Matteo war ein junger Mann, der, obwohl von niedriger Herkunft, und nicht mit besonderen Talenten ausgestattet, sich durch seine Dienstbeflissenheit und sein stilles, bescheidenes Wesen angenehm zu machen und Vertrauen zu erwecken wußte. Man trug ihm in Genua, wo er lebte, allerlei Verrichtungen auf, die er fleißig und treu besorgte; man lohnte ihm gut, und er war mit seiner beschränkten Lage so zufrieden, daß er sich in seinen Gebeten vom Himmel nichts erflehte, als es ewig zu behalten, wie er es hatte; er war einer der Glücklichen, die im Leben selbst die Aufgabe des Lebens sehen.
Matteo wurde krank, die bösartigsten Blattern befielen ihn und er mußte viel leiden. In seiner Krankheit erweiterte sich auf einmal der Kreis seiner Wünsche. »Wie schön wäre es, wenn jetzt ein liebendes Weib an deinem Lager säße, und deine Schmerzen zu lindern, deine Ungeduld zu beschwichtigen suchte!« So dachte er, als er blind daniederlag, und malte sich in seiner Einsamkeit dies reizende Bild mit Behagen aus. Dicht neben ihm wohnte eine bejahrte Witwe, mit ihrer einzigen Tochter Felicita, die gewöhnlich, wenn Matteo in aller Frühe seine Wohnung verließ, um seinen Geschäften nachzugehen, schon in ihrem Gärtchen stand und seinen freundlichen Gruß freundlich erwiderte. Er hatte das Mädchen immer seinen Morgenstern genannt und sich ihrer sanften, erquickenden Schönheit innig erfreut; niemals jedoch war ihm der Gedanke gekommen, sich um ihre Liebe zu bewerben, er hatte sich kaum gedrungen gefühlt, hin und wieder ein Wort mit ihr zu reden. Ein wunderbarer Traum, der ihm während seiner Krankheit kam, gestaltete im Augenblick dies alles anders. Ihm war, als hätte er etwas verloren, und wisse selbst nicht, was. Eine ungeheure Angst erfüllte seine Brust, Tränen stürzten aus seinen Augen und verzweifelnd eilte er durch die Gassen der Stadt. Plötzlich trat ihm Felicita entgegen und fragte ihn mit ihrer süßen Stimme; »Was suchst du, Matteo?« »Dich, dich, Felicita!« rief er jauchzend aus. »So komm!« sagte sie und sah ihn lächelnd an. Er wollte sie entzückt an seine Brust ziehen, sie aber rief: »Folge mir nach!« und schwang sich, wie auf Flügeln zum Himmel empor. »Ach, ich habe ja keine Flügel!« sagte er. »Sehne dich nur recht nach mir, dann wirst du sie bekommen!« tröstete sie ihn und verschwand in den goldenen Wolken. Diesen Traum träumte Matteo auch noch im Wachen fort, er nahm sich vor, ihn gleich nach seiner Genesung Felicita zu erzählen und ihr dabei recht tief in die Augen zu sehen. Endlich war er so weit hergestellt, daß er sein Zimmer wieder verlassen konnte, er händigte der Alten, die ihn in seiner Krankheit notdürftig verpflegt hatte, freudig den Rest seiner kleinen Barschaft ein, und trat, sich in seinem Gefühl viel reicher dünkend, wie noch je zuvor, seit langer Zeit zum erstenmal aus seiner Tür. Es traf sich, daß auch Felicita, zu deren Wohnung er sogleich