gefiel Rosenemil nicht. So was tut man nicht. Aber man sagts auch nicht, wenn man eenen Menschen mal liebgehabt hat.
»Dir wer ick 'n Marsch blasen, du Aas du ... Du hast ja eenen Fimmel! Du willst mir hochjehn lassen? Du mir? Ick brauch doch nur so zu machen, denn holen se dir mit 'n jrünen Wagen ab«, trompetete der Brüllaffe.
»Jim!« schrillte der Glasschneider. »Jim! Ich lass' dich durch Jim vor die Türe setzen, du gemeiner Hund, du Schwerverbrecher, du Zuchthäusler, du!«
Also die Sache mit Jim war unangenehm, das wußte Turfkarl. Mit Jim war nicht zu spaßen. Erstens konnte er boxen, denn er hatte ihn mal mit rollenden Augen ein paar Paraden und Finten vorgeführt, und dann hatte Jim auch ein Rasiermesser, und als Turfkarl einmal gefragt hatte, ob er sich nicht ängstigte in den Spelunken, in denen er verkehrte (er hatte manchmal etwas absonderliche Neigungen), da hatte Jim nur gegrinst, sein Rasiermesser aus der Tasche gezogen und geblökt: »Jim schon – der nicht!«
»Aber Berta«, sagte wieder Turfkarl, »wat jeht det Jim an, wat wir beide hier miteinander zu reden haben? Det braucht doch keen dritter ... Sieh mal«, jetzt fiel er auf die Gemütsseite, »du hast es immer bei mir gut gehabt. Na ja ... ick bei dir auch, jewiß, des kann man nich anders leugnen, un wenn des in de letzte Zeit ... Du hast mir eben ooch zu eifersüchtig immer mit deinem gelben Urwaldaffen gemacht.«
Er weinte jetzt beinahe ... jedenfalls der Stimme nach, die ganz tränenverschleiert, tat er das fast echt. Aber in Wahrheit weinte er so wenig, wie er vorher gebrüllt hatte. Beides war eine äußere Form, die mit dem, was hier eigentlich verhandelt wurde, gar nichts zu tun hatte. Es war nur das, was die Schreckfarben und die Liebesspiele bei den Tieren sind: einfach Vorbereitungen für das, was kommen soll. Er wußte genau: sein Posten war hier nicht zu halten. Und er ahnte auch, daß ihm die Brillantenberta mit diesem gelben Urwaldaffen bald entschwinden würde und daß sie den, wenn er auch noch nichts von seinem Glück wußte, vielleicht sogar heiraten würde. Und wenn sie dann plötzlich Hals über Kopf wegginge, nach Brasilien, springe gar nichts für ihn aus der Sache 'raus. Nicht mal 'ne kleine Erpressung. Weil sie doch dann über das große Wasser mit dem gelben Urwaldaffen zöge und er Neese wäre. Und so war das beste für ihn, zu sehen, was jetzt noch für ihn bei das Geschäft 'rauszuholen war. Kurz, die Situation war verhandlungsreif für ihn geworden. Und die Kanonen hatten zu schweigen und der Diplomat zu reden.
Aber auch die Brillantenberta hatte das kleine Zwiegespräch nicht tragisch genommen. Sie hatte es zwar mit ihrem Tierbändigerinnenblick versucht, aber nur so nebenher. Da war sie schon in ganz anderen Situationen gewesen. Gewiß, sie sollte und mußte Turfkarl loswerden. Aber in Güte. In aller Freundschaft und Güte. Wie er ja auch bemerkt haben mußte. Es drehte sich nun darum: Was konnte sie es sich kosten lassen. Denn Turfkarl bekam es fertig, ihr die Fahrt zu vermasseln und Schwierigkeiten zu machen, wenn sie ihren Panchite heiratete. – Sie war sich noch nicht klar darüber, ob das via vorgegebener Schwängerung, die mit einem wirklichen fausse couche nach geschlossener Ehe enden sollte (Oder ist das unklar ausgedrückt?), also einen faussen fausse couche – aber da Minus mal Minus Plus gibt nach den Grundregeln der Arithmetik, so ist doch vielleicht ein wirklicher fausse couche genauer –, also ob das damit vor sich gehen sollte. Und bei alldem konnte sie Turfkarl schon gar nicht brauchen. Und das kleine cochon sucré da drin würde ihr, wenn sie ihm zum Abschied als gütige Fee einen Zigarrenladen kaufte, sicher keine Schwierigkeiten machen. Denn er ersetzte ihr den Turfkarl, an den sie sich nämlich – das war ihre Tragödie – körperlich gebunden fühlte, wie sie jetzt wußte, vollkommen.
Bisher hatte sie Turfkarl nicht abgeschafft, wie man einen Hund nicht abschafft, auch wenn er eine widerliche Töle ist, nur weil man nicht weiß, ob man sich an einen neuen so gewöhnen wird wie an den alten, auf den man täglich schimpft. Und nun mußte er weg. Aber wie teuer? Darüber war sie sich noch nicht klar. Gewiß – sie konnte verbrauchen, was sie wollte; aber dafür hatte sie doch nach der Hochzeit noch Zeit, wenn sie Frau Eveline de Ramiros geborene de la Croix war. (Die Familie stammte aus der Provence, und das Stammschloß, nahe der Garonne, war in der Revolution dem Erdboden gleichgemacht worden.) Jetzt wollte sie den Mann noch nicht auf Kosten treiben und spielte die Sparsame, soweit es ihr möglich war, oder was sie so für sparsam hielt. Also, sie mußte so billig wie möglich aus der Sache heraus. Und als Turfkarl dann so nach zehn Minuten – nun wurde die Unterhaltung leise geführt, so daß Rosenemil nichts mehr hörte, nur hin und wieder fiel eine Zahl lauter und wurde, von dem Glasschneider oder dem Brüllaffen mit Zeichen allen Schreckens wiederholt – abgeschoben war, kam die Brillantenberta zurück und machte »Puh, das ist langweilig! Die Geschäftsleute sind doch alle gleich.« Und dann warf sie sich für einen Augenblick in Rosenemils Arme. Sie dachte an Richard den Dritten, nur, daß sie hier als Königin Anna, die von der Bahre eines Vorgängers kam, von Richard, der hier Rosenemil hieß, es sagte. – Und der kleine Benjamin hätte in diesem Falle mit veränderten Vorzeichen es gleichfalls gesagt: »Ich will ihn haben, doch nicht lang behalten!« Das hätte er sich nicht entgehen lassen.
Und sie fühlte sich wieder als die gute Fee, die strahlend in die Hütte des armen Daseins von Rosenemil tritt. Ja, und dann fuhren sie zum Wallburgrennen. Und wie Rosenemil in seinen Rock faßte – denn etwas wollte er doch auch setzen auf seinen Außenseiter, und wenn's nur fünf Mark wären –, da hatte er plötzlich zwei Brieftaschen in der Innenseite. Eine rechts und eine links. Seine aus Kunstleder und eine neue, aus rotem russischen Juchten. Und in der roten steckten ein paar Blaue. Aber er tat, als ob er das gar nicht gemerkt hatte; denn es ist besser, wenn man über so was nicht redet.
Und die Tage und Wochen, das heißt die zweite Woche, ging so hin. Und er guckte ein wenig in das Leben der Brillantenberta hinein, und er sah langsam, daß auch das doch nur ein ewiges Lavieren war zwischen Pump und Schiebungen und Spiel und Geldbeschaffen und Briefen nach hundert Seiten zugleich und alten, drängenden Lieferanten und neuen, schmeichelnden, weil sie noch ihr Geld bekamen. Zwischen Kosmetik und Schönheitsinstituten und Wettbüros und Börsencoups und Einlösen von versetzten Schmuckstücken und Wiederversetzen von anderen und Verschieben von Pfandscheinen. Ein Puzzlespiel war es, um Löcher aufzureißen, um Löcher zuzustopfen. Sie wäre mit jedem Geld fertig geworden. Heute schmiß sie mit Hunderten, morgen sparte sie mit Groschen. Was sie wollte, war endgültig aus der Welt geschwunden heute. In Berlin von 1903 war es nur noch ein Nonsens. Paris hatte es noch gekannt, im Rokoko noch und im zweiten Kaiserreich. Wirklich, wenn der Schlag mit dem Panchite de Ramiros nicht glückte, dem brasilianischen Kaffeekönig, der wiedermal nach Odessa gereist war, um dem russischen Kaffeemarkt jetzt einen Stoß zu geben, wie er es gerade mit dem Londoner getan hatte (wie der Mann auf dem Weihnachtsmarkt, der die Vögel anstößt: »Vorne pickt er, hinten nickt er!«), wenn der Boom nicht glückte, so mußte sie über kurz oder lang mal zusammenbrechen.
Letzten Endes war sie ein armes Luder genau wie alle andern.
Und Rosenemil war nicht dumm genug, um das nicht zu sehen. Dabei hatte er sie eigentlich gern, obwohl sie vielleicht zehn Jahre älter war als er. Gern vielleicht nur deswegen, weil sie ja unter alldem eigentlich sehr arm war. Und jedenfalls schmeichelte es ihm, weil sie ihn gern hatte. Denn die Liebe hat ja Wellenbewegung. Ein Auf und Nieder. Und was beide als Spiel und Laune begonnen hatten, war eben, wie das so kommt, weder bei ihm noch bei ihr so ganz Spiel und Laune geblieben.
Und noch eins: er war ihr Freund. Was anderes nicht! Er war der Reichsverweser, der Statthalter, der Stellvertreter von Panchite. So lange, bis Panchite persönlich wieder in Erscheinung treten würde.
Die Brillantenberta gehörte zwar im Augenblick noch aus alter Anhänglichkeit scheinbar zu ihrem Beruf, übte ihn aber nicht aus. Sie würde sich hüten, ihre Chancen bei Panchite damit aufs Spiel zu setzen. Ja, sie war nicht mal schlecht, sie hatte auch keinen üblen Charakter. Zu ihm jedenfalls war sie gut. Manchmal konnte sie sogar, wenn sie es wollte und es ihr Freude machte, gradezu überraschend gut sein. Und ein andermal wieder überraschend vernichtend, hoffnungslos gemein. Sie wußte das genau, aber sie war es eben. Sie mußte es wohl sein. Sonst wäre sie nicht die Brillantenberta gewesen.
Jeden Tag jedoch konnte Panchite zurückkommen, und die Brillantenberta meinte schon, sie sollten lieber doch etwas vernünftiger sein, denn zuviel wäre nicht gut für ihren Teint, das hätte auch ihr Arzt gesagt. Und sie ließ sich auch nicht gern grade allzuviel mit Rosenemil sehen. Ein paar mal gingen sie zu Borchardt, einmal zu Hiller und dann zweimal in Séparées ganz ausgesuchter Freßlokale, wo es auf der Karte keine Preise, auf den Tellern aber Lukullitäten gab und zum Schluß doch die Preise noch gepfefferter als die Suppe waren.
Und Rosenemil sah auch in einer Galavorstellung einmal – aber da saßen sie nicht zusammen – das, was die Brillantenberta die große Welt nannte. Und nie hatte er in dieser Zeit eine solche Sehnsucht nach Palisadenkarl und Kletterwillem, Vater Strehmel, dem innern Missionar, dem Lachen der doofen Paula ... selbst nach dem ... und wie sie alle hießen! Das waren wenigstens Menschen und sie hatten Gesichter. Aber das da waren alles Affen, denen Herr Daladier Kleider angezogen hatte. Geselchte Affen waren es durch die Bank, die sich da mit ihren Weibern oder denen der andern durchs Dasein ödeten und ihren Quatsch wichtig nahmen.
Nee, des war nischt für den eenzigen Sohn von de lahme Juste, für Emil Lehmann. Und die Brillantenberta gehörte nur vielleicht deswegen nicht dazu, weil sie ja so halb und halb doch zu ihm gehörte. Trotz Black und Jim und Auto und Panchite und rote Polstermöbel und himmelblaue Himmelbetten und Husarenuniform.
Ja, und wie kam es aber, daß Rosenemil – ein rechter Lump, nicht wahr? – sogar nicht mehr an die Polenliese dachte?
Keine Spur. Er dachte viel an sie. Rosenemil benahm sich in der Sache durchaus nicht anders, wie es von zehn Männern neun getan hätten. Und der zehnte so ähnlich. Natürlich dachte er an sie, er war sogar mit Recht sehr böse auf sie. Es war das mit ihm nicht anders wie mit jedem von uns in dieser Lage. Genauso war es.
Am ersten Tag geht man wohl nicht hin zu irgend jemand, der auf einen wartet, zu dem man gehen müßte, dem man es versprochen hat, schreibt ihm auch nicht oder ihr, einem Freund oder einer Geliebten – aus seelischer Schlappheit, aus Bummelei.
Den zweiten Tag aber tut man es nicht, weil man den ersten nicht hingegangen ist.
Den dritten, weil man sich schämt, daß man nicht hingegangen ist.
Und dann, weil der andere einem nicht schreibt, daß man kommen soll, daß er uns vermißt hat, und vor allem nicht selbst kommt.
Und wenn dann am fünften der freche Kerl oder die freche Person immer noch nicht eintrudelt und einen holt oder schreibt und schreit: »Warum kommste nicht? Wo bleibste denn solange?« – dann ist man beleidigt und tief im Selbstgefühl gekränkt. Dem Mann, der Frau, dem Freund, der Geliebten muß doch wirklich blutwenig an mir liegen! Und ich, brave Haut, bin doch immer so nett zu ihm oder zu ihr gewesen und würde es auch weiter sein, wenn sie nur etwas von sich hören ließe. Aber schade, er oder sie scheinen mich doch ganz vergessen zu haben.
Und endlich ist man eben auf den andern böse, niederträchtig böse, statt auf sich selbst. Denn das ist immer am bequemsten und dient der Bestätigung der Tatsache, daß niemand vor sich unrecht, sondern jeder vor sich immer und alle Zeiten eben nur vor sich recht hat. Wirklich, Rosenemil hörte weder von der Polenliese ein Sterbenswörtchen noch aus seinem Kreis, den er so spontan verlassen hatte. Er war wohl für die Brüder da ausgelöscht (und er war ehrlich gekränkt darüber, auch über das Benehmen der Polenliese). Wenn die sich alle so gemein mir gegenüber benehmen, kann ick doch nischt dafür!
Ja, und eines Morgens, die Brillantenberta war auf die Bank gefahren, um Aufträge zu geben, denn sie spekulierte natürlich, und jetzt kam Ultimo, und sie wollte noch gerne dazu sich eindecken, was sie à la longue getätigt hatte, und jetzt verkaufen, weil es ihr günstig schien. Und außerdem wollte sie zehn Stück Harpener fixen. Wozu war ihr Vater Kursmakler an der Börse, wenn die mißratene Tochter – so mißraten war sie doch noch nicht! – nicht etwas davon verstehen sollte!
Rosenemil aber war noch in seiner rotseidenen Husarentracht. Er hatte also das Regiment gewechselt, war von den blauen zu den roten übergetreten, saß im Sessel und las noch die Zeitung, wie es sich für einen gebildeten Menschen des Morgens geziemt. (Früher hatte er nur den Arbeitsmarkt studiert.) Aber die Brillantenberta las wie wild Zeitungen und häufte Stapel Papier auf und pfuschte sogar etwas in Politik herum – ein Spiel war das, das sie, wie alle Spiele, reizte. Wenn es sich ihr geboten hätte, wäre sie zu gern politische Agentin geworden. Das hatte sie sich immer so geträumt. Sie wußte nur nicht, ob für Deutschland, Frankreich, Rußland oder England oder für mehrere zugleich. Ihre Sprachkenntnisse prädestinierten sie geradezu dafür. Ihre Tätigkeit ebenfalls. Na ja, nun würde sie aber doch Panchite wohl heiraten (der schrieb so sehnsüchtige Briefe aus Odessa an seine weiße Taube) und jenen Ehrgeiz, wie so manches im Leben, begraben.
Also Rosenemil las die Zeitungen und wunderte sich, was Rußland wieder mit Japan wolle und England mit der Türkei und Amerika mit Brasilien. Daß de Leute doch jar keene Ruhe nich jeben können! Wer fragt schon danach, ob da nu die Wasserpollacken zu denen oder jenen gehören? Des kann doch völlig Wurscht sein. Deswegen bleiben se doch Wasserpollacken und Mausefallenjungs.
Und die Sonne kam schön von draußen, die goldene Morgensonne, durch die leicht schon herbstlichen Zweige der Linden, und es war alles so nett hier und von solch angenehmer Wärme, solch einer ruhigen, behaglichen, innerlichen Freundlichkeit. Es gab hier in der Wohnung wie in seinem Leben keine harte Ecke mehr. Na ja, ewig würde das nicht dauern! Das hatte ihm die Brillantenberta in Stunden sentimentalen Glücks zu verstehen gegeben. Aber warum sollte er das nicht mitnehmen, und sie hatte auch angedeutet, daß sie, wenn ihre Pläne, über die sie noch nicht sprechen dürfe (als ob er aus Dummsdorf wäre!), sich verwirklichen würden, sie weiter in guter Erinnerung an die lieben Stunden (also, was die doch immer so geschwollen daherredet! Taten das eigentlich alle gebildeten Menschen?) fürderhin seine gute Fee spielen würde. Und wenn man ein armer Deibel is, der unter karierten Bettüchern geboren wurde, so muß man eben mitnehmen, was kommt.
Also Rosenemil saß als roter Husar in dem Sessel mit dem roten Atlasbezug, denn hier – in diesem Raum – herrschte Tizianrot. Und las die »Voss«. Die hielt nämlich die Brillantenberta aus purer Anhänglichkeit, das hatten ihre alten Eltern seit Jahrhunderten getan, und die Brillantenberta war für gute Tradition. Das Tageblatt war ihr zu ungebildet und zu modern. Und Rosenemil wunderte sich grade über die vielen Worte, die kein Schwein verstehen könnte, und über Stephanis Deutsch, was gar keinen Sinn oft gäbe, als Black hereinkam und grinste – das war nun durchaus nichts Besonderes, denn er grinste immer –, aber diesesmal grinste er besonders und versuchte einen spitzen Mund zu machen, was ihm bei der Mundbildung schwer gelang, also grinsend meldete: »Draußen grauer Mann, klein Bart wie Katze, langes Mantel ... sagt Herr Lehmann ... Rosenemil ... Spitzmaus sprechen müssen.«
Also Rosenemil war ungehalten. Er wollte von den Leuten, die sich so gegen ihn benommen hatten, nichts wissen mehr. Aber dann sagte er sich, daß die Spitzmaus eigentlich ein armer Teufel wäre und daß er sich doch immer freundlich und anständig gegen ihn gezeigt hätte, eigentlich ja doch nicht zu der Clique da gehörte und ein gebildeter Mann wäre, wenn er auch verschnapst und herabgekommen war, aber sprechen wollte er ihn deshalb doch nich, und er griff in die Tasche und nahm einen harten Taler aus seinem Portemonnaie und kam sich als der gute Geist von Spitzmaus dabei vor.
Aber Black ging nur grinsend und kopfschüttelnd ab, denn er war zwar nur Black, aber er wußte genau, der Mann wollte kein Geld! Und richtig, Rosenemil hatte in der »Voss« kaum noch einen Absatz »düstere Wetterwolken scheinen sich im fernen Osten zu ballen« wieder aufgenommen – »Aber die Söhne der aufgehenden Sonne werden nur allzu schmerzlich erwachen, wenn eines Tages der winterschlafende Bär die wuchtigen Pfoten aus seiner Schnauze nehmen wird.« (Also das verstand wiedermal kein Mensch. Wozu hält ein Bär im August denn Winterschlaf?) –, als Black schon wieder da war und den Taler auf die Tischplatte fallen ließ. »Lustige Mann«, sagte er, »wuill keinen Monaie, lustige Mann will Herrn sprechen.« Und Rosenemil, doppelt beleidigt noch durch die Verkennung seines gütigen Herzens, wollte eben sagen, daß der Herr nicht zu sprechen wäre, als ihm plötzlich wieder – was er sehr lange nicht mehr gekannt hatte! – so etwas grün um den Magen wurde und er sagte: »Bitte 'reinholen, aber dalli, dalli, dalli!«
Und dann kam Spitzmaus herein, nicht viel anders als sonst, auch nicht mehr oder nicht weniger betrunken, als er sonst so gegen zwölf war, wo man nie entscheiden konnte, ob es noch von gestern oder von heute oder beides zusammen war. Sein Havelock war immer noch eng wie Fledermausflügel um seinen jackettlosen Leib gewickelt.
»Tag, Rosenemil«, piepste er.
»Laß dich nicht kirren,
laß dich nicht wirren
durch goldene Äpfel
in deinem Lauf.«
»Tag, Spitzmaus«, sagte Rosenemil nonchalant. (Also dieser Fatzke ist nur gekommen, um ihm Moralpredigten zu halten!) »Ja – was gibt es Neues bei euch?«
»Ach, nichts, Rosenemil. Ich seh', es geht dir ja gut, und ringsumher ist üppige rote Seide. Gut geht es dir in den Armen der Liebe und in den Höhlen des Reichtums und vor den Essenzen des Auslands«, zwitscherte er und sah sich nach allen Seiten um. »Oh«, sagte er, »ein Münch! Und da die herrliche Quellnymphe, die frühe – Böcklin, nicht Böck lin, nicht Bök lin. Nun, du bist ja in guten Händen, Rosenemil.«
»Und wie geht es bei euch?« meinte Rosenemil. (Wenn er nur nicht so gräßliche Magenschmerzen hätte!) Und dann blieb Spitzmausens Blick auf der bauchigen Flasche mit Curaçao hängen. Und war es vor Begierde danach oder in Erinnerung an bessere Zeiten, wo er noch solch ein Gläschen nach dem Essen, wenn man satt wie ein Schwein war und die ganze Speisekarte bei Habel herauf und herunter gegessen hatte, leise und mit zärtlichen Lippen und Gaumen tropfenweise schlürfte, seine Augen waren plötzlich ganz tränenverflort. Aber vielleicht hatte das auch noch andere Gründe.
»Darf ick dir ein Gläseken von dem Jift da einschenken, Spitzmaus«, sagte Rosenemil. Er hatte sich wieder in den Sessel gesetzt, und der andere stand an der anderen Seite des Tischchens; aber er setzte sich nicht.
»Na, setz dich hin, Spitzmaus, altes Haus, und gieß ruhig erst eenen hinter de Binde. Am Vormittag pflegste doch sonst gern mal so'n Gläschen Schnaps zu genehmigen. Der is dir woll nich fein genug? Na ja, die Sorte von Vater Strehmel hab' ich nu leider nich ... Die hier kann der ärmste Mann trinken. Des sagt dir Rosenemil.«
»Nein, Rosenemil, ich setze mich hier nich und ich trinke auch nicht«, sagte Spitzmaus.
»Was is'n mit de Polenliese?« fragte Rosenemil sehr leise, und ihm war gottverdammt übel. Aufregungen schlugen ihm leicht auf den Magen.
»Sie haben sie wieder 'rausgeholt«, sagte Spitzmaus.
»So ...«, sagte Rosenemil.
»Es geht ihr ja schon besser, aber sie hat immer noch die eine Lunge nich frei.«
»Warum denn die Lunge?« fragte Rosenemil.
»Na, wegen der Lungenentzündung, die sie dabei gekriegt hat. Un dabei is sie doch höchstens eine Minute im Wasser gewesen. Un das Wasser is doch jetzt gar nicht kalt.«
»Nein«, sagte Rosenemil, warf seine rote Husarenjacke auf den Boden und stand halbnackt nur mit der roten Hose um die Lenden da im Licht. Ein guter Körper, dachte Spitzmaus und stellte sich daneben seine eigene Hagerkeit vor. Wie die Brustmuskeln ansetzen, als ob er aus dem Äginetenfries käme.
»Wie kam denn das?« fragte Rosenemil.
»Na ja, von der Gertraudtenbrücke. Das heißt, etwas nebenbei. Über die Böschung.«
»Und daß sie es gleich gemerkt haben? War's am Tage?« Daran klammerte er sich, es könnte doch am Tag gewesen sein, wo hundert Menschen gleich da sind und den Kahn losmachen und nachspringen, mehr eine Demonstration als ein Selbstmordversuch.
»Nee, nee, es war so um zwei 'rum des Nachts«, sagte Spitzmaus leise. »Und keine Seele mehr auf den Straßen.«
»Und wer hat sie denn ...?«
»Ach Gott, es ist ihr jemand nachgegangen. Aber das ist ja nicht so wichtig, ich habe hier eigentlich nur ein Amt und keine Meinung.«
»Ach so, Palisadenkarl!« sagte Rosenemil.
» Ich habe darüber nicht gesprochen«, meinte Spitzmaus.
Aber Rosenemil verstand. »Black!« brüllte er. »Bring mir meinen alten Anzug! Sofort! Du schwarze Kanallje, mein Anzug! Mein Anzug! Mit dem ich hierhergekommen bin. Verstehste du, du Satan, ich frikassiere dich, wenn der Anzug nich in eine Sekunde ...« Black kam und grinste nur. »Nix da, Anzug«, sagte er, »Jim Anzug verkauft.«
»Du, Spitzmaus«, hatte Palisadenkarl nämlich gesagt, »wenn de een Wort zu dem Jungen, zu dem Rosenemil, sagst, des ich des war, denn mach' ick – Spitzmaus, du kennst mir, ich bin een juter Mensch –, aber denn mach ick Hackepeter aus dir.«
»Und soll ich ihm sagen, daß er wiederkommen soll«, fragte Spitzmaus.
»Mensch«, sagte Palisadenkarl, »du hast wohl Frost im Kopp? Du willst een gebildeter Mensch sein? Du bist auf Jymnasium gegangen, du hast dir auf die Universität umgetan? Und du hast nich mal jelernt daß man so was nich sagen tut? Dumm jeborn un nischt zujelernt, verstehste? Du sagst, wat is, und nicht mehr, keen Wort sonst. Wenn er nich kommt, denn laß mir man machen. Denn hol'n se den Jungen in acht Tagen, mit 'n Strick um de Beene, da 'raus, wo ick des Mächen 'rausgeholt habe, aber nich mehr so, als ick det Mächen 'rausgeholt habe. Verstehste? Aber ob er kommen muß oder nich, des muß er alleene wissen. Des kann man so'n Menschen nie sagen, so was hat eener oder hat es nich. Un wenn er's nich hat, denn hat er's nich. Schwach darf eener sein, dadafor kann er nich. Gemein darf aber eener nich sein, dafor kann er! Nu ja, ick bin da zufällig en bißchen noch de frische Nachtluft jenießen jejangen!«
In Wahrheit war er seit einer Woche dem Mädchen nachgelaufen. So etwas konnte er, ohne daß es jemand merkte. Denn niemand sonst hatte es kommen sehen. Die Polenliese hatte nicht einen Ton zu dieser ganzen Sache gesprochen. Nicht ein Wort zu irgend jemand. Sie war genau wie immer. Abend wie Abend, mit ihrer Pleureuse auf dem Hut durch die Straßen gelaufen, nur, daß sie keine Männer mit in ihre Kletterbude genommen hatte, und da sie weder das eine noch das andere getan hatte, wußte er genau, woran er war. Wenn sie gekeift hätte, wenn sie sich bei Strehmel einen angetrunken hätte, wenn sie mit andern Mädels Krach gemacht und sich mit Schirmen geprügelt hätte, all das wäre gut gewesen; aber da man ihr gar nichts anmerkte, war's faul. Und da hätten auch gutes Zureden oder Versuche, sie einem andern in die Hände zu spielen, gar nichts genützt. Wenn wenigstens noch der kleine Judenbengel zu ihr gekommen wäre, da wäre ja alles gut gewesen, der, mit dem sie jetzt immer in der Konditorei gesessen hat. Denn den soll sie ja einmal sehr gern gehabt haben. Aber der läßt sich nu auch nicht mehr blicken. Und Palisadenkarl hatte sehr recht gehabt, das war eigentlich die Schuld von Doktor Levy gewesen.
»Also ich warte dann unten auf dich«, sagte Spitzmaus, aber er konnte doch nicht umhin, sich hier umzusehen. »Ah, Slevogt! Was ist das für 'n amüsanter Rasta! Das liegt ihm!« piepste er leise vor sich hin. »Gute Kunst! Reizend der kleine Gussow da! Sehr gute Kunst! Oh, das könnte ... Also wirklich! Ja, beinahe doch; nein, es ist es ja! Ist das nicht wirklich und wahrhaftig die Hortense von Manet? Herrlich! Er hat sie noch mal im Strohhut gemalt, und dann gibt es außerdem dieses eine wundervolle Pastell.«
Rosenemil kam wieder herein, Spitzmaus sah zu ihm hin. »Man erkennt dich gar nicht wieder«, sagte er. »Wie doch gute Kleider einen Menschen verändern können! Wo is das her? Wo hast du das arbeiten lassen? Daladier? Na ja, man sieht doch! Da hab' ich früher auch arbeiten lassen. Tempora mutantur et nos mutamur in illis«, und er wickelte sich noch fledermaushafter in seine Talentwindel.
Und plötzlich, wie Rosenemil gehen wollte – er war sehr blaß, aber Magenschmerzen hatte er eigentlich nicht mehr (es ging ja auch bedeutend besser schon, hatte Doktor Levy gesagt, er hatte nebenbei seine Pflegerin die ganze Nacht hingeschickt und war viermal am Tage dagewesen, bis er sie aus dem Schlamassel 'raus hatte) –, fühlte er so'n Druck auf der Herzgegend. Ach richtig, da saß ja noch die Brieftasche, die aus rotem Juchtenleder. Na ja, sehr viel war nicht mehr drin. Denn wenn er mit der Brillantenberta ausgegangen war, hatte er doch zahlen müssen. Die Dame zahlt nicht. Und da, in diesen Freßlokalen, diesen gottselendigen, wo sie in ihren Verschlägen saßen wie die Affen im Käfig, war der beste Teil des letzten blauen Lappens daraufgegangen. Aber jedenfalls legte er sie wieder hin auf den Schreibtisch. Er wollte das nicht mitnehmen. Genug, daß er den Anzug hatte anziehn müssen. Denn seiner, mit dem er gekommen war, war ja nicht mehr da. Den Mantel ließ er auch im Schrank hängen. Sollte ihn Jim dann tragen! Der putzte sich gern, wie alle Neger. Und sein Stock stand auch nicht vorne im Ständer, da mußte er schon den da mitnehmen. Und sein Hut war auch fort, den hatte er Jim geschenkt. Wer geht auch jetzt im September noch mit einem Strohhut? Nur ein Neger!
Er wollte die Tasche ohne ein Wort hinlegen. Aber dann dachte er, daß die da ... sie war schon sehr fern von ihm jetzt eigentlich, das war richtig; immerhin: so, wie ihr sein Witz gefallen hat, hatte er an ihrer witzigen und schnellverbindenden Beredsamkeit Freude gehabt und etwas daraus gelernt, das ihm das Leben doch ein wenig reicher gemacht hatte. Also, warum sollte er da so ohne ein Wort ... und er schrieb mit seiner besten Handschrift »Adieu und Dank« auf ein Kärtchen mit dem Monogramm E. D. C., was ja ebensogut Eva Dora Cohn wie Eveline de la Croix heißen konnte. »Gruß und Dank«, schrieb er noch mal und legte es auf die Juchtentasche. In acht bis zehn Tagen würde ja doch Panchite aus Odessa zurück sein, und dann wäre es ja sowieso aus gewesen.
Und Spitzmaus stand unten und wartete und summte etwas vor sich hin, und wenn Rosenemil besser hingehört hätte, so hätte er –
»Wenn sie dann wieder von dir gehn,
Mit jedem Sakrament versehn,
Vergißt du sie im Augenblicke« –
Spitzmaus leise vor sich hin zwitschern hören. Früher, als er noch etwas tat, hatte er die Casta piana von Verlaine aus dem Buch »Parallelement« wirklich sehr schön übersetzt. Heute könnte Spitzmaus so was gar nicht mehr.
Einen Augenblick sah Rosenemil sich um. Draußen schien die Septembersonne in die Linden, die Reichstagskuppel funkelte, und die Puppe auf der Siegessäule ließ ihr goldenes Kleid flattern, als er sich noch einmal umdrehte. Aber wie er sich wieder zurückwandte, war Spitzmaus weg, war nach drüben, wo eine kleine armselige Droschkenkutscherkneipe der Schandfleck dieser vornehmen Gegend war, verschwunden. Die Sonne und vor allen Dingen der Curaçao, der bei der großen Hure von Babylon, wie er sich sagte, auf dem Tisch stand, hatten ihm Durst gemacht. Zum Schluß war, dem Curaçao zu widerstehen, für Spitzmaus ein schwererer Entschluß gewesen als für Rosenemil, hier fortzugehen.
Ja, und für ein Geschenk hätte Rosenemil der Brillantenberta auch noch zu danken, von dem er noch nicht ahnte, daß er es bekommen hatte. Der Schriftsteller ist eben kein Arzt, kein Doktor Levy. Schweigepflicht – Schweigepflicht; er ist nicht vereidigt, und gerade er ist es ja, der, trotz Freud, bislang immer wieder versuchte, in die Dunkelheiten der Seele hineinzuleuchten, und der es für seinen Beruf hält, nicht zu schweigen, Unangenehmes auszudeuten, Menschliches erklärbar zu machen und, wenn es nötig ist, auch indiskret zu sein und selbst das ärztliche Geheimnis nicht so genau zu nehmen, wie ein Arzt es nehmen muß. Nein, durchaus nicht.
Also die Brillantenberta hatte auch nie mehr geglaubt, daß sie einen andern noch anstecken könnte, denn ihr Arzt hatte sie des Gegenteils versichert. So blieb also in ihrem Umkreis als Objekt hierfür eben nur Rosenemil übrig. Und so war es geschehen.
Nun hatte diese Sorte von Masern, um ärztlich zu sprechen, oft eine ziemlich lange Inkubationszeit. Ja, es kommt vor, daß sie im Anfang nicht mal bemerkt wird.
Ja, und so war es auch hier mit Rosenemil. Mit Rosenemil, der in sehr schnellern Tempo hinten am Humboldthafen vorbei, wo Spitzmaus damals im Heukahn geschlafen hatte, in der Septembersonne nach der Invalidenstraße ging. Immer geradeaus. Hier hausten noch nicht so viele so eng beieinander. Hier war es noch etwas grün. Hier war noch etwas Raum. Große Gebäude und Gärten, eine Kirche; noch nicht nur das Gebrodel von Menschen, wie da hinten in der Chausseestraße und um den Stettiner Bahnhof und weithin nach der Lothringer Straße zu es war.
Und eigentlich war alles, wie es gewesen. Die Wohnung roch nach Flechten und Küche. Frau Rutsch, die erst im vierten Monat gewesen war, als er hinkam, war im siebenten. Sie sagte nebenbei nur: »Ach, da sind Sie« (ostentativ: Sie!) »ja auch wieder.« Sonst nichts.
Und die schwarze Brandmauer war wieder drüben vor dem Fenster. Und das Sargmagazin war genauso in Flor. Und Meta Hippauf machte mit ihrem stundenweisen Fremdenlogis genauso gute Geschäfte. Und die Polenliese nickte ihm ebenso zu und fragte nicht, wo er gewesen. Kein Wort. Sie lächelte nur etwas matt aus den Augenwinkeln und atmete nicht gut, immer noch zu hastig. Aber sie lag gar nicht im Bett. Sie saß in einem Großvaterstuhl, an dessen Backen sie den Kopf gut anlegen konnte. (»Ich werde mich hüten, sie liegen lassen, des wär'n Kunstfehler!«) Hatte Eier und Wein im Glas durcheinandergequirlt neben sich stehen (eine von Levys Medizinen), hatte ihren roten Kimono an und sagte: »Morgen darf ich schon länger aufstehn. Und übermorgen darf ich eine Stunde an die Sonne gehen.«
Kamm und Bürste steckten am Bett in der Tasche aus Kantenpapier. Die beiden Fächer aus Palmblättern hielten den Kelim gerafft. Die Postkarte mit der Schloßbeleuchtung leuchtete in der Sonne. Nur die Nähmaschine war sehr verstaubt. Rosenemil sagte auch nicht viel. Eigentlich war das andere schon alles wieder weg von ihm, ganz weit weg: die feinen Freßlokale, die Rennen, das Herrenmodehaus Daladier, der himmelblaue Raum und der tizianrote und das Marmorbad mit dem goldenen Löwenkopf. Vielleicht würde er heute oder morgen der Brillantenberta noch mal ausführlich schreiben. Endlich war sie ein kluger und kein schlechter Mensch – und sie müßte das doch einsehen, daß eine »Laune« endet.