hinübersah, in demselben Augenblick in ihr Gärtchen eintrat. Sie war köstlicher geschmückt, als er sie zu irgendeiner Zeit, die höchsten Festtage nicht ausgenommen, erblickt hatte, ein reiches seidenes Kleid umflog ihre edle Gestalt und ein goldenes Kreuz, mit roten Edelsteinen besetzt, glänzte an ihrem Halse. Das seltsame Zusammentreffen und die ungewohnte Pracht, die das Mädchen umgab, machte auf Matteo einen unbeschreiblichen Eindruck; sie erschien ihm als ein überaus herrliches Kleinod, das die über ihm waltende göttliche Macht ihm zum Lohn für die bestandene harte Prüfung bestimmt habe, er faltete unwillkürlich die Hände, und lehnte sich, vor Wonne und Wehmut zitternd, und den Gruß vergessend, an einen Baum. »Armer Matteo!« – rief ihm Felicita schon aus der Ferne zu – »aber, heiliger Gott, wie häßlich bist du geworden!« schrie sie laut auf, als sie näher gekommen war und ihm ins Gesicht sah. »So?« versetzte er dumpf, von diesem Ausruf des Mädchens wie von einem tödlichen Pfeil in seinem Innersten getroffen. »Verzeih meiner Überraschung dies törichte Wort« – begann sie nach einer Pause verlegen – »ich sagte es gewiß nicht, um deines Unglücks zu spotten!« »Ich danke dir vielmehr« – erwiderte er bitter – »daß du bei mir die Stelle eines Spiegels vertreten magst, es fehlt mir wirklich an einem!« »Du zürnst mir, Matteo, aber du mußt mir verzeihen, du mußt es um so eher tun, da ich eine Braut bin. Du willst mir doch gewiß nicht die schönsten Tage meines Lebens verbittern?« Matteo starrte sie an, sie ergriff seine Hand und fuhr fort: »Sieh, morgen feire ich meine Hochzeit; zum Zeichen, daß du mir nicht mehr böse bist, kommst du auch, meine Mutter wird dich gern sehen.« Matteo sagte kein Wort, er wandte sich um, und kehrte langsam in sein Haus zurück. Er fing an, bitterlich zu weinen, und als sein Blick von ungefähr auf das über seinem Bett hängende Kruzifix fiel, wandte er im ersten Moment dem dornengekrönten Heiland in seiner Entrüstung den Rücken zu, denn er hatte eine Empfindung, als ob der höchste Gott seine Allmacht schnöde gemißbraucht und nur, um ihn zu höhnen und zu verspotten, sein Herz so seltsam verwandelt habe. Doch gleich darauf war ihm, als hätte er durch diesen Gedanken heillos an der ewigen Liebe gefrevelt, und in tiefer Zerknirschung warf er sich vor dem Bilde auf die Knie und schluchzte: »Strafe mich, wie du willst und mußt, ich empörte mich gegen dich und hab's verdient!« Dann erhob er sich, wunderbar gekräftigt, vom Boden und reinigte mit frommer Sorgfalt das Kruzifix vom Spinngeweb. »Gott sei Dank« – rief er aus – »daß ich arm bin, zum Verzweifeln bleibt mir keine Zeit!« Zwar traten ihm hiebei die hellen Tränen wieder in die Augen, aber er verließ, den Schmerz mit Gewalt in seine Brust zurückpressend, sein Zimmer, um sich in den ihm bekannten Häusern der Stadt zu zeigen und sich Beschäftigung irgendeiner Art zu erbitten.