Aber Rosenemil schrieb heute nicht. Und er schrieb morgen nicht. Und er schrieb übermorgen nicht. Weil er gestern und vorgestern nicht geschrieben hatte. Und da er doch nicht so den ganzen Tag zu Hause bei Lissi sitzen konnte – etwas Geld hatte er noch, aber nicht viel mehr, na, es würde schon wieder was zukommen, eine Weile reichte es ja, und große Sorgen hatte er sich eigentlich nie gemacht –, so ging er auch mal zu Vater Strehmel. Man war dort nicht unfreundlich, ja fast höflich zu ihm. Behandelte ihn nicht als Luft, aber er zählte nicht mehr. Das merkte er. Es waren auch nur wenige vorhanden noch. Palisadenkarl war nicht da. Wer weiß, wo grade.
Das Klavier, das merkte er gleichfalls, wie er die erste Taste anschlug, schien noch verstimmter. Was er aber nicht merkte – dazu war er doch erst zu kurze Zeit dabei –, daß man hier nur der Polenliese wegen ihm nicht die Knochen kaputtschlug. Sonst hätt' man's sicher getan. Nicht mal die doofe Paula tat schön mit ihm. Und so trottete er wieder 'rauf zur Polenliese und spielte mit ihr Sechsundsechzig.
Wirklich, es machte sich, ging ihr besser. Aber Levy gefiel die Sache nu mal ganz und gar nicht. Doch wem sollte er das sagen? Das würden ja alle Beteiligten früh genug merken. Wenn es wirklich noch mal was würde, so würde er sehen, sie ohne den Jungen irgendwohin zu schicken. Endlich kann sie für das Geld, was er ihr versprochen hatte, doppelt so lange wo in der Schweiz sein. Aber nicht vor November. Bis dahin ist das Wetter noch so unbeständig. Er war eigentlich stolz, wie klug er das eingefädelt hatte. Der Junge machte sein Abitur, Benjamin, mein Sohn, und schien über die Sache ganz hinweg zu sein. Wenigstens hatte er nie mehr einen Laut davon gesprochen. Und sie war ja auch leicht von ihm losgekommen. Vielleicht schneller, als er je gehofft hatte. Er hatte sie also doch überschätzt.
Ach Gott, Doktor Levy war ein sehr guter Arzt und ein menschlicher Arzt, dem seine Patienten mehr waren als leere Medizinflaschen, die er mit Medikamenten füllte, aber er wußte immer noch nicht recht viel von der Seele der Leute, die er seit zwanzig Jahren hier verarztete. Er sprach natürlich ihren Jargon mit jeder Finesse, wußte den rabiatesten Kerl und das verkommenste Frauenzimmer zu nehmen mit zehn Worten und sich in ihr Vertrauen zu setzen. Aber weiter kam er doch nicht, der Entenschnabel. Und so ahnte der brave Doktor Levy gar nicht, was er hier mit seiner Unklugheit verbockt hatte. Die Polenliese war stolz, eigentlich viel zu stolz. Sonst hatte sie ja nicht viel. Sie war zu stolz, dem Rosenemil auch nur ein Wort zukommen zu lassen. Und sie war zu stolz, ein Versprechen zu brechen, das sie so oder so einmal gegeben hatte. Hanni konnte keine Enttäuschungen vertragen und sie keine bereiten. Hundertmal hatte sie die Feder angesetzt, um zu schreiben: »Max, ich warte heute um halb zwölf auf dich wie immer«, und dann hatte sie es aus Stolz nicht getan und war ins Wasser gegangen. Hätte sie es getan, und der leere Platz an ihrer Seite wäre besetzt gewesen, sie hätte gar nicht daran gedacht, ins Wasser zu gehen, sie wäre so geblieben, wie sie war, und ihre Krankheit, deren Ausheilung sich so gut anließ, hätte sicher die gleiche Tendenz beibehalten. Und wenn Rosenemil eines schönen Tages, ohne oder mit Zigarettenladen, zurück zu ihr gekommen wäre, so hätte sie ihn ebenso herausgeworfen wie seinen Vorgänger. Und wenn er Sperenzchen gemacht hätte, so hätte ihn sicher Palisadenkarl oder noch ein paar andere dazu genauso zusammengestochen und Doktor Levy ihn genauso wieder zusammengeflickt wie eben diesen Vorgänger. Und wenn der kleine Benjamin, Benjamin, mein Sohn, sich um sie in den letzten Tagen nicht gekümmert hatte, so lag das daran, daß das Abitur ein Nonsens, eine ekelhafte Quälerei ist, zu der man eben büffeln und repetieren muß. Selbst wenn man Max Benjamin und die Kanone der I O ist.
Gewiß, sie war wieder sehr glücklich, wenn auch sehr still glücklich mit Rosenemil, die Polenliese; sie erholte sich auch. Aber sie erholte sich nur langsam. Doch wenn sie auf die Straße ging, schwitzte sie noch. (Vor Anstrengung, wie sie sagte.) Und die Treppe, die sie sonst heraufgerannt war, dauerte Minuten. In der Lunge stach es ihr wirklich genug, wenn sie hustete. Aber sie sagte dem Doktor Levy nichts. Wozu auch, das gab wieder neue Umstände. Sie mußte doch endlich wieder gesund sein und werden. Denn es begann ziemlich energisch, ihr an Geld zu mangeln. Den letzten Blauen hatte sie schon heimlich aus dem Kelim getrennt. Und Rosenemil hatte von der Brillantenberta auch nichts mitgebracht. Der Anzug, den sie ihm gekauft hatte, gefiel ihr viel besser als die blöde Fatzkenkluft, die die Olle ihm aufgehängt hatte. Aber ihr anderer war eben weg. Und die beiden, die er sich selbst gekauft hatte (Männer verstehen so was nicht!), der Kammgarn und der Cheviot, gefielen ihr auch nicht grade. In dem mit den Bleistifthosen liebte sie ihren Rosenemil am meisten.
Ja, und die Brillantenberta? – Oder wer etwa glaubte, daß die so eine war, von der man sich so ganz still wegschleichen könnte? Der Kerl da war dumm! Er hätte jetzt in ein paar Wochen doch zehn braune Lappen gekriegt. Als seine Morgengabe zu ihrer Hochzeit. Denn sie war doch nach reiflicher Überlegung dahin gelangt, eine Kombination von Schwangerschaft und Selbstmord (doppelt genäht, hält besser) in Anwendung zu bringen und die Sache mit aller Energie, über die sie verfügte, zu betreiben und aufs äußerste zu beschleunigen. Dumm war der Kerl – dumm! Zehn Braune hätte sie ihm geschenkt, aus alter Anhänglichkeit, ihrem süßen Alfons. Damit hätte er ein Geschäft aufmachen können. Für zehntausend kann er einen Zigarrenladen in der Mittelstraße haben. Sie hätte ihn noch sogar ausgesucht. Und für die rarsten und billigsten Importen hätte sie auch noch gesorgt durch ihre Überseebeziehungen. Da hätte in ganz Berlin kein Boenicke und Eichler ihm die Stange halten können! Und da rennt der elende Bursche wegen so einer kleinen, armseligen Vorstadtnutte, die ihm ein bißchen Theater vormacht, Hals über Kopf von ihr weg.
Und alles war nicht so schlimm wie das. Das hatte sie in ihrem Ehrgefühl, ja in ihrem ganzen Frauendasein tief getroffen. Viel, viel tiefer, als sie sich eingestehen wollte. Denn es hatte ihr etwas mit mathematischer Genauigkeit – es gab keinen Gegenbeweis – bewiesen, was sie wußte und gegen das sie kämpfte. Nämlich, daß es mit ihrer Macht als Frau zu Ende ging. Oder daß das doch schon zum mindesten die ersten gelben Zweige an ihrem Lebensbaum bedeuteten und daß es ihr fortan nicht mehr gelingen würde, den Männern den Fuß auf den Nacken zu setzen, wie sie es souverän seit fünfzehn Jahren getan hatte. Es lagen sogar vier Leichen am Weg, über die sie weggeschritten war. Was ging es sie an, wen sie ruinierte! Wer sich ihretwegen erschoß! Mit Vermögen war sie fertig geworden, die als unerschütterlich galten, Brüder hatte sie auseinander gebracht, Ehen zerstört. Und dann den Mann, der es ihretwegen getan, links liegenlassen.
Und das war nun zu Ende! Die Pendelschwingungen ihres Lebens begannen nun doch kürzer und langsamer zu werden. Bisher hatte sie Laufpässe ausgestellt, und nun tat man das ihr. Also es war höchste Zeit, daß Eva Dora Cohn, daß Eveline de la Croix, in den Hafen lief, bevor der Sturm kam und das Schiff leck wurde und sie die Masten kappen müßte. Aber der Hafen würde auch eine Episode sein. Nein, sie war noch lange nicht mit dem Leben fertig.
Aber jetzt, jetzt noch einmal, wollte sie beweisen, wer sie war und was sie für eine Macht über einen Mann hatte. Im Dreck und auf der Straße hatte sie den Jungen gefunden. Was hatte sie sich für Mühe mit ihm gegeben, und sie hat ihn nicht halten können. Was er wollte, konnte er haben. In Seide hätte sie ihn gesteckt. In Gold gesetzt. Und da legt er die Brieftasche wieder hin mit den paar Kröten und geht von ihr, von der Brillantenberta, die Tausende für eine Nacht bekommen hat, weg zu so einer armseligen und verdreckten Fünfgroschennutte.
Das machte sie rasend vor Wut und Haß. Sie hätte ihn kalten Bluts erschossen, und sie überlegte sich auch, ob sie es nicht tun sollte. Ihm Strychnin in den Kaffee gestreut. Und sie überlegte sich das auch. Denn sosehr die Brillantenberta lieben konnte, wenn sie wirklich liebte, dann gab sie alles, was sie hatte, ihr Vermögen, sich selbst, ihr Leben, wenn es möglich gewesen wäre; so gemein sie sein konnte, wenn sie wie eine Spinne im Netz die Fliegen aussaugte, wenn sie sie erst eingesponnen hatte und mit einem Biß ihrer giftigen Kiefern tötete, wenn sie nicht liebte, ebensosehr bis zur Vernichtung konnte sie auch hassen, wenn sie geliebt hatte, hassen bis zur Raserei, bis zur letzten Vernichtung. Dann war sie jeder Niedertracht fähig. Das hatte sie mehr als einmal bewiesen. So klug sie war, so weit ging dann ihre Borniertheit. So gut sie sein konnte, so grundschlecht konnte sie dann sein. Wirklich, sie war kein halber Mensch; was sie tat, tat sie ganz. Vor allem, wenn hinter ihrem Tun ein Gefühl stand, tat sie das radikal und ganz, die Brillantenberta! Und hier stand hinter ihrem Tun ein Gefühl, wie sie es seit Jahren doch nicht mehr gekannt hatte, bei Panchite nicht kennen wollte und sich bei dem Hund, dem Turfkarl, ihm nur widerwillig gefügt hatte.
Sie wollte um jeden Preis diesen Jungen sich zurückholen. Sie wollte sich diese letzte Genugtuung, diesen allerletzten Sieg noch gewähren. Nachher mochte er machen, was er wollte. Aber jetzt, die paar Wochen, bis sie es sagte, daß er gehen könne, müsse er bei ihr bleiben. Und wenn sie diese petite grue da, diese elende Vorstadtnutte, zertreten müsse, diesen Dreckfetzen, diese Schlampe.
Sie hatte hier genug von allen. Genug von Europa überhaupt. Sie mußte dann wohin, wo sie an diese Niederlage, diesen Pyrrhussieg bestenfalls, überhaupt nicht mehr dachte. Andere Luft! Andere Menschen! In eine ungeahnte Weite und Großzügigkeit. Los von allem hier. Aber das mußte sie noch! Sie, die Brillantenberta, durfte nicht, von solch einer Straßenhure zu Boden geworfen, sich mühsam aufrappeln und dann die Flucht ergreifen! Noch war sie da, und solange sie da war, duldete sie keine solche Niederlage auf dem alten Schlachtfeld.
Aber was blieb der Polenliese übrig, sie konnte doch nicht zu Hause bleiben, und sie tat schon sehr viel Rouge auf, was sonst nicht ihre Art gewesen war. Denn wenn man so blaß aussieht, dann denken de Männer, man is krank, und jehn nich mit. Und da sprach sie gleich am ersten Abend, wie sie wieder richtig vor die Tür ging, ein feiner Herr an; nu ja, nach der Sprache so war er das nich gerade, aber er war sehr vornehm angezogen und er fragte nicht, ob er mit ihr gehen könne, sondern ob sie mit zu ihm gehen wollte. Die Polenliese aber wollte nicht. »Wo das wäre?« fragte sie zur Vorsicht. »Ach, draußen im Westen!« Das wäre sehr weit, und es würde lange dauern, bis sie zurückkäme (und Emil würde sich ängstigen). Na ja, wenn sie ihm vorher eine Botschaft geben könnte, daß er sich nicht ängstigte, wenn sie vielleicht später käme! Und dann so mitlaufen, das wolle sie auch nicht. Es war ein trüber und regnerischer Abend, und das war ihr zu anstrengend jetzt schon gleich. Und nachher käme nicht mal was bei 'raus, und sie verlöre nur Zeit. Na ja, und die Polenliese wunderte sich auch, warum solch ein feiner Herr, wenn er ein Mädchen haben wollte, von Westen, wo er doch die Auswahl über und über hatte, hier, nich mal in de Lothringer, sondern, noch schlimmer, in de Lottumstraße käme. Das kam ihr nicht geheuer vor. Aber es gibt so piekfeine Äser, die ganz absonderliche Neigungen haben und denen solch Mädchen nicht armselig, nicht wüst, nicht roh, nicht schlampig genug sein kann. Aber all das war sie doch gottlob gar nicht. Und dieser feine Mann gefiel ihr schon noch weniger. Irgendwas in seinem Gesicht gefiel ihr nicht. So einer quält einen denn und schlägt einen womöglich. Und dafür war sie nicht. Auch wenn man ihr noch soviel bot. Und jetzt war sie schon gar nicht dafür. Außerdem hatte sie kalte Füße, wie sie da so unter der Laterne stand und parlamentierte.
»Na, kommen Se schon mit, Mädel, das wird Ihr Schade nich sein. Un tun tu' ich Ihn'n ja nichts. Oder seh' ich so aus?«
So siehste aus, wollte die Polenliese sagen.
Aber da steckte ihr der Mann einen kleinen Schein in die Hand. »Des is Handjeld«, sagte der feine Pinkel.
Na, Jott noch mal, dachte die Polenliese, wofor fürchteste dir eijentlich? Dir tut keener was. Un Jeld brauchste. Wenn eener mir was will, mach' ick Krach ... Denn kreisch' ick, daß man das drei Nebenstraßen weit hört.
»Paula«, rief sie über die Straße, »jeh mal 'ruff zur Rutschen« – denn die Paula wollte gerade mit einem Freier zu »Meta Frühauf, auch stundenweise« –, »und sag, ich komme vielleicht später.«
»Ja«, rief die doofe Paula zurück. »M. w. – machen wir!« Und dann dachte sie bei sich: Jott, det is doch der Jardefranz! Des der sich hier in die Jejend traut. Wenn den der Palisadenkarl faßt, der dreht'n doch 'n Kopp um wie 'ne Taube.
Aber Paula hatte keine Zeit, je kürzer der einzelne dauerte, desto besser ging's Geschäft.
»Ach Jott, lange brauchen wir nicht«, sagte der feine Herr, »inne Stunde biste wieder zurück. Du kannst ja mit 'ne Droschke wieder zurückfahren. Des springt bei so einem Freier, wie ich bin, schon 'raus.« Und er gab ihr noch einen Zehnmarkschein als Handgeld.
Komisch, daß da in der Lothringer Straße an der Ecke vor der Destille, wo die Plakate für die Preisringer in die Blumensäle im Fenster hingen, gleich 'ne Droschke stand, als ob sie gerade auf sie gewartet hätte. Sonst konnte man eine halbe Stunde lauern, bis eene kam. Und noch komischer, daß der feine Pinkel gar nicht sagte, wo sie hinfahren sollte, sondern sie fuhr schon ab, als er kaum den Fuß auf dem Trittbrett hatte. Und noch komischer, daß der Mann da neben ihr, und das tun sie doch immer, gar nicht mal gleich zudringlich wurde, nicht mal zu knutschen begann und kaum sprach und sogar versäumte – das nahm ihm die Polenliese beinahe übel, sollte sie schon so wüst, alt und häßlich geworden sein? – ihre Hand in stiller Ergriffenheit in die seine zu legen. Ja, und wenn er nach dem Westen wollte, so hätte er doch von der Chausseestraße nach den Linden fahren müssen und dann nach dem Brandenburger Tor und durch den Tiergarten, da würden sie alle, aber auch alle, zudringlich. Das wußte sie. Vielleicht wollte er solange noch warten, aber er fuhr gar nicht so, er fuhr die lange Invalidenstraße herunter, wo sich die Häusermassen etwas lockerten. Am Humboldthafen vorbei, wo im Dämmern die Zillen mit den Kalksteinen und den Ziegeln aus Treuenbrietzen und die großen Heukähne, in denen, wenn es gar nicht anders ging, Spitzmaus pennte, lagen. Und die Laternen ihre langen Lichtbrücken über das Wasser schlugen. Die Polenliese kannte das: diese Lichtbrücken. Denn das war, wie sie so von der Gertraudtenbrücke erst vor vierzehn Tagen des Nachts von drei Viertel zwei bis zwei heruntergestarrt hatte, genauso gewesen. Sie hatten da auch immer so geglitzert, als wenn lauter kleine Fischchen drin schwämmen. Ja, und dann bogen sie ein, unter der Stadtbahn durch, zwischen gelben Linden hin, in deren dünnem Laub die Laternen ihre Lichtkreise hatten, daß man sah, wie das Gold des Herbstlaubs um sie herum im Sprühregen langsam abblätterte. Dann kam eine ganz breite Brücke mit sehr viel, sehr viel Kandelabern mit sehr, sehr viel Glühlicht, die aber, wie die ganze Gegend hier, ganz leer war. Oben hinten dämmerte in der Luft, kaum zu erkennen, die Puppe von der Siegessäule, und da hielten sie schon vor einem sehr vornehmen, villaähnlichen Haus mit einem stillen Vorgärtchen, das so vornehm war, daß der Eingang, in den die Droschke vorfuhr – unter ein Glasdach und zwischen Kandelabern und vor Stufen mit roten Läufern –, gar nicht nach der Straße heraus, sondern von der Seite war. Und der Mann war so piekfein, daß er gar nicht bezahlte, sondern ein richtiger Neger, der wohl sein Diener war! Da hatte sie mal Glück gleich gehabt. Der würde ihr noch viel mehr sicher für die eine Stunde, denn länger blieb sie nicht bei ihm (für diese Fälle hatte sie immer eine kranke Tante in Pankow bereit, die voraussichtlich im Sterben läge und zu der sie heute nacht eben noch, koste, was es mag, hin müsse, wenn sie nicht enterbt werden wolle), noch viel mehr für die eine Stunde schenken.
Ja, und dann war es wunderschön. So'n feines Haus hatte die Polenliese überhaupt noch nicht gesehen. Ein ganz roter Kaisersaal und lauter richtig gemalene Ölbilder in breites Gold an de roten Wände. Und lauter solche Püppchen auf de Konsolen! Also die Polenliese war doch sehr beklommen. Was will ein Mann von ihr, wenn er sie hierhin in so'n feines Haus mitjeschleppt hat? Das stimmt doch nicht! Und warum führt er sie in die gute Stube? Gewiß, sie war schon oft in gute Häuser gekommen, aber doch nicht in de gute Stube gleich, sondern über die Hintertreppe sofort ins Schlafzimmer. Der wollte was ganz Böses.
»Na, Polenliese«, sagte der Mann, und das erste Mal war er ganz freundlich, aber von gar keiner verliebten Freundlichkeit, mit solche Stimme, die wie Flammeri bibbert und ganz sammetweich wie 'ne Portiere wird. »Na, Polenliese, nu setz dir man ruhig hierhin«, sagte er mit einer rein kollegialen Freundlichkeit, »mein Kind, ick komm' denn gleich wieder. Willste rauchen? Da sind die Zigaretten. Oder besser nicht. Aber nimm dir solange 'ne Appelsine.« Und dann streichelte er sie sogar. Er tat nur so. Das Leben zwang ihn nur, den Fatzke, Esel und Schnösel zu markieren. Im Kern war er ganz nett, der Jardefranz. »Du bist doch de Allerbeste, wenn de andern nich zu Hause sind. Sei vorsichtig – die is'n Aas.« (Wer is'n Aas? dachte die Polenliese.) »Ick komm' gleich wieder, ick muß mir bloß mal die Hände waschen. Und der Droschkon is schon bezahlt. Die wart' unten.« Und damit, er hatte sich gar nicht sein kurzes Affenjäckchen mit den fünf Steppnähten ausgezogen, ging er hinter. Und die Polenliese saß allein und guckte vor sich hin.
Tun würde man ihr hier sicher nichts. Aber woher wußte der komische Freier, wie sie genannt wurde – die Polenliese?
Jardefranz war ganz froh, denn die Brillantenberta hatte ihm hundert Mark versprochen (und ihr Versprechen hielt die!), wenn er die Polenliese, ohne daß sie es merkte oder daß er sie verschüchterte, hierher in die Wohnung brächte. Und das hatte er nun getan. Und es hatte ihm nur – mit der Droschke drei Fahrten, hin, zurück und wieder hin für die Polenliese – sechsundzwanzig Mark gekostet. Da hatte er vierundsiebzig bei glatt verdient. Großzügig war die Brillantenberta. Auch zu Turfkarl war sie großzügig gewesen. Der Lausebengel schmiß überhaupt seit 'ne Woche nur so mit 'n Jeld 'rum und kam aus 'n Jum garnich mehr 'raus. Er hatte davon auch eenen Brummkopp. Ejalweg Sekt is auf de Dauer ebenso langweilig wie allens andere auch – diese Scheiße!
Und dann kam eine große, sehr statiöse Dame mit gefärbten Haaren, aber mit ein paar Augen – also sone Augen, die sind ein Kapital! – und sehr schönen Armen – sehr schön, aber sonst war sie ein bißchen schwer schon und sehr zurechtgemacht – herein und mit einem weiten, sehr bunten, mit Lilien und Drachen bestickten Morgenrock. Der Polenliese aber war nicht recht klar, was eigentlich diese Dame von ihr wollte. Denn das war doch etwas absonderlich: Wenn sie mit einem Mann mitgeht, daß sie die Frau eben dieses Mannes empfängt, statt sie herauszuwerfen. Solche Dinge, wo sie sich in Besenkammern flüchten mußte, bis die Luft wieder rein war, wo sie sich hinter Gardinen verstecken mußte, waren ihr auch schon passiert. Aber das nicht, daß die Frau von dem Mann sie mit einem Lächeln, als ob sie eine große Dame wäre, empfängt. Also: was die wollte, is nich! Nich für Millionen! Da soll sie sich 'ne andere suchen. Sie hatte Zeit verloren. Dafür hätte sie Geld bekommen. Und damit sind sie quitt. Das wird sie auch sagen, es gibt ja genug Mädchen, die so was machen. Es gibt genug Mädchen, die zusammen wohnen. Es gibt ja genug, die mit 'ne Freundin sich 'rumziehen. Aber mit ihr kann man so was nich treiben. Mit ihr nicht! Dazu ist sich Lissi Morgen zu schade. Einen Mann kann ich gern haben, weil er ein Mann ist. Und selbst wenn ich ihn nicht gern habe ... denn bleibt er doch een Mann.
Aber die Brillantenberta sah sie an – sie sah mit einem Blick: krank – aber zauberhaft schön, wirklich die »Simonetta«. Und diese Haare, diese Haare! Und wie sone Hand auf der Stuhllehne lag ... Da konnte sie nicht mit. Aber krank. Und eigentlich tat ihr – wie Palisadenkarl – die Polenliese leid, und sie war sofort fest entschlossen, wieder mal die gütige Fee zu spielen. Ja, wie sollte sie die Sache einfädeln? Sollte sie sagen, sie mache Studien zu einem Roman? So was kennen die Mädchen, da sind immer so junge Leute auf den Tanzbumsen, die sagen zu ihnen, sie sind nur hier, um Studien machen zu wollen. Sollte sie erst erzählen, daß sie Malerin wäre, von ihr gehört hätte, da hängt zum Beispiel ein Gemälde von ihr. Sie hätte ja auf den Manet zeigen können, oder auf den Böcklin, und sagen, so ganz nebenher, daß das Bild von ihrer Hand wäre. Und ob sie ihr nicht mal Modell sitzen könnte. Natürlich nur anständig, Kopf, höchstens Halbakt. Aber dann verwarf sie diese beiden Pläne. Sie dachte sehr schnell, das alles ging in Bruchteilen einer Minute, und beschloß, gar nichts zu sagen, sondern erst mal Tee zu trinken. Abwarten und Tee trinken, fiel ihr ein (und das hätte auch der kleine Benjamin gesagt). Und richtig, da rollte schon Black mit dem Teewagen herein in seinem roten Uniförmchen, wirklich ein richtiges Schokoladenmohrchen, wie mit einem kleinen Eiskarren, nur daß er ganz lautlos über den großen Aubusson glitt statt quietschend über den Asphalt: Eis! Eis! Speiseeis! Vanilleeis!
»Kommen Sie, mein Fräulein«, und sie zog ihr liebenswürdigstes Register, »es ist schon kühl draußen, Berlin hat ein schauderöses Klima. Was nehmen Sie zu dem Tee, Zitrone oder russische Früchte? Oder sind Sie mehr für englische Orangenmarmelade? Das heißt, hier ist sie nicht so ganz echt. Erst wärmen Sie sich auf, legen Sie doch ab. Black, warum hast du der Dame nicht den Hut und das Jackett wenigstens abgenommen? Sie werden sich erkälten. Ich lass' gerne schon um die Übergangszeit im Kamin ein paar Scheite anlegen. Ich bin sehr frostig. Sie heißen Lissi? Schmeckt Ihnen der Tee. Ich möchte gerne Ihr Vertrauen gewinnen. Aber darüber können wir ja nachher reden. Sie leben angenehm? Finden Sie, daß ich es nett hier habe?«
»O ja«, sagte die Polenliese, »danke, ich lebe ganz angenehm. Sie haben es ja auch nicht schlecht hier! Sind das alles richtige Ölbilder?« – Was wollte die eigentlich von ihr denn? Aber der Tee war gut. Er rieselte einem so durch und machte einen einfach mollig. Es war so hübsch warm hier, und im Kamin knisterte ein Buchenscheit, wie sie das immer in der Gartenlaube abjebildt jesehen hat ... Und die alte Frau ist ganz nett, streichelt ihr sogar einmal übers Haar. »Ist das alles echt?« sagte sie.
»Soll ich's aufmachen?« sagte die Polenliese.
»Nein, nein, ich glaub's auch so.«
Aber die red't soviel, und sie ist doch eigentlich matt. Matt ist sie doch noch. Doch sie freut sich, hier zu sitzen. Ihr Großvaterstuhl war hart und mit Leder überzogen; der ist weich und mit Seide überzogen. Gott, so oll' is die Frau eigentlich noch gar nicht! Jetzt ist sie jünger wie vorher. Wenn sie nur nicht soviel reden würde.
»Aber Sie nehmen ja sowenig, Kind«, sagte sie wieder und legte ihr noch zwei Kuchchen auf. »Die Eclairs sind bei Huguenin auch nicht besser.«
»Ja, ja«, sagte die Polenliese ...
»Ich esse Kuchen für mein Leben gern ... aber ich darf nicht ...«
»Warum nicht?« fragte die Polenliese. Aber die Brillantenberta überhörte die Frage.
»Sie brauchen nicht diät zu leben.«
»Nein«, sagte die Polenliese. (Was is'n diät?)
»Mein Vater hat sich schon immer darüber schief gelacht, wenn ich bei Kranzler den ganzen Ladentisch leer gegessen habe.«
»Ach«, sagte die Polenliese, »meiner nich. Aber nun möchte ich gehen, gnädige Frau.«
»Hören Sie, Fräulein Lissi«, sagte die Brillantenberta und schob den dritten Mohrenkopf in das Fallgitter ihrer sehr weißen Zähne. »Diese Makronentörtchen sind sehr schmackhaft«, sagte sie mit vollem Mund. »Hätten Sie Lust, aus Deutschland fortzugehen?«
»Nein«, sagte die Polenliese erstaunt ... in ihr dämmerte etwas auf ... Ah, sagte sie sich, jetzt nur noch Buenos Aires oder Rio! Dann weiß ich, was die will ... So dumm bin ich doch nicht, auch wenn ich nicht soviel rede.
»Es ist nämlich möglich, daß ich nach Südamerika demnächst heiraten werde. Möchten Sie mich vielleicht als meine Kammerzofe begleiten, Fräulein? Ich glaube, man lebt drüben in Rio sehr groß. Hier ist ja doch alles klein und jämmerlich. Die Sprache lernt man schon.«
»Ja, ja«, sagte die Polenliese, »das habe ich auch schon gehört, Madame, zwar nicht gerade für Kammerzofen ... aber in meinem Gewerbe soll man drüben viel verdienen.«
Die Brillantenberta lachte auf. Und plötzlich ließ sie die Maske fallen, sie wand sich fast vor Lachen. Ihr schöner Mandarinenmantel war auseinandergeklappt, und sie schlug sich auf die dicken Schenkel, auf die langen fleischfarbenen Seidenstrümpfe, die darunter hervorschauten ...
»Polenliese«, rief sie, »du sollst einen Kuß von mir kriegen! Für alles hat man mich schon gehalten, aber für das noch nicht. Aber c'est une idée! C'est une idée! Ma petite cocotte, wenn alle Stricke reißen, das bleibt!«
Die Polenliese wollte auch lachen. Aber sie war irgendwie sehr traurig. Was will eigentlich die Brillantenberta von ihr, warum hat sie sie hierhergelotst? Es genügt doch, daß sie ihr ihren Freund weggeschnappt hatte. Es ist doch nur Zufall, daß sie noch hier sitzt. Und nun soll sie noch weiter bei ihr bleiben. Nein, wozu das? Sie ist müde, man soll sie nicht noch mehr quälen.
»Komm«, sagte die Brillantenberta, die auch aufgestanden war, »komm, willst du mal sehen, wie ich es hier habe – nein? Ich habe einen Freund, einen Kaffeekönig aus Rio. Mit dem gehe ich 'rüber. Wirklich, mir fehlt eine gute, hübsche, geschickte Zofe. Sie muß sauber sein. Die man gern um sich leiden kann. Das wäre doch was für dich.« Und sie legte der Polenliese ihren schönen und fleischigen Arm um die Schulter. »Wir haben doch ungefähr die gleiche Größe und die gleiche Figur.« Sie kicherte wieder. »Na, ja, ich muß doch mal wieder eine kleine Entfettungskur über mich verhängen, dann könnten wir als Schwestern gehen. Mädel, ich möchte dich – dich managen. Du könntest heute eine Villa und eine Equipage haben. Wie konntest du dich da draußen vergraben.«
Vielleicht tut es ihr doch leid, was sie getan hat. Aber geliebt hatte sie Emil nicht ... Sonst wäre er ja doch nicht gleich zurückgekommen, wie es ihm Spitzmaus gesteckt hatte.
»Komm«, sagte sie und faßte die Polenliese untern Arm und zog sie bis in ihr himmelblaues Schlafzimmer mit der roten, lauschigen Stehlampe, mit den blauen Seidentapeten, den galanten französischen Kupfern, mit den eingelassenen Schränken ringsum, machte alle Türen auf: Kleider in Reihen, ein ganzes Arsenal, seidene und Tuchkostüme und Nachmittagskleider und kleine und große Abendtoiletten und Hüte, ein Lager, und Pelze und Stiefel in Kohorten in allen Farben, in denen Leder zu färben ist, und Stapel von seidener Wäsche und Korsagen, in lila, rosa und himmelblau, und seidene Abendmäntel und Capes und Pelzjacketts und Pelzmäntel bald ein Dutzend.
»Ach Gott«, sagte sie, »wozu hebt man eigentlich all solch Zeug nur auf? Das meiste davon kann man doch nicht mehr tragen. Weil's eben unmodern ist ... die da ...« (Sie wollte sagen, die hatte ich an, wie ich Rosenemil kennenlernte.) Aber sie sagte: »Du könntest doch auch ein großes Abendkleid mal für die Mohrensäle oder das Ballhaus brauchen! Dein Kostüm ist schon ganz blank in den Nähten. Änderst du es dir selbst – ja? Sehr tüchtig! Willst du das mal überziehen? Na, du kannst es ja zu Hause machen. Ich schicke es dir durch Black dann. Ich habe fünf halbe Pelze ... das ist überhaupt nur Wamme ... das trage ich doch nicht. Und drüben werde ich doch keine Pelze mehr brauchen. In vier Wochen heirate ich vielleicht ... Dann heiße ich de Ramiros ... Na ja, ewig kann man auch nicht de la Croix heißen, auch wenn's mir besser gefällt ... Und willst du mal hier sehen?« Sie schloß eine Stahlplatte auf, von der man nur ein Stückchen beiseite schieben konnte, und das Ganze war hinten in die Rückwand eines Schrankes eingelassen. »Du darfst aber nichts verraten, Polenliese, sonst kommen deine Freunde und murksen mich hier ab. Das weiß keiner. Die denken alle, es ist auf der Bank«, und sie schob eine Rolljalousie hoch und knipste eine Glühbirne an, die flach im Schrank, oben an der Decke des Schranks, innen angebracht war. Und da hingen sechs Perlenketten und eine große Brillantagraffe, ganze Brillantkolliers, Solitäre, Diamantbroschen, ein Kasten mit Ringen, wie das Lager eines Juweliers, Türkisen, Rubinen, Saphire und Smaragde, große Opale, indische, als Ohrringe, Schlangenarmbänder, die nur ganz dünne Goldspangen sind, aber einen Schlangenschwanz von blinkenden Steinen und einen Goldkopf mit Rubinenaugen haben. Schuhagraffen mit echten Steinen.
Die Polenliese dachte: Die wird immer was zu versetzen haben. Was soll unsereiner tun? Aber es war schön. Sie hätte gewiß jern auch so was.
Doch sie sagte nur: »Da haben die Unter den Linden auch nicht mehr«, und wie sie das sagte, fällt ihr ein, was ihr Rosenemil immer sang: Was unter de Linden als Hoju kommt in'n Topp ...
»Ach Gott«, sagte die Brillantenberta und mußte wieder die gute Fee spielen, »ich habe soviel. Ich mache mir aus dem Zeug gar nichts mehr. Komm, sieh mal, wie das dir stehen würde. Also die goldene Biene mit den Steinen finde ich ganz nett.« Sie zog die Steine an die Augen, wie ein Juwelier. »Na, was Besonderes sind sie nicht! Haben nicht das richtige Feuer, viel zu hellgrün. Es müßte mehr Blauweiß sein. Ich mache mir wirklich nichts daraus. Ich trage es doch nicht mehr. Komm, laß – das werde ich schon machen. Nein, etwas höher! So was verstehe ich besser. Na siehste, Polenliese! Mach's nicht wieder ab. Du kannst's umbehalten, du süße Kleine. Es ist wirklich nicht viel wert. Ich schenk's dir gern. Also ich geb' dir's gern.«
Ich fühle mich doch sehr matt, dachte die Polenliese, wie 'ne Herbstfliege. Mit so was müßt ich mich doch viel mehr freuen.
»Willste mal mein Bad sehen«, sagte die Brillantenberta und zog die Polenliese an die Tapetentür mit dem geheimnisvollen Glasknopf, den sie drehte, und die Polenliese stand zwischen den Marmorwänden und den eingelassenen Spiegeln und sah sich selbst in der Fülle von Licht, denn es war überhell darin, in den großen eingelassenen Spiegeln. Und das erste Mal sah sie, daß sie doch eigentlich nicht gut und matt aussah, doch hager geworden war, und sie sah auch die schöne goldene Brosche mit drei funkelnden Steinen und dem kleinen Kranz von Splittern, der sie umrahmte, und sie freute sich damit im Augenblick, die Polenliese.
Denn alle Frauen haben so etwas sehr gern, und vielleicht sind sie überhaupt daran schuld, daß der Mann darauf kam, Diamanten zu suchen, und sie schleifen lernte.