»Wer bist du?« hörte er sich in dem ersten Hause, das er betrat, von der Dame anreden. »Ich bin Matteo!« versetzte er erstaunt. »Matteo? Das ist unmöglich. Matteo war ja ein hübscher, frischer Bursch mit einem Gesicht, das man recht gern sah, du aber siehst aus wie ein Geschundener!« »Ich war krank!« sagte Matteo leise.»Das mag eine eigene Krankheit gewesen sein! Mensch, laß dich hier nicht wieder blicken, es wird einem übel zumute, wenn man dich ansieht!« Die Dame wandte sich mit einer Gebärde des Abscheus von ihm ab, Matteo blieb besinnungslos stehen und schaute ihr nach. Als er sich endlich wieder ermannte und das Haus verlassen wollte, bemerkte er einen Spiegel und trat vor diesen hin. »Ha, das bin ich?« rief er erschrocken aus, als der Spiegel ihm statt seiner früheren Züge ein häßliches Geflecht von Narben und Pusteln zeigte. Und während er noch einmal hineinschaute, spuckte er das ihm in dem klaren Rund hämisch deutlich entgegentretende Bild in kaltem Ingrimm an und sprach: »Wer so aussieht, der muß sich selbst verachten!« Nun blieb er lange, lange vor dem Spiegel stehen, als wollte er durch den Anblick seiner selbst seine Seele versteinern. Dann rief er mit einem Blick gen Himmel: »Den Dank für meine Genesung nehme ich zurück!« und eilte fort. Er ging nach und nach in alle Häuser, wo er sich vor seiner Krankheit auf diese oder jene Weise nützlich zu machen gewußt hatte. Aber allenthalben sah er sich abgewiesen; hier, weil inzwischen ein anderer an seine Stelle getreten war, dort, weil seine Gestalt Widerwillen einflößte, an einem dritten Ort, weil es wirklich nichts für ihn zu tun gab, und zuletzt, weil er, durch die Not gezwungen, seine wenigen Kleidungsstücke zu verkaufen, gar zu abgerissen und bettelhaft erschien. Bald kündigte ihm auch seine Wirtin, weil er die Miete nicht mehr zu bezahlen vermochte, die Wohnung auf; er mußte sie verlassen und hatte nun nicht einmal ein Obdach mehr. Eine stumme Erbitterung, die sich anfangs nicht gegen die Welt, sondern gegen ihn selbst kehrte, bemächtigte sich seiner, Kränkungen und Demütigungen kamen ihm erwünscht und wurden ihm zum Bedürfnis, er war, wie einer, der sein Leben nur dann noch fühlt, wenn er zu all seinen alten Wunden noch eine neue erhält.
Als er eines Abends die Straßen durchwandelte, um sich nach einer Lagerstätte für die Nacht umzusehen, winkte ihm ein sehr vornehm gekleideter Herr. »Kennst du den Signor Barbarucci?« »Ich kenne ihn!« »Es dauert keine Stunde, so kommt er hier vorbei!« »Was soll das mir?« »Er darf morgen nicht mehr leben! Nimm!« Mit diesen Worten drückte er Matteo eine Börse in die Hand. Matteo warf sie ihm empört vor die Füße. »So hab' ich mich geirrt? Wie ist das möglich!« rief der Fremde überrascht aus mit einem spöttischen Blick auf Matteo; dann hob er sein Geld wieder auf und ging fort. Matteo war es, als habe in diesem Augenblick eine unsichtbare Hand den letzten Faden, der ihn noch an das Bessere knüpfte, grausam zerschnitten; »ich muß«, dachte er knirschend, »jetzt in meinem Gesicht den Widerstrahl der Hölle tragen, denn man tritt auf mich zu und mutet mir ohne Umstände das Ungeheuerste an, als ob es mein Handwerk wäre; soll man nichts anderes scheinen wollen, als man ist, so soll man auch nichts anderes sein wollen, als man scheint, das seh' ich ein und will's darnach verhalten!« – Der Signor Barbarucci kam die enge Gasse herunter. »Ha« – dachte Matteo – »nun endlich wird es mir klar, weshalb mein Vater, als er starb, mir doch lieber einen Dolch hinterließ, als gar nichts! Hätt' ich ihn doch bei mir! Als ich ihn zum letztenmal schliff, geschah es nur, weil er rostig geworden war. Aber es ist gut, daß ich es beizeiten tat!« Eine menschliche Regung beschlich ihn wieder. »Bevor ich zu morden anfange« – rief er aus – »will ich es mit dem Betteln versuchen, aber, dies schwör' ich, wenn ich schnöde abgewiesen werde, nur dies einzige Mal!« Er ging den Signor um ein Almosen an, nicht eben demütig. Dieser, der aus einer lustigen Gesellschaft kam und berauscht war, zog seine Börse und sprach, indem er Matteo eine schwere Münze reichte: »Nimm hin, ich hab's im Spiel gewonnen!« Matteo wollte schon ein: Lohn' es Gott! aussprechen und mitleidvoll eine Warnung hinzufügen, aber er verschluckte beides und ballte die Hand, denn der Signor, forttaumelnd, rief: »Ich wohne bei der Kirche Skt. Petri und Pauli, und sage dir das, damit du, wenn du dich einmal erhängen willst, mich zu finden weißt, ich will dann den Strick für dich bezahlen!« Matteo nahm die Münze und warf sie ihm an den Kopf. Der Signor, erschreckt, entfernte sich eilig, und Matteo, der die Münze im Mondlicht schimmern sah, beugte sich unwillkürlich, um sie wieder aufzuheben. Dann aber trat er sie mit dem Fuß in die Erde, halb aus heiligem Menschenstolz, halb aus Furcht, das Geld, wenn er es besäße, möge ihn morgen in seinem gefaßten Entschluß wankend machen.