Aber so matt sich die Polenliese auch fühlte – das empfand selbst die Brillantenberta in diesem Augenblick –, sie war weder reizlos noch unscheinbar. Auch jetzt noch nicht; vielleicht hatte der Todeshauch der Krankheit, der sie schon umwehte, ihre Schönheit noch verklärt, zu einem Absolutum gesteigert. Ebenso wie sie die ihrer Schwester sublimierte, daß sie doch der Schönheitskanon ihrer ganzen Zeit blieb, lange Jahrzehnte, nachdem zum letzten Mal ihr schlanker Fuß über die Maßliebchen und Narzissen des kurzen Florentiner Frühlings geschritten war, so leicht, daß er kaum eine Spur im Gras hinterließ.
Wirklich, sie freute sich sehr mit der Brosche und den Kleidern auch. Denn sie begann langsam mit den Kleidern in Bedrängnis zu kommen, und zum Winter brauchte sie doch wieder was. Und wie billig sie auch dazu kommen mochte, es war für sie immer zu teuer. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht. Denn gerade bei ihr kam es doch so darauf an, wie man angezogen ist. Die Männer verstehen zwar nichts davon, aber sie gehen doch danach, und einem gutgekleideten Mädchen geben sie eben mehr als einer mit ohne Hut. Da wagen sie das schon gar nicht anzubieten. Nein, herunterkommen wollte sie nicht! Lieber noch mal ins Wasser! Man hat doch seine Ehre, seinen Stolz und seine Sauberkeit. Und nun war sie damit aus der Bredullje doch 'raus.
»Ja«, sagte sie, »das haben Sie ja sehr schön hier. Hier würde ich gar nicht 'rausgehen, aus 'n Wasser.«
»Was nehmen Sie noch?« sagte die Brillantenberta. »Setzen wir uns noch einen Augenblick vorne hin. – Sherry? Man kann ihn jetzt vertragen. Kommen Sie, setzen wir uns noch vorne einen Augenblick hin. Nein, an den Kamin! Erckmann Chatrian, au coin du feu. Sehen Sie, ich bin doch Ihre gute Fee!« Eigentlich wollte sie »Du« sagen. Komisch, sie war doch sonst so redegewandt, die Brillantenberta, und so diplomatisch, und jetzt fiel es ihr so schwer, das auszusprechen, was sie sagen wollte, von dem, was sie vorhatte, zu reden. Innerlich tat es ihr schon leid, daß sie das Mädchen hatte sich kommen lassen.
Und wenn's um Rosenemil allein gegangen wäre, so hätte sie wohl, ohne ein Wort zu sagen, die Polenliese ruhig ziehen lassen und wäre sich sehr gut vorgekommen. Und sie hätte morgen Black mit einem Hümpel alter Fetzen und Kleedagen zu ihr geschickt; soll die Simonsohn sich aufhängen, sie schreit sowieso immer: »Es lohnt sich das Fahrgeld nicht, und so wahr ich lebe – wirklich, da sind doch schon de lebendigen Motten drin!« Und wenn's ein Seidenkleid war. Eigentlich war auch Rosenemil schon von ihr innerlich, wenn sie es sich auch nicht ganz, ja sogar gar nicht eingestand, distanziert. Aber, und das war das Schreckliche, es ging um ein Prinzip, eine Idee, einen Grundsatz. Es ging um die Macht, um die Rechtfertigung ihrer Person, um die noch einmalige und letzte Erhärtung dessen, daß sie eben noch immer die Brillantenberta war. Es ging ihr gar nicht so sehr um einen Mann. Sie wollte ihn ja sehr bald gegen einen andern tauschen. Sondern um die Herrschaft über den Mann überhaupt. Und in diesem Krieg gab's keinen Frieden, keine Waffenstillstände, keine Kompromisse und keinen Pardon, nur Sieger und Besiegte. Da gab's nichts anderes wie Kampf bis aufs Messer. Also wirklich ... eine gemeine Person diese Brillantenberta! Durchaus nicht: nicht gemeiner und kaum schlechter, in vielem besser und sogar menschlicher als andere auch. Das Unglück war nur, daß es um eine Idee ihr ging, eine Idee, ein Prinzip im Spiel mit war. Und wenn etwas von je an in der Welt Unglück anrichtete, so waren es Ideen. Es gibt kein Dynamit, das so leicht explodiert und so gefährlich ist wie eine Idee. Ja, und dann kann man es der sonst so klugen Brillantenberta wirklich nicht verargen, wenn sie für ihre Idee hier kämpfte und für ihre Idee Unglück anrichtete und für ihre Idee wirklich sich gemein benahm, zum Schluß sogar, ohne es zu wollen.
»Also, Polenliese«, sagte die Brillantenberta, »du lebst doch mit Rosenemil zusammen?«
»Ja«, sagte die Polenliese.
»Wie ist er zu dir?« sagte die Brillantenberta.
»Sonst würde ich nicht mit ihm zusammen leben«, sagte die Polenliese.
Also damit war's nichts. Die Brillantenberta wollte sagten, daß er ihrer nicht würdig wäre, daß sie einen andern brauche, aber nicht solchen schwachen Menschen, der hinter jeder Frau her wäre. Sie hätte sogar eine Verführungsszene erfunden, wenn es Sinn gehabt hätte.
»Ja«, sagte die Brillantenberta, »er ist dir doch untreu geworden.«
»Er is aber wieder zu mich zurückgekommen«, sagte die Polenliese.
»Ja, weil du doch ...« Sie sprach nicht zu Ende. Sie wollte sagen, weil du doch einen Selbstmordversuch gemacht hast. Deren hatte sie, wenn's nötig war, schon mehr ... schon drei gemacht. Und sie würde auch den vierten machen. Die da hatte keinen Selbstmordversuch gemacht, die Kleine! Die hatte einen Selbstmord verübt, der resultatlos blieb, weil ein anderer zufällig – das hatte sie nicht in Rechnung gezogen! – sie davor bewahrte, den Weg ins Nichts bis zu Ende zu gehen. Das war kein Versuch.
»Ich habe ihn nicht zurückgeholt, ich habe ihm nichts gesagt davon«, meinte die Polenliese, »bis heute haben wir noch nicht davon gesprochen.«
Also die kleine Nutte war doch wirklich störrisch und stachlig wie ein Igel. Man konnte sie nirgends anfassen. Redet ihr ein, er wäre von selbst von ihr, der Brillantenberta, weggegangen.
»Und ich werde ihn auch nicht halten«, meinte die Polenliese sehr matt und nahm die Hand vor, weil sie hüsteln mußte, »wenn er wieder von mir weggeht.« Das war dumm, das hätte sie nicht sagen sollen. Eine Diplomatin war die Polenliese nicht. Nur ein Mensch. Sie hätte sich auch nicht zur politischen Agentin geeignet. Da konnte man nämlich einhaken.
»Siehst du, mein Kind«, sagte die Brillantenberta sehr freundlich, »also eigentlich machst du dir doch gar nichts aus dem Kerl!«
Die Polenliese richtete ihre großen Augen erstaunt und doch müde auf die Brillantenberta. »Ich bin ein ungebildeter Mensch und Sie eine gebildete Frau«, und sie sah sie immer noch an und schüttelte ganz leise ihren Kopf, »aber ich glaube, von so was verstehe ich mehr als Sie.«
»Das darfst du mir nicht sagen«, und jetzt spielte sie die Sarah Bernhard in Phaedra, »mir nicht, liebes Fräulein Lissi ... einer Frau, die für ihre Liebe, für ihr Weibsein, für die Tiefe ihres Fühlens soviel gelitten hat und so hart schon in diesem meinem Leben bestraft oft wurde.«
Quatsch doch keene Opern! dachte die Polenliese. Du alte Sau! »Nein«, sagte sie, »ich meente des nur so, wie der Palisadenkarl immer sagt: Zu de Liebe und zum Sitzenbleiben in de Kneipe darf man keenen Menschen zwingen.«
»Wer ist Palisadenkarl? O quel nom brutal!«
»Des is een Freund von mir, sogar een sehr anständiger Mann.«
»Dem Namen nach«, sagte die Brillantenberta sehr von oben herab, »könnte man das kaum mutmaßen, meine Kleine.«
»Is Ihnen schon eenmal eener des Nachts um zwei nachjeschlichen, nur um Se aus 'n Wasser zu ziehen, wenn Se 'reingehen sollten, und um 'n Haar wär er selber bei versoffen. Denn ick wollte doch nich. Un hab' mich an ihn jeklammert und hatt'n schon mit 'runterjezogen. Denn hat er mir zweimal jetaucht, und dann hab' ick losjelassen. Dann hat er mir verloren, un denn is er noch mal losjegangen, bis er mir jekriegt hat. Sie mögen recht haben, Madam, wenn Se'n so sehen« – Madame hatte sie immer sagen müssen, wie sie damals Kinderfräulein war –, »halten Se'n vor keenen anständigen Mann. Aber wenn Se ihn kennen würden, würden Se wissen, daß er eener is. Aber es is auch möglich, daß er zu Sie vielleicht janich so besonders anständig wäre.«
Das ist eine gefährliche Kröte, dachte die Brillantenberta, diese kleine scheinheilige Sau da. Die hat Haare auf de Zähne. »Aber wir sprachen ja gar nicht von Ihrem Freund Palisadenkarl«, sagte die Brillantenberta, »grade weil Sie eine Frau mit Gefühlen sind.« Die Polenliese wehrte ab. »Ja, ja – das sehe ich: Sie sind es, wenn Sie auch gegen mich ein halbes Kind sind, Sie sind eine Frau, und eine liebende Frau.«
Ach Gott, die Brillantenberta, das merkte sie mehr und mehr, war, was die Intensität der Sprache anbetraf, wie ich schon sagte, der Polenliese auf der ganzen Linie überlegen. Aber, was die Unbeirrbarkeit des Gefühls anbetraf, war ihr die Polenliese durchaus auf der ganzen Linie überlegen. Und das merkte die Brillantenberta nicht, und das war natürlich wieder ein Fehler. Sie war gewohnt, mit Lumpen jedes Geschlechts und jeder Gattung zu verhandeln, und sie war auf jeden Schwindel geeicht. Sie wußte genau, wer auf sie zukam, wollte zwei Dinge von ihr: Liebe oder Geld; und wer eins nicht wollte, das andere. Betrügereien wollten sie beide. Und für das erste möglichst wenig jedenfalls des zweiten bieten. Und sie setzte mit großem inneren Behagen jedem Schwindel sonst einen noch größeren entgegen. Aber daß sie einem anständigen Menschen gegenüberstand, der die Dinge so meinte, wie er sie sagte – dagegen war sie ungewappnet und eigentlich macht- und hilflos. Ja, sie vermutete gar nicht, daß es überhaupt solche Möglichkeiten gäbe. Außerdem waren ihrer Meinung nach die Gefühle untereinander nur durch den Preis verschieden, für den sie zu kaufen waren.
»Ja«, sagte die Brillantenberta, »Sie sagten ja selbst, daß Sie sich aus diesem Manne nichts machen, mein Kind.«
»Dann müssen Sie mich falsch verstanden haben«, sagte die Polenliese.
»Nun« – große Pause und das Pathos der Hauptszene im dritten Akt –, »aber ich liebe ihn.«
»Das kann Ihnen niemand verwehren«, sagte die Polenliese. »Wer kann für seine Gefühle!«
»Und ich möchte ihn besitzen«, sagte die Brillantenberta.
»Jeder Mensch besitzt nur sich selber. Ich habe schon manchmal jemanden gern gehabt, Madam, und mich hat schon manchmal einer gern gehabt, aber besessen habe ich noch niemand«, meinte die Polenliese.
»Aber liebes Fräulein«, sagte die Brillantenberta etwas gequält, »stechen Sie mich doch nicht mit Silben tot.«
Das hat der kleine Benjamin auch immer gesagt, dachte die Polenliese.
»Und was würden Sie sagen, wenn er nun wieder zu mir ginge?«
»Nischt«, sagte die Polenliese – jetzt war es an ihr, gequält zu werden –, »aber Sie werden ihn kaum zwingen können.«
»Es dreht sich ja nicht um ewig«, sagte die Brillantenberta.
»Bei mir gewiß nicht«, sagte die Polenliese. Aber sie meinte es anders als jene.
»Sie wissen vielleicht, daß ich bald Europa verlassen werde, je quitterai l'Europe«, sagte die Brillantenberta, »und es wird sehr schwer sein, mich von diesem Manne zu trennen, nicht ohne ihn noch einmal wenigstens gesehen zu haben.«
»Ich nehme an«, sagte die Polenliese, »er wird, wenn Sie sich an ihn wenden, Madam ...« Aber dann sprach sie den Satz nicht zu Ende, sie fand das alles unsäglich albern; und außerdem begann sie wieder zu schwitzen. Es war wohl zu heiß am Kamin. Wer heizt denn jetzt schon um diese Zeit?
»Seien Sie gut zu mir«, sagte die Brillantenberta; sie hatte eigentlich das Gefühl, daß ihr Spiel verloren sei. Gewiß, wenn sie den Rosenemil da erst hatte, diesen süßen Alfons ... also sie traute sich zu, ihn schon wieder an sich zu fesseln, daß er diese kleine kranke Nutte da, von der er ja doch nichts hatte ... sie war nicht krank! – Nicht einen Schritt würde er zu ihr mehr machen. Im Augenblick aber genügte es ihr schon, ihn noch einmal gesehen zu haben. »Er soll es gut bei mir haben«, sagte die Brillantenberta, »und wenn ich nicht mehr dasein werde, so wird es nicht sein Schade gewesen sein.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte die Polenliese. »Een Mann is doch keen Hering. Den kauft man und verkauft ihn wieder.«
»Vielleicht kann er dann auch etwas für Sie tun, statt sich von Ihnen ernähren zu lassen.« An Trümpfen fehlte es der Brillantenberta nicht.
Die Polenliese stand auf. »Wenn ich eenen jern habe, denn jeb' ich mein letztes Hemd for ihn her, jewiß ... Aber ernährt hab' ick noch nie eenen Mann. Aber ick würde mir auch nich immer von eenen, den ich jerne habe, ernähren lassen, und so schon jarnich!«
Eine seltsame Moral, dachte die Brillantenberta; sie hangelte vom Sessel weg, in dem sie saß, nach dem Mädchen, das vor ihr stand, lang und groß und schlank und immer noch sehr schön, sie bekam ihre Röcke zu fassen und senkte sich wenigstens – ganz zu knien lag ihr aus körperlichen Gründen nicht recht – aufs linke Knie nieder. »Ich erniedrige mich vor Ihnen.«
»Das sehe ich und fühle ich«, sagte die Polenliese, die sich losmachen wollte.
»Eine Frau vor der andern. Seien Sie gut zu mir. Ich bin ja auch gut zu Ihnen gewesen.«
»Soo?« sagte die Polenliese.
»Haben Sie denn gar kein gutes Wort für mich, keinen Trost.«
»Was soll ich Ihnen sagen, Madam«, sagte die Polenliese. »Sie verlangen von mir, ick soll Ihnen den Mond 'runterholen oder aus'n Tag Nacht machen. Ick kann de Sonne weder auf- noch unterjehn lassen. Da muß man abwarten, bis se's tut. Un zwar von selbst, Madam.«
»Sagen Sie ihm wenigstens, daß Sie mit mir gesprochen haben.« Und jetzt hatte sie wirklich Tränen in den Augen, weil man dieser kleinen Vorstadtnutte da nicht mal Theater vorspielen konnte. Gott sei Dank, daß sie bisher nur mit Männern zu tun gehabt hatte. Frauen sind viel schwieriger. Die kennen einen, dachte sie.
»Das kann ich ja tun«, meinte die Polenliese und gähnte leise. Das tat sie jetzt oft ... das Herz war in der letzten Zeit ... erst durch die Aufregungen, denn es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Palisadenkarl herausgebracht hatte, wo Rosenemil steckte; man dachte erst sogar, diese beiden Patentluden hätten ihn kaltgemacht. Aber Baumüller hatte ihm zum Schluß gesagt, als er es schon melden wollte, daß Rosenemil vermißt würde, wo er hingekommen war. Er hatte, das sagte Palisadenkarl immer, een Ooge auf ihn geworfen. Ob im Juten oder Bösen, des konnte Palisadenkarl auch nicht sagen ... Und dann durch die Lungenentzündung war es geschwächt.
»Aber ob es was nützt, des is 'ne andere Sache«, sagte die Polenliese. »Doch ich halte Ihnen und mir auf. Ich gehe. Meine Sachen sind ja draußen. Die finde ich schon. Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihren juten Willen, mir 'ne Freude jemacht haben zu wollen ... Adieu, Madam.«
Die Brillantenberta rappelte sich hoch. Sie war auf der ganzen Linie geschlagen. Das fühlte sie. Wirklich: die Tränen vorhin waren echt gewesen. Sie wußte nur nicht, weswegen sie geweint hatte. Es war die höchste Zeit für sie, zur Retraite zu blasen. Gelang's nicht mehr, so war die Niederlage besiegelt. Sie dachte an Hannibal, der auch von Sieg zu Sieg zur letzten Niederlage geschritten war, an Pyrrhus (so was hatte sie auf der Schule bei der Boretius gelernt, und was sie auf der Schule gelernt hatte, das hatte sie behalten), und das war nicht mal mehr ein Pyrrhussieg ... Und nun klingelte es auch noch. Und es fiel draußen etwas in den Briefkasten. Doch nachsehen, was ... Vielleicht eine Nachricht von Panchite. Sie hatte seit fünf Tagen keine gehabt. Sie hatte sogar Sehnsucht nach ihm. Endlich will man ja doch von einem Mann auch etwas anderes als nur sein Geld. Was hatte man von einem Mann, der von vier Wochen, die er in Europa ist, höchstens zehn Tage hier ist und der einen weder nach Paris noch nach Odessa, London oder Malmö und Rom mitnehmen kann. »Es geht nicht«, sagt er, »meine weiße Taube.«
Aber im Briefkasten lag gar nichts. Kein Brief, nur ein Kügelchen graues Papier. Da hat wieder jemand einen Stein hereingeworfen oder ein Klümpchen Straßenschmutz, das sie eingewickelt haben. Sie machen jetzt immer solche Sachen. Sie hatte schon Jim gesagt, er solle aufpassen, ob er die nicht faßt. Und sie will – es ist halbhell nur auf dem Korridor, sie hat das Licht nicht aufgezogen – das schon wieder wegwerfen, als sie etwas Hartes und Scharfes drin spürt. Ah, ihre Brosche! Ihre schöne Brosche mit den drei Solitären! Und sie hat vorhin nur so gesagt, daß sie nichts taugt ... In zwei Zehnmarkscheine gewickelt. Diese Vorstadthure, diese Sau, dieses widerliche Biest, diese der Fürsorgeanstalt entlaufene Nutte! So will das Stück Mist sich von mir loskaufen. Ich hab' es in Güte, in aller Liebe und Güte habe ich es versucht. Und sie rast durch die Wohnung, ohrfeigt Black, die Brillantenberta, den kleinen, armen Black, der doch gar nichts für all das konnte, wirft ein Glas auf den Teppich. Jetzt wußte sie genau: Die Polenliese, dieses Luder, würde das nie und nimmer sagen. Alles und alle hatten sich gegen sie verbündet und verschworen. Wenn sie heute noch in den Klub ginge ... spielen vielleicht oder Koks schnupfen oder Eau de Cologne oder Äther trinken. Irgendwas muß doch der Mensch tun! Und sie zupfte mit den Nägeln an ihrem schönen, alten, chinesischen Männerrock, riß vor Wut die Goldfäden aus der Stickerei, daß die Augen des Drachens sich auflösten ... und nur noch als leere Höhlen in dem geifernden, spitzigen Kopf standen. Und dann setzte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch und schrieb, schrieb, schrieb einen langen Brief, tat ihn in ein großes Kuvert, adressierte ihn und schloß ihn ... Aber sie frankierte ihn nicht. Sie stellte ihn nur auf ihren Schreibtisch. Sie hatte so eine Manie von je, sie schrieb Briefe. Sie reagierte sich mit Briefen ab. Sie schrieb gemeine Briefe, niederträchtige Briefe, Briefe voll von Beschimpfungen und Verleumdungen. Aber sie schickte sie keineswegs immer ab. Sie kostete nur in ihrer Phantasie die Wirkung aus, die sie hervorbrachten. Die ganze Lawine von Kämpfen, Wut, Ärger, Mißhelligkeiten und Schande, die sie erwecken konnten. Meistens genügte ihr das jetzt. Früher hatte sie sie oft abgesandt. Es hatte Prozesse, Duelle, Ehescheidungen, Bankkrachs und Selbstmorde gegeben, ja, Selbstmorde sogar. Heute war sie eigentlich von dieser Energieverschwendung, die nicht mal Sensation war, sondern, nur ihr schadeten – die stille Methode war viel wirksamer – abgekommen. Heute begnügte sie sich meist mit dem Schreiben von solchen Schmähbriefen, Denunziationen und Anzeigen. Und das war eine an die Staatsanwaltschaft. Es war zwar eine Dummheit. Sie stellte sich mit bloß. Sie riskierte ihren Panchite und ihre Zukunft dabei. Aber sie war zu sehr, bis in das »Mark ihres Herzens« hinein, sagte sie sich, von diesem elenden Gesindel beleidigt worden, daß sie sich vor sich selbst geschämt hätte, wenn sie sich nicht rächen würde. Nachher konnte sie vielleicht die Großzügige spielen.
Oh, es war eins geworden. Sie würde zwei Veronal nehmen. – Eine? Da könnte sie ebensogut eine gebrannte Mandel essen ... und vielleicht, vielleicht schlafen und die ihr »zugefügte Schmach« vergessen. Endlich ist es auch mal ganz nett, allein zu schlafen und nicht immer so'n stinkenden Kerl, wie den Zuhälter, den Topplude ... den Rosenemil, neben sich zu haben.
Aber die Droschke wartete doch noch auf die Polenliese. Und sie hätte jetzt wirklich nicht nach Hause gehen können. Es hatte auch noch zu regnen angefangen, und alles spiegelte und blinkte hier in der Nässe. Der Asphalt, die Steine, die Laternenpfähle und die Gitter der Vorgärten. Die Blätter, die von den Linden gefallen waren, lagen still mit dem Gesicht auf dem Pflaster und auf den Dämmen, wie Mohammedaner, die beten, sie wirbelten nicht hin und her, trotzdem Wind ging, in dieser sprühenden Feuchtigkeit. Sie lagen und beteten ihre eigenen Totengebete. Das war noch kein Wetter für sie. War nie Wetter für sie gewesen.
Und sie war froh, wie sie wieder zu Hause bei Rutschens war. Sie war nebenbei sehr gut gewesen, und Vater Rutsch, der sie doch mal attackiert hatte, war tagelang gelaufen, um Kräuter zu suchen, und hatte ihr aus weißer Salbei und Tausendgüldenkraut und Primelblättern was zusammengekocht, was sicher hülfe, man müsse nur daran glauben. Denn er war nicht nur Naturmensch, sondern auch Naturheilkundiger. Doktor Levy hatte es gekostet und gesagt, es hülfe auch sogar in hoffnungslosen Fällen, die es beschleunigte, und dann hatte er das Zeug in den Nachttopf gegossen. Ja, und Rosenemil war auch da, er war nicht vor die Tür gegangen, es machte ihm keine Freude recht. Wohin auch? Er hatte ein Buch gelesen, das hatte die Polenliese vom kleinen Benjamin bekommen, es hieß komisch: »Nana«. Das war doch genau sone Person wie die Brillantenberta, die auch mit allem fertig wurde, mit de Männer und mit jedem Geld. Aber schreiben wollte er ihr doch noch mal. Das schickt sich so.
Und die Polenliese machte es sich bequem und zog ihren roten Morgenrock mit den gestickten Blumen an. Wo sie gewesen, was sie gemacht hatte, darüber sprach sie ja nie. Also, wenn er auch nicht so schön war wie der mit den Golddrachen und Lilien, warm und angenehm war er ja doch. Und sie setzte sich mit einer Tasse Kaffee, die ihr Frau Rutsch noch aufgewärmt hatte, Rosenemil gegenüber an den Tisch und plauderte freundlich vor sich hin. Wirklich es war doch hier hundertmal gemütlicher wie in all den roten und blauen Zimmern da. Die waren schön, gewiß! Aber sie fühlte sich doch hier bei ihrer Petroleumlampe wohler. Sie möchte mal gar nicht so leben. Aber für Emil wär's doch gut, der paßt doch besser 'rein da. Und wie lange (denn sie war zwar, wie alle Kranken ihrer Art, optimistisch, wußte aber ebenso genau, daß ihr Optimismus unbegründet war) würde sie es denn noch machen. Die nächsten Veilchen sieht sie ja doch nicht mehr.
»Du, Emil«, sagte sie, »was tust du denn eigentlich bei mir?« sagte es leise.
»Soll ich jehn?« fragte Rosenemil und legte das Buch hin. »Wenn de das willst, tu' ick des gleich, Lissi. Ick kann das verstehen, daß de mir nicht mehr bei dir haben willst.«
»Nee, Emil«, sagte die Polenliese, »du verstehst mir nicht. Ich meine, daß des besser für dich is. Was hast du von mir? Nichts haste. So nischt und so nischt.«
»Dich hab' ich«, sagte Rosenemil. Wo war seine Redegewandtheit?
»So meine ich das nicht. Wie lange wirst du mir noch haben?« sagte die Polenliese. »Wat haste nachher?«
»Aber Lissichen«, sagte Rosenemil, »wenn de mir los sein willst, denn sag's, denn jeh' ick.«
»Ich kann dir nämlich keinen Zigarrenladen kaufen«, sagte die Polenliese, »ich kann dir nich aus'n Dreck 'rausziehen, wenn ick bald mal totgehe. Sei klug, Emil, jeh dahin.«
Rosenemil sah eine ganze Weile starr über den Tisch weg. Und dann langte er mit seinem langen Arm herüber und schlug in der Richtung, in der die Polenliese saß. Aber er traf sie kaum, nur die Spitzen der Finger rührten eigentlich an ihr Haar, daß der kleine, süße Kopf mit den Eidechsenaugen ein wenig herüberflog und sie, die ganze Gestalt, auf ihrem Stuhle schwankte. Aber er hatte sie doch geschlagen. Sie, seine Lissi, die Polenliese. Er hatte überhaupt eine Frau geschlagen. Er, Emil Lehmann. Soweit war er noch nie heruntergekommen, gegen eine Frau seine Kraft zu brauchen. Und Rosenemil fiel mit dem Gesicht nach vorne auf die Tischplatte und heulte los. »Was wollt ihr alle von mir?« schrie er auf. »Ich weeß ja, ich bin man bloß een schwacher Mensch. Und ich kann mich nich wehren, wenn des so über mich kommt. Un des Jeld damals – wo ick da in Untersuchung war –, des hab' ich ja ooch jeklaut ... ich bin schwach, schwach bin ick, aber ick bin doch nich jemein. Jemein bin ich nich. Und daß de mir dafor auch hältst. Und meinste denn, ick habe dir eenen Augenblick bei die da vergessen, un wenn se noch so nett zu mir war – denn des war se! –, ick habe des mitgenommen, weil ick doch man een armer Deibel bin und weil ich schwach bin. Weil ick denn eben nich anders kann. Wenn des soweit is ... Aber ick bin doch nich schlecht. Schlecht bin ich nich! Un daß du mir ooch dafor hältst, den einzigen Menschen, den ick noch uff de Welt habe.«
Und nun begann auch die Polenliese zu weinen.
»Nu wein' nich, Lissi«, sagte Rosenemil, und er streckte wieder die Hand aus, »ich wollte dir nich weh tun ... de Hand is mir ausgerutscht. Hab' ick dir sehr weh getan, mein süßes Zuckerschnutchen?«
»Nein«, sagte die Polenliese, »ick weine ja janich, weil de mir weh jetan hast ... ick weine nur, weil de mir so lieb hast!«
Und da war Rosenemil wieder bei ihr. Und er war wieder schwach ... wirklich, er hatte gar nichts gelernt. Gegen die Anlagen kann kein Mensch eben an. Denn er nahm die Polenliese hoch, die ihm die Arme um den Hals legte, und trug die ihn Küssende und sich ganz bei ihm Vergrabende zum Bett herüber, das kein blaues Himmelbett war und keine goldene Pfosten hatte und vor dem keine »lauschige« Stehlampe rot für Stimmung sorgte, sondern hinter dem nur ein geraffter Kelim mit zwei Palmenfächern war und in der Tasche aus Kantenpapier Kamm und Bürsten steckten.
Und das war wieder schwach. Aber auch schwach von der Polenliese. Weil es den ärztlichen Vorschriften des Doktor Arthur Levy, der ihr eine Karenzzeit auferlegt hatte – eventuell würde er ihr schon jetzt etwas geben von ihrem Reisebudget, das er ja verwaltete, wie er sagte (aber das wollte die Polenliese nicht) –, weil es diesen Vorschriften mitten ins Gesicht schlug. Und es war mehr, trauriger als Schwäche, als das allein. Es war ein zwiefaches Unglück.
Ja, und die Brillantenberta hatte eigentlich nach den zwei Veronaltabletten ganz gut geschlafen. Denn in Wahrheit, so ganz tief im Kern, hatte sie ja doch das Erlebnis mit der Polenliese nicht getroffen. Da sie von seelischen Sensationen lebte, liebte sie sie auch. Und außerdem hatte sie ja auch durch diesen Brief da, den sie in ihr Schreibtischfach verschlossen hatte (sie erinnerte sich deutlich: sie hatte ihn doch verschlossen. Ja, ja, natürlich! Sie hatte ihn weggeschlossen), sich schon ganz gut abreagiert, und selbst die Niederlage mit der Polenliese sah sie nicht mehr in so düsterem Licht. Eigentlich war die Kleine ja doch ein süßes Geschöpf. Wie die Bella Simonetta. Und wenn jetzt nicht Panchite gewesen wäre – Frauen sind ja doch netter als Männer! –, es wäre ihr eine Freude gewesen, sie zu ihrer Freundin zu machen. Es wäre eine Freude, so was zu lancieren und anzulernen. Es ist doch deprimierend, es mit anzusehen, wenn solch ein Mädchen nicht mal etwas aus sich machen kann.
Und sie drehte sich behaglich und mollig in ihrem himmelblauen Himmelbett um auf die andere Seite, dem Licht zu. Jetzt würde sie baden. Dann käme die Masseuse und dann die Friseuse, und um halb elf wäre sie zur Anprobe bei der Marfels. Die wäre jetzt immer so unpünktlich, das Aas. Man könnte eigentlich gar nicht mehr bei ihr arbeiten lassen. Die Henriette Schulz wäre genausogut und halb so teuer. Und da also, da hatte ihr die Marfels – denn da lag eine Depesche auf einem silbernen Tablett! – doch wirklich abdepeschiert. Aber warum soll mir die Marfels – und jetzt war sie ganz munter, bisher war sie noch im Jum gewesen von dem Veronal und hatte alles verschleiert und etwas freundlicher gesehen, als es eigentlich war – zu Zeiten des Telefons eigentlich abdepeschieren?
Und sie setzte sich hoch und riß das gekniffte Formular auf ... Ah, um zwölf kommt Panchite! Friedrichstraße! Arriva 12.05 statione friedrichstrasse – panchite! Das war schön! Gottlob, daß sie den Bengel, den Rosenemil, nicht mehr bei sich hatte, er hätte ... er hätte ja ebensogut sie überraschen können. Das tat er sonst gern, war da plötzlich – man dachte, er kommt in acht Tagen! –, und mit einmal schließt er draußen. Bisher war es immer gut gegangen. Aber diesmal wäre es doch um ein Haar schiefgegangen. Eigentlich mußte sie der Polenliese sogar dankbar sein. Ein herrliches Mädchen. Und eine Gesinnung! – Überhaupt ein Mensch! Also der schickte sie noch heute die Kleider, noch heute; sowie sie noch eine Minute Zeit findet, läßt sie packen. Als Andenken an eine glücklichere Schwester: die Brillantenberta (sie war schon wieder die gute Fee). Na, nu hätte sie ja Panchite wieder. Nun wäre sie ja solchen Verführungen nicht wieder ausgesetzt.
Glück im Unglück – denn Panchite hätte kein Brasilianer sein müssen, wenn er nicht eifersüchtig bis zur Raserei gewesen wäre, und er hätte kein Philosoph sein müssen, und er besaß ohne Zweifel nicht nur die Philosophie eines Lebemannes, sondern auch eine reichliche Dosis an menschlicher Nachdenksamkeit und Überlegenheit (sonst ist man nicht ein Kaufmann allergrößten Stils), wenn er nicht gesagt hätte: mein Herz liebt diese Dame. Da sie kein Kind ist, kann ich nicht von ihr fordern, daß sie das Leben eines reinen Kindes bis zur Zeit der Kenntnisnahme meiner Person geführt hat. Wenn ich sie, diese Donna, trotzdem liebe, so hab' ich mich also damit abgefunden, daß dem so ist. Wenn sie aber nunmehr jenseits meiner Person nicht das Leben eines Kindes führt (so Brasilianer haben etwas merkwürdige Ausdrucksformen für ihre Gedanken), so werde ich mich nicht damit abfinden und sie vielleicht ermorden. Und wenn ich das nicht tue, so werde ich doch annehmen, daß sie tot ist ... Wenigstens für mich, meine weiße Taube.
Und das wußte die Brillantenberta, und sie gab sich alle Mühe, wie wir gesehen haben, sich danach zu richten. Erstens hätte sie ungern Panchite verloren und wohl noch weniger gerne das, was sich für sie damit verband. Ja, sie würde ihn doch heiraten. Auch wenn er noch nichts davon wüßte oder ahnte. Denn gesagt hatte sie ihm natürlich keine Silbe davon.
Das wäre ein Kunstfehler und außerdem ganz und gar undiplomatisch gewesen.
Und sie ließ die Masseuse doppelt so lange an sich herumkneten und die Dame vom Schönheitsinstitut doppelt so lange ihr heiße Tücher ums Gesicht legen. Und überwachte die Modellierung der Maske in Paste und Schminke mit Argusaugen. Und glättete selbst noch mal die paar Runzelchen in den Augenwinkeln mit den kleinen elektrischen Walzen, die, wie der Erfinder behauptete, welche entfernen sollten, in Wahrheit aber sie nur an eine andere Stelle verlagerten. Und sie stand nach dem Bad, dem sie eine ganze Flasche Lavendelsalz zugesetzt hatte, daß sie duftete wie die Corniche von Hyères bis St. Tropez, drei Minuten in tiefem Nachsinnen vor ihren Kleiderschränken, damit sie nicht fehlgriffe. Denn Panchite war nicht nur ein Beethovenverehrer, sondern auch ein feiner Ästhet, was Frauenkleidung anbetraf. Nur allzusehr mit südamerikanischem Einschlag. Und den zu treffen war nicht immer leicht. Es genügte durchaus nicht, schreiende und disharmonische Farben zu wählen. Ja, man konnte darin sogar gehörig fehlgreifen und Panchite verstimmen. Das beste war, eine Mischung von Paris und Indianergeschmack zu finden, und die war nicht immer leicht zu treffen. Aber heute mußte sie sie jedenfalls treffen, die Brillantenberta! Und sie traf sie. Wozu hatte sie eine so lange Kenntnis der Psyche der ABC-Staaten?
Und Panchite entstieg dem Balkanexpreß, und Jim und Black griffen nach seinen dicken, rohen Rindlederkoffern, um sie zum Auto zu tragen, und die Brillantenberta flog in seine Arme außer Atem und fast weinend, weil die Sehnsucht so langer Wochen endlich zerflossen war, und vor Glück darüber, ihren Panchite wiederzuhaben.
Ein Wort über Panchite ... er war ein bronzefarbener Herr mit viel Unrasiertheit, die nicht etwa einer Ungepflegtheit entsprang, sondern der Unbesiegbarkeit seines Bartwuchses. Mit sehr glatten, ewig ölglänzenden Haaren, die nach hinten gestrichen waren und weiße Strähnen hatten, mit etwas breiten, zumindest sehr betonten Backenknochen und mit einem absonderlichen gelblichen Schelllackglanz über den großen dunklen Tieraugen, jenem Lack, wie er über den Augen japanischer und chinesischer Puppen liegt. Er hatte breite Schultern, die nicht daher breit waren, weil der Londoner Schneider sie wattierte, und den prachtvollen Gang der Naturvölker, aus den Hüften heraus und federnd und fegend wie ein Puma. Er mochte so Mitte Vierzig sein. Er war aber Anfang Fünfzig. Er war Witwer, weil seine Frau, die das schönste Mausoleum mit Blick auf die Bucht von Rio und die Corcavada hatte, schon vor zwanzig Jahren am gelben Fieber gestorben war, das sie sich auf einer Fahrt im Urwald, um die beja flors und in der Dämmerung die Leuchtkäfer zu sehen, geholt hatte, weil mit dem Wagen etwas passiert war und sie zu spät in die Nacht hineinkamen. Und er hatte nicht wieder geheiratet. Und obwohl die Frauen von drei Kontinenten sich um ihn bewarben und Frauen ihn Vermögen gekostet hatten, hatte doch keine ihn halten können. Und er hatte auch nicht mehr die Absicht, sich von einer festbinden zu lassen. Nicht etwa, weil er einer Frau wegen der andern nicht hätte entraten können, sondern weil er eben von der Ehe eigentlich sehr viel hielt und einer neuen Frau ebenso treu geblieben wäre wie seiner povretta von damals, die wie eine Lianenblüte so schön gewesen war. Vermögen opferte er mit einer unbekannten Großzügigkeit Frauen, sich selbst nicht.