Der nächste Abend kam. Matteo hatte den ganzen Tag geschlafen, um sich, um die Welt und Gott zu vergessen. Zuletzt weckte ihn der Hunger. Die anständigste, geräuschloseste Art des Selbstmordes, das stille Erhungern, das ein Gemißhandelter oft gern wählen würde, ist leider zugleich auch die schwerste, und wenigstens dies sollte anders sein. Matteo sprang auf, zog den auf seiner Brust verborgen gehaltenen Dolch, den er schon in der Frühe des Morgens bei seiner ehemaligen Wirtin abgeholt hatte, hervor und stieß ihn in einen Baum. Heller Saft entquoll der Rinde, zugleich fiel eine reife Frucht vom Wipfel herunter. »Baum« – rief Matteo – »du bist wie die Welt. Erst ein Stoß, dann eine Frucht!« Er bückte sich gierig nach der Frucht, aber er stolperte dabei über eine aus der Erde hervorragende Wurzel des Baumes, stürzte zu Boden und stach sich mit dem Dolch in die Hand. Strömend rann sein Blut, er betrachtete es ernsthaft und sprach dann: »Man wird nicht ohnmächtig, wenn man Blut fließen sieht!« Schnell, wie es in Italien geschieht, brach die Nacht herein, und Matteo trat seine Wanderung durch die Straßen an.
»Der Erste ist der Rechte!« rief er halblaut vor sich hin, als er Schritte hörte. Aber das Schicksal lachte zu seinem Schwur, denn zuerst begegnete ihm die Alte, die ihn in seiner Krankheit verpflegt und ihm auch nachher noch von ihrer Armut mitgeteilt hatte. »Wohin, Mutter?« fragte er sie, als er sie im Schein des eben aus den Wolken hervortretenden Mondes erkannte. »Zu Haus, um mich hungrig zu Bette zu legen« – versetzte sie – »und morgen wieder hungrig aufzustehen!« »Morgen zahl' ich dir, was ich dir schuldig bin!« sagte Matteo. »Wenn du kannst, mein Sohn, so tust du ein christlich Werk!« erwiderte die Alte und entfernte sich. »Bei Gott« – sprach Matteo – »die alte Frau soll morgen essen, wer weiß, ob sie übermorgen noch essen kann!« In eine hohle, schmale Gasse einbiegend, deren schwindelerregend-hohe Häuser das Mondlicht abhielten, bemerkte er ein hinter den übrigen in einem Winkel zurückliegendes Gebäude, wo sich ein Mensch mittels einer angelehnten Leiter auf die Terrasse schwang. »Der schleicht« – dachte Matteo – »wahrscheinlich zu dem Weibe eines anderen, aber für diesmal sei ihm der Spaß versalzen!« Sachte zog er die Leiter weg, legte sie nieder und klopfte unten, obwohl so leise, daß es geraume Zeit dauerte, bis man drinnen aufmerksam ward. Endlich wurde ein Schiebfenster geöffnet und die dünne zitternde Stimme eines Greises fragte, wer noch so spät störe. »Ich will Euch nur anzeigen, alter Herr« – versetzte Matteo – »daß soeben ein Besuch bei Euch eingetroffen ist; es mag ein Freund sein, der es mit Eurer jungen Frau, wenn Ihr vielleicht eine genommen habt, oder mit Eurer Tochter wohl meint, und es wäre Euch gewiß unangenehm, wenn der nächtliche Gast sich wieder entfernte, ohne daß Ihr ihn gebührend bewillkommt hättet!« »Treibt Eure abgeschmackten Possen anderwärts« – erwiderte der Alte verdrießlich – »meine Tür ist fest verschlossen, und durchs Schlüsselloch kommen nur die Gespenster!« »Die Liebe hat Flügel!« – sagte Matteo und hob die Leiter vom Boden auf – »sie fürchtet sich nicht, den Hals zu brechen und klettert, wie die Katzen, übers Dach.