Und das muß zur Ehre der Brillantenberta gesagt werden, sie war in den bald zwanzig Jahren die einzige gewesen, die ihn dauernd zu fesseln wußte, schon seit achtzehn Monaten, und die ihn eigentlich – das stellte er mit Genugtuung fest – dabei lange nicht soviel gekostet hatte wie Madelon damals in Paris in einem Monat und Esther in New York in vierzehn Tagen, die ihm noch einen Prozeß wegen gebrochenen Eheversprechens an den Hals gehängt hatte, der ihn noch mehr gekostet hatte. (Davon lebte sie.) Nein, seine weiße Taube war nicht nur lieb zu ihm, besorgt um ihn, sondern wirklich erstaunlich bescheiden.
Ja, und nun war Panchite da und wollte gleich mit ihr zu Hiller dinieren fahren.
»Aber, mein Kind, wirf doch nicht so mit dem Geld 'rum! Ich habe zu Hause schon alles vorbereitet. Du wirst ebensogut wie bei Hiller bei deinem Kolibri essen, und dann sind so viele Leute da. Er (der Kolibri!) – sie sprach gern von sich in solchen Fällen in der dritten Person und auch, um zu zeigen, daß sie dem anderen gehörte, nicht nur seine Sklavin, sondern überhaupt sein Gegenstand wäre –, also: er möchte dich nun endlich wieder mal alleine haben ... kleiner Puma, du.«
Und da hatte sie vollkommen recht, er würde bei ihr so gut wie bei Hiller speisen ... Denn sie hatte ja soeben noch auf halb eins das Diner bei Hiller bestellt.
Ja, und dann aßen sie, und Jim und Black in ihren weißen Anzügen und bloßen Füßen bedienten.
Und das Essen verlief sehr programmäßig, und alles war sehr gut, und die Brillantenberta ließ sich von seinen Erfolgen und Mißerfolgen erzählen und sagte, dank des Erbes im Blut von dem Vater, der doch Kursmakler war, nicht einmal Dummheiten dazu, obwohl die Materie international und die handelstechnische Seite knifflich genug war.
Ja, und dann sagte eben Panchite: »Wie du siehst, meine weiße Taube, ich werde nicht lange mehr bleiben können. Denn ich muß noch einmal einen Nachmittag in London sein und am Dreiundzwanzigsten habe ich schon den Schiffsplatz auf dem Steamer. Ich hasse zwar die Engländer, aber ich reise gerne auf ihren Schiffen.«
Die Brillantenberta sagte nichts, kein Wort dagegen. Aber sie schwieg von dieser Sekunde an in eisiger Bedrücktheit, die auf ihr lastete. Nun konnte Panchite alles vertragen, aber keine Frau, die nicht redete, und keine, die nicht über das, was er sagte, glockenhell lachte. Die Brillantenberta wäre blaß geworden, wenn das gegangen wäre, aber da das aus technischen Gründen dank der Gesichtsmodellierung und aus koloristischen Gründen dank der Farbechtheit der Pariser Schminken nicht gelingen konnte, so preßte sie wenigstens ein paar Tränen in die Augen. Und das ging.
»Was hast du, meine weiße Taube?« fragte Panchite. Er liebte keine Szenen.
»Oh, nichts«, sagte die Brillantenberta. Schade um die Hummern, dachte sie. Aber sie hatte sich vorgenommen, vor Kummer nichts mehr zu essen.
»Nimmst du nicht noch etwas?« sagte Panchite.
»Nein«, sagte die Brillantenberta, »es würde mir doch jetzt nicht bekommen.«
»Aber Kind«, sagte Panchite, das heißt, er sagte »mon enfant«, und dann fuhr er spanisch fort, um wieder ins Französische überzugehen, »ich bin ja in vier Monaten wieder in Europa, heute nachmittag freilich muß ich zum Gesandten, und vorher habe ich noch um drei mit der Deutschen Bank eine Konferenz.«
»O wie ich diese deine Konferenzen hasse!« stöhnte die Brillantenberta (wie Agnes Sorel in Brieux' roter Robe) auf.
»Aber mio, meine kleine Lilie, es soll dir ja solange gewiß an nichts fehlen. Hast du zuwenig Geld? Du sollst nicht darüber reden, und ich werde dir auch diesen kleinen Wagen, wozu soll ich ihn noch mal übers Wasser nehmen ...«
»Als ob ich dein Geld haben will! Als ob mir etwas an dem Wagen liegt! Ich will das Geld nicht! Ich habe diesen schnöden Mammon immer gehaßt! Ich will dich! Dich will ich, Panchite!«
Der Südländer, der Romane, ist für die Phrase, den Überschwang, das Pathos, auch wenn, und das war hier nicht mal zu merken – denn eine so unbegabte Schauspielerin war nun Brillantenberta gewiß nicht –, eine Gefühlsverlogenheit dahintersteckt. Und er erliegt ihr leichter als der Mann des Nordens.
»Was liegt mir an deinem Geld? Gewiß, meine Eltern sind gegen dich Bettler. Aber hier in Preußen ... wir haben uns, wie der einzige Bismarck sagte, großgehungert ... hier in unserm armen, kargen Lande sind sie wohlhabende, wenn nicht reiche, reiche, prèsque des citoyens riches. Dich will ich! Nicht dein Geld! Was habe ich von dir, wenn du mir entgleitest, kaum daß ich meine liebenden Arme um dich gelegt habe, um mich an deiner Brust zu bergen?«
Spanisch klingt das ganz überzeugend, deutsch weniger.
»Aber meine weiße Taube!« sagte Panchite.
»Fahre nicht! Schenke mir noch einen Monat. Nachher kann kommen, was mag. Nachher werde ich wortlos von dir in das Nichts gehen.«
Das war gefährlich. Denn die Brillantenberta wußte, sagte er ja, gab er das zu, machte er, Panchite, Konzessionen, so war ihr Spiel aus, und keine Macht der Welt hätte Panchite bewegt, das zu tun, was sie einzig und allein wünschte. Aber sie wußte auch (soviel verstand sie immerhin doch von seinen Geschäften dank des Erbes im Blut!), daß er einfach das jetzt nicht konnte. Wenn die Bewegungen am Kaffeemarkt, die durch die letzte Ernte in Fluß gekommen waren, wieder standen, so konnte er das viel eher. Jetzt jedoch, von Mitte Oktober an, ging das nun ein für allemal nicht. Und wenn zehn Brillantenbertas sich ihm zu Füßen geworfen hätten.
»Aber meine weiße Taube«, sagte Panchite, ganz Kavalier. (Frauen sind immer unvernünftig, auch die Vernünftigsten!) »Du weißt doch, daß das unmöglich ist, was sprichst du darüber, mein kleiner Liebling« (was auf Spanisch querido heißt).
»Du kannst reisen, Panchite«, sagte sie, »du sollst sogar reisen, mein Guter. Du sollst glücklich reisen und unbeschwert. Kümmere dich nicht um mich. Ich aber werde es nicht überleben. Diesmal nicht ... Vergiß deine weiße Taube.«
Nun hätte Panchite noch viel, viel kürzere Zeit auf dem Kriegspfad sein müssen und nicht bald zwanzig Jahre, wenn er solche Reden noch nie vernommen haben sollte. Und er wußte auch, sie bedeuteten wenig oder nichts; und deswegen schüttelte er nur seinen schönen – ein indianischer Apollo! –, seinen edlen Kopf (halb der »Blaue Falke«, halb »Kaiser Augustus«) und sagte: »Aber sei doch vernünftig, Evelyn!«
»Du, du lachst über mich«, sagte die Brillantenberta, »gewiß, ich bin ein dummes Kind, und du bist ein großer Mann.« (Also wenn Panchite eins nicht getan hatte, so lachen.) »Tue es nur«, aber hier erstickte die Stimme in leiser Trauer. »Du wirst nicht ewig über mich lachen.«
Sie wußte genau, diese Konferenz war in fünf Minuten fällig, also mußte er hin. Und er würde schon zu spät kommen. Sie mußte die Szene, die ihr Spaß machte, denn sie liebte Szenen jeder Art, doch abkürzen.
»Geh, geh, Panchite! Du mußt zu deiner Konferenz. Nein, nein, bleib nicht. Ich will nicht schuld sein, daß du sie versäumst. O wie ich diese deine Konferenzen hasse! Geh, geh, Panchite!« Und sie warf sich an Panchites Hals und küßte ihn und ließ ihm dabei ihre Tränen – also das hätte die Sorel auch nicht besser gemacht! – über seine Wange rollen, so daß Panchite, schmerzlich bewegt, sein rotes Seidentuch aus der Brusttasche zog und sich insgeheim die Wangen damit trocknete, aber sich dann doch in echter Rührung über die Augen damit fuhr.
»Also geh, geh zu deiner Konferenz. Auf Wiedersehen«, schluchzte sie. »Brauchst du Black? Nein? Oh – ich möchte ihn noch einen kleinen Gang für mich schicken.«
Und Panchite nahm sie nochmals in schmerzlicher Rührung in die Arme, und dann fuhr er in die Ärmel seines großen weiten Ulsters, den ihm Jim schon gebracht hatte. Von einer gewissen Höhe des Reichtums an nimmt man in keinem Land der Welt mehr einen Mantel selbst vom Kleiderhaken. Und gar noch, wenn man aus einem Land kommt, wo zwanzig bis dreißig Stück Dienerschaft das Normale für einen wohlhabenden Mann sind, tut man das nun erst recht nicht. Und die Brillantenberta hing sich an seinen Arm und wandelte mit ihm über den Korridor bis zur Tür und warf ihm noch die ganze Treppe Kußfinger nach.
Dann schickte sie Black mit einem Zettelchen zur Apotheke, und als Black ihr das Röllchen Veronal gebracht hatte, schickte sie ihn zur Marfels mit einem andern Zettelchen, auf dem stand: sie solle das Zitronengelbe mal ohne vierte Anprobe machen. Aber wenn's nicht säße, würde sie es ihr an den Kopf werfen. Solche neckischen Billetts tauschte sie gerne mit ihren Schneiderinnen, die das wieder in den Rechnungen ausglichen. Black konnte sie jetzt ganz und gar nicht im Hause gebrauchen. Der Bengel merkt einfach alles, auch wenn er nie was sagt.
Ja, und dann deckte sie selbst das Bett ab, aß noch schnell einen Hummerschwanz, der vorher auf dem Tisch stehengeblieben war, und zog sich aus. Wenig brauchte sie nur dazu anzuhaben, denn es würde hinderlich sein, ihr erst die Korsage zu öffnen, wenn ihr der Magen ausgepumpt würde. Zog ihre allerbeste Wäsche an, die mit den echten Brüsseler Einsätzen in der schwarzen Seide, und nahm das Röllchen Veronal, schüttete sich sämtliche Tabletten in den einen Handteller und nahm das Röllchen in die andere Hand – das geschah im Badezimmer vor dem Marmorlöwen, der sein warmes Wasser dampfend und in Fächern ausspie wie stets, wenn man den Hahn angedreht hatte – und warf dann alle Veronaltabletten bis auf vier Stück in den Abfluß, wo sie, noch ehe sie sich gelöst hatten, verschwanden und bei den Bleiröhren ihre Wirkung bestimmt verfehlten.
Dann aber tat sie mit spitzen Fingern wieder zwei in das Röhrchen zurück und nahm zwei wieder zwischen ihre rosigen, langen Fingernägel, nahm eins der Mundspülgläser, füllte es bis zum Rand mit Wasser und goß es wieder sorgfältig aus bis auf einen kleinen Bodensatz. Und in ihm löste sie ebenso sorgfältig eine, die eine, Tablette auf – in dem Bodensatz –, und dann schwenkte sie vorsichtig das Glas in netten Kreisbewegungen herum, daß auch ja von dem weißen Staub – denn solche Dinger lösen sich nicht restlos auf, sie zerbröckeln eigentlich nur – auch kleine Partikelchen am Glas innen hängenblieben. Und dann nahm sie ihre farblose Lippenpomade aus ihrer silbernen Schuppentasche und fettete sich damit ordentlich die Lippen ein, führte den Rand des Glases zwei-, dreimal an den Mund und überzeugte sich, indem sie das Glas prüfend gegen das Licht nach dem Fenster zu hielt – überzeugte sich genau, ob auch die Abdrücke ihres Mundes an dem Glas sichtbar wären. Also sie waren es!
Und dann stellte sie das Glas mit der gelösten Veronaltablette neben sich auf den Nachttisch, legte das Glasröhrchen mit den zwei Tabletten offen daneben, den Verschluß neben das Glasröhrchen, warf noch einen Blick in das Morgenblatt der »Voss«. Rußland und Japan, die rieben sich doch immer weiter. Paß auf, Bertchen, das kann noch Krieg geben ... Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter! Und dann trug sie mit patschenden bloßen Füßen die Zeitung wieder in den Ständer. Verwühlte das Bett reichlich. Denn so was darf nicht ohne schwere, innere Kämpfe vor sich gehen. Machte einige Wasserflecken, als Tränenspur, ins Kopfkissen. Aber nur nich übertreiben! – Hedda Gabler: in Schönheit sterben. – Schrieb ein Zettelchen: »Ich will dir nicht im Wege sein. Evelyn«, nahm die letzte Tablette, schluckte sie wie einen Bonbon hinter. Das soll man eigentlich nicht. Es gibt leicht Magenschmerzen. Aber ihr tat das nichts. Sie konnte Kieselsteine verdauen. Und legte sich dann zum Schlafen hin. Und wirklich, weil sie vielleicht die beiden Veronal von gestern noch nicht ganz aus den Knochen hatte, schlief sie gleich ruhig und traumlos ein.
Und als sie erwachte, fühlte sie – eben dadurch erwachte sie ja! – so was im Mund, was merkwürdig schmeckte, und sie dachte, es wäre noch der Hummerschwanz. So lange konnte sie doch gar nicht geschlafen haben: denn es war noch hell draußen. Also war es noch nicht sieben Uhr. Und dieser Hummerschwanz rutschte ihr immer weiter, sie drückend und einen widerlichen Brechreiz gebend (aber das gehört wohl dazu), in den Magen hinab.
»Atmen Sie«, hörte sie, »ruhig atmen! Sehen Sie, es kommt ja schon.«
Und dann fühlte sie wieder einen Schwall von Wasser ihr Inneres durchrieseln. Und der Inhalt ihres Magens, das heißt ihr ganzes Essen, ergoß sich in die Waschschüssel, die Panchite, vor Angst und Aufregung grüngelb, hielt und die der Arzt mit wichtigem Blick beäugte und sich darüber hinbeugte, um es zu beriechen, während seine Linke den Schlauch der Magenpumpe hielt und seine Rechte den Puls fühlte. An einer Hand, die sich ganz schlaff machte und von allem Leben sich abzustellen suchte.
»Der Puls bessert sich schon«, sagte der Arzt leise, und dann, als Panchite das nicht zu verstehen schien, sagte er das gleiche nochmals auf französisch und englisch. » Craignez vous rien«, sagte er (Ärzte sprechen selten ein elegantes Französisch, wenigstens deutsche Ärzte, weil sie es nur in der Schule gelernt haben von Leuten, die es auch nicht konnten), »le danger est fini. Le cœur est heureusement très fort.«
Also das mußte die Brillantenberta selbst zugeben: sie hatte ein starkes Herz! Und sie hätte gelacht, wenn das möglich gewesen wäre.
Aber dieser gräßliche Hummerschwanz saß ihr immer noch in der Speiseröhre.
»Nur noch eine Spülung, dann sind wir erlöst«, sagte der Arzt.
(Was heißt »wir«? Ihm tat das gar nichts. Er machte das alle Tage; aber es war ihre erste Magenspülung, und da eröffnete dieser Hanake ein ganzes Brausebad in ihren Magen!) Und wieder fühlte sie, wie sie die Flüssigkeit durchrieselte.
»Es ist nötig«, sagte der Arzt, »il est nécessaire«, sagte der Arzt, »je ne crois pas, ich glaube nicht, que beaucoup de ce ...« (zum Donnerwetter, wie heißt denn: das Gift ... poisson ... ach nee, poison ... poisson heißt: Fisch) »... est allé dans le sang, in das Blut gegangen ist.«
Möglich, daß der gelbgrüne, elegante Herr sein Deutsch doch besser verstand als sein Französisch.
Es ist immer gut, dachte der Arzt, zweisprachig zu sein.
»So«, sagte er, »stehen Sie heute noch nicht auf, Madame, und morgen früh sehe ich nach Ihnen«, dann aber wandte er sich an Panchite. »Si vous avez des peurs«, sagte er, »ressemblables, vous avez le numéro de mon telefon, je suis là en quelques minutes ... wenn Sie noch irgendwelche Bedenken haben sollten, Sie haben meine Telefonnummer, ich bin in einigen Minuten da ... je crois que chaque péril est éléve. Ich glaube, daß jegliche Gefahr behoben ist, mein Herr.«
»Adieu, Monsieur, au revoir, Monsieur, auf Wiedersehen, mein Herr, grüß' Gott!«
Und dann brachte ihn Panchite hinaus, und die Brillantenberta drehte sich um und tat, als ob sie vor Mattigkeit wieder einschliefe. Ja, und dann kam Panchite zurück und war sehr zerknirscht. Und die Brillantenberta hatte auf der ganzen Linie, was ihr weder bei Rosenemil noch bei der Polenliese geglückt war, gesiegt. Und das erste Wort, was die Brillantenberta zu Panchite sprach, war: »Warum hast du mich in dieses Leben zurückgeholt? Warum hast du mich nicht da gelassen, wo ich schon war? Mir wäre jetzt wohler.«
Was unbestreitbar war. Denn es ist ein Unsinn, wie die Leute behaupten, daß eine Magenspülung ein helles, freundliches, befreiendes Gefühl gibt. Im Gegenteil, es ist einem eine ganze Weile verdammt grün um den Magen. Und als Panchite einmal aus ihrem Bett aufstand, tat er das nur ... sie nahmen nebenbei im Bett ihr Diner, denn sie sollte sich ja noch nicht soviel bewegen, wenigstens außer Bett ... tat er das nur, um eine Depesche durch das Telefon durchzugeben: die Kabine gegen eine Doppelkabine zu tauschen ... Und die Brillantenberta war wirklich sehr glücklich, wie ein Schiff, das nach vielen Stürmen, das hundertmal am Scheitern war, endlich in ruhiger Fahrt auf den schirmenden Hafen zudampft; daher reden die Leute immer vom Hafen der Ehe.
Aber am übernächsten Tag – es war Vormittag, und Panchite war schon wieder auf der Deutschen Bank, die vorgab, Überseeinteressen zu haben, und glaubte, gegen das amerikanische und das englische Kapital oder selbst das französische drüben konkurrieren zu können –, als die Brillantenberta sich sagte: Es ist doch mal ein wenig nötig, meine Schreibtischfächer nachzusehen ... Denn Panchite war zwar ein Kavalier, aber da er als Brasilianer der Eifersucht schon aus Überlieferung huldigte, so nahm er es, wenn es darauf ankam, nicht allzu genau mit dem Briefgeheimnis. Und in ihrem Schreibtisch, wenn auch hinten – es lagen Scheckbücher und Bankbücher davor –, waren doch so gewisse Päckchen von Briefen noch bis in die letzte Woche hinein, die Panchite wenig fröhlich gestimmt hätten. Sie ließ sich nebenbei solche Briefe immer an die Adresse einer früheren Wirtin in der Taubenstraße kommen. Die Wohnung hier hatte sie dank der Großzügigkeit ihres zukünftigen Mannes erst seit dem vorigen September ... als ihr plötzlich einfiel: Gott, mein gutes Bertchen, du hast doch vor drei Tagen diesen blödsinnigen Brief an die Staatsanwaltschaft geschrieben. Mit dieser albernen Denunziation dieses Lausejungen da. Du hast ihn doch hier ... natürlich erinnere ich mich ganz genau ... hier auf dieses Bankbuch gelegt. Wo ist um Himmels willen dieser Brief hin? Den kann doch nur Panchite genommen haben. Den muß doch nur Panchite genommen haben. Und den kann er sich übersetzen lassen. (Denn er konnte weder genug Deutsch noch deutsche Schreibbuchstaben entziffern.) Wenn das der Fall ist ... na, Bertchen, dann ist's ... dann kannste wirklich Veronal nehmen! Dann gute Nacht, Roonstraße! Gute Nacht, Panchite! Dann kannste wieder nächstens strichen jehn. (Denn ihre Finanzen waren verdammt in Unordnung.) Dann wieder Taubenstraße. Wo is nur der Brief? Dieser blöde Brief! Dieser elende Brief! Warum habe ich ihn nicht gleich zerrissen? Wozu läßt du so was 'rumliegen, du alte Sau, du, du alte Schlampe ... Dein Vater hat ganz recht gehabt, wenn er dich mit sechzehn Jahren 'rausschmiß ... Gott, du verdienst es ja nicht anders. In zehn Minuten ist Panchite da ... Wo ist der Brief? Der Briiief! Sie kriegte kaum Luft, denn da sie etwas Fett am Herzen hatte, kam das manchmal so ... sie konnte kaum vom Schreibtischstuhl auf und aus seinem roten Seidenpolster sich herausrappeln, so war ihr der Schreck in die Knie gefahren; sie hatte außer der Blässe wirklich alle Zeichen des Schrecks, die psychologische Lehrbücher aufführen, der Kiefer hing ihr herunter beinahe, und ihre Augen waren vor heller Angst noch mehr aufgerissen, als sie es dank kleiner medikamentöser Kniffe schon so waren. Und sie zitterte, daß die Silberknöpfe an ihrem Kleid nur so schepperten. Black kam mit einem Stoß Teller hereingehuscht, wie ein Mohrchen auf einem Plakat. Und stellte sie auf den Eßtisch drinnen.
Black fragen ... aber vorsichtig, der Bengel merkt alles ... Vorsichtig, Bertchen, es geht um die Wurst.
»Black, mon petit, little Boy – ich suche etwas!«
»Was Medam suchen?« sagte Black.
»Einen Brief«, sagte die Brillantenberta.
Black grinste. »Grief gut«, sagte er, »Grief sogar very good. Grief in Griefkasten von vorgestern, seven glock. Hier auf Tisch liegen ... Black timbre, da«, er zeigte auf das Markenkästchen, »Black«, er steckte seine rote Zunge weit 'raus, »patsch auf Grief vorgestern sieben Uhr ... Medam«, er legte die Hand an die Schläfe und schloß die großen Augen mit dem vielen Weiß, »Medam noch in Baba.«
Die Brillantenberta hatte ihr süßestes Lächeln aufgesetzt. (Nur dieses kleine, schwarze Rabenaas nicht verschüchtern!) »Very good, Black, braves Black ... artiges Black«, sagte sie ihm in der halb blödsinnigen Art, wie sie gerne mit ihm quackelte, »da, Black: sixpence.« Und sie gab ihm ein Fünfzigpfennigstück aus ihrer silbernen Tasche.
Also Panchite hatte ihn nicht! Aber, es war kaum weniger schlimm. Heute, vielleicht schon morgen – na ja, es geht ein bißchen langsamer bei der preußischen Mühle –, in einer Woche vielleicht würden alle dort vorgeladen werden, um kommissarisch in der Sache Aussage zu machen. Wenn das Panchite erfährt, ist es ganz und gar nicht besser damit. Und er gibt mir genau so'n Fußtritt, wie er ihn mir gegeben hätte, wenn er den Brief gefunden hätte, einen Tritt in den Arsch gibt er mir (Pardon, auch die Brillantenberta war, wenigstens in Selbstgesprächen, nicht sonderlich wählerisch in ihren Ausdrücken), daß ich wieder bis nach die Taubenstraße fliege!
Ich muß den Brief zurück haben ... die Anzeige muß ich zurückziehen. Und wenn es mein halbes Vermögen kostet. Das muß jetzt bei der Polizei sein. Von der Polizei kann man doch so etwas herauskriegen. Das muß Friedmann machen. Das muß er! Er hat mir sechsmal schon ... na ja, es hat auch was gekostet, er nimmt's von den Lebenden ... sechsmal schon aus der Patsche geholfen ... kann er es eben auch das siebente Mal tun. Der macht alles. Der holt den Mond 'runter, wenn's sein muß. Hat das nicht das Mädchen gesagt? Wirklich, die Leute tun ihr aufrichtig leid da, aber endlich haben sie es sich ja selbst zuzuschreiben.
Aber jedenfalls, jedenfalls, Bertchen, mußte hier weg ... weg mußte. Hier 'raus aus Deutschland, eh der Stein ins Rollen kommt ... sonst liegste, eh' de dich versiehst, auch mit drunter und bist zu Appelmus zerquetscht. Und der Gedanke, wie sie zu Appelmus zerquetscht war, setzte sich bei ihr bildhaft um, und sie schloß angstvoll vor dieser Vision die großen Augen, und wie sie eine Sekunde – kaum das – später wieder öffnete, stand Panchite im Zimmer, und sie flog an seinen Hals. »Du bist so lange geblieben, mein wilder Puma, ich habe solche Sehnsucht nach dir gehabt den ganzen Vormittag.«
Und wieder saßen sie beim Lunch, das sie selbst und ihre vorzügliche Köchin zubereitet hatten. Was auch, wenigstens soweit die Bouillon in Frage kam, der Wahrheit entsprach. Die Brillantenberta war nämlich viel zu klug, um etwa die Stimmung Panchites – und er war guter Stimmung – durch Schlangenfraß zu gefährden. Und so zeichnete also immer noch Hiller verantwortlich für das übrige. Einfache Leute sitzen beim Frühstück, bessere Leute beim Gabelfrühstück, wirklich gute Leute – das ist hier mehr als besser! – beim Lunch. Bei einfachen Leuten sagt die Frau: »Sei nicht so unausstehlich«, bei besseren Leuten: »Bitte nimm dich doch wenigstens beim Frühstück etwas zusammen.« Bei wirklich guten Leuten sagt sie: »Also ich bin wirklich glücklich, daß du nicht mehr so überarbeitet bist, ich habe mich um dich schon sooo geängstigt.« Und so sagte die Brillantenberta, nur daß sie noch »mio Panchite« hinzusetzte. »Oh«, sagte sie, »weißt du, ich freue mich auf London. Also London! Ich habe es zwar seit achtzehnhundertsiebenundneunzig nicht mehr gesehen ... London – das ist die Stadt für mich.«
Panchite war erstaunt. Die weiße Taube hatte ihn wohl mißverstanden, denn es war nie die Rede davon gewesen, daß sie nach London gehen ... jetzt gehen sollten.
»Warst du mal jetzt wieder in der Tategalerie? Und die Nationalgalerie! Und das Britische Mjuseöm und die Wallace-Kollektion. Oh, das ist épatant. Da sind die Franzosen, die großen Franzosen des dixhuitième, weißt du, Panchite – fast besser wie in Paris bei Casal selbst. Und ich möchte zu gerne die Antiken im Britischen Museum wiedersehen. Sie haben damals so einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht. Wirklich, ich sterbe fast vor Sehnsucht, sie wiederzusehen.«
Alles war richtig, nur das »wieder« war zuviel. Denn damals hatten sie andere geschäftliche Dinge nach London geführt, und sie hatte zwar das Strandhotel – wo man ihr aber bald bedeutete, sich ein anderes Absteigequartier zu suchen – von innen, aber kaum ein Museum auch nur von außen gesehen.
»Ja«, sagte Panchite, »aber wir werden, da ich ja doch hier Bankverbindungen anknüpfen werde, kaum noch Zeit haben, länger in London zu verweilen!« Der einfache Mann ist nämlich wo. Der bessere Mann hält sich wo auf. Aber der wirklich gute Mann »verweilt«.
»Höre mal, Panchite«, sagte die Brillantenberta, »es liegt mir vollkommen fern, mich da in deine geschäftlichen Transaktionen zu mischen ... aber ich vernehme eben, du willst mit der Deutschen Bank Verbindungen anknüpfen. Würde ich nicht tun. Hat den Ruf: weder sicher noch kulant. Ich würde überhaupt ... aber ich lehne es ab, mich irgendwie da hineinzumischen; wenn ich zum Schmied gehen kann, gehe ich nicht zum Schmiedchen, England bleibt England. Ich würde die kleinere Hälfte hier unterbringen, die größere Hälfte in London. Geh zu Schröder. Solche große alte Privatbank ist das Beste. Die haben noch Ehrgeiz, die haben noch Wagemut. Da wird nicht alles so schematisch gemacht.« Denn darüber hatte sich Panchite geärgert ... er sagte: das wären Unteroffiziere, aber keine Bankdirektoren. »Jedenfalls würde ich auf zwei Pferden reiten. Das ist immer klüger als nur auf einem.« Sie war Feuer und Flamme. »Geh nach London«, sagte sie.
Panchite sah sie an. »Wirklich«, sagte er, »meine weiße Taube ist nicht so unklug.« Der gewöhnliche Mann sagt doof, der bessere dumm, der gute unklug. »Ich werde darüber noch heute meinem Londoner Subdirektor drahten.« Der einfache Mann telejrafiert, der bessere depeschiert, der feine drahtet. »Also, meine weiße Taube, du freust dich schon sehr auf London.«
»Oh«, sagte sie, »wie dankbar ich dir bin, Panchite, und wie lange hast du noch zu tun? Bis morgen? Also übermorgen! Also ich freue mich, ich glaube, seit meinem zehnten Jahr habe ich mich nicht mehr so gefreut, Panchite. Ich will gar nichts mitnehmen wie die paar Bildchen, den Manet, den liebe ich besonders, und den Münch auch und den Slevogt, weil du es bist. Na ja, und den kleinen Böcklin da ... das bekommen wir so mit auf Überfracht. Sonst packen wir sie einfach ins Auto hinein, ob das leer oder mit den paar Bildern da steht im Steamer ... und in London das neue Hotel, das Cecil ... ich ...«
»Ich gehe seit Jahren in den Strand«, sagte Panchite.
»Den Strand!« rief die Brillantenberta mit dem Zeichen höchsten Entsetzens. »Aber Panchite, ein Mann wie du kann doch nur ins Cecil gehen. Ach, ich freue mich so aufs Cecil. Der Strand ist wirklich nicht mehr first rate ... Man hört nichts wie Klagen darüber ... Ja, aber ... also ich bin so glücklich, daß du mit mir ins Cecil gehst, Panchite, du mußt dich aber nachher etwas legen, du siehst ganz abattu aus, wirklich, du bist übermüdet, vorhin hast du schon zweimal gegähnt. Leg dich hin nachher. Ich nehme nur noch 'ne halbe Stunde deinen Wagen. Um vier brauchst du ihn? Um drei Viertel vier bin ich längst wieder da. Ach Gott – zur Schneiderin! So was langweilt doch Männer immer. Aber wir armen Frauen müssen uns nun eben mal mit so was 'rumschlagen, sonst gefallen wir euch Bösen ja nicht. Ach richtig, du sagtest heute früh, daß es dich wundert, warum in meinem Paß Eva Dora Cohn genannt Evelyn de la Croix steht ... weißt du, habe ich dir das nie erzählt, mit dem Großvater – oder war es der Urgroßvater schon? Da war mal sone dunkle Sache mit einem Duell und einer Prinzessin. Na, was Genaues weiß ich auch nicht. Und da haben da nu die Kinder von ihm den Namen und den Adel abgelegt und sich einfach Cohn genannt. Aber ich habe es gar nicht eingesehen, warum ich mich nicht wieder de la Croix nennen soll, nicht wahr? Nun werde ich ja doch auch das nicht mehr lange heißen. Nicht wahr, Panchite? Aber nun leg dich, du kriegst noch einen Kuß. Nicht mehr, du siehst schlecht aus, mein schwarzer Puma.«
Und sie rief nach Black, er solle Jim sagen, er möge mit dem Wagen vorfahren. Denn einfache Leute tun so was, wenn überhaupt, selbst. Bessere Leute rufen den Schofför und sagen es ihm. Aber wirklich ganz feine Leute rufen erst den Boy und sagen ihm, daß er es dem Chauffeur ausrichten soll.
Das Privatbureau Friedmanns in der Mittelstraße – vordem war es in der Friedrichstraße selbst gewesen, aber das war ihm zu lärmend geworden, und er brauchte keine neue Klientel, keine Laufkundschaft, zu ihm kam man so! – hatte einen großen Smyrnateppich und einen großen Diplomatenschreibtisch und einen Schrank mit Gesetzbüchern und Kommentaren, die er nicht benutzte. Denn die Gesetze kannte er sogar besser als die Richter, gegen die er kämpfte. Denn die kannten nur die Gesetze. Aber er auch ihre Lücken. Und die Kommentare gab er.
Und sonst hing nur ein Bild einer Dame dort, mit glatten Haaren und spitzen Augen und einem reglosen Gesicht, die einmal seine Tanzstundenliebe und nun seit zehn Jahren, wenn auch nur in bescheidenem Maße, seine Frau war. Denn eigentlich war er mit zweiunddreißig Frauen verheiratet. Paritätisch mit sechzehn roten und mit sechzehn schwarzen, die er überaus geschickt auseinanderzuhalten wußte und gegeneinander auszuspielen verstand. Aber nur eine davon war seine Herzensdame. Und sie war auch als solche durch ein rotes Herz über der rechten Schulter gekennzeichnet. Das heißt, sowie er eine Karte sah, existierte keine Frau mehr für ihn, und seine eigene nun schon gar nicht. Wenn er eine Viertelmillion im Jahr verdiente, verspielte er eine halbe.
Daß Eva Dora Cohn nicht seine Frau war, war Zufall. Denn eigentlich war sie seine Tanzstundenliebe gewesen, hatte aber damals erfolgreich ihr vierzehnjähriges Herz einem erfolgreicheren (das heißt, er war beides!) Konkurrenten aus der Tiergartenstraße zugewandt, der sich dann auch prompt später nach dem Abitur ihrethalben erschoß.
Nun hatte Friedmann einen Gehrock, wenn er im Büro keine Sammetjacke trug, ein Igelgesicht, einen Kneifer mit schwarzem Hornrand, einen dicken, quer über das Gesicht gewischten Schnurrbart und storre, gescheitelte Igelhaare. Er machte es mit der nonchalanten Liebenswürdigkeit und der die Gegner und Richter vernichtenden lächelnden Courtoisie. Er hatte nur Sammetpfoten, die streichelten, bis sie zuschlugen und den Gegner zerfetzten. Oder das schon niedergeschlagene Opfer der Themis den Richtern wieder aus den Krallen rissen und aus dem Gerichtssaal schleppten. Er hatte mehr ironische Spitzen dabei, wie eine Distel Stacheln. Es war ein unvergeßlicheres Erlebnis als Kainz und Matkowski, ihn einmal plädieren gehört zu haben. Erst saß man in einem Salon und plauderte mit einem Oskar Wilde. Dann in einer Theaterloge. Und plötzlich im Fegefeuer, so donnerte er los und ließ die Argumente rollen. Sie waren durchaus einander gewachsen: er und die Brillantenberta.
»Friedmannchen«, sagte die Brillantenberta, »was machen Sie?«
Friedmannchen wußte schon von ihrem Glück, denn das »Kleine Journal« hatte es gerade heute unter der Rubrik »Aus der Gesellschaft« gebracht.
»Man quält sich«, sagte Friedmann.
»Was machen deine zweiunddreißig Geliebten, kannst du immer noch nicht meine Tante von deiner Tante unterscheiden?« sagte die Brillantenberta. Wenn sie guter Laune war, duzte sie gerne alte Bekannte.
»Nein, Evchen«, sagte Friedmann, »ich bin farbenblind.«
»Ich habe eine furchtbare Dummheit gemacht«, sagte die Brillantenberta.
»Ich hörte schon davon«, sagte Friedmann. »Wie lange Zeit gibst du der Sache?«
»Den Rest meines Lebens«, sagte Brillantenberta.
»Soweit ich mich erinnere«, sagte Friedmann, »aber mein Gedächtnis läßt in der letzten Zeit abscheulich nach, hast du früher alle vierzehn Tage ein neues Leben angefangen. Der Mensch ändert sich nicht.«
»Alten Bekannten gratuliert man«, sagte die Brillantenberta.
»Ich wünsche dir alles, was du mir wünschst«, sagte Friedmann.
»Fangste schon wieder an«, sagte die Brillantenberta. »Also eine wahnsinnige Dummheit hab' ich gemacht«, sagte die Brillantenberta.
»Na, die kannst du noch ungeschehen machen, Evchen«, sagte Friedmann.
»Deswegen komme ich zu dir. Denk dir, da war solch junger Mann ...«
»Abfinden«, sagte Friedmann, »abfinden ist immer noch letzten Endes das Billigste. Warum nicht, Evchen? Die Erpresser wollen auch leben.«
»Aber nein«, sagte die Brillantenberta, »mit Erpressung wird da nichts mehr zu machen sein, nur mit Bestechung.«
»Das scheint ein merkwürdig gelagerter Fall zu sein«, sagte Friedmann. »Da es bei uns nicht an Leuten fehlt, die nehmen würden, aber leider sehr an solchen, die geben, so ist Bestechung ein kostspieligeres Vergnügen als Erpressung, natürlich für den negativen Teil.«
»Ja, da war ein junger Mann – unterbrich mich nicht immer, Friedmann.«
»Du hast mir seine Existenz ja nicht verschwiegen ... ich weiß: er war jung und ein Mann. Das genügt mir, um im Bilde zu sein.«
»Der hat vierzehn Tage bei mir gewohnt.«
»Selbstverständlichkeiten erwähnt man nicht, Evchen. Ich sagte ja, daß ich im Bilde bin.«
»Also er war eine Null, ein Esel, gar nichts, ein kleiner Boofke. Aber ein ganz anständiger und braver Junge eigentlich.«
»Na«, sagte Friedmann, »da wird doch die Preishöhe dir jetzt kaum Schwierigkeiten bieten. Anständige Menschen sind immer billiger und leichter zu bestechen als unanständige.«
»Nein, er ist wieder von mir weggelaufen«, sagte die Brillantenberta.
»Und wie hoch bezifferst du deine gekränkte Ehre, Evchen?«
Jetzt wurde die Brillantenberta unglücklich. »Friedmannchen«, rief sie, »ich habe dir einmal das Leben gerettet. Dadurch, daß ich mich nicht mit dir damals verlobt habe. Du mußt mich retten ... und den armen kleinen Esel da. Was kann ich denn dafür, daß ich ein Magnetberg bin?«
In diesem Falle stimmte es ja nicht, aber sonst hatte es oft seine Richtigkeit gehabt.
»Ich habe einen Brief geschrieben ... Also ich möchte mich ohrfeigen.«
»Brief?« sagte Friedmann, und plötzlich war aus dem Causeur der Anwalt geworden ... der Mann, der für das Recht, das menschliche Recht, gegen das Gesetz kämpft. »Was für einen Brief haben Sie geschrieben?«
»Ich wollte ihn ja nicht abschicken, ich schreib immer solche Briefe, wenn man mich kränkt«, heulte die Brillantenberta los, »und ich verbrenne und zerreiße sie dann. Wirklich, Friedmann, ich schicke sie dann nicht mehr ab. Der kleine Negerjunge, der bei uns ist, hat ihn vom Schreibtisch genommen und frankiert und in den Kasten geworfen. Ich kann ja nichts dafür. Vor drei Tagen hat er ihn schon weggeschickt.«
»Und warum sind Sie nicht gleich gekommen, gnädige Frau?« Friedmann wurde immer kühler.
»Weil ich's heute erst gemerkt habe.«
»Und Sie haben ihn wegen Zuhälterei angezeigt, nicht wahr?«
Die Brillantenberta nickte und schluchzte ... und vielleicht dieses Mal schluchzte sie, das erste Mal seit langem, aus einem wirklichen Gefühl heraus.
»Ja, wie kommen Sie eigentlich dazu, gnädige Frau? Es ist doch eine Anzeige wider besseres Wissen. Zuhälterei setzt eine berufsmäßige Handlung voraus. Das wissen Sie so gut wie ich, ja, das wissen Sie sogar besser als ich. Wenn der junge Mensch vorübergehend zwölf Tage sich bei Ihnen aufhält ...«
»Aber er ist zu der andern zurückgegangen, deren Zuhälter er doch war.«
»Dann hätte eben die andere ihn anzeigen können ... nicht Sie, Madame, und Sie sprechen von Zuhälterei! Zuhälter ist jemand, der nach dem Gesetz von der gewerbsmäßigen Unzucht einer Prostituierten lebt. Sie haben aber in dieser Zeit und schon vorher, wie mir aus Akten bekannt, keine gewerbsmäßige Unzucht getrieben, sondern einen reichen Freund gehabt, der Sie aushielt und den Sie mit jenem betrogen haben und außerdem sich mit ihm in öffentlichen Lokalen zeigten. Sie haben vielleicht ein Essen bezahlt für ihn – quel bruit pour quelques cotelettes, wie Barbey d'Aurevilly sagte – oder ihm auch mal etwas Geld zugesteckt! Also bleibt von dem Delikt überhaupt nichts mehr, Eva Dora Cohn – man kann um Geld spielen, aber nicht um Existenzen.«
»Deswegen bin ich ja bei dir, Friedmannchen, du mußt das wieder gutmachen.«
»Aber Evchen, du bist doch sonst wirklich ein gerissener Anwalt; wenn du studiert hättest, mit deinem Köpfchen, ich würde mich mit dir assoziieren. Wenn du doch wenigstens den infamen Brief an die Polizei geschrieben hättest, da wäre er vielleicht noch nicht weg, wäre da liegengeblieben, da wäre noch etwas zu machen mit einem Widerruf und mit Geld. Oder sonstwie durch Beziehungen. Aber der Staatsanwalt – da verkennst du den Mann! –, der hat in dem Augenblick, wo er es bekommen hat, dich ausgeschaltet, und jetzt ist es in den Krallen des Ungeheuers Staat. Verstehste, was das heißt? Feuer, Wasser und Staat kennen kein Mitleid, sagt der Türke. Dem wird man es nicht mehr aus den Zähnen reißen. Jetzt hat die Maschine vielleicht schon seit vierundzwanzig Stunden zu arbeiten begonnen, da wird auch dein Widerruf nichts mehr nützen. Morgen oder in drei, vier Tagen wird man dich vielleicht schon in dem Fall vernehmen, Evchen. Das wird dir auch nicht gerade jetzt angenehm sein, wenn dein zukünftiger Mann erfährt, daß du in einer Sache wegen Zuhälterei, in der du die Hauptbelastungszeugin spielen sollst und spielen wolltest, vernommen wirst. Oder gehe ich da fehl?«
Die Brillantenberta wimmerte still vor sich hin. »Übermorgen fahren wir schon nach London«, sagte sie leise, »après nous le déluge.«
»Also nu hör mal; das einzige, was wir im Augenblick noch machen können, ist folgendes: Du fertigst hier bei mir, als Notar, mit beglaubigter Unterschrift sofort einen Akt aus, den ich dir diktieren werde. ›Ich erkläre hiermit an Eides Statt, daß die gegen Herrn ...‹ – Wie heißt der arme Junge, Rosenemil? Da können wir nichts mit anfangen –, ›Herrn Emil Lehmann von mir erhobenen Anschuldigungen in einem Zustand getrübter, geistiger Zurechnungsfähigkeit, unter der Wirkung von Kokain, erhoben wurden und jeder Begründung entbehren. Er hat in der kurzen Zeit, da er mit mir in Beziehung stand, niemals Geld oder irgendwelche Zuwendungen sonst von mir erhalten. Ich ließ mich in meinen gekränkten Gefühlen, da der Bruch unserer Beziehungen von ihm ausging, so weit hinreißen, diese unbegründete Anzeige zu erstatten, die ich aus tiefstem Herzen bedaure. Ich erkläre mich bereit, Herrn Emil Lehmann jede gewünschte Ehrenerklärung zu erstatten, und bin bereit, eine von Herrn Lehmann zu bestimmende Summe an die Armen Berlins zu zahlen.‹ – Das macht immer Eindruck. So, nun wollen wir mal sehen, was damit zu machen ist, Evchen. Weißt du, Dummheiten darf ein Mensch nämlich begehen. Nur keine Gemeinheiten ...«, und damit trafen sich Palisadenkarl und der große Strafverteidiger, dem ebenso wie dem Palisadenkarl nichts Menschliches fremd war.
»Das brauche ich in zwei Exemplaren«, sagte er dem hereingeklingelten Schreiberjungen, »aber fix, die Dame wartet solange.«
»Aber ich glaube, es nützt nichts mehr«, sagte Friedmann, »da kannst du ebensogut mit deinen dicken Patschchen gegen eine Mauer boxen. Die tut, als merkte sie das gar nicht. Die fällt deshalb noch lange nicht um. Was machen wir dann?«
»Jaja, na, dann mußt du die Verteidigung übernehmen ... Was kostet das?«
»Viel«, sagte Friedmann.
»Schicke mir sofort noch die Rechnung durch einen Boten, er kriegt das Geld mit, aber schreibe nicht Anwalt drauf.«
»Gemacht«, sagte Friedmann.
Und die Brillantenberta fühlte sich wieder als die gute Fee von Rosenemil und der Polenliese ... Sachen würde sie der schicken! Sachen!
»Komm«, sagte sie, »komm, Friedmannchen, du sollst noch einen Kuß von mir kriegen, weil du doch mein ältester und mein bester Freund bist, den ich noch habe.«
(Na ja, dachte Friedmann, die andern haben sich erschossen.) Laut aber sagte er: »Lieber nicht, Evchen, nachher denunzierst du mich auch wegen Zuhälterei.«
»Aber du kommst doch so spät«, sagte Panchite, »es ist schon nach vier.«
»Sei nicht böse, mein kleiner Puma. Aber das kennt ihr Männer nicht ... ach, es ist schrecklich, sie sind alle gleich ... komm du mal von einer Schneiderin weg ... Ach«, Black stand in der Tür, ein Briefchen auf einem silbernen Tablett, »siehst du, da muß ich noch eine Rechnung bezahlen. Es ist von der Friedmann. Aber bei der lasse ich auch nicht mehr arbeiten. Die ist sündhaft teuer ... Willst du mal einen Scheck schreiben, Panchite? Also ich lasse niemals bei der Friedmann mehr arbeiten ... sechs ...«
»Cento«, fragte Panchite, dem Jim schon in den Mantel half, und hatte dabei Füllfederhalter und Scheckbuch in der Hand.
»Mille«, sagte die Brillantenberta.
»Oh«, sagte Panchite, nichts mehr, während er mit großem Schwung, wie es sich einem Kaffeekönig geziemt und einem Brasilianer, seinen Namen unter den Scheck setzte: sechs Mille Panchite de Ramiro, »den Scheck füllst du wohl ganz aus. Und um acht bei unserm Gesandten.«
Und die Brillantenberta küßte dankbar Panchite und schrieb dann – heute begleitete sie ihn nicht mit auf die Treppe hinaus, man muß die Männer nicht immer so verwöhnen! – Herrn Rechtsanwalt Friedmann, Mittelstraße 12, Berlin, in das Scheckformular hinein.
Ja, und zur gleichen Zeit saß Rosenemil bei Vater Strehmel, das heißt, er saß gar nicht da, saß nur hinten in dem Kellerraum mit den Girlanden und den Lampions, wo er das Gefecht damals im Juni mit Palisadenkarl gehabt hatte, bei einem Glas Bier. War nur auf einen Sprung hereingekommen, um ein bißchen Klavier zu spielen. Das hatte er lange nicht mehr getan. Er hatte Sehnsucht nach Musik. Nicht, um sich zu zerstreuen. Aber in diesem Augenblick war ihm ein Walzer von Waldteufel genausoviel wie Panchite das Opus III von Beethoven. Er war sehr unglücklich. Er fühlte sich auch nicht gut, hatte Halsschmerzen und wollte sich durch Musik etwas über sein Unglück hinweghelfen lassen. Die Polenliese gefiel ihm nicht. Er hatte deswegen auch einmal mit dem Entenschnabel gesprochen, der doch alle zwei Tage nach ihr sah, aber der hatte auch nichts gesagt, wenigstens nichts Rechtes. Er hatte gemeint: er wäre kein Uhrmacher. Wat der Mann eigentlich damit sagen will? Und unfreundlich ist er auch, hat er doch zu mir gesagt, daß für ihn die Angehörigen seiner Patienten die Feinde seiner Patienten sind, und ick hab' ihn nich mal was drauf erwidern können. Der Mann hat ja recht gehabt. Damals hat der letzte Flieder noch geblüht, und jetzt fangen die Bäume schon an, wenigstens hier in de Stadt, kahl zu werden. Vorne im Vorraum, denn um diese Zeit war es leer bei Vater Strehmel, saß Spitzmaus und brachte den Kindern rechnen bei.
»Wenn ich von fünfzehn Äpfeln neun aufesse – was habe ich dann?«
»Hunger«, sagte die kleinere von den beiden.
»Das ist eine zu individuelle Auffassung, Gretchen«, sagte Spitzmaus. »Also, was bekomme ich, Hänschen?« Denn jetzt rückte schon eine zweite Garnitur der Strehmelkinder, die Zwillinge, gegen die Wissenschaft vor, und die würden erst in vier Jahren bei ›je suis‹, ›tu es‹, ›il est‹ sein. Das machte bis dahin die Stunde nur zu zwei Schnäpsen, das Jahr zu dreihundert Stunden ... zweitausendvierhundert Schnäpse für Spitzmaus.
»Also, Hänschen, sag du, was krieg' ich, wenn ich von fünfzehn Äpfeln neun aufesse?«
»Keile«, sagte Hänschen triumphierend.
»Jedenfalls sind meine Fragen dümmer gewesen als die Antworten der lieben Kleinen mit ihrem lichten Kindergemüt«, piepste Spitzmaus. »Ich meine, was übrigbleibt!«
Aber Hänschen triumphierte nochmals. »Die Griebsche«, rief er. (Wat der komische Mann allet von een wissen will!)
»Dieses, mein Kind«, sagte Spitzmaus, »scheint mir eine volkstümliche Umschreibung für das Kernhaus des Apfels zu sein. Aber auch so habe ich es nicht gemeint. Ich will wissen, wieviel da noch auf dem Tisch zurückbleiben.«
»Des will ich janich wissen«, sagte Hänschen.
»Ich auch nicht«, sagte Gretchen. Denn sie war immer der Meinung ihres Bruders, weil der eine Stunde älter war.
»Du hast nicht so unrecht, mein Kleiner«, sagte die Spitzmaus, »man soll nie neugierig sein. Die Neugier ist überhaupt die Quelle allen Übels auf dieser Welt.« Und Spitzmaus dachte: Donnerwetter ... hätte ich das eher gemerkt, dann hätte ich Rosenemil einen Wink gegeben, daß er durch das Gitter vom Fensterschacht ... denn das Fenster ist doch aufzumachen, und das Gitter ist (aber das wissen die wenigsten, nur Vertraute dieser Stätte) hochzuheben, und dann kann man über den Hof und die zweite Treppe links 'rauf und weg über die Dächer türmen. Oder er hätte auch immer noch durch das Klosett mit den zwei Türen und dann durch Strehmels Wohnung weggekonnt. Aber nun ist es zu spät, nun sitzt er eben in de Rattenfalle ... Denn die beiden Leute – warum haben solche Burschen immer solche kriminellen Gesichter? Wie ein janzes konzentriertes Verbrecheralbum sehn die beiden doch aus. Warum nur? Komisch, dat die Krimis wie die Verbrecher und die Irrenärzte wie die Verrückten selber aussehen. Die beiden da, die um einen Tisch herumgegangen und rechts und links neben der Tür stehngeblieben sind und nun um die Ecke um die Türpfosten gucken, wie Baumüller da hereingegangen ist, das sind doch Achtgroschenjungens! Rosenemil, Rosenemil, da ist es nichts mehr mit türmen und nichts mehr mit Jiu-Jitsu. Die haben dich in der Falle ... Rosenemil, du tust mir leid eigentlich. Ich glaube, die haben mit dir nicht viel gutes vor. Ich ahne so was, der Baumüller will dich schnappen, mein Junge. Ich fürchte, die werden nicht freundlich mit dir umgehen, Rosenemil. Ich glaube, die Polenliese wird nicht lachen, wenn sie das hört. Sie aber schon um achte ... trank roten Wein und lachte! Auch wieder schief gesehen, Heinrich Heine.
Herrgott, dachte Rosenemil, und er war grade bei »Emma, mein Mauseschwänzchen ... du meine Wonne, du mein Glück!« Himmel, das ist Palisadenkarl – denn er fühlte genau wie damals eine sehr feste Hand, eine Hand wie einen Schraubstock auf der Schulter, die ihn umdrehen wollte, er hätte ganz recht, wenn er mir jetzt 'ne Reinigung gibt, der Palisadenkarl. Nein, ich wehre mich gar nicht.
Licht war noch nicht angesteckt in dem Raum mit den Girlanden, und da die Fenster halb unter und halb über der Erde waren, war es sehr dämmerig.
»Laß sein, Karl«, sagte er und zuckte nur mit den Schultern, »ick hab's nicht gewollt ... wirklich nicht!«
»Rosenemil«, sagte Baumüller, »es tut mir leid, daß ich dich in dein Spiel stören muß ... Ich hätte dir jerne noch 'n bißchen zugehört. Aber ich hab' keine Zeit ... Komm mit! Ich muß dich mitnehmen. Wer ich bin, weißte, Rosenemil ... Oder brauche ich mich zu legetimieren? Es liegt was gegen Sie vor.«
»Nee, Herr Kommissar«, sagte Rosenemil, »wer und was Sie sind, weiß ich genau. Was jejen mich vorliegt, weiß ich nicht.«
»Des kann ich Ihnen auch nich sagen«, meinte der Kommissar, »ich hab' nur die Order, Sie vorzuführen. Das werden Sie dann hören.«
Aber Rosenemil hatte sich mit einem Ruck losgemacht und stand vor Baumüller, der sich nicht klar war, was er da tun sollte. Er wußte ja mit Rosenemil besser Bescheid als die Stelle, von der die Order kam. Das war ja ein Unsinn, die ganze Geschichte. Es würde nicht zu halten sein. Morgen oder übermorgen würden sie ihn vielleicht doch wieder laufenlassen. Immerhin war es ganz gut, wenn sie mal damit die Kolonne Palisadenkarl, die er nie fassen konnte, etwas versprengen würde. Die Sache wegen der Zuhälterei war unhaltbar. – Die Brillantenberta würde umfallen, das hatte sie schon zweimal getan. Und sie mußte ja umfallen. Und die Polenliese, das arme Mädel, brauchte man gar nicht erst als Zeugin zu laden. Und Arbeit hatte er ja auch gehabt. Ein Unsinn ist die ganze Sache.
»Also, sei vernünftig, Rosenemil«, sagte Baumüller und schielte nach der Tür, »mach mir und dir doch keine Schwierigkeiten.«
»Nee«, sagte Rosenemil, »ich komme nicht mit.«
»Nu sei schon vernünftig, wat nützt es dir denn. Draußen stehen meine Jungs, und wenn de selbst mit mir fertig wirst, mit drei doch nicht.«
»Ick bin ja vernünftig«, sagte Rosenemil.
»Also mach mir keine Schwierigkeiten. Mann Jottes, komm schon. Wir jehn auch janz unauffällig.«
»Wer hat denn jesagt, daß ich Ihnen Schwierigkeiten machen will? Von Nichkommen is keine Rede. Ich habe noch eenen Jang zu machen, eenen Krankenbesuch.«
»Dann schicken Se in Jottes Namen der Polenliese noch 'ne Botschaft durch Vater Strehmel. Sagen Sie ihm, was Se wollen. Ich höre nich hin, Rosenemil.«
»Ick komm' uff 'n Alex in eine Stunde. Haben Se Erbarmen mit 'n armen Menschen, Herr Kommissar. Sagen Sie mir, welches Zimmer und welche Zeit, un ick bin da, ohne daß Se mir holen brauchen.«
Einen Augenblick schwankte Baumüller; es war sein Amt, freundlich zu tun und gemein zu sein. Er war der Freund dieser Menschen bis zu dem Augenblick, da er ihr erbitterter Feind sein mußte.
»Ja – aber, wenn Se nu nich kommen, Rosenemil?« sagte er.
»Wat hat des for'n Sinn«, sagte Rosenemil, »wenn Sie einen suchen, Herr Kommissar, denn is doch Berlin aus Jlas.«
»Nee«, sagte Baumüller, »es jeht nich. Das is jejen die Instruktionen. Da mache ich mir selbst Unannehmlichkeiten. Und das wollen Se doch nich, Rosenemil. Es tut mir leid, aber du mußt mitkommen. Morgen biste ja doch wieder 'raus, wir gehen zusammen, ich faß dich nich an. Es wird keiner merken. Wie zwei Freunde, die 'n bißchen zusammen mal den schönen Nachmittag genießen wollen.«
Vielleicht meinte es Baumüller wirklich so, wie er sagte, vielleicht hatte er auch nur das Gefühl der Spinne, die triumphiert, daß ihr endlich die Fliege ins Netz gegangen ist, und sie nun in den weichen, schleimigen, schnell erhärtenden Fäden erst mal einspinnt, ehe sie ihr den tödlichen Biß versetzt. Vielleicht hatte er Freude am Schachspiel mit dem »Verbrecher«. Aber vielleicht doch – das wird der Wahrheit am nächsten kommen – war Baumüller nur ein ganz ruhiger Bürger, der sein Handwerk ausübt wie jeder andere das seine ... und das war bei ihm: Menschen jagen und zur Strecke bringen. – Ein kleiner Spießer, in dessen Gefühlswelt trotzdem all das war: die Spinne, das Schachspiel, die Freude an der Hetze ... und sogar das Mitleid und das menschliche Mitgefühl mit seinen Opfern. Rosenemil zum Beispiel hatte er ganz gern. Eigentlich ein freundlicher, hübscher, blonder, schwacher Junge, der in schlechte Gesellschaft, wie er sich ausdrückte, geraten war und nun dafür die Zeche bezahlen mußte. Vielleicht gerade, weil er in diese »schlechte Gesellschaft«, wie es amtlich in den Protokollen hieß, nicht hineingehörte. Aber jetzt mußte er ihn abführen, selbst wenn es nicht zum Prozeß käme und die Sache nicht anhängig gemacht würde. (Rosenemil wollte er gar nicht so sehr damit treffen wie die Kolonne. Denn wenn die wieder Kletterwillem sich holten, dann hatte er sie doch. Kletterwillem verpfiff sie ihm. Aber Palisadenkarl ließ Kletterwillem noch nicht wieder 'ran.)
»Du, Spitzmaus«, rief Rosenemil, während er durch den vorderen Raum langsam und mit müden Füßen – wenn er nur nicht so gräßliche Halsschmerzen hätte – schlich. »Spitzmaus, bestell: Ich komm' erst morgen wieder, sonst ängstigt se sich nur.«
»Ja«, piepste die Spitzmaus, »ich geh' gleich hin«, und leise setzte er hinzu: »Und die Öde verschlingt ihn!«
Und dann sah Spitzmaus, wie Rosenemil in der Herbstdämmerung die Stufen heraufwankte und wie ihn einer der beiden Spitzel mit der Faust in den Rücken stieß. »Een bißchen schneller, du Aas! Du Lude, du, nimm de Beene in de Hand!«
»Hegel hat doch recht«, piepste Spitzmaus leise vor sich hin, »der Staat ist doch das Göttlichste, was die Welt je ersann.«
Dann ging er zum Büfett, um die beiden Schnäpse, seinen Stundenlohn, einzukassieren.
Und Spitzmaus hatte unrecht: die Polenliese trank zwar roten Wein – dafür sorgte Levy –, aber sie lachte nicht. Und Levy hatte ihr auch einen Vorschuß auf die Italienreise gegeben. Er war nebenbei gar nicht dagegen, daß sie Rosenemil verhaftet hatten. Nur der Zeitpunkt paßte ihm nicht. »Vier Wochen später. Also gräßlich! Ich sage immer, solange die Leute nur körperlich was haben, kann ich ihnen manchmal helfen oder die Sache noch ein bißchen 'rausziehen. Aber wenn was mit der großen Unbekannten, der Frau Seele, dazukommt – wenigstens was so bei meiner Kundschaft ist –, denn kann ich ebensogut auf dem Neuen Markt stehen und die Hände auf den Rücken legen. Denn ist nichts zu machen. Der feine Kerl, so Leute wie ich zum Beispiel, der feine Kerl also, der quatscht sich nämlich so was von der Seele 'runter. Aber der arme Hund, dem kein Gott gab, zu sagen, was er leidet, und der auch viel zu stolz und auch innerlich viel zu vornehm ist, um andere mit so was zu belästigen, und dem auch so vor sich selber die richtige Suada und Ausdrucksfähigkeit fehlt ... das arme Luder, das knackt daran zusammen und stirbt noch eher, wie es unter meiner Assistenz schon so getan hätte.«
Deswegen untersuchte er die Polenliese schon gar nicht mehr. Das letzte Mal hatte er einen Schreck gekriegt, wie schnell die Lunge weiter und weiter an immer neuen Stellen verwüstet wurde, und er hatte kaum sagen können, während er ihr die Backe streichelte: »Also siehste, Lissi, das wird ja von Tag zu Tag besser, es ist überhaupt nur noch eine Spur zu hören.«
Dann hatte er sich neben sie gesetzt, an ihren Großvaterstuhl – also dabei wurde sie doch immer schöner! –, und hatte ihr von Italien erzählt; damit sie nicht so ganz dumm dahin käme, reiste er sogar jetzt mit ihr. Er hatte ihr sogar die Pensionen aufgeschrieben. Jetzt war er gerade in Venedig. Das nächste Mal wollte er ihr Fotos mitbringen.
»Also fährste jerne Jondel, Lissi?« sagte er.
»Ach ja, früher hatte ich einen Freund, der is immer mit mir auf den Neuen See abends jejangen, da sind wir unter de Bäume am Ufer jerudert, die hängen janz weit 'rüber ... da is es janz dunkel ... Aber es jab 'ne Menge Mücken.«
»Die kannste jetzt, wenn de jetzt in vier Wochen hinkommst, in Venedig auch haben. Grade jetzt, aber die Gondeln da, die schweben auf dem Wasser. Und sie haben ganz lange, spitzgebogene Schnäbel, und sie sehen ganz schwarz aus und wie lange, schwimmende« (er wollte Särge sagen) »Bonbonnieren. Es gibt natürlich auch blaue und goldene – und die Gondolieri haben Schärpen um und stehen beim Rudern, man hört gar nichts, und doch geht's ganz schnell! Erst durch breite Kanäle und zum Schluß durch ganz enge ... und durch immer kleinere Brückchen hindurch. – Haste nich in de Schule jelernt, ungebildetes Mädchen ...
›Das Schweizerland ging ich zu schauen,
mit Berg und Wäldern, Hirtental.‹«
»Falsch«, rief die Polenliese, »falsch!« Und hielt sich die Ohren zu, sie lachte beinahe. »So geht's:
›Italiens Lüfte auch die blauen,
Venedigs Gondeln im Kanal‹«,
sang sie, und wenn sie auch nicht sehr laut sang – Levy sang viel lauter –, so tat sie es doch wie eine kleine Glocke, so hell und richtig.
»Ja, und dann is da eine lange Straße, länger als die Linden. Und wo die Straße is, is nur Wasser, und die Häuser, die Portale, die gehen alle nach dem Wasser 'raus. Aber das sind nicht sone Kabachen wie Unter den Linden. Da ist ein Palast am andern. Ja, und am Ende von der großen Wasserstraße, da ist ein ganz großer Platz mit Säulengängen 'rum und eine goldene Kirche mit Bildern aus lauter bunten Steinchen, die leuchten – denn der Grund ist ganz golden – über den ganzen Platz weg wie Feuerwerk. Und man sitzt denn da in der Sonne unter den Arkaden bei Quadri und trinkt den besten Kaffee der Welt und sieht sich die Tauben an, und Pastas und Schokolade schnabuliert man dazu, da sind alle Kranzlers und Hildebrands bei uns hier traurige Anfänger dagegen ... Also Venedig wird dir sehr gefallen. Das gefällt einfach allen Leuten.«
Nun muß man zugeben, daß das, was der Entenschnabel der Polenliese erzählte, nun nicht gerade besonders farben- oder gerade wortmalend war. Es war sogar reichlich primitiv. Aber das war Levy gleich. Es kam ihm ja nur auf eine Stärkung ihres Optimismus an. Sollte sie wenigstens nich noch den Mut verlieren, wenn er ihr schon nicht mehr helfen konnte.
Die Polenliese hörte ihm zu wie ein Kind, das ein Märchen halb glaubt und halb weiß, daß es doch nur ein Märchen ist, aber jedenfalls sich sagt, es ist doch angenehm, sich einzureden, daß es kein Märchen ist. Also, sagte sich der Entenschnabel, bis Rom werden wir nicht mehr kommen auf unserer fingierten Reise im Bett. Kaum über Bologna hinaus, vielleicht bis Florenz – höchstens bis Siena. Bis Rom kommen wir nicht mehr auf unserer fingierten italienischen Reise, Polenliese! Nu ja, sagte er sich, ich könnte ja die Polenliese auch ins Krankenhaus bringen, denn kommt se da mit zwanzig andere Mächens in einen Saal in de Gitschinerstraße, und die Schwestern sagen »Saustück« zu ihr. Krankenschwestern sind ein Kapitel für sich. Aber da man kaum Ausnahmen findet, muß das wohl nicht am Menschen, sondern am Beruf liegen. Und denn schieben sie eines Nachmittags das Bett 'raus, und denn fragen se, ob se Eltern hat, die sie vielleicht gern noch mal sehen möchte – süße Schnecken, doch! –, und denn kommt noch solch Anstaltsgeistlicher und fragt, ob sie das Abendmahl wünscht. Also, wenn der Mensch nicht wäre, so was müßte eigens erfunden werden! Und außerdem, wenn ich sie hintue, weiß sie doch, was die Glocke geschlagen hat, dieses kleine, arme, schöne, kranke Äffchen das.
Ach, die Rutschen is janz jut solange zu ihr, und so in acht, zehn Tagen schicke ich ihr die Stehfest, des is een ordentlicher Mensch, und sage, das ist meine Freundin oder so was, die wohnt jetzt bei der Rutschen; wenn man der Stehfest sagt, sie möchte keine Haube aufsetzen und die Brosche abmachen, denn tut sie es.
Acht Tage gebe ich ihr noch. Zehn Tage. Das Herz hält ja die Arbeit nicht aus. Der Puls ist schon flau. Heute hat er dreimal ausgesetzt, wie ich erzählt habe. (Denn er hatte die ganze Zeit mit der Hand der Polenliese in der seinen gesessen, als ob er mit ihr poussieren wollte. In Wahrheit wollte er nur noch mal sehen, wie eigentlich das Herz noch arbeitet.) Übermorgen reisen wir nach Padua, da wer' ich ihr een Bildchen aus de Eremitani von de Mantegna-Fresken mitbringen und den Gattamelata und den Colleone, den kann ich dabei auch gleich nachholen. Den habe ich vergessen.
Und der kleine Benjamin steckte im Abitur. Es war dieses Jahr merkwürdig spät, die Klausuren fingen an, Griechisch und Latein hatte er schon hinter sich und war keineswegs restlos beglückt über den Ausfall. Höchstens zwei bis drei. Sonst war er nie unter eins bis zwei gekommen. Er hatte ein paar Wochen die Polenliese nicht gesehen, und da er sonst in diese Gegend nicht kam, so wußte er eigentlich nicht, was sich zugetragen. Er hatte noch viel zu wiederholen. Wirklich, er war in den letzten Monaten etwas heruntergekommen in den Leistungen. Bellermann hatte ihm das auch gesagt: »Benjamin, Sie lassen nach ... mein Sohn Benjamin!« Denn da er der Jüngste der Prima O war, so hatte sich das Bellermann nicht entgehen lassen. Wie es ja überhaupt fatal ist, einen Namen zu haben, der zu Witzen Anlaß geben kann. Jeder macht sie mit ihm, und keiner denkt, daß der hiervon Betroffene es doch alle Tage und Monate und jahraus und jahrein in allen möglichen und erdenklichen Variationen hört, so daß man ihm nur schwer mit einer neuen Nuance noch imponieren kann. Wenn ihn nicht in Deutsch der Aufsatz herausrisse, er würde das allgemein philosophische Thema oder »Die tragische Schuld bei Euripides, Sophokles und Aeschylos, ein Vergleich« nehmen. Das gab's. Das hatten sie durchgekaut. Mathematik kam er nicht über zwei. Geborne Dichter, sagte er sich, sind nie große Mathematiker. Bei Goethe war auch Mathematik eine Fehlfarbe. Ja, dann mußte es eben doch! Französisch allein ... er sprach und las zwar, aber man wollte Grammatik und behauptete immer, daß die Franzosen überhaupt alle falsch französisch sprächen, weil sie eben es nicht nach dem großen Ploetz lernten ... also große Erfolge würde er mit dem Französisch auch nicht ernten! Darum mußte er büffeln, sich auf den Hintern setzen und mal die Nase in ein Schulbuch und nicht ewig und immer in andere Bücher stecken. Hanni – er sagte seit einiger Zeit auch Hanni, wenn er an sie dachte, weil das der Entenschnabel gesagt hatte –, Hanni hätte es ihm sicher übelgenommen, wenn er vom Mündlichen nicht dispensiert würde, denn Hanni liebte keine Enttäuschungen. Und es wäre für sie eine Enttäuschung gewesen, wenn ihr erster und einziger Sohn wie ganz gewöhnliche Sterbliche und Abiturienten ein Abitur mit mündlichen Prüfungen mit einem harmlosen »rite«, einem »genügend« oder »ziemlich gut« nur gemacht hätte. Und so hatte er unter dem Schlachtruf: »Ochse deutscher Jüngling endlich!« sich ins Repetieren der Geschichtstabellen und der Geographie des alten Griechenlands samt den spanischen Erbfolgekriegen geworfen. (Wer erbte von wem? Und wer wollte nicht, daß wer erbte?) Na, noch drei Wochen oder so, dann pfiff er auf die Schule, dann pfiff er auf den Entenschnabel, dann pfiff er auf Worte und Versprechungen, denn er wollte auch nun endlich mal wieder eine Nacht ruhig schlafen, was er in den letzten Wochen kaum getan hatte. Wirklich, er war jetzt schwer heruntergekommen. Und als er grade Tucidides übersetzte – denn daraus würden sie vielleicht eine Seite kriegen, der Oberaujust, der Schulrat, der die Prüfung abnahm, hatte ihn mal für »Lehrzwecke« kommentiert und ritt deshalb darauf herum –, da klopfte es hinten, und da sein Zimmer am nächsten zur Hintertür lag, ging er aufmachen, und da stand ein kleiner Junge mit einem Baschlik und einer geflickten Hose und sagte: »Ich soll's aber nur Herrn Max persönlich abgeben« und reichte ihm ein Zettelchen, auf dem stand: »Ich will dich noch mal sehen ... Lissi.«
»Hanni«, rief der kleine Benjamin den Gang herunter.
»Du sollst nicht immer Hanni zu mir sagen«, kam es aus der Küche, aber es klang gar nicht herrisch, sondern sehr kameradschaftlich.
Aber wer schärfer hingehört hätte, hätte doch eines heraushören können aus dem Ton dieser Stimme, ein ähnliches, wie der Uhrmacher hören kann am Ticken, ob die Uhr mal entzwei war und ob dann ein neues Rad, das doch nicht so ganz in das Werk paßte, mal eingesetzt worden war. Ja, das hätte er auch hier an dem Klang hören können. Und mehr noch hätte er hören können ... Es war eine Frau, die in keiner glücklichen Ehe, ja vielleicht überhaupt in keiner Ehe mehr lebte, obwohl sie doch verheiratet war – auch das kann man hören, wenn man sich auf Frauenstimmen versteht –, aber nun langsam am Sohn den Ersatz dafür findet.
»Bengel, du sollst nicht immer Hanni zu mir sagen, wo bleibt der Respekt vor der dich betreuenden Mutter, Lausejunge!«
»Hanni, ich muß noch zu Wesenberg, wir arbeiten zusammen Latein.«
»Aber komm nicht so spät wieder! Hat's da nicht eben geklopft?«
»Ach, nichts – ein Kind, das bettelte.«
»Warum hast du nichts gesagt, wir hätten ihm doch 'ne Stulle geben können.«
»Ich habe ihm einen Sechser gegeben, da kauft es sich Kuchen für, der is besser.«
Und mit beidem hatte der kleine Benjamin, mein Sohn, recht. Er hatte ihm einen Sechser in die Hand gedrückt, und der Kleine von Meta Frühauf, »auch stundenweise«, hatte sich, wenn auch nicht gerade Kuchen, so doch Kuchenkrümel dafür gekauft.