« »Mein Geld! mein Geld!« – schrie jetzt der Alte hell auf – »Pietro! Nicolo! Diebe! Diebe!« Es ward augenblicklich lebendig im Hause, angezündete Lichter, umhergetragen, erhellten Zimmer nach Zimmer. »Steht es so?« – dachte Matteo – »so lege ich die Leiter wieder an!« Wirklich tat er's, doch der gehetzte, fliehende Dieb, der sie nicht am alten Platz fand, sprang in seiner Angst von der hohen Terrasse auf die Straße herab, wobei ihm klingend ein Geldsack entfiel. Jammernd blieb er am Boden liegen, denn er hatte ein Bein gebrochen. »Jetzt« – sprach Matteo – »müßte ich den Dieb bestehlen, dann wäre der Wahnsinn vollkommen!« Vielleicht hätte er es getan, aber es war zu spät, schon stürzte der Alte samt seinen Dienern mit Windlichtern aus der Tür, und von einer anderen Seite näherte sich die durch das Geschrei und Geräusch herbeigezogene Scharwache. Der Alte hob zuerst den Geldsack auf, dann stieß er nach dem Dieb mit dem Fuß, zuletzt sagte er Matteo in einigen kahlen Worten seinen Dank, gab aber zugleich, Matteos zerrissenes Kleid mit Entsetzen bemerkend, dem Nicolo Befehl, aufs Haus zu passen, damit sich keiner einschleiche. Matteo ging weiter. »Der angehende Mörder« – rief er grimmig lachend – »liefert den Dieb an den Galgen!« Der unergründliche Widerspruch des Lebens packte ihn wie mit Krallen, die Welt kam ihm wie ein unsinniges Kaleidoskop vor, das in buntem Gemisch kluge und dumme Figuren ohne Zweck und ohne Regel darstellt, und die menschliche Vernunft, wie der Versuch eines Kindes, auf dem Sturmwind, der alles bewegt und durcheinanderschüttelt, zu reiten.
An einem übelberüchtigten Platz stand er still. Ein Mord schien ihm jetzt ein Nichts, ihm war, als müßte er sich mit einer schweren Tat, wie mit Ballast, beladen, damit seine Gedanken ihn nur nicht ins Grenzenlose, in die unendliche Leere, hineinwirbelten. Bald kam ein Mann daher, an der Hand seinen Knaben. Matteo nahm eine drohende Stellung an, doch der Mann trat vertrauensvoll auf ihn zu und sprach: »Guter Freund, es ist hier ein gar unheimlicher Ort, den jeder gern meidet, wenn er kann! Habt Ihr nichts Notwendiges zu versäumen, so tut mir den Gefallen, mich über die verrufene Strecke bis an mein Haus zu begleiten, ich will Euch den Weg bezahlen!« Diese unerwartete Anrede drang Matteo anfangs zum Herzen, doch bald dachte er: es ist die List der Furcht, die so spricht! und mit der Hand in den Busen nach dem Dolch fahrend, versetzte er wild: »Sehe ich aus, wie einer, dessen Schutz man in Anspruch nimmt?« »Was Euer Aussehen betrifft« – erwiderte der Mann ruhig und nahm seinen Knaben, der sich über Müdigkeit beklagte, auf den Arm – »so sagt es mir zu, das heißt, seit der Zeit, daß Ihr krank gewesen seid, denn von Leuten, die schöner sind, als Ihr, kommt, das fürcht' ich, mein ganzes Unglück. Ich kenne Euch wohl, Ihr heißt Matteo, einer meiner Freunde hat mir viel Gutes von Euch gesagt, und ich möchte Euch in meinen Dienst nehmen, doch muß ich erst wissen, wie Ihr meiner Frau gefallt.« »Ei, wie blank!« – rief der Knabe dazwischen und zeigte auf Matteos halbentblößten Dolch, den er, nun er von seinem Vater getragen ward, bemerken konnte – »gib mir das schöne Messer!