Max konnte immer noch Dauerlauf, und er rannte heute, als ob er es bezahlt bekam ... und er wäre beinahe unter einen Omnibus gekommen, das wäre vielleicht noch das beste, jedenfalls das beste gewesen ... er fiel grade vor die Pferde. Der Asphalt war so glatt unter der Stadtbahnbrücke, und es lagen da allerhand Abfälle aus der Markthalle und Dreck. Es war eine Apfelsinenschale, über die er ausgeglitten war. Und er rappelte sich trotz des aufgeschundenen Knies wieder auf und rannte weiter, ohne sich umzusehen.
Und dann – es war Dämmerung – saß er neben der Polenliese in dem Zimmer, in dem er seit über drei Monaten nicht mehr gewesen war. Im Ofen knisterte schon etwas Feuer, und die Petroleumlampe hatte gequalmt, man roch es noch, aber jetzt brannte sie still und rötlich vor sich hin, verzehrte ihren letzten Tropfen Petroleum, den der Docht hochsaugte, aus dem schon fast leeren Glasbassin (genau wie bei der Polenliese selbst). Aber (wie die Polenliese sagte!) der neue Lampenschirm, den kannte er noch nicht, schmiß das Licht sauber.
»Was is'n mit dir, Lissi?« sagte er; er wollte ja Medizin studieren vielleicht, aber bisher wußte er wenig davon, eigentlich gar nichts. Sie sieht schlecht aus, er hätte sich eben doch um sie kümmern müssen. Na, das wäre ja alles nachzuholen. Ob er ihr heute sagen darf, daß er sie mal später heiraten will, oder erst nach dem Abitur?
»Ich will dir deine Bücher wiedergeben, die ich noch von dich habe.« (Aber richtig Deutsch sprechen lernen müsse sie dann doch.) »Nachher kommen se in falsche Hände.«
»Willste denn hier wegziehen, Lissi?« fragte Max, der ja doch nur ein Junge, jedenfalls ein Mann und ein Kind zugleich war.
»Ick will nich, ick muß«, sagte die Polenliese.
»Kannst du die Miete nicht zahlen?« fragte der kleine Benjamin erschrocken. »Ich habe noch was, Lissi, ich habe zwanzig Mark von Onkel Paul Benjamin bekommen, der war aus London da.«
»Nee«, sagte die Polenliese, »ich wer se nich mehr zahlen brauchen. Hier nich mehr lange, und in de neue Wohnung brauche ich keene zu zahlen.«
»Du willst doch nicht heiraten?« sagte Max entsetzt.
»Davon is mir nichts bewußt«, sagte die Polenliese, aber jetzt fieberte sie schon den ganzen Tag; früher, früher kam es so ein, zwei Stunden eher und ließ jetzt um diese Zeit so nach, aber sie hustete eigentlich kaum. Na ja, sie bekam Kodein, da hustete sie eben nicht.
Max dämmerte was auf. »Aber Lissi, so was sagt man auch nicht im Spaß. Wenn du mir nicht weh tun willst, denn laß das.«
»Max, mein kleiner Bengel, du, deine Lissi wird totjehn. Du, verstehste, des wird se ... da rettet se keen Jott vor.«
Max starrte sie an. »Aber das is doch unmöglich, Lissi. Du sitzt doch hier wie immer, du sprichst doch wie immer, du atmest wie immer.«
»Des nu nich«, sagte die Polenliese, »ick weeß, wenn 'ne Uhr kaputt is, si se kaputt. Das hat der Entenschnabel schon vor zwei Wochen zu ... na, des is ja auch jleich, zu wen er's jesagt hat. Und er hat recht, er weeß es – des is sein Jeschäft. Un ich weeß es auch. Und da wollt ich dir noch mal gesehn haben. Da liegen deine Bücher. Ich habe sie dir alle eingepackt. Und nu kannste wieder weggehen. Weeßte, jeh nu lieber.«
Aber Max Benjamin regte sich nicht vom Stuhl. Und wenn man sagt, daß Blicke einen verschlingen können, so verschlang er die Polenliese mit den Blicken, als ob er sich ihr Bild, wie sie so saß ... sie hatte die Haare nicht geflochten, sondern in einem großen Knoten über und um das feine Gesicht ... wie sie so saß mit ihrem roten Seidenmantel mit den Blüten bestickt und mit den freien Armen, die aus den weiten, fallenden Ärmeln wie Blumenstiele, an denen die Hände wie geöffnete Kelche saßen, da herauswuchsen, mit jedem Schimmer des Lampenlichts um die Schläfen und Wangen, mit den großen, etwas schrägen Eidechsenaugen unter der hohen und schmalen Stirn, mit dem ganz hohen Säulenschaft des Halses – als ob er so das ganze Bild für ewig sich ins Hirn brennen müsse, damit es doch etwas gäbe, was in der leer gewordenen Welt für ihn Bestand hätte und des Betrachtens wert wäre.
»Du bist ein kleiner Junge«, sagte sie, »und du bist ein reicher Junge, auch wenn du es nicht weißt. Du hast neben mir gelebt, und du hast keine Ahnung gehabt, wat ick for ein Leben geführt habe; na ja, du hast so was gewußt ... wie man weiß, wie eener heißt; mehr nich. Und du hast heute noch keine Ahnung, wat for 'ne Bestie det Leben is; und da du een reicher Junge bist, wirste es vielleicht nie zu wissen kriegen. Du bist een lieber Junge jewesen, und hoffentlich bleibste es auch ohne Lissi. Vielleicht biste auch der einzige Mensch, der mir mein Lebtag begegnet ist. Die andern waren keene. Vielleicht ist ja der Entenschnabel ooch eener. Aber ick kann's nich so genau wissen, wie ick's von dir sagen kann. Du hast wat von ihm, un er wat von dir. Weeßte, ich hab' ja in meinem Leben mehr Männer jehabt wie manche in zehn Leben, und da erst, wenn de mit eenen ins Bett gelegen hast, dann kannste sehen, ob er een Mann is, aber man kann auch sehen, ob er een Mensch is. Ick habe dir sehr jern jehatt.« Eigentlich wollte sie sagen »gehabt«, aber mit der Atemverteilung beim Sprechen ging's nicht mehr so gut, und dann war sie doch das geworden, was sie gerade nicht werden sollte, nämlich gerührt. »Und nu«, sie stand auf (also es ging doch ganz gut mit dem Aufstehen und auch ganz gut mit dem Gehen, im Moment war sie wirklich ganz gesund), »nu jib mir noch een Kuß, und denn jeh.«
Und das war falsch. Das hätte die Polenliese nicht sagen sollen. Oder sie hätte nicht aufstehen sollen. Aber vielleicht wollte sie, wer kann das ahnen, das eine wie das andere.
Sagt nicht Nietzsche etwas von dem Willen zu zweien? Gewiß, Max ging dann auch, aber nach vier Stunden, das heißt, er schlich sich fort, vielleicht hatte doch sonst Hanni bei Wesenbergs angeklingelt, wo in Gottes Namen ihr Junge bliebe.
Nie, nie, nie bisher war ihm das Losreißen von Lissi schwerer gefallen, und als das erste Mal der Rathausturm vom Alexanderplatz her auftauchte, standen die beiden Zeiger der Uhr übereinander, und die Glocke bummte eins, zwei durch die stille, regnerische Stadt, drei ... und er rannte so, daß ihm noch das Dröhnen des zwölften Schlages im Ohr klang, als er in die Klosterstraße einbog.
Aber das eine wußte er wenigstens: Nein, nein, sterben, sterben würde seine Lissi sicher nicht!
Und drei, vier Tage später hatte die Rutschen eine nette neue Mieterin für ihre Schlafstelle. Sie war in der Spulenabteilung in der AEG als Spulerin, hatte aber jetzt keine Arbeit, doch in einer Woche sollte sie wieder eingestellt werden. Sie war dick, sehr freundlich, hatte ein paar Arme wie ein Schlächter. Jetzt hatte sie also keine Arbeit, weil ihre Abteilung keine Aufträge hatte. Was jeden Kenner des Marktes der Elektroindustrie überaus erstaunt hätte. Sie, die Stehfesten, war aus Saalfeld in Thüringen. Aber sie ließ sich lieber »Marie« rufen. Einen Bräutigam hatte sie nicht. Das hätte auch die Rutschen, wie sie der Polenliese sagte, nicht geduldet. Sie bat nebenbei, die ersten Tage bei der Polenliese auf dem Sofa schlafen zu dürfen, da vorne Wanzen wären. Und die Rutschen sagte auch, sie könne nichts dafür, es wäre zwar sauber bei ihr, aber so was könne mal vorkommen. Sie würde sehr bald was gegen tun. An sie gingen sie nicht 'ran. Ihr Blut wäre nich süß, Rutsch zum Beispiel würde nie von een Tier jebissen, weil er Vegetarier wäre.
Also die Marie, die Spulerin, war wirklich nett um eenen. Die las eenen sojar vor un machte die Betten und das ganze Zimmer und kochte draußen die schönsten Sachen, sone ganz dicke Bulljon für sie und sich. Aber denn schmeckte sie ihr doch nicht, und dann nahm sich die Polenliese alles. Die Marie sagte, das mache ihr gar nichts, sie hätte noch gespartes Geld. Denn Spulerinnen würden ja in der AEG gut bezahlt, obwohl das eine jüdische Firma wäre.
Aber Doktor Arthur Levy war noch nicht in Bologna – nur ein paar Minuten waren sie in der Geigenstadt Cremona gewesen und bei den Corregios in Parma –, als er eines Tages beim Türaufmachen nach der Polenliese … es war so um zehn, und sie lag noch im Bett, die Polenliese, und wollte eben aufstehen und schämte sich eigentlich vor dem Arzt, daß es so spät schon war, denn es war ihr gestern ganz überraschend gut gegangen. Sie würde sicher schnell gesund. Sie hatte überhaupt kaum noch Beschwerden beim Atmen gespürt.
»Also, Sanitätsrat, alter Süffel! Er trinkt mir immer meine Medizin wech! Heute jeht's mir vorzüglich. Morgen jeh' ick wieder strichen.«
Also Doktor Arthur Levy lächelte ihr nur erst durch den Türspalt zu, er war noch gar nicht im Zimmer drin, als er der Stehfest ein leises Zeichen mit der Hand gab. »Nicht aufstehn lassen – geht zu Ende.« Und dann setzte er sich an das Bett und achtete auf den Atem und das Sprechen, das ihr immer mehr Mühe machte. Es waren ja noch grade keine Herzattacken, es könnte noch bis über Mittag dauern. Und dann fing er an zu erzählen, wie so langsam die Berge näher kamen und das Graugrün der Oliven an den Hängen – so ungefähr wie unsere Weidenbäume sehen sie aus, nur silbriger, und so schöne alte, gewundene Stämme haben sie, und die Zypressen, die oben noch nicht so recht was waren, die stehen mitten im Land um alte Landsitze und Gutshöfe, wie Wände aus dunkelgrünen großen Lampenputzern. Und von Maulbeerbaum zu Maulbeerbaum gehen die Weingehänge. Und jetzt haben sie den Mais geerntet und trocknen ihn an den Häusern überall. Die ganzen Wände der Bauernhäuser sind mit behängt, und Truthühner laufen zu ganzen Herden 'rum. Und wo sie Tomaten haben, ja, Tomaten – kennste das nicht? Das sind so rote Dinger, pomo doro, Goldapfel, sagen sie da … Na, das wirste ja sehen nun bald, das leuchtet sehr weit so im Land, ganze Hügelchen von Tomaten liegen immer vor den Bauernhöfen … Langsam drusselte sie, vielleicht vom Geplätscher seiner Worte, ein. Wenigstens etwas. Aber der Kopf, den sie nicht mehr recht halten konnte, sank immer tiefer. Denn sie saß mehr im Bett, Kissen im Rücken, vor dem Kelim mit den beiden Palmenblätterfächern und der Tasche aus Kantenpapier, in der Kamm und Bürste steckten. Der Kopf sank ihr nach vorne mit den schweren Haarmengen, die Muskeln begannen schon zu versagen, und Doktor Levy schüttelte traurig seinen Kopf.
»Stehfesten, Simonetta stirbt!« sagte er. »Wozu soll man das Sterben leicht machen, wenn man's schwer haben kann, meinen immer meine Kollegen. Das finde ich antiquiert«, und dann machte er, sie wachte gar nicht davon auf mehr, die Polenliese, einen kleinen Einstich in den Oberarm mit etwas Blankem, das er in der Hand verborgen hielt, und steckte dann das Blanke wieder in sein Glasrohr mit Alkohol zurück und verschraubte die Spritze.
Die Polenliese wachte auf.
»Paß auf«, sagte er freundlich, »siehst du, du paßt gar nicht mehr auf, jetzt kommen wir nach Bologna. Eine reizende, saubere Stadt, und sie hat auch einen schiefen Turm, wie Pisa. Und sie liegt wunderhübsch am Fuße der Apenninen. Und hat prachtvolle Kaffeechen, und das Allernetteste: Kein Mensch in Bologna hat je einen Regenschirm gebraucht. Denn die ganze Stadt fast hat Arkaden, weißt du, so Säulenhallen, unter denen man geht, wie im alten Rom vielleicht. Und wenn's da regnet – aber es regnet da kaum! –, geht man immer im Trockenen. Ist das nicht sehr nett, das wollen wir auch hier in Berlin einführen.«
»Ja«, lallte die Polenliese, dann schlief sie.
»In zwei Stunden«, sagte Doktor Levy plötzlich blutig ernst und mit einem ganz verzerrten Gesicht, das kaum wiederzuerkennen war. »Ich ordne dann die nötigen Formalitäten, Stehfesten. Ich habe leider noch andere Patienten. Aber ich glaube, ich werde sie nicht lange mehr haben. Der Mensch ist nämlich nur ein Mensch und kein Stück Holz … Betten Sie sie sauber auf, Stehfesten!«
Ja, und zwei Tage später kam Doktor Levy zu Benjamins in die Klosterstraße, grade so um zwei, um die Mittagszeit, und das Mädchen, das so lange im Hause war wie Max (sie sollte nebenbei zu ihm jetzt »Sie« sagen, was sie auch manchmal tat, wenn sie auch bei jedem Widerspruch von Maxens Seite zu bemerken liebte: »Wat, des sachste mir, wo ick dir doch noch die Hosen zujeknöppt habe!), Luise also sagte ihm, wie sie ihm den Mantel abnahm, sagte es leise, das heißt, wenn sie leise sprach, hörte man es immer noch bis in die Neue Friedrichstraße 'rüber: »Doktor, nehmen Sie sich doch mal den Max vor. Wat is denn mit dem Jungen? Dem muß irgendwas passiert sein! Der is seit vorjestern janz wie verstört.«
»Ach, gar nichts, weeß schon, des kommt so manchmal beim Examen.«
»Laßt ihn die Frau des machen? Man kann een janz anständiger und tüchtiger Mensch werden ohne des Albitur.«
»Recht haste, Luise, mit der Anständigkeit hat das Albitur gar nichts zu tun.«
Ja, und dann kam Hanni. Sie war doch eigentlich immer noch sehr hübsch, seine alte Hanni. Immer noch. Zweiundvierzig wird sie sein jetzt. Wie ein Schwein hat er sich damals benommen und elend gekniffen. Eigentlich hatte er sie doch beinahe selbst wieder ins Haus ihres Mannes, der auf einer Geschäftsreise in England war, wie sie zu ihm kam, um bei ihm zu bleiben, zurückgebracht. Wie ein Schwein! (Wie würde Benjamin, mein Sohn, sagen? »Ich bin ein leidlich anständiger Mensch gewesen, und trotzdem kann ich mich an Dinge erinnern, daß es besser wäre, die Mutter hätte mich nie geboren.«) Und Hanni – Frauen können doch sehr gut sein – hatte später getan, als ob gar nichts gewesen wäre. Ach Gott, es ist vielleicht ganz gut so, wie es gekommen ist. Was ist er denn! Das Vermögen hat er erst später geerbt. Gewiß, die Praxis ist nicht schlecht – man konnte grade die Zinsen liegenlassen –, aber doch man die von irgend so'n Armenarzt, wie dreihundert andere in Groß-Berlin. Hanni wäre doch bei ihm da draußen nur versauert. Und ein Sonderling war er schon von je. Er und die pulsierende, lebenslustige Frau! Hanni und die Lothringer Straße! Wo einem die Handtücher aus dem Wartezimmer, wo einem die Seife aus dem Klosett täglich geklaut werden. Hanni hätte für die Leute da doch nie Verständnis aufbringen können. Gewiß, vier und sechs Wochen Italien mit Hanni wäre wundervoll! Aber in seinem Alltag wäre sie doch neben ihm kaputtgegangen. Alles, wie's kommt, kommt am besten.
Hübsch ist Hanni ja noch, rundlich und rotbackig, und hat so freundliche Augen, wie sie ihn sieht. Ich denke, Max übertreibt: Sie hat doch gar nichts so Tyrannisches, wie er immer erzählt. Na ja, ich glaube, die Ehe ist nicht sehr glücklich. Er ist doch ein Stiesel. Ein tüchtiger Kaufmann und ein Stiesel. Ach Gott, wenn uns die Frauen mal gefallen haben, sind die Männer immer Stiesel. Und welche Ehe ist überhaupt glücklich? Ich glaube, es gibt überhaupt nur noch eins, was noch unglücklicher ist als 'ne Ehe. Das ist: keine Ehe.
»Nu, was is Ihnen, Gnädigste? Auf 'n Damm? Kopfweh besser? Haben Sie Appetit zum Essen?« Er markierte den alten Hausarzt.
»Was ist mit Max?« fragte Hanni. »Weißt du, was mit dem Bengel ist?«
»Der Junge wird überarbeitet sein«, sagte der Entenschnabel.
»Soll er doch zurücktreten! Wird er es zu Ostern machen. Ich hetze ihn gewiß nicht.«
»Zurücktreten? Nee. Das kann er immer noch vor'm Mündlichen. Nichts mehr tun soll er. Ob er nun schon weiß, daß Karl der Große die Goldene Bulle nach der Schlacht bei Liegnitz unterzeichnete! Aber wenn sie ihn vom Mündlichen dispensieren, das Schriftliche muß doch schon fertig sein, dann hat er's doch bestanden, schon jetzt bestanden. Er soll nämlich doch meine Praxis mal kriegen. Ich haue voraussichtlich schon jetzt ab, setze solange einen Vertreter 'rein und bin den größten Teil des Jahres nicht da.«
»Willst du ganz weg?« Seit zwanzig Jahren bald hatte Hanni nicht mehr »du« zu ihm gesagt. »Ich meine, wollen Sie ganz weg aus Deutschland?«
»Na ja, so ungefähr, Hanni«, meinte der Entenschnabel.
»So«, sagte Hanni.
»Tut dir's leid?« fragte der Entenschnabel. »Verzeihung, tut es Ihnen leid?«
»Abah«, sagte Hanni, »abah sagten Sie immer in Heidelberg.«
In Heidelberg hatte sie ihn mal besucht, wie er bei Czerny arbeitete, als junge Frau, von Baden-Baden aus … aber alleine.
»Ja, was sollen wir mit Max machen?«
»Gott, ich muß ihn mal sehen«, sagte Doktor Levy, »aber ich weiß jetzt schon, was ich ihm verordnen werde. Es ist eine kostspielige Medizin, vier Wochen Ausspannung mindestens, vier Wochen Italien. Wo soll man jetzt sonst noch hin?«
»Meinst du, ob ich mitfahren soll?« sagte Hanni. »Verzeihen Sie, alter Freund; denken Sie, daß ich mitfahren soll? Oder ob ihn das nur stört?«
»Vielleicht sogar ganz gut, Hanni, wenn du mitfährst.«
»Meinst du, daß der Junge eine Weibersache hat, Arthur?«
»Keine Ahnung, Hanni. Wo denkste hin? Der Junge ist vollkommen rein. Der hat nie bisher in seinem Leben eine Frau auch nur berührt. Natürlich, er denkt ein bißchen viel und arbeitet ein bißchen viel und ist mit seinem Hirn seinen Jahren weit voraus; aber Frauen haben noch nie in seinem Leben eine Rolle gespielt. Dazu hat er ja noch Zeit genug. Nicht wahr, Hanni?«
Dieses »Nicht wahr?« war eine Indiskretion, aber eine, die nur er und Hanni kannten und an die sie sich, wie Doktor Arthur Levy jetzt fühlte, besser nicht hätten erinnern dürfen.
»Gott, ich will das mit meinem Mann wirklich mal durchsprechen. Ich habe so das Gefühl, die Mutter hat für so was 'ne Nase: Der Junge ist in schlechte Hände gekommen. Ich kann ihn natürlich nicht fragen. Denn mir sagt er nichts. Weißt du, du solltest mal sehen, in sein Vertrauen zu kommen. Vielleicht braucht er einen älteren Menschen oder eine ärztliche Hilfe. Nimm ihn dir mal vor. Und Italien ist vielleicht ganz gut. Da kannst du uns beraten.«
Doktor Arthur Levy denkt, sollten wir nicht lieber »Sie« zueinander sagen; ich bin zwar ein alter Entenschnabel … er weiß, daß er so in der Gegend von seinen Patienten genannt wird. Die Polenliese, das arme Luderchen, die allen Spitznamen anhing – »Rosenemil« ist auch von ihr, paßte gut –, hatte das aufgebracht … Sie ist doch immer noch eine schöne Frau und eine liebe Frau, die Hanni. Wie konnte sie bloß so'n Stiesel heiraten!
Da kommt Max aus der Schule, der Junge sieht wirklich zum Erschrecken aus. »Hör mal, Benjamin, mein Sohn, ich habe eben mit deiner Mutter gesprochen, eigentlich hätt' sie nichts dagegen, daß du nach dem Examen ein bißchen ausspannst, vielleicht kommt sie sogar mit. Habe dich lange nicht mehr gesehen. Wollen uns mal beide ein bißchen beschnüffeln wieder. Zeig mal den Puls: etwas gespannt und beschleunigt! Zunge – na, geht so! Hast du irgendwo Schmerzen? Nee? Ach, wird nichts sein! Italien ist für so was sehr gut. Sogar ausgezeichnet. So gehe ich aber nicht mit dir, sonst denken die Leute, ich bin ein Zirkusdirektor …« Plötzlich wird er sehr leise, ebenso leise, wie er vorher bei der Komödie von Untersuchung laut war. »Binde dir wenigstens 'n dunklen Schlips um und zieh dir bitte lange Hosen an. Und setze einen dunklen Hut auf … Du kannst mich 'ne Stunde begleiten.« Arthur Levy wurde wieder laut. »Vor allem kümmere dich jetzt gar nicht darum, daß die Magna Charta von Kaiser Augustus auf dem zweiten indischen Feldzug erobert wurde. Oder war's was anderes, Hanni? Also ich nehme den Jungen mal 'ne Stunde mit, Hanni. Darf ich?«
»Weißt du«, sagte er, als sie unten in der Droschke saßen, »es ist nur billig, und man darf sich nicht davon drücken, daß man bei einem Menschen, der einem das Leben verschönt hat, nicht fahnenflüchtig wird, wenn man ihn verscharrt. Ihr nützt es nichts, dir nützt es nichts, aber man tut's. Ich geh' sonst nie zu den Enterrements meiner Patienten. Wo käm' man da hin! Der Bäcker ißt ja auch nicht alles Brot, das er bäckt. Aber diesesmal jeh' ick. Oder fahr' ick. Sie war ja doch ein süßes Wesen und von einem natürlichen Adel, deine Simonetta, und man könnte direkt losheulen, wenn man sich's klarmacht: so was ist nicht mehr da. Wie hast du es denn erfahren, Max?«
»Ich war gestern da«, sagt Max, und das war das erste Wort, das er sprach.
»Wann warst du zuletzt bei ihr, Benjamin, mein Sohn?«
»Vergangenen Montag, Onkel Arthur«, sagte Max, ohne daß man ihm eine Erregung anspürte.
»Soso«, sagte Doktor Levy … er will »bei ihr?« fragen. Aber wo soll er denn sonst gewesen sein. Jetzt ist auch weder was zu ändern noch ungeschehen zu machen. Hoffentlich ist es so abgegangen.
»Weißt du«, sagte er wieder, »du willst ja mal auch Arzt werden, Max. Oder hast du es dir schon anders überlegt?«
»Bisher noch nicht«, sagte Max.
»Ich sehe viel, aber ich kann nicht stumpf werden, wie das meine Kollegen doch alle mit den Jahren werden. Man muß es vielleicht. Mir also geht solche Sache, wie die, immer noch wochenlang nach. Das ist vielleicht ganz, ganz falsch. Wir übertragen da unsere Maßstäbe auf eine andere Welt. In besseren Kreisen hat der Tod immer eine schwere Tragik, Benjamin, mein Sohn, weil der einzelne mehr am Leben und mit dem Leben verliert, und es erschreckt uns immer so tief, wenn einer sein Leben nicht vollendet und auslebt, und wir treiben so Ahnenkult oder Geliebtenkult.«
»Jaja«, sagte Max.
»In niederen Kreisen, in denen das Durchschnittsalter geringer ist, wird mit dem vorzeitigen Tod des einzelnen a priori gerechnet. Jedenfalls ist weder der Schrecken noch die Überraschung allzu groß, wenn er mal eintritt. Wie vielen solcher Polenliesen, denkst du, habe ich schon den Totenschein ausgestellt? Jungen, wunderhübschen Mädchen. Das ist nun mal eine von ihren Krankheiten. Es ist ja ein ungesunder Beruf, sie erkälten sich so leicht dabei. Und die andere – du verstehst – ist fast noch peinlicher! Also, Max, die schönste Krankheit taugt nichts, höchstens für den Arzt. Na, Kopf hoch, Junge, das Leben marschiert weiter! Es ist natürlich schlimm, in deinen Jahren einen so schweren Hieb übern Kopf zu kriegen. Aber wenn du etwas daraus lernst, was schon Montaigne wußte: ›Ich habe nie in meinem Leben eine Frau, von der ich liebes genossen, später schlecht behandelt. Denn wenn auch der Pokal schlecht und zerbrechlich war, der Trank war doch süß.‹ – Siehste, ich rede mit dir wie mit einem Erwachsenen.« (Ich, denkt Doktor Levy, grade ich muß dem Jungen von Hanni, grade von Hanni, solche Reden halten – was sind wir doch alle für Schweine, für Schweine!)
»Du, ich glaube, wir sind da; komm, steigen wir aus … nee, Kutscher, Sie können warten.«
Gott, der Friedhof war wie andere alte Friedhöfe auch in der Stadt. Es lagen Hinterhäuser herum mit Balkons, auf denen die letzten Geranien verblühten, und die Leute, die dort wohnten, lobten die gute Aussicht und die frische Luft. Auf den Hügeln blühten noch zerzauste Astern, und an den vergoldeten Kreuzen hingen welke Kränze, die man vergessen hatte zu stehlen und die deshalb vergilbten, auch wenn sie Kirschlorbeer und Immergrün waren, nach Aussage der Kranzbinderei. Die auf den Balkons sahen stets in den Mittagsstunden, um sich etwas zu zerstreuen, auf die Leichenkondukte herab, die sich wie schwarze und bunte Schlangen durch die Lindenwege zogen, mit dem Kopf des Sarges vor sich, der auf den Schultern der Träger schwankte. Über das Ganze stäubten die welken Blätter dahin, die der Wind in der jetzt mattblauen, durchfeuchteten Luft herab- und über die Hügel hinwehte. Denn so Großstadtlinden haben, wie ich schon mal sagte, ein kürzeres Sommerleben als ihre Schwestern draußen auf dem Lande. Sie dachten sich nicht viel dabei, die da auf den Balkons, es sei denn: Heute is aber Betrieb! Oder: Da wird doch wieder einer beerdigt … Das heißt, so hochdeutsch sprach man in dieser Gegend nicht, da sagte man »ingebuddelt«. Und sie kalkulierten danach, wenn die Schlange viele Glieder hatte oder wenn da nur wenige Paare hinterhertröpfelten, ob das nun ein reicher oder ein armer Mann war. Und wenn ganze Vereine und Musikchöre voranzogen, daß das bestimmt nur ein besserer Mann sein könnte. Sie kannten das ganze Programm der Männerquartetts an offenen Gräbern schon auswendig, von »Nun zu guter Letzt geben wir dir jetzt auf die Wandrung das Geleit« bis »Es ist bestimmt in Gottes Rat!«, und schätzten nach der Zahl der Gesangsbeigaben die irdische Würde des Verblichenen ein, aber sie freuten sich immer wieder damit.
Bei der Polenliese waren nun nicht besonders viel da, aber doch weit mehr, als Doktor Levy erwartet hatte. Die Zuschauer auf den Balkons waren sehr erstaunt, denn sie hatten noch nie, solange der Kirchhof in Betrieb war, sicher aber, solange sie hier Zuschauer des Betriebes waren, so ein buntes Feld, einen solchen bunten Streifen von Damenhüten gesehen, riesige dabei, größer als die kleinen Teppichbeete auf den Gräbern; etwelche mit wippenden Federbüschen, wie die Pferde vor den Leichenwagen, und andere mit einem weiß wehenden Gehege von Reiherfedern, noch andere mit Rosenbüschen und wieder andere mit ganzen Wiesen von japanischen Streublumen, die sonst nur immer auf der Verpackung der Samenkörnchen unerhört üppig und bunt im dichten Rasen durcheinanderwachsen. Etwelche waren Herbstwälder und andere waren Fliedergirlanden. Von oben, von den Balkons aus, sah das mehr als hübsch, sah das imposant aus.
Die Polenliese war nämlich auch bei den Mädchen der Gegend sehr beliebt gewesen und bei deren Freunden, die alle schwarzumflorte Zylinder und schwarze Handschuhe, manche aber kurze, quittegelbe Sommerpaletots hatten. Auch Palisadenkarl hatte seinen runden steifen Hut, seinen Koks, auf. Die doofe Paula lachte unentwegt, weil sie so traurig war; denn sie hatte die merkwürdige, krankhafte Eigentümlichkeit, daß sie falsch abreagierte, dort weinte, wo sie hätte lachen müssen, und dort lachte, wo sie hätte weinen sollen. Sie war eben ein krankes und imbeziles Geschöpf, die doofe Paula, geistig ein Kind von acht Jahren. Aber für ihren Beruf und das, was man von ihr wollte, reichte das.
Der kleine Benjamin verhielt sich sehr brav. Nur wie der Sarg an den Stricken heruntergelassen wurde, bei dem schlurrenden Geräusch, wimmerte er plötzlich tränenlos wie ein getretener Hund auf.
Und als erster trat Palisadenkarl ans offene Grab.
»Adjüs, Polenliese«, sagte er, »schlaf wohl ... Die schönsten Mädchen jehen am ersten vor die Hunde ... aber nur, wenn sie, wie du, arm geboren sind.«
Und die doofe Paula lachte ganz hell und hysterisch auf. Doktor Arthur Levy hatte sogar am Grab reden wollen. Aber nach den Worten des Palisadenkarl überlegte er sich's anders. Was hätte er auch sagen sollen. Der Mann hatte alles gesagt.
Auch Spitzmaus ... (Laubfrosch hatte verschlafen, er hatte gestern einen besonders schweren Tag gehabt!) Spitzmaus hatte sich vorgenommen, am Grabe Heines Königin Pomare zu deklamieren. Aber zum Schluß stimmte doch alles nicht, weder hatte die Polenliese ihr »Lockenhaupt in die seidenen Kissen gedrückt und spöttisch auf den großen Haufen derer, die zu Fuße laufen, herabgeblickt«, noch waren »hinter ihrem Sarg«, wie man zur Evidenz feststellen konnte, »nur ihr Hund und ihr Friseur« hinterhergegangen. Also ließ er es. Es tat ihm zwar leid, aber er ließ es.
Von Strehmels war nur der Vater Strehmel da, denn einer muß doch im Laden bleiben. Und da war es schon besser, Mutter Strehmel blieb da, denn sie bereitete auch alles für nachher vor, wenn man das stille Glas bei ihr nehmen würde.
Der Entenschnabel paßte auf, aber der Name Rosenemils wurde nirgends erwähnt. Die Rutschen aber war in einer herrlichen Pelzjacke aus Bisamwamme und einem Kleid darunter aus pfauenblauem Gabardin erschienen, das beim Gehen Froufrou machte; das waren aber wohl die Jupons, die sie darunter hatte. Auf der Pelzjacke saß über dem ersten Knopf eine Brosche wie eine goldene Biene, mit drei Steinen, die aber doch wohl nur Simili sein konnten, echte haben janich so'n Feuer, und dann sind se kleiner! Darauf hatten sich die Mädchen mit einem Blick geeinigt ... Frau Rutsch war eine statiöse und dickliche Frau, und die Sachen paßten ihr wie angegossen. Sie hatte gar nichts daran ändern brauchen. Sie erzählte der doofen Paula, daß das vorgestern der Schwager aus Milwauki geschickt hätte, wo doch so viel Deutsche wären, und der Schwager hätte eine Bierbrauerei, und des wäre drüben sehr gut, denn die Amerikaner söffen wie die Itschen – was ein altertümliches Wort für Kröte ist und eine Verleumdung dieser braven Tierchen bedeutet, die diesem Laster keineswegs huldigen. Irgendwas an der Sache entsprach, wie in allen Legendenbildungen, der Wirklichkeit; die Rutschen hatte wirklich einen Schwager in Milwaukee, der aber dort nie eine Brauerei besessen hatte und auch vor zwei Jahren von der Stadt Milwaukee nach der Stadt Sing-Sing verzogen war – der Umzug war sogar kostenlos gewesen! –, wo er für den Rest seines Lebens, wenn auch nicht gerade Wohnung, so doch freies Asyl bekommen hatte.
Gestern war nämlich für die Polenliese ein ganzer Berg von herrlichen Sachen abgegeben worden, und es hatte nichts dabei gelegen als ein Zettelchen: »von einer unbekannten Gönnerin«. Da brauchte sie doch wirklich dem Mädchen, das sie brachte, nicht auf die Neese zu binden, daß die Polenliese nicht mehr bei ihr das Zimmer hatte. »Schön«, hab' ick jesagt, »ick jeb's ihr nachher, wenn se wiederkommt.«
Aber sie weinte, und sie hatte ein riesiges Kreuz aus Flechten, graugrünen Flechten, im Arm, und jedes der drei lauffähigen Rutschkinder auch. Der Kleine mit dem schwachen Kopf hatte außerdem noch einen Kranz aus Flechten, zwei mit vergoldeten Kienäppeln und einen mit versilberten. Des macht sich besser fürs Arrangement nachher! Rutsch konnte nicht, der war auf Fang, er wollte Wasserflöhe in der Waschwanne einwintern. Einer von seinen Jagdgründen war ihm schon von der Konkurrenz abgefischt worden. Ja, was sollte man noch bleiben, sagte sich Levy, das Leben marschiert weiter, keiner hat lange Zeit, sich umzusehen.
Und dann saß er wieder mit Max, der sehr still war, in der Droschke. Der Junge hatte sich wirklich vorzüglich gehalten.
»Weißt du, Max, ich steige dann aus, ich habe noch Sprechstunde und will auch noch ein paar Besuche machen. Weißt du, es gibt zwei Sorten von Menschen: die von den starken und die von den schwachen Herzen. Ich wäre gerne das erste geworden. Aber ich bin's leider nu mal nicht geworden. Es liegt wohl nicht in mir. Wie soll ich das sagen, Benjamin, mein Sohn, du warst zwar schon ein Mann, aber jetzt bist du einer. Stirb und werde. Du hast jetzt beides.« – Und Doktor Arthur Levy fuhr noch ein ganzes Stück weiter mit, bis zum Alexanderplatz, bis der Junge wieder ruhig geworden war.
Dieses blödsinnige Examen, sagte er sich, wirklich, der Junge muß doch hier 'raus, sonst passiert ein Unglück. Wirklich, er sollte es lieber aufgeben und Hals über Kopf mit Hanni weg nach Italien. – Ach, die zehn Tage gehen auch noch vorbei, ich werde eben aufpassen.
»Max«, sagte er, »man sieht dich so selten, Benjamin, mein Sohn, arbeiten solltest du jetzt doch nicht mehr, kein Buch anfassen. Schlidderste; denn schlidderste! Macht nischt, sie lassen schon ihren alten Primus nicht rasseln. Ich bin immer ab sechs zu Hause. Essen wir mal öfters zusammen und schlagen die Schillersch' und Goethesch', wie es in ›Vor Sonnenaufgang‹ heißt, tot. Ich bin gegen Klassiker. Sie stehen den zukünftigen Genies nur im Wege. Und nun kannste nach Hause gehen, dir wird das bißchen Gehen gut tun. – Sagste zu Hause was?«
»Keine Silbe«, sagte Max. »Wem auch?«
»Na, deiner Mutter.«
»Bisher haben wir nie so zueinander gestanden. Vielleicht lag's an mir. Denn endlich ist Hanni ja doch ...« (Er wollte »ein netter Mensch« sagen.) »Ich glaube, wir haben uns achtzehn Jahre lang mißverstanden, Hanni und ich.«
»Na, nu werdet ihr euch eben die nächsten vierzig Jahre verstehen, Max – grüß Hanni!«
Ich habe das Gefühl, sagte sich Doktor Levy, während er von dem wendenden Wagen dem Jungen nachsah, das Allervernünftigste wäre, sich auch mal selbst 'ne kleine Spritze zu geben, die gleiche Dosis wie der Polenliese. Das würde manches erleichtern.
Max kam nicht, zumindest nicht viel. Einmal kam er, war sehr verändert, kein Wort ward mehr über die Polenliese gesprochen. Na ja, sagte sich Doktor Levy, so was setzt sich nicht in die Kleider! Und Doktor Levy gab ihm mit seiner Fotografiensammlung und mit seinen Büchern ein kleines, aber gut gewähltes Privatissimum über Norditalien. »Man vernachlässige zum Beispiel Mailand, und doch wäre Mailand ... allein schon der Hof des Palazzo Marino ...« – als er plötzlich so über die Kneifergläser zu Max herübersah und ihm ein Zug auffiel, den er kannte, den er nur allzuoft so an jungen Leuten gesehen hatte, die sich das erstemal, verschämt halb, halb mit einem Galgenhumor und leichter Wurstigkeit, innerlich zitternd und sich unsauber und aussätzig vorkommend, zu ihm geschlichen hatten. Und wenn es hieß, der nächste, bitte, und sie es waren, gesagt hatten, nein, sie möchten nachher drangenommen werden, als der letzte. Er hatte für solche Fälle, wenn die Schwester ihm zuflüsterte, da will wieder einer als der letzte drangenommen werden, immer einen sehr guten Hennessy parat. Denn es kam vor, daß die strammsten Jungen, wenn er es ihnen auf den Kopf zusagte, zusammenklappten und ohnmächtig wurden. Und da ist Kognak gut und immerhin angenehmer als irgend so'n anderes Mittel, um das Herz aufzupeitschen. Und das sieht doch immer gleich so gefährlich aus und macht den Jungens nur Angst. »Augenblick, Augenblick, kleine Diagnose stellen«, sagte der Entenschnabel, »aber, was sei, Maul halten!«
»Hast du Halsschmerzen, Max«, sagte er und strich mit den Fingerspitzen über den bloßen freien Hals hin, »ich glaube, die Drüsen sind hier ein bißchen geschwollen. Du sollst heute abend mit Alaun gurgeln, laß mich mal 'reinsehen ... Nee, nee, es ist natürlich gar nichts«, und er schob dabei, während der Junge, blasser als die Wand, sich in den Hals sehen ließ, ein wenig das Schillerhemd auf der Brust auseinander.
»Janichts«, sagte er, »absolut nichts. Aber schaden kann's ja nicht, wenn ich dich mal von Kopf bis Fuß ordentlich abhorche und abklopfe. Haste morgen um fünf Zeit? Denn haben wir Ruhe, und ich bin auch Arzt dann. Jetzt bin ich Privatmann. Hanni hat mich auch drum gebeten, daß ich dich mal in aller Ruhe ansehe.« Man muß so'n Jungen so was stückweise beibringen. Morgen fange ich gleich an bei der Schmierkur, sagte er sich ... stückweise, wie man einem Hund den Schwanz kupiert ... ach Gott, wenn man gleich mit einer kombinierten Behandlung ... also da habe ich ja schon manchmal Wunder gesehen, sogar bei mir in der Praxis ... stückweise, so wie man'n Hund den Schwanz kupiert, damit es ihm weniger weh tut, muß man ihm das beibringen.
Schrecklich, sagte er sich, wie Max, wie Benjamin, mein Sohn, gegangen war, jetzt kann ich den Jungen doch gar nicht reisen lassen. Aber gemerkt hat er nichts, sonst wäre er meiner Erfahrung nach sehr anders gewesen. Im Gegenteil, er war eigentlich wie erlöst, als ich ihm sagte, es hätte gar nichts zu bedeuten. Ob ich aber doch vielleicht der Vorsicht halber Hanni noch anklingele? Unsinn! Wozu, sie erschrickt nur. Und sage, sie soll auf den Jungen achten, kann vielleicht heute in seinem Zimmer schlafen. Ach, was denn! Man muß mal erst sehen, wie er morgen reagiert. So wird er nur vorher kopfscheu gemacht.
Es gibt kluge Menschen, die alles gut überlegen und alles falsch machen im Kartenspiel des Lebens. Dann Schwarz bringen, wenn sie Rot spielen müßten, und dann Atout, wenn sie lange Farbe ziehen müßten oder die Fehlfarbe des Gegners. Die nicht nur dadurch ihr Spiel ruinieren, sondern bald noch das ihres Mitspielers. Und etwas von diesem Unglücksmann, der, so gut er es meinte, immer, aber auch stets auf die falsche Farbe pointierte, war der Entenschnabel, der Doktor Arthur Levy, von je. Sonst wäre er auch nicht so geworden, wie er eigentlich war, gewiß ein anständiger Mensch, gewiß ein kluger Mensch, gewiß ein eminenter Diagnostiker und Arzt, viel wissend und fast übergebildet, mit dem Gedächtnis eines Konversationslexikons und eines Bilderarchivs. Und trotzdem, wie hatte der kleine Max Benjamin, mein Sohn, von ihm gesagt? So was ließ er sich nicht entgehen. »Halb gut, halb böse geboren, und dürftig in beider Gestalt.«
Ja, und es war ziemlich früh, als ihn Hanni anklingelte. »Komme sofort«, hörte er, »Max ...«, und dann war die Stimme drüben fort.
»Gib mir mal den Brief«, sagte er dann, als er vorne neben Hanni auf dem Sofa saß. Hanni war merkwürdig gefaßt, sogar ganz ruhig war sie. Aber Doktor Levy kannte das. Das kommt nach dann. Sie ist noch versteinert. Sie begreift noch nicht, was geschehen ist. Benjamin, mein Sohn! Ein reizender Junge, ein kleiner, ernster Mann, ein Mensch eigentlich, bevor man noch das Recht und die Pflicht hatte, einer zu sein. Ein Turm, der vielleicht mal in den Himmel ragen sollte, ist eingestürzt, noch bevor er zum ersten Stockwerk geführt war. Vielleicht sind wir, ist die Welt verarmt mit diesem einen Schuß, den Hanni nicht mal vorne im Schlafzimmer hörte. Der Vater kann nicht vor morgen früh dasein aus London ... (... nicht mal vorne, wo Hanni schlief, gehört hat.) Warum habe ich nur gestern nicht noch mit Hanni telefoniert, sie soll bei ihm im Zimmer schlafen? Oder der Junge hätte ja bei ihr schlafen können. Warum sind wir so prüde? Warum verschleiern wir denn vor Frauen und Schwestern, vor Vätern und Müttern alles? Warum sagen wir denn nicht: Achtung, der Junge hat die Masern – was ist's denn anderes? Aber meine Kombination war richtig natürlich. Ich weiß schon, von welcher Seite der Wind wehte. Wenn der Löwenzahn abgeblüht ist, kriegt er solchen Helm von Federchen und zerstäubt, und die Federchen fliegen einzeln über das Land, und wo sie haftenbleiben, da wächst eine neue Pflanze, und die kriegt wieder neue Federchen, die wieder über das Land fliegen. »Gib mir noch mal den Brief, oder stehen Dinge drin, die ich nicht wissen darf? Endlich bin ich ja ziemlich erwachsen. Und dann bin ich Arzt und habe Schweigepflicht. Wie sagt er da? ›Nur philosophische Bedenken bewegen mich, dieses Dasein, das mir alles geboten hat, was es zu bieten hatte‹« – Doktor Levy lächelte (Was weiß der Junge?) –, »›in dieser Welt der blutigen Tränen weiterzuführen.‹« (Wie kindlich doch!) »›Da die Summe der Unlustgefühle Legion ist, wie Schopenhauer sagt, so kommen dagegen die wenigen Lustgefühle kaum in Betracht. Ich habe einen schweren Hieb über den Kopf bekommen, Hanni, und ich will nicht abwarten, und ich will nicht zuschauen müssen, bis ich den zweiten empfange, Mutter. Deshalb helfe ich ein wenig nach.‹ – Unsinn, Unsinn, Unsinn«, knurrte Doktor Levy. »Also alle Symptome einer akuten Geistesverwirrung durch Überarbeitung! – ›Es ist nicht nötig, daß irgend etwas in dieser Welt an mich erinnert, und deshalb sollen alle meine Papiere verbrannt werden.‹ – Wirst du das tun, Hanni?«
»Nein«, sagte Hanni. »Ich habe doch das Gefühl, als ob der Junge in schlechte Gesellschaft geraten ist.«
»Aber das sagte ich dir doch schon neulich«, meinte Doktor Levy sehr gequält, »Unsinn. Er ist nie in seinem Leben mit einer Frau zusammen gewesen. Ich habe noch vor wenigen Tagen mit Max darüber gesprochen. Ich kläre gern so junge Leute auf. Denn man kann's nicht zeitig genug.« Er schwieg.
»Und hältst du das wirklich für ausgeschlossen?« begann Hanni wieder nach einer langen Pause die Stille um sie zu zerreißen.
»Sicher«, meinte Doktor Levy.
»Schade ...«, meinte Hanni, »ich hätte es ihm gewünscht, daß dem nicht so wäre. Also ist er auch – also er ist auch darum betrogen worden, der arme Max! Wir haben kein Glück ... oder zuviel Glück mit dem Jungen gehabt.« (Warum betonte sie eigentlich das »Wir« so?)
»Und du meinst nicht doch vielleicht eine Infektion?«
»Woher denn?« (Zum Donnerwetter, wenn man als Arzt durch Jahrzehnte gewohnt ist, Menschen anzulügen, kann man's schon gar nicht mehr anders.) »Wir kennen medizinisch diese spontane Reaktion auf Überarbeitung bei ganz gesundem Geist, ja klarem und überscharfem Geist sogar, und den hatte Max doch, ganz genau. Und da wir für alles einen Namen haben, haben wir ihn auch dafür ... Freitode grade bei Jugendlichen sind dann häufig. Uns geht der Name nichts mehr an. Wir stehen vor einer Tatsache, Hanni. Und wir müssen sehen, uns mit der Tatsache abzufinden. Und das Leben wird auch bei dir einmal in Jahren ihrer Herr werden.«
»Meinst du das, Arthur?«
»Ja, Hanni, das meine ich. Ich nehme dir natürlich alles ab, was sich dir abnehmen läßt.«
»Nein, laß, es kommen schon andere, mein Bruder ... laß, Arthur!«
(Wie wunderbar gefaßt doch Hanni ist ... fast übermenschlich.)
»Und was, was willst du noch tun?«
»Ich werde nun doch länger noch bleiben, aber ich habe schon das Haus da gemietet. Möbel nehme ich nicht viel, nur meine Bücher und die Familienbilder. Es lohnt bei dem alten Gelump kaum der Transport.«
»Wo wirst du wohnen?«
»Via Romana zweiundsiebzig, weißt du, hinter der Porta Romana draußen in den Olivengärten.«
»Also via Romana zweiundsiebzig.«
»Wirst du mir dann schreiben, Hanni?«
»Nein ... Ich habe ja noch sehr viel zu tun hier, mit dem Ordnen von allem in der nächsten Zeit.« (Das kommt, jetzt ist sie nur noch versteinert.) Sie standen schon in der Tür, das alte Mädchen schlich sich wie ein Schatten, der sich in den Hades nutzlos zu dem Opfer des Odysseus gedrängt hatte und nun wieder in seine ewige Dämmerung zurücktaucht, an ihnen vorbei.
»Du wirst mir nicht schreiben?«
»Nein ... Wozu? Ich weiß ja heute noch gar nicht ... aber ich werde mir die Nummer zweiundsiebzig merken. Bobby, unser armer Max, ach, furchtbar ... Wie nanntest du ihn doch immer?«
»Benjamin, mein Sohn.« Der Doktor heulte auf wie ein Tier in der Winternacht.
» Du hast mir einmal gesagt, daß ich gehen soll. Ich sage es dir jetzt – vielleicht, Bobby, vielleicht ... Ich weiß es noch nicht.«
Und wie Doktor Levy auf die Straße trat, da brauste das Leben, die Rollwagen polterten, die Straßenbahn klingelte, die Pferdehufe klapperten wie auf einem Xylophon über den Asphalt. Die Hausdiener drückten ihre Handkarren durchs Gewühl der Wagen, und alles hing in einem etwas nebligen Oktobermorgen, über dem die Glockenschläge vom Rathaus gerade hinzitterten. Aber doch nicht so hell wie in jener Nacht vor drei Wochen, als der kleine Max, Benjamin, mein Sohn, mit dem Schlag zwölf hier im Dauerlauf herunterrannte, aus den letzten Umarmungen der Polenliese, die ihn genauso weggeschickt hatte wie Bobby Hanni und wie Hanni jetzt Bobby.
Wirklich, der Schulchor sang sehr schön draußen in Weißensee – er wurde ernst und musikalisch gut geleitet –, und der Bellermann sprach ergreifend am Grab, »von dem jungen, vom Leben unberührten Epheben, der Hoffnung der Schule, der Zukunft der Wissenschaften, einem der besten, dem die Schule seit Jahren ihre Wünsche in das Leben hinaus nachrufen wollte« (Gott sei Dank, daß ich doch Hanni nicht die Wahrheit gesagt habe, wie käme die sich jetzt vor, wenn sie es nicht glauben dürfte, sagte der still vor sich hin schluchzende Doktor Levy) »und dem sie nur noch ein ewiges Gedenken in den Annalen der Anstalt über das Grab hinaus gewähren könne«.
Ja, und Rosenemil?
Nun, es war der übliche Gang, und das Milieu war ihm ja nicht neu. Damals hatte er nur in einem anderen Flügel draußen in Alt-Moabit gesessen. Das Essen war auch nicht besser geworden, die Luft in der Zelle auch nicht und die Behandlung auch nicht. Das heißt, man behandelte den Angeklagten so, als ob er verurteilt wäre. Und die Voruntersuchung ging auch nicht schneller vonstatten als ehedem, da sie ihn mangels Beweisen freisprechen mußten. Ja, und eines Tages ... 'rausgebracht hatten sie nichts, aber es waren Leute vorgeladen und vernommen worden, die ja zum Schluß auch nichts wußten, und ein langweiliger Mann nahm polizeiliche Protokolle auf, die das Gegenteil von dem enthielten, was die Menschen gesagt hatten. Man kam zu Vater Strehmel und vernahm Palisadenkarl und die Mädchen und Kletterwillem, und man ging in die nunmehr leere Wohnung in der Roonstraße, um die Brillantenberta vorzuführen, die grade im Criterion in London dinierte, und fragte, mangels ihrer, die Portiersfrau dort und in den Lokalen, in denen die Brillantenberta mit ihm gesehen worden war. Der Untersuchungsrichter hatte den Widerruf der Brillantenberta natürlich als belanglos und als Verschleierung nicht beachtet. So was kannte man ja. Damit rechnete man ja bei solchen Sachen von vornherein. Baumüller hatte auch Aussagen gemacht, die eigentlich nicht genügten. Er hatte sie beide gesehen, wie sie vor den Mohrensälen da zusammen in ein Auto mit einem Negerchauffeur stiegen – aber ist das strafbar? Hätte er wenigstens gesehen, wie sie ihm Geld zusteckte. Und auch dann war ja nichts bewiesen, sie hätte es ihm ja zur Verwahrung geben können, oder es war eine Schuld, die sie ihm zurückzahlte. Sicher war, daß sie ihm neue Kleider gekauft hatte. Sicher war, daß er vierzehn Tage bei ihr gewohnt hatte. Aber das reichte nicht. Besonderen Aufwand hatte er nicht getrieben. Und einmal hatte er nachweislich beim Rennen gewonnen. Das Ticket hatte er noch. Sein früheres Mädchen konnte man nicht mehr vernehmen, weil es inzwischen verstorben war. Und das Schlimme: die Brillantenberta war zwar bis Juli noch in der Liste der Prostituierten geführt worden, aber nach Juli nicht mehr. Auch wenn sie sicher ihren Beruf kaum aufgegeben hatte. Wie sie plötzlich aus den Listen herausgekommen war, wußte man nicht. Und die Akten darüber mußten irgendwo vergraben liegen. Der Akt war nicht aufzufinden. Und nun kam noch der Friedmann, der große Friedmann hinzu. Das mußte ja eine Blamage fürs Gericht werden. Eine Sensation für ihn. – Wäre Friedmann, der das Gericht alle Woche einmal mit irgendeinem spitzfindigen Schriftsatz, der beiseite geschoben wurde, in dieser Sache inkommodierte, nicht gekommen, hätte man Rosenemil vielleicht wieder, ohne Anklage zu erheben (weil Beweise nicht erbracht werden konnten), laufenlassen. Aber da Friedmann dahinterstand, war es zu einem Duell geworden, das auf dem Rücken des armen Rosenemil ausgefochten werden sollte. Alles klappte nicht, Friedmann hatte mit jedem Einwurf recht. Aber gerade das ärgerte den Untersuchungsrichter und untergrub das Ansehen der Staatsanwaltschaft, die scheinbar noch ganz unbeteiligt beiseite stand. Verdient hatte es doch der Kerl, und für irgendwas mußte man ihn doch fassen können. Dabei hielt er sich, hatte Haltung. Man verhörte ihn hin und her, trieb ihn mit Fragen in die Enge, wollte Zugeständnisse von ihm und spiegelte ihm vor, ihn sofort wieder in Freiheit zu setzen, wenn er sie gäbe. Raskolnikow war grade sehr modern. Man holte ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit aus der Zelle, um ihn auf drei Minuten vorführen zu lassen, nur um ihn endlich einmal müde und kirre zu kriegen. Man versuchte, ihn in Widersprüche zu verwickeln, ließ ihn wieder ab- und wieder vorführen. Verhinderte die Besprechungen mit dem Anwalt – dieser merkwürdige Anwalt! Ja, wie war er eigentlich zu dem gekommen?
Eines trüben Tages ... und Rosenemil fühlte sich wenig wohl, er hatte immer noch Halsschmerzen, konnte gar nicht recht schlucken, und dann hatte er ein paar rote Flecken auf der Brust gehabt, vielleicht von Ungeziefer – was wußte er! Und noch was anderes, also er war sicher krank, krank war er bestimmt! Aber das ging ihn jetzt, wo er um sein Leben und um seine Freiheit kämpfte, gar nichts an.
Und eines trüben Tages kam ein Mann im Pelzmantel (und des war eben erst in November) in seine Zelle und sagte: »Ich heiße Friedmann und werde Sie verteidigen, Herr Lehmann.«
»Ich kann Sie nicht bezahlen«, sagte Rosenemil.
Aber der Mann ging nicht.
»Das macht nichts. Ihr Fall interessiert mich«, und er hielt ihm eine Prozeß vollmacht und einen dicken Füllfederhalter hin, »unterschreiben Sie hier, Herr Lehmann.«
»Mich interessiert der Fall janich mehr«, sagte Rosenemil und schob das Papier zur Seite.
»Mensch, machen Sie keinen Unsinn«, sagte der Anwalt, »ich bin Friedmann. Es geht hier um Ihre Existenz. Verstehen Sie?«
»Na schön«, sagte Rosenemil, »wenn's Ihnen Spaß macht«, und unterschrieb. »Aber von mir kriegen Sie nich een Groschen.«
Friedmann sah in seinen Eßnapf, der da stand. »Sie müssen besseres Essen haben«, sagte er.
»Müßten«, meinte Rosenemil.
»Dabei kommen Sie 'runter«, meinte Friedmann.
»Das weiß ich, aber darauf nehmen die keine Rücksicht hier«, sagte Rosenemil.
»Beschweren Sie sich«, sagte Friedmann.
»Habe ich getan, da wurde es noch schlechter.«
»Sie werden besseres Essen kriegen.«
»Wer zahlt denn des«, fragte Rosenemil.
»Sie jedenfalls nicht«, sagte Friedmann.
»Kann ich mit Ihnen wie mit'n Mensch sprechen?«
»Ich bin besser informiert als Sie«, sagte Friedmann. »Sagen Sie nur nichts, was Sie belasten könnte. Man muß Sie freisprechen, aber vermasseln Sie mir die Geschichte nicht. Bei den preußischen Gerichten kann's sehr leicht andersrum gehen. Adieu.« Und damit ging der Mann mit dem Pelz und dem Igelgesicht und den storren Haaren und dem Schnurrbart, der wie 'ne Trense über'n Mund lag, wieder 'raus.
»Die Sache geht aus wie's Hornberger Schießen.« Aber wie das ausgegangen war, wußte Rosenemil nicht.
»Halten Sie den Kopf oben, Herr Lehmann«, sagte er laut in der Tür.
»Danke gleichfalls«, sagte Rosenemil.
Der Mann gefiel ihm nicht. Das war ein Fuchs. Und wenn er wenigstens einen Kassiber ihm zugesteckt hätte, aber nee ... er hätte zu gern gehört, was die alle machten. Vor allem seine Lissi ... Aber von den Brüdern wollte wohl keiner mehr was von ihm wissen. Und die Lissi, die hatte gewiß einen anderen. Na ja, er hat es ja auch so gemacht. Vielleicht is se auch weggezogen von da. Gesund wird sie doch wieder sein! Ach Jott, wenn es ihr schlecht ginge. Aber die wird sich schon erholen. Ein junger Mensch erholt sich immer.
Aber das Essen wurde wirklich besser. Er setzte ordentlich Speck an. Und die Vernehmungen wurden immer häufiger. Und eines trüben Tages bekam er die Nachricht, daß Anklage gegen ihn erhoben sei. Und daß die Verhandlung am achtzehnten November nachmittags fünf Uhr im kleinen Saal des Schwurgerichts sei.
Also wie kamen denn die Leute dazu? Wat hatte er denn jetan? Wo nehmen solche Menschen die Unverfrorenheit und den traurigen Mut her, for nischt und wieder nischt eenen armen Mann wie er, der doch nichts getan hat ... Und selbst wenn? Wo steht denn geschrieben, daß irgendwer in der Welt das Recht hat, den anderen um seine Freiheit zu kürzen; schön, schlagt mir tot, aber sperrt mir nicht ein! Ein Tier sperrt man ja nicht ein. Des kann wenigstens 'raus aus seinen Stall. Des schickt man auf die Weide.
Wat macht denn ihr eigentlich mit all die Menschen hier uff'n Jang? Da is een oller Mann, der kann kaum mehr laufen. Der links drüben, hat der Schließer gesagt, der soll zwei Schuhe jeklaut ham, aus 'ne Auslage. Also das Vaterunser kann man des Jungeken durch de Backen blasen. Woher nehmt ihr denn das Recht her? Des sind Menschen wie ihr auch. Warum sperrt man uns denn immer ein? – Also die Halsschmerzen werden nicht besser. Janz zu is er mir.
Und dann wurde es ganz still um Rosenemil. Die Vernehmungen alle Tage waren scheußlich gewesen. Aber gar keine mehr und nur Fliegen fangen war noch scheußlicher. Wie lang so'n Tag ist, und die Stunde auf'n Hof! Manchmal wollte er gar nicht 'runterjehen. Und sie taten so was ins Essen rein, daß man Pickel von kriegte, wüste Pickel, un man wurde ganz stumpf. Ich glaube, jetzt könnten zehn Mädchen vor mir baden, ich würde ja nich nach hinsehen. So die ersten Wochen, da hab' ick des Nachts wach jelegen und ordentlich nach Lissi geschrien, und eenmal habe ich auch an die andere denken müssen, ick habe es janich jewollt. Und dann habe ick kaum nochmals von Lissi noch geträumt.
Doch, vor vierzehn Tagen mal, da is se janz weiß dajestanden an meine Pritsche, hier mitten in de Zelle, und hat sone weiße Blume in de Hand jehabt, das heißt, 'ne Lilie war's nicht, eher 'ne Gladiole ... jetzt jib's doch keene Gladiole mehr, und wirklich, da hat se jestanden. und wie ick de Augen aufjemacht habe, is se janz langsam weggegangen und hat mir noch immer anjesehen, und nachher war es doch nur 'n Streifen Licht, der so von oben so durchs Fenster 'reinjekomm' is. Und wenn die bloß nicht immer so des Nachts so klopfen würden. Ich glaube, die manchen sich Zeichen. Und ich habe Friedmann jesagt, er soll doch mal zusehen, ob er nicht von Lissi oder Karl einen Kassiber bringen kann … Aber der is zu vornehm dazu. Er sagt, er macht keine Durchstechereien.
Aber der Vorsitzende der Strafkammer machte sogar in einem vertraulichen Kolloquium vor der Kammer zu dem Fall Lehmann sehr beachtenswerte Ausführungen, die, aus dem Juristischen ins Deutsche übertragen, ungefähr mit folgendem sich deckten: Er dächte nicht daran, daß er ein Exempel statuieren wolle oder etwa einen neuen Prozeß Heinze aufziehen wollte in ihrer Kammer. Aber daß grade Friedmann drüben stand, war ja sehr gut, da würde die ganze Presse sich damit beschäftigen. Und vielleicht könnte man damit überhaupt erreichen, wenn man die Allgemeinheit wieder mal auf diesen Krebsschaden der Gesellschaft hinweisen könne, daß man zu einer Verschärfung der gesetzlichen Maßnahmen käme. Aber das könne man nur, wenn man eben rücksichtslos in diese Unterwelt hineinleuchte. Denn das war ja das Häßliche: Diese Prozesse gegen die edle Zunft der Zuhälter wurden immer seltener, während diese edle Zunft immer mehr sich verbreitete und sich zu einer immer größeren Gefahr für das Volkswohl auswüchse. Die gesetzlichen Bestimmungen wären aber hier so ungenügend, und die Beweiserbringung, die das Gesetz forderte, derartig schwierig, daß selbst manch erfahrener und alter Jurist so wenig eine Verurteilung wegen Zuhälterei gesehen hat wie einen toten Esel. (Dankbares Lachen.) Man müsse eben diese Prozesse, sagte der Präsident der Strafkammer, man müsse eben dahin kommen können, bei diesen Prozessen dahin kommen, auch den Dolus eventualis, wie bei Presseprozessen, in Anwendung bringen zu können. Ich weiß nicht, wer die blöde Ansicht aufgebracht hat – die Zeitungen oder die Kriminalromane? –, daß Strafprozesse etwas besonders Spannendes, Feierliches, Dramatisches und Ergreifendes sind, großartige Schauspiele, Wortduelle zwischen Richtern und Verteidigern und flammende Anklagen der Leute mit schwarzer Robe. Also es wird nirgends in der Welt soviel gegähnt wie in Strafprozessen. Nicht mal in Lustspielen. Die Zuschauer, die Kriminalstudenten, die sich kostenlos aufwärmen – Gerichtssäle sind immer überheizt! –, gähnen, wenn sie nicht schlafen oder Butterbrote essen. Die Beisitzer gähnen oder malen Püppchen auf die Aktendeckel. Die Richter spielen gelangweilt mit ihren Federhaltern und tun, als ginge sie die ganze Sache nichts an. Jedenfalls zeigen sie weder Zu- oder Abneigung zuerst und – gähnen. Deswegen sind sie ja unparteiisch. In Wahrheit sehen sie in dem Angeklagten ihren persönlichen Feind. Und in dem Verteidiger erst recht, den sie noch freundlicher behandeln, obwohl sie genau wissen, der Kerl will ihnen Schwierigkeiten machen und den Fall, dessen Tatbestand doch ganz deutlich ist, verdunkeln. Der Staatsanwalt gähnt selten, denn er wünscht keine Freisprüche. Endlich will man doch auch mal Oberstaatsanwalt werden! Er spricht mit dem Monokel, das er nicht im Auge hat, aber jede Silbe ist Monokel dabei, in einer geölten Gewandtheit. Er ficht nicht Säbel, er ficht Florett vorerst. Und selbst der Angeklagte gähnt vor Übermüdung und Aufregung. Zum Schluß versteht er gar nicht, um was es eigentlich hier geht.
Das Wichtigste wird bagatellisiert, und die Bagatelle wird aufgeblasen. Die bleierne Langeweile liegt über dem Saal, in dem man, wenn's draußen dunkelt, und das tut's im November sehr früh, die Kohlenstiftlampen singen hört. Es ist alles sehr hell. Und es vollzieht sich alles wie auf weißen Tüchern. Kaiserbüsten leuchten und die Justitia wägt auf einer Waage Recht und Gerechtigkeit gegeneinander ab. Nur, um zum hunderttausendsten Male festzustellen, daß das Recht schwerer wiegt in dieser Welt als die Gerechtigkeit. Unsichtbar aber steht der Spruch auf der Mauer: »Wir verlangen gewiß kein Recht vor unsern Richtern, aber zum mindesten gleiches Unrecht für alle!« Und viel, viel anders war der Prozeß gegen Rosenemil auch nicht. Wie gesagt, es war ja eine Farce. Zeugen wurden vorgeladen, die Rosenemil sich nicht erinnerte je gesehen zu haben, und sagten Dinge aus, die nicht auf die Sache Bezug hatten. Er paßte nicht mal auf, und Friedmann machte eigentlich gar nichts.
Rosenemil suchte mit den Augen den Zuschauerraum ab. Aber die Polenliese war nirgends zu sehen, und die andere auch nicht. Vielleicht waren sie draußen und sollten dann erst als Zeugen hereingerufen werden. Nur Palisadenkarl sah er vorne auf der ersten Bank im Zuschauerraum und dann weit hinten Spitzmaus. Palisadenkarl schien ganz unbeteiligt und vermied seinen Blick. Aber Spitzmaus nickte ihm zu.
»Die Sache werden wir umblasen wie ein Kartenhaus«, hatte Friedmann gesagt. Aber Rosenemil merkte noch gar nichts davon. Im Gegenteil, er plauderte ganz liebenswürdig mit den Richtern, und wenn die die größten Gemeinheiten gegen ihn sagten. Wo er den Leuten an die Gurgel gesprungen wäre, wenn er gekonnt hätte. Das will ein Anwalt sein! Ein paarmal, wenn er etwas sagte, ging aber doch so eine ganz leise Bewegung durch den Zuschauerraum, und die Leute, die da an einem Tisch saßen und den Bericht für ihre Zeitung wohl schrieben, wachten aus dem Halbschlaf auf und ließen ihre Federn fliegen.
Lauter Dinge, die gar nicht hergehörten, zogen sie 'rein. Wen jing des an, daß er als Junge mal eenen Stock hoch aus'n Fenster gefallen war in de Müllkute? Wen jing des an, daß er in der Schule immer auf de erste Bank jesessen hatte? Wen jing des an, daß er sich bei Schultzens Grossobuchhandlung bewährt hatte? Wen jing des an, daß er sich in der Kartonagenfabrik als Aushilfskraft zur jrößten Zufriedenheit ...? Een Dreck jing des doch all die Leute an! Selbst die Radowskin sagte, daß er ihr ein lieber Schlafbursche gewesen wäre, und die janze Bande, die Kriminalstudenten, die grinsten, und der Vorsitzende sagte was von »Hier is doch keen Lustspielhaus!« und »Würde des Orts« und »im Wiederholungsfalle räumen lassen«.
»Ehe wir«, sagte Friedmann, mit einer kleinen Verbeugung zum Richtertisch, »weiter in der Zeugenvernehmung fortfahren, möchte ich hier ein Telegramm aus Santa Cruz von den Kanarischen Inseln vom achtzehnten November neunzehnhundertdrei zur Kenntnis des Hohen Gerichtshofs bringen von Frau Evelin de Ramiros geborene Cohn, genannt Evelin de la Croix, die sich ehedem in den weitesten Kreisen Berlins unter dem Namen ›Brillantenberta‹ eines nicht unbegründeten Rufes erfreute. Sie versichert im Telegramm an Eides Statt, daß die von ihr erhobenen Anschuldigungen gegen Herrn Emil Lehmann in einem Zustande von durch Narkotika getrübter geistiger Zurechnungsfähigkeit von ihr erhoben wurden und jeder Begründung entbehren.«
»Das kommt vorerst nicht in Betracht, ich werde es aber jedenfalls zu den Akten nehmen, Sie können es ja dann verwenden, Herr Verteidiger.«
So leicht strich die dritte Strafkammer in einem Fall von so essentieller Bedeutung für die gesamte Rechtsprechung nicht die Segel, nicht mal vor den Tricks eines Friedmann. Das war doch zu deutlich: bestellte Arbeit! Aber sie wirkte auf den Journalistentischen, die Federn flogen nur so.
Im Zuschauerraum entstand wieder Unruhe. Es hätte wenig gefehlt, so hätte Palisadenkarl randaliert.
»Ich werde den Zuhörerraum räumen lassen«, donnerte der Verhandlungsleiter.
Bis dahin war alles ein Musterbild gesellschaftlicher Konversation gewesen. Ja, und dann – Rosenemil stumpfsinnte vor sich hin, es war so gegen zehn geworden schon, in diesem Hin und Her, dessen Sinn er nicht zu fassen wußte – begann der Richter seine Beziehungen zu der Polenliese, einer » Dirne niedrigsten Vorstadtniveaus«, durch den Kakao zu ziehen. Solange hatte Rosenemil eigentlich nur sehr bescheiden auf alles geantwortet. Denn das hatte ihm Friedmann eingeschärft! »Es kommt sehr darauf an, Herr Lehmann«, hat er gesagt, »was Sie für einen Eindruck vor dem Richter machen. Gegen Verbrecher haben sie nicht viel. Davon leben sie. Die verstehen sie auch manchmal. Aber gegen Ungebührlichkeiten vor Gericht – das vertragen sie ein für allemal nicht. Der Angeklagte hat sich anständig zu benehmen. Und es kommt ebenso häufig vor, daß sie einen Unschuldigen verknacken, wenn er sich ungebührlich – die haben so komische Ausdrucksformen, die Herren da oben! – benimmt, wie sie einen Schuldigen laufenlassen, wenn er nur recht nett und zuvorkommend zu ihnen ist. Daher der Name von durch Äußerlichkeiten unbestechlichen preußischen Richtern. Haben Sie verstanden? Markieren Sie den Gentleman. Haben Sie verstanden? Seien Sie nett und zuvorkommend.«
»Sie wünschen, Herr Gerichtshof, daß ich Ihnen Dinge sage, die nicht wahr sind, und daß ich Ihnen Taten gestehe, die ich nicht begangen habe. Den Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun. Gewiß«, schrie Rosenemil plötzlich in den Riesenraum hinein, »gewiß, ich habe mit der Dame auch bei einer Wirtin zusammen gewohnt! Aber ich habe nich bei ihr jewohnt. Jewiß, sie is meine Freundin, des is se. Aber Jeld habe ich nich von ihr jekricht ... Ich habe Jeld jespart. Ich habe Arbeit gehabt ... Ich habe mal wat auf 'n Rennplatz jewonnen ... Warum is se nich hier? Warum haben Se se nich vorjeladen? Bringen Se se her, sofort! Fragen Se se doch, ob ich von ihr Jeld jenommen habe! Sie kann's Ihnen ja sagen, ob's so is oder nich, Herr Jerichtshof. Se reden hier absprechend über'n Menschen, den Se janich kennen ... Sie wollen hier über Menschen urteilen, über die Sie zu urteilen viel zu jewöhnlich sind. Was wissen Sie denn?«
»Ruhe, Angeklagter!« donnerte der Mann mit den Basedowaugen und den Schmucknarben aus seiner flotten Burschenzeit noch her.
»Was wissen Sie denn von dem Mädchen ... Daß sie een Schein hat, wissen Se. Und des is auch alles, was Sie wissen!«
Es ging eine starke Bewegung durch den Zuschauerraum.
»Ruhe! Ruheee!« donnerte der Vorsitzende. »Sonst muß ich die Sitzung unterbrechen!«
Wirklich, es kam Ruhe, und der Rosenemil stand nun wieder ganz still.
Und plötzlich ging so ein leiser Schimmer von Menschlichkeit, der erste an diesem Abend, über das Gesicht des Verhandlungsführers.
»Es legt wohl keiner hier Wert auf die Vernehmung der Lissi Morgen?« fragte er.
»Wir legen gar keinen Wert darauf«, sagte Friedmann und beugte sich zu Rosenemil. »Mund halten! Sie werden freigesprochen«, sagte er sehr leise.
Ja, und dann war eigentlich nichts mehr Besonderes los, dann sprach der Staatsanwalt nochmals als Ankläger. Aber es war sehr dünn und sehr löcherig. Das einzige, was eigentlich blieb: die Brillantenberta hatte ihm ein paar Anzüge gekauft, und er hat mit ihr ein paarmal soupiert, wo aber er nachweislich die Rechnung bezahlt hatte. Und daß er bei ihr gewohnt hätte, nun ja, das könne auch einem Gentleman mal passieren, dürfte aber bei feiner organisierten Ehrbegriffen nicht vorkommen. Da der Fall leicht läge, so beantrage er die geringste, dafür vorgesehene Strafe, und da man dem Jungen die bisherige gute Führung und die schlechte Gesellschaft, in die er geraten wäre ... (»Jungeken, Jungeken«, knurrte Palisadenkarl, »dir möchte ick nich mal so alleene in de Lottumstraße treffen, aber ick merke mir deine Visage«), so könnten mildernde Umstände dem Angeklagten kaum verweigert werden.
Und dann kam Friedmann selbst; die Richter mußten zugeben, es war wieder mal eine Glanzleistung, wie in seiner allerbesten Zeit. In letzter Zeit machte er zuviel. Ließ etwas nach. Aber das war echtester Friedmann. Es begann mit Verbeugungen gegen die Richter und vor allem gegen den jungen, so beflissenen Staatsanwalt, der den Mut aufgebracht hätte, eine vollkommen nichtige Anklage zu vertreten, der Vormund eines totgeborenen Kindes zu werden ... er beglückwünsche ihn dazu. Er entwarf von Emil Lehmann ein Bild: der strebsame, tüchtige junge Mensch mit den guten Anlagen, der, wenn er nicht das uneheliche Kind einer armen Näherin gewesen, hier nie auf der Anklagebank, aber voraussichtlich ... und sein tief menschliches Gefühl – ich habe ihn beinahe liebgewonnen, voilá un homme – und sein durchdringender Verstand prädestinierten ihn dazu ... dort säße, wo der Herr Staatsanwalt steht, oder hier, wo ich stehe. Heute sehen Sie einen, der schuldlos ins Elend gestoßen werden sollte – nur sollte ... (Red doch keen Quatsch, Mensch. Een armes Luder bin ich, und een armes Luder bin ich immer jewesen. Un een schwacher Mensch bin ich, der sich jemein benommen hat. Ja, das hat er ... ooch wenn er das verdient nicht hat, was se hier mit eenen vorhaben, wollte Rosenemil dazwischenschreien. Aber er schrie nicht.) Ja, und dann fing er so langsam und punktweise an, Friedmann, sich die Anklage vorzunehmen ... also es blieb nichts, gar nichts von all den Steinen, die der junge Staatsanwalt so mühsam zu seinem Bau zusammengetragen hatte.
Aber noch fehlte der Coup. »Friedmann ohne großen Coup, das gibt's nicht!« flüsterte der eine Journalist dem anderen zu. »Mit moralischer Entrüstung macht er es heute nicht. Mit einem literarischen Essai über das Zuhältertum in dem modernen französischen Schrifttum auch nicht. Ich bin neugierig, was er bringen wird. Friedmann hat sicher noch eine kleine Überraschung für uns, so billig kommen wir nicht davon. Der verdient heute mehr wie wir für unseren Bericht.«
»Er wird heute auch noch mehr verspielen«, sagte sein Nachbar.
Und da kam es auch.
»Nun dazu, daß Frau Evelin de Ramiros dem Herrn Lehmann eine Zahl von Kleidungsstücken: Mäntel, Anzüge, die er nebenbei nicht mitnahm, als er sie aus irgendwelchen persönlichen Gründen, die weder mich angehen noch den Hohen Gerichtshof – denn wir haben wohl nicht das Recht, uns in die intimsten Privatangelegenheiten eines Menschen einzumischen –, also, der Bruch ging von Herrn Emil Lehmann aus ... die also, als er die Dame verließ, dort verblieben sind, bis auf den Anzug, den er auf dem Leibe trug, und diesen auch nur deshalb, weil jener, mit dem er dort eintraf ... und wir können es als wahr unterstellen, daß er einen Anzug anhatte, als er das erstemal ihre Wohnung in der Roonstraße betrat ... Also genug, meine Herren, der Hohe Gerichtshof kennt gewiß die kleine Geschichte, an die wurde ich bei den Worten des Herrn Staatsanwalts erinnert. Die Londoner Akademie der Wissenschaften erhielt einmal eine Anfrage, in der stand: Die Hohe Akademie möge mir folgendes erklären. Wie kommt es, daß, wenn man in einen Bottich mit Wasser im Gewicht von hundert Kilogramm einen Karpfen von zwei Kilogramm hereinsetzt, trotzdem das Gewicht des Bottichs mit dem Karpfen nicht höher wird als eben hundert Kilogramm. Und man fand die tiefsinnigsten Erklärungen dafür, da voraussichtlich die Luftblase des Fisches ... aber ich will Sie mit dieser Erklärung nicht langweilen – genug, es dauerte eine ganze Weile, bis einer sagte: ›Wir wollen es doch mal nachwiegen.‹ Und da stellte sich heraus, daß es gar nicht hundert Kilogramm, sondern eben, wie auch zu erwarten, hundertzwei Kilogramm waren.«
Der Vorsitzende lächelte etwas gelangweilt, aber er sollte nicht lange lächeln.
»Also, Hoher Gerichtshof, ich lasse zufällig auch dort bei Daladier arbeiten und habe mir dort – der Herr Staatsanwalt zählt ja dort auch zu den Kunden« (Ein frecher Hund! dachte der Staatsanwalt) –, »Informationen geben lassen. Fräulein Cohn ist mit ihrem Vetter oder Neffen, wie sie sagte ...«
»Ruhe«, rief der Vorsitzende.
»... Herrn Emil Lehmann, dort am zehnten August vormittags erschienen und hat zwei Anzüge im Wert von dreihundertfünfzig Mark und einige andere Kleinigkeiten im Gesamtwert von fünfhundertachtundsiebzig Mark dort mit ihm zusammen erstanden, indem sie ihm mit ihrem erlesenen Geschmack in solchen Dingen bei der Auswahl behilflich war.« Friedmann schien allein für den Staatsanwalt zu reden, der spöttisch lächelte und sein jetzt hervorgezaubertes Monokel behauchte. »Ich habe mir hier ein Duplikat der Rechnung ausgebeten, sie lautet auf den Namen ›Emil Lehmann‹ und ...«, große Pause – kein Kainz versteht eine Pause besser auszunutzen, »ist – nun, was denken Sie? – ist unbezahlt.«
»Das gehörte zur Beweisaufnahme!« ruft der Vorsitzende. »Ruheee!«
Als es ruhig geworden war, sagte Friedmann, unschuldig wie ein Säugling: »Ich hab's vergessen.«
Ja, und nun war eigentlich nicht mehr viel zu sagen, es blieb nichts, nicht ein Federchen mehr zum Wegblasen, das ganze Kartenhaus der Anklage war zusammengestürzt.
»Ich beantrage Freispruch«, sagte Friedmann und verbeugte sich. Man hätte beinahe geklatscht.
»Ruheee!« brüllte der Vorsitzende das letztemal. Und dann zog sich der Gerichtshof zurück, es war so gegen elf Uhr schon geworden, und zehn Minuten danach war Rosenemil freigesprochen. Aber er fühlte sich gar nicht, gar nicht wohl. Der Saal leerte sich auch langsam. Friedmann hatte ihm noch einmal die Hand gegeben und stürmte dann fort. Er hatte schon seine Partie im Klub. Nach solchen Sensationen brauchte er das doppelt.
Eigentlich kümmerte sich keiner um ihn. Der Angeklagte war freigesprochen. Der Angeklagte, der vier Stunden und länger Mittelpunkt gewesen war, war nun wieder ein ganz gewöhnlicher Sterblicher an der Peripherie des Daseins. Der Angeklagte konnte gehen, wohin er wollte. Oder waren noch Formalitäten zu erledigen? Jedenfalls kümmerte sich keiner um ihn. Er ging genauso weg, wie er gekommen war, ohne Mantel, mit seinem Stock von der Brillantenberta, und er hatte noch fünfzehn Mark in der Tasche. Ach Jott, er hatte ja 'ne jute Kluft. Da findet man schon was. Aber wohl, wohl war ihm nicht.
»Na, Mann«, sagte der Gerichtsdiener, »jehn se nach Hause. Se haben noch mal Glück gehabt, ich gratuliere.«
Eigentlich wartete er auf ein Trinkgeld.
Aber Rosenemil war wie vor den Kopf geschlagen. – Wat is'n mit Lissi? Die hat eenen andern, sagte er sich.
Allein Palisadenkarl, er trug heute seine Arbeitstracht, nur, daß er noch ein Knüpftuch über den gestreiftem Sweater gebunden hatte, war zurückgeblieben und kam nun auf ihn zu.
»Jehn Se«, sagte der Gerichtsdiener nochmals, »wir machen sonst des Licht aus.« Palisadenkarl kam zu ihm.
»Tach, Rosenemil«, sagte er, »wir haben uns lange nich jesehn.« Und streckte ihm die Hand entgegen.
»Wir haben uns lange nich jesehn, Karle. Redste denn noch mit mir?«
»Du hast Unglück gehabt«, sagte Palisadenkarl sehr leise.
»Manche reden sich ein, ich habe Glück gehabt«, sagte Rosenemil. »Wo soll ick hinjehn? Zu Lissi wer' ick wohl jetz nich mehr jehn können.«
»Nee«, sagte Palisadenkarl, »des wirste nich können. Des kannste morgen machen. Da is jetzt zu.«
»Seit wann is da zu?« fragte Rosenemil.
»Aber des is doch immer da des Nachts zu, wenn man nich über die Mauer klettern tut.«
Rosenemil starrte Palisadenkarl an, und plötzlich schrie er und fiel nach vorne über die Barriere weg, hinter der er gestanden hatte.
»Also komm, Mensch, se machen hier det Licht aus«, sagte Palisadenkarl und zog ihn wieder hoch.
»Wie, wie ... ich meine, wie, Karl, is'n des auf einmal gekommen?«
»Ja nich uff eenmal, des mußte doch kommen. Donnerstag vor fünf Wochen schon haben wir det arme Nuckelchen in de Erde gelegt. Es war eine sehr würdige Leiche – des ... des kommt so –, weeßte, der Beruf is unjesund. Die Mädchen verkühlen sich so leicht, und denn trinken se doch, des können se ja nich anders. Und die Stube muß doch auch warm sein, un denn müssen se doch immer wieder 'raus in de kalte Nacht. Des is nich jesund. Und die Wohnungen dazu! Die sind auch nich jesund. Da is erst eene drin jestorben, un denn wird de andere krank. Ich habe in unsere Jegend schon viele Mächens an Schwindsucht hops jehen sehen, und immer de schönsten und immer jerade de nettesten.« (Levy hätte das auch nicht viel anders gesagt, und der kleine Benjamin hätte sich »So sagt es der Herr Pfarrer auch« nicht entgehen lassen. Denn er war ein belesener Junge gewesen.)
»Wir wollen das Licht ausmachen«, rief der Gerichtsdiener.
»Na nu komm, du kannst ja bei meine Witwe schlafen. Ich bin nich da, sie macht dir 'n Bett auf 'n Flur.«
»Woher wußteste denn, daß ich wieder 'rauskomme?«
»Na – wenn dir Friedmann verteidigt! Aber den kann leider nich jeder bezahlen. – Na nu komm.« Und Rosenemil ging mit, draußen war Nachtluft, draußen war Novembernebel. Drüben im kleinen Tiergarten waren die Bäume kahl. Er hatte die letzten grün gesehen. Auf den Bänken saßen trotzdem Liebespaare, und die Mädchen gingen, wie jeden Abend, mit ihren Pompadourchen und warfen die Angel ihrer Blicke. In dem Gezaser der kahlen Äste, an denen noch ein paar gelbe Blätter an den Zweigspitzen zitterten, sah man weithin die Lichthöfe der Laternen, um die die Frostspanner spielten. »Komisch, jetzt gibt's noch Motten«, sagte Rosenemil leise vor sich hin. Aber er sagte es gar nicht. Es sagte das in ihm. Und es sagte das aus ihm. »Woher kommt das eigentlich, daß mir beim Jehen die Beine weh tun?«
»Weeßte«, sagte Palisadenkarl, »wir könnten uns ja auch 'ne Droschke nehmen, und ich muß nämlich heute nacht was arbeeten. Aber erst um drei.«
Nun waren sie an der Ausstellung schon, die Straße lag so lang und leer und kahl, und die Laternen tanzten vor ihnen. Die roten Ankersteinbaukästen der Kasernen schliefen im Nebel, und der Posten tappte in seinem Mantel vor dem Tor hin und her. Wie der Bär im Zoo. Drüben zogen die letzten Stadtbahnzüge, hell und – man sah es – gerammelt voll von Menschen, und warfen Lichtstrahlen durch die dicke milchige Luft. In Halbkreisen zogen sie auf den gemauerten Bögen dahin.
Hinten in Regen und Dämmerung sah man doch über die kahlen Baumwipfel trotz Nacht und Nebel so was wie das flatternde Gewand da oben von der Puppe auf der Siegessäule. Es fing irgendwelche Schimmer von Licht von den vielen Laternen und Bogenlampen um den weiten Platz und ließ so sein Gold da oben im Himmel bis hier herüberschimmern.
»Da drüben«, sagte Rosenemil, »da drüben irgendwo hat die Brillantenberta gewohnt, Karle«, sagte Rosenemil, »weeßte, da drüben wo.«
Und plötzlich beugte er sich vor und würgte, würgte ... er wurde ganz käsig, und dann brach er in einem breiten Strom seinen ganzen Mageninhalt aufs Pflaster hin. Zwei-, dreimal hintereinander erbrach er sich.
Palisadenkarl hielt ihm den Kopf. »Na wat denn? Wat denn? Is dir wieder besser, Emil?« sagte er sachlich. Und zog ihn dann weiter.
»Weeßte, so det Essen«, sagte Rosenemil, »un die Aufregung. Mir war schon den janzen Tag so jrün um'n Magen.«
Das war nun nicht wahr. Er hatte nie so gut gegessen wie in der letzten Zeit, da Friedmann für seine Selbstbeköstigung gesorgt hatte, und ihm war auch heute durchaus und keineswegs grün um den Magen gewesen.
»Du«, sagte Rosenemil. »Dem Turfkarl hat die Brillantenberta 'ne Masse Jeld jejeben, dem Schwein. Ick hab's jehört im Nebenraum.«
»Soo«, sagte Palisadenkarl.
»Der wird es durchgebracht haben«, sagte Rosenemil, »mit dem war nichts los«, sagte Rosenemil. Seine Gedanken, die heute besonders müde und zäh tropften, flatterten wohl da immer noch um die Roonstraße. »Ville los war mit dem nich, Karle.«
»Soweit mir bewußt ist, Emil«, sagte Palisadenkarl, »soll er sich doch in die Spree ertränkt haben, nachher« (sagte Palisadenkarl), »er soll sich sogar eenen Strick um de Beene jebunden haben. Des is mir jesagt worden« (meinte Palisadenkarl), »des machen solche Leute so ...«
»Des kann schon sein«, sagte Rosenemil.
Er hatte die Hände in die Taschen geschoben und den Kragen hochgeklappt. Warum hatte denn der Hund, dieser Baumüller, ihn nicht noch mal zu seinem Mädchen 'raufgelassen, dieser Hund, dieser Hund, dieser Hund, klapperten seine Schritte. Man sollte sich einfach in einen Stadtbahnbogen legen und schlafen. Oder wie Spitzmaus dahinten am Humboldthafen auf einen Heukahn.
»Wollen wir noch eenen jenehmigen?« sagte Palisadenkarl. »Ich weiß in de Nähe 'ne Stehbierhalle ... des wird dir auch jut tun ... Wie war's Essen? Mager siehste nich aus. Aber gelb! Natürlich, wenn der Mensch keene Luft kricht. Biste krank?«
»Nee«, sagte Rosenemil. »Aber ick weeß nich, vielleicht doch, ick will mal zu Levy jehn.«
»Ach so«, sagte Palisadenkarl.
»Des wird's wohl nich sein«, sagte Rosenemil. Ihn fror, er hätte beinahe Palisadenkarl gebeten: Karl, gib mir doch deinen Schal wenigstens; aber er genierte sich doch. »Ick hab' ihr doch immer Blumen jekauft, immer hab' ick ihr Blumen mitjebracht.«
»Levy is nich mehr da«, sagte Palisadenkarl.
»Is er verreist?«
»Nee, da is een anderer. Der is janz wech. Wenn er da wäre, hätteste hinjehn müssen. Er is sehr jut bis in de letzte Stunde zu ihr gewesen.«
»War'n viel Kränze da?« fragte Rosenemil.
»'ne Masse«, sagte Palisadenkarl.
»Warum hat'n Levy weggemacht?« fragte Rosenemil.
»Ach Jott, da war was mit den kleenen Jungen, mit dem deine Lissi immer bei Helmholtz jesessen hat.«
»Davon weeß ich nichts, Karl.«
»Jott, es war man een Junge«, sagte Palisadenkarl.
»Ach ja«, sagte Rosenemil. »Der mit de Bücher.«
»Eben der«, sagte Palisadenkarl.
»Un was is mit den jewesen, Karl?«
»Er hat sich wohl den Tod der Polenliese zu sehr zu Herzen genommen, er war ja mit bei de Beerdigung ... Levy auch.« Plötzlich hatte Palisadenkarl eine merkwürdige Gedankenverbindung: Eigentlich wäre es, so schoß es ihm durch den Kopf, richtig gewesen, wenn er auch zur Beerdigung von dem kleinen Benjamin gegangen wäre, das hätte man wohl von ihm erwarten können. Denn er fühlte sich so als Repräsentant. »Warst du schon mal auf 'ne jüdische Beerdigung?« fragte er.
»Nee, des nich«, sagte Rosenemil.
»Ich auch nich«, sagte Palisadenkarl.
Es war sehr leer schon auf den Straßen, nur mal wo eine einsame Droschke ... und so lang die Straßen und so wenig Licht. Ein paar Schaufenster in der Chausseestraße waren hell. Ein spätes Mädchen stand mit einem Kerl in einem Hausgang. Ein Schutzmann ging mit kleinen Schritten sein Karree ab. Die Häuser lagen ganz finster. Kaum daß wo ein Licht in den Fenstern war. »Und bis ins vierte Stockwerk hatte«, fiel Rosenemil ein, so was deklamierte Spitzmaus immer, »das Großstadtelend sein Quartier.« Palisadenkarl hätte so was nie behalten – wozu auch? Aber Rosenemil behielt so was. »Irgendwo in son'm Haus hat meine Lissi jewohnt, Karl«, sagte er plötzlich, faßte eine Laterne um und fing an zu heulen. Palisadenkarl konnte ihn gar nicht weiterbringen.
»Der Junge hat ihr janich richtig jekannt, der Junge mit de Bücher.«
»Des nich«, sagte Palisadenkarl.
»Nee«, sagte Rosenemil, »Karle, laß mir. Ich komm' nich mit.«
»Quatsch nich, Menschenskind«, sagte Palisadenkarl, »du kommst ... ick kann dir heute nich nachlaufen. Um halb drei warten meine Freunde auf mich vorm Schönhauser Tor.«
»Ach laß mich. Ick komme morgen früh. Ick setze mir in 'ne Kneipe noch, ich kann heute nich allein sein, und ick kann auch mit keine Menschen zusammen sein, die mit mir reden wollen. Des is schon des beste so. – Vielleicht komme ich morgen zu euch. Vielleicht komme ich auch janich mehr. Was liegt an eenen mehr oder weniger. Aber ick tu's vielleicht janich, ich bin ja man schwach.«
»Ja, schwach biste, Emil. Des is so.«
»Un vielleicht bin ich auch zu schwach noch dazu, Karl. Aber jemein bin ich nie jewesen.«
»Wenigstens willstes nich sein. Aber das will wohl keener«, sagte Palisadenkarl. »Und seh' ich dir denn morgen?«
»Ich denke so.«
»Machste wieder mit?«
»Ick weeß noch nich.«
»Ich kenn' des«, sagte Palisadenkarl, »mir sind zwee so gestorben. Erst jeht's janich. Nachher jeht's doch. Da um die Markthalle 'rum, da sind die Kaffeeklappen die ganze Nacht auf und ist hell, und da ist auch warm. Da halten die drauf. – Brauchste Jeld? Haste noch? Ängstige dir nicht, wir lassen keenen fallen. Wir nich. Adje, Rosenemil.«
Und dann sieht Rosenemil, wie die breiten Schultern von Palisadenkarl um die nächste Ecke biegen. Und nun ist nur noch die lange Straße da vor ihm und der Wind und der Sprühregen und die Laternen, die blinzelnde Augen haben, aus denen lange Strahlen schießen. Die letzten Kneipen haben schon zugemacht. Die Frauen kommen schon mit alten Kinderwagen, in denen, wenn auch nicht immer, das weiß Rosenemil noch, Zeitungen sind. Es sind arme Frauen und meist ältere Frauen, und sie sehen so nebelgrau wie die Herbstnacht aus. Und die Wagen knarren, daß man es drei Straßen weit hört. Die letzte Droschke schleicht sich vom Stettiner Bahnhof weg, der schon geschlossen wird und in dessen Halle vorn Staub wirbelt und die Besen schlurren. In einer Nebenstraße ist eine Prügelei, und ein Frauenzimmer kreischt um Hilfe. Dann hört man Trillerpeifen und sieht Leute weglaufen, und wie von der Straße weggewischt löschen sie im Nebel plötzlich aus. Und überall da hinter den dunkeln Scheiben wohnen Leute, denkt Rosenemil, überall vollzieht sich der Kreislauf des Seins. Da lieben sie sich. Da kommen sie in das Leben hineingerutscht, und da sterben sie wieder. Da stehen sie früh auf und gehen uff Arbeit. Und da spielen sie als Kinder uff de Höfe. Und da wachsen sie, und denn kommt die Straße. Und denn kommt die Stadt und frißt sie auf, wie seine Lissi und wie ihn.
Wenn er nur nicht so frieren möchte! Und wenn er nur nicht sone Halsschmerzen beim Schlucken hätte. Janich wie richtige Halsschmerzen sonst, wo man niesen muß und verkühlt ist. Nee, nee! Sone sind des janich. Und warum ihm die Zehen seit vorgestern weh tun. Des is janich zu begreifen. Aber des is mir nu alles ejal. Ich will nichts mehr vom Leben. Un bin zufrieden, wenn's nichts mehr von mir will. Wie alt bin ich nu? Ick werde achtundzwanzig man erst. Das is een bißchen früh fors weggehen. Aber wie warm und schön des den ersten Nachmittag bei Tegel war, wo ich ihr die Rosen gekauft habe und ich solchen Hunger hatte und wo wir dann im Saal janz alleine getanzt haben, und wie wir das erstemal nach Hause gefahren sind! Und heute is kalt! Und wie ich geturnt hab' und mich geschämt hab' mit 'n zerrissenen Stiebel. Ick dachte, det war 'ne Jräfin. – Des war se ja auch. Sie is mehr als 'ne Jräfin gewesen ... ick hab's nich gewollt.
Er steht 'ne ganze Weile an der Gertraudtenbrücke. Dadrin is aber noch kälter. Er sieht die langen Balken von den Laternen im schwarzen Wasser zwischen den Böschungen, in denen es wie von Silberfischen springt ... Aber was? Das würde ja nichts nützen. Dann schwimmt er ja doch an Land. Er müßte sich ja die Beine zusammenbinden vielleicht. Jott, feige bin ich nich, und jemein bin ick auch nich, aber im letzten Moment, da würde ich doch schwimmen. Nee, nee, schreien würde ich nich. Dadazu bin ich zu stolz. Aber schwimmen, das täte ich eben doch. Ja, wenn ich wüßte, ich jeh gleich so unter!
»Wat kieken se denn ins Wasser«, fragt ein Schutzmann hinter ihm. »Das ist kalt jetzt, junger Mann, jehen Se weiter, Mutter wart't schon auf Ihn'n!«
»Darf man hier nich ins Wasser kieken? Oder hindere ich den Verkehr damit?« – Keen Mensch begreift eigentlich, warum eine Stadt wie Berlin so ville Häuser und so wenig Bänke hat!
Aber endlich ist er doch da irgendwo in einer Kaffeeklappe in der Münzstraße. Es ist warm. Es ist hell. Es ist rauchig. Die Wirtin ist noch dicker wie die Strehmeln, und die Leute kommen und gehen. Leute mit Handtaschen, Leute mit Hucken, Leute, die draußen Geschäftsräder an die Mauer lehnen, Leute mit Stricken und mit Kartons. Da is auch die Bulldogge mit den Stelzfuß. Was will denn die? Frauen sind da mit wollenen Umschlagtüchern. Und andere mit mächtigen blauen Schürzen. Und Rosenemil sitzt eingekeilt mitten zwischen ihnen und trinkt Kaffee, eine mächtige Tasse Kaffee. Seit vierundzwanzig Stunden der erste warme Tropfen, den er in den Leib kriegt. Da hängen Plakate mit Mädchen, die Bierseidel schwenken und fliegende Zöpfe haben, und andere Plakate mit großen, sehr bunten Blumensträußen drauf. (Ach, Blumen!) Camillo Cenci, Bordighera, steht darunter.
»Ick hab' Ihnen doch immer Rosen abjekauft!« sagt Rosenemil zu Bulldogge.
»Ach richtig«, wimmert sie, denn sie hat eine eingefallene Nase und kann nicht gut sprechen deshalb.
»Des Mächen is tot«, sagt Rosenemil.
»Ach«, wimmert die Bulldogge, »wenn se 'ne andere haben, denn denken se wieder an mir. War des die mit dem grünen Kleid und mit de Pleureuse?«
»Ja«, sagt Rosenemil.
»Ach Jott, die Polenliese is tot«, wimmert die Bulldogge. »Schön war se und jut auch. Sind Sie Rosenemil?«
»Ja«, sagt Rosenemil und läßt den Kopf auf die Tischplatte fallen.
»Sind Se wieder frei?«
»Ja«, sagt Rosenemil, »wat man so nennt.«
»Ich hab's schon jelesen«, sagt die Bulldogge.
»Ach«, sagt Rosenemil, »ja, ja, die Menschen sind sehr neugierig.«
Die Bulldogge steht auf. »Wo jehn Se hin?« fragt Rosenemil.
»Jetzt fangt's jleich an mit de Blumen. Da drüben in de Halle.«
»Mit de Blumen?« sagt Rosenemil nach. »Das wär' was für Lissi.«
Und dann steht er in der Halle. Es ist sehr hell, große runde Bälle, in denen die Kohlenstifte zischen, strahlen ihr weißgrünes Mondlicht unter den Glasdächern und über die Stände hin und über die Gruppen, die sich da um die Versteigerer drängen. Alle die dicken Frauen mit den Wollschals und den blauen Schürzen, mit den Tüchern um den Kopf. Es riecht nach Maiglöckchen. Nach Fresien. Nach Mimosen ganz leicht. Und dazwischen der Hauch der Rivierarosen und der pfeffrige Geschmack der kleinen gelben und weißen und roten Knöpfchen der Chrysanthemen. Es gibt schon bunte Anemonen in ganzen Büscheln. Wie die bunten Mohnkörnchen auf Schokoladenplätzchen sehen sie aus. Immer werden ein paar flache Bastkörbe zusammengestellt, Kosen und Mimosen und Anemonen und Chrysanthemen und Fresien, und dann heißt es: »Drei Mark zum ersten! Drei fünfzig! Vier! Niemand mehr? Na, Sie Frau Schultze – heute nich? Niemand mehr? Zum ersten, zum ...« Der Mann wirft einen großen, dicken Schatten auf die Berge, auf die Berge von unverpackten Chrysanthemen, ganz großen gelben, und von den letzten blauen kleinen Herbstastern.
Und plötzlich sagt Frau Schultze, die immer alles den andern wegschnappt: »Dreifimwenzwanzich.« – »Zum ersten, zum zweiten«, sagt der, der mit dem Hammer auf die Kiste haut.
»Dreifuffzich«, sagt Rosenemil sehr leise, mehr vor sich hin. Eigentlich ist er ganz woanders. Ist er es denn, Emil Lehmann, der hier steht?
»Der Herr dort«, ruft einer, »niemand mehr? Niemand mehr? – Zum dritten!«
Und Rosenemil hat drei flache Binsenkörbe unterm Arm, er weiß gar nicht, wie er dazu kommt. Und dann werden die ersten Veilchen und Mimosen ausgeboten, und wieder ruft er etwas dazwischen, und wieder hat er noch vier Schachteln. Er weiß eigentlich nicht, was er mit machen soll. Er will sie Lissi bringen, aber er hat nur fünf Mark noch dann.
Und er geht ganz langsam neben der Bulldogge her, die nach dem Spittelmarkt herüber will. Aber vorher geht sie eine Weile noch in eine andere Kaffeeklappe. Da schläft sie bis neun. Das kostet einen Groschen. Ick wer' da ooch hinjehn, denkt Rosenemil. Irgendwo in der Kleinen Kurstraße is es.
»Je nach 'n Leipziger Platz«, sagt die Bulldogge, »ick kann nich so weit mit meinem Bein. Da is jut, da kommen die reichen Äser hin. Hier kommen nur die Geschäftsmächens, un die ha'm man nich ville, und ihre Freunde ooch nich. Und die Probiermamsells, die Gelbsterns, die haben schon 'n bißchen mehr. Aber da vorn is jut am Leipziger Platz. Da kricht man noch Preise.«
Gott, wenn ich eens in de Welt gern gehabt habe immer, so sind's Blumen. Blumen sind was sehr schönes, denkt Rosenemil. Er hat sie, die Binsenkörbe, mit einem Strick sich zusammengebunden und geht durch die morgendliche Leipziger Straße. Es wird ein blauer Tag, eigentlich ein schöner Herbsttag heute. Die Dächer sind feucht, der Asphalt ist feucht, die Straßenbahnschienen sind glitschig. Und die Leute laufen so, weil sie in ihre Geschäfte müssen. All die Hunderte von Mädels, die in die Warenhäuser und in die Kontore und in die Anwaltsbüros jetzt gehn. Und die vielen jungen Leute mit den weißen Kragen, die Gesichter machen, als hätte jeder den Merkurstab im Tornister. Und dann weitet sich der Platz. Die alten Linden wehen ihre letzten Blätter fort. Und die Amseln kommen auf die Rasenflächen von den Dächern geflogen, auf das Gras, das naß von der Nacht ist und in bunten Tropfen blinkt. Es ist frisch, aber ein schöner Tag ... Und seine Lissi liegt da draußen. Er hat noch einen sehr guten Anzug von Daladier an. Er hat sich gewaschen und einen saubern Scheitel gezogen. Er hat seinen Silberstock, den mit dem Silbergriff. Er sieht eigentlich wie ein Herr aus, der einer Wette wegen Blumen verkauft, und nicht wie ein Straßenhändler. Und er stellte sich an die Ecke vom Zaun hin, wo alle drei Minuten die Menschen aus der Erde herausgekrabbelt kommen aus der Untergrundbahn, wie die Ameisen aus dem Bau, und er schreit ... er wird ganz heiser, aber er schreit immer wieder: »Schöne langstielige Rosen, reizende Kinder Floras! Schöne langstielige Rosen, een Fuffziger det janze Dutzend! Heute Ausnahmepreis! De Rosenwoche! Kaufen Se doch een Sträußchen für den Herrn Gemahl! Nehm Se ein paar Blümchen für Fräulein Braut mit.« (Und meine Lissi liegt da draußen!) »Schöne langstielige Rosen, reizende Kinder Floras!« Und merkwürdig, seine Körbe wurden leer, schnell leer. Es ist noch nicht elf Uhr, da ist er seine Rosen los, und von den Mimosen sind auch nur ein paar Büsche da, und die bunten Anemonen, da greift jeder zu, da schlagen sie sich drum beinahe, und in seinen Taschen klappert's immer mehr von Groschen und kleinen Silberstücken. Besonders die Damen kaufen bei ihm. Wohl weil er doch so gut angezogen ist, weil er neu ist. Ein Mann geht vorbei, bleibt stehen. Es ist ein unauffälliger Mann. »Ham se een Gewerbeschein?« sagt er. (Ach, Baumüller, dieser Hund, dieser Baumüller!)
»Ach, Rosenemil«, sagte er noch mal. »Haben Sie denn einen Gewerbeschein?«
Hat er den? Dieser Hund, der Baumüller! Ja, richtig, er muß sogar noch gültig sein. Er geht bis nächsten April noch, von seiner Kolporteurzeit.
»Da is er«, sagt er und grabbelt in der Brieftasche.
»Schon gut, schon gut«, sagt Baumüller. Wie schleimig der Hund ist. »Schon gut, Rosenemil. Na, des freut mich, daß se dir wieder ham laufenlassen. Kannst dir auch bei mir bedanken«, sagt er, »ich hätte dich hops gehen lassen können. Aber ich lasse meine Freunde nich fallen ... Kommt denn bei det Jeschäft wat 'raus? – Se können doch eigentlich mehr verdienen, wenn Se mal zu mir auf 'n Alex kommen wollen, Rosenemil. Zimmer hundertvierundvierzig. Du hast Pech gehabt mit de Polenliese. Das war ein sehr liebes Mädchen doch. Un sehr schön un ein ordentlicher Mensch. Also Rosenemil, Sie kommen denn mal zwischen zwei und vier am besten.«
Die Pape drücke ich dir ein, du Hund, hier mit die Hände erwürg' ich dich, du falscher Fuffzijer, du!
»Nee«, sagte Rosenemil, »ich komm nicht. Achtgroschenjunge wer ich nicht. Soweit is Emil Lehmann noch lange nicht, Herr Kommissar! – Schöne langstielige Rosen, reizende Kinder Floras, nehmen Se een Sträußchen mit, Herr Jraf!«
Und dann sitzt Rosenemil auf 'ne Bank vorne an der Friedrichstraße Unter den Linden und zählt sein Geld; er hat dreißig Mark jetzt. Noch nie hat sich Geld bei ihm so vermehrt, dreißig Mark und achtzig Pfennige. Es ist kühl. Die Bäume sind ganz kahl. Hinten liegt klar gegen einen blau dunstigen Himmel das Brandenburger Tor. Und drüben reitet immer noch der Alte Fritz. Der rote Rathausturm steht unverändert im Licht wie vor einem halben Jahr. Die Omnibusse und die Menschen quellen aus dem Engpaß hervor, und hinten auf dem Viadukt der Stadtbahn rauchen die Lokomotiven in die Herbstluft Ringel, die sich langsam lösen.
Drüben sitzen, wie stets hier, Spitzmaus und Laubfrosch mit ihren Talentwindeln und ihren Packen von Bibliotheksbüchern, die sie ungelesen wieder zurückschleppen. Auch die armseligen Verrückten mit den Zeitungsbündeln und die Strichjungen, die Nutten und die zwei Kontrollmädchen fehlen nicht. Nur es kommt keine Dame mit einer himmelblauen Federboa, die zu einem mahagonifarbenen Herrn mit einem Panama in eine offene Equipage steigt. Es ist gerade nicht warm, aber die Sonne scheint doch, und man kann in der Sonne unter den kahlen Bäumen auf der Bank sitzen. Jetzt wird er erst mal in die Charité gehen, sich von den Karbolfritzen bekieken lassen. Und dann wird er zu Lissi 'raus nach der Luisenstraße gehen. Der Hals ist ihm ganz zugeschwollen von des ewige Schreien.
Er ist es nicht gewohnt. Und die Zehen tun ihm weh. Wirklich, er muß sich, wie er aufsteht, muß er sich auf den Silbergriff von seinem Stock stützen. Der Stock! Der von de Brillantenberta! Der von Lissi is weg ... Was hat seine Mutter doch immer gesungen? Wie war doch des? Ach ja:
Was Unter de Linden
Als Hoju kommt in'n Topp,
Das schmeißt man uff de Frankfurter Linden
Den Schlächter an'n Kopp,
Den Schlächter an'n Kopp,
Den Schlächter an'n Kopp ...
»Du«, sagt die eine der als Dienstmädchen maskierten Kontrollmädchen aus der Schwerinstraße zu der anderen und bohrt ihr dabei mit dem Ellbogen in die Seite, »du, der da weghumpelt, der da drüben ... des war der Rosenemil.«
»Ach – wo denn?«
Geschrieben in Laren,
Juli-Oktober 1933