« Alsbald griff er, sich zu Matteo hinüberbeugend, keck in dessen Busen hinein und faßte den Dolch, den er der Scheide hastig entriß und trotz der Vorstellung seines Vaters nicht wieder lassen wollte. Matteo fuhr mit seiner Hand nach der Stirn, er wußte nicht, war es der Stachel eines Schmerzes, war es der eines Gedankens, der ihm kalt durchs Gehirn drang. Daß der Mann, dem er den Tod von seiner Faust bestimmt hatte, jetzt ahnungslos, von ihm Hilfe und Beistand gegen die Angriffe anderer erwartend, an seiner Seite ging; daß der Mutwille der Unschuld ihm das Mordinstrument spielend raubte, weil den Kindesblick der falsche Glanz desselben bestach, und daß der Knabe mit dem Eisen, womit er seinen Vater hatte durchbohren wollen, vielleicht einen Apfel spießen oder den gestopften Kleibauch einer Puppe aufschlitzen würde, das schien ihm so wunderbar und dennoch so fratzenhaft dabei, daß es ihn über alles menschliche Bewußtsein hinausdrängte, daß ihm war, als ob er, mit dem Kopfe auf eine Nadelspitze gestellt und nun mit Windeseile von Morgen gen Abend und wieder von Abend gen Morgen im Kreis herumgedreht, mit seinem Auge alles auf einmal sehen, die Enden der Dinge zugleich auffassen und die Unvereinbarkeiten verknüpfen müsse, daß es ihm vorkam, als ob ein Mensch an und für sich eigentlich gar nichts sei und, wie ein Spiegel, immer nur für das gelten könne, was er eben abbilde. »Hier ist mein Haus« – sagte der Mann in sonderbarem Ton und setzte den Knaben nieder – »bleibt einmal mit dem Kinde stehen, ich will durch eine hintere Tür gehen und dann vorn aufmachen. Laßt aber niemand heraus, wenn einer wollte, kein Weib und noch weniger eine Mannsperson!« Matteo gehorchte; was ihn sonst verwundert hätte, schien ihm jetzt natürlich, nur das Gewöhnliche, die Rückkehr des entfesselten Stroms seltsamer Ereignisse und Zufälle in das alte Bett, würde ihn überrascht haben. Der Knabe zitterte vor Frost, er setzte sich auf einen Stein und schloß die Augen. Matteo beugte sich, ihn streichelnd, auf ihn herab, da wurde die Haustür leise aufgemacht, und ein Herr, sich dicht in einen prächtigen Mantel einwickelnd, schlich vorsichtig heraus. Matteo, der empfangenen Weisung eingedenk, vertrat ihm den Weg und suchte ihn mit Gewalt ins Haus zurückzudrängen. Der Unbekannte stieß einen Fluch aus, machte eine schnelle Bewegung und verwundete Matteo in den Arm. Matteo, seiner selbst nicht mehr mächtig, entriß dem eingeschlummerten Knaben den Dolch und jagte ihn mit der Wut eines Menschen, der sich in demselben Augenblick mörderisch angefallen sieht, wo er in sich selbst einen grimmigen Mordgedanken niedergekämpft hat, dem Unbekannten so gewaltsam ins Herz, daß er mit einem gebrochenen Laut gegen das Haus zurücktaumelte, und auf dem Flur, die Tür durch das mechanische Gewicht seines sich überschlagenden Körpers aufstoßend, leblos zu Boden sank. Jetzt erschien der Vater des Knaben, in der einen Hand eine qualmende Kerze tragend, mit der andern im höchsten Zorn an ihren langen, seidenen Locken sein Weib, eine bleiche, schöne Gestalt mit entblößtem Busen, nach sich ziehend. »War keiner hier? Keiner? Keiner?« – rief er aus – »gehen denn Gespenster im Hause um, daß die Treppen knarren und die Türen aufspringen? Aber ich denke, der Vogel ist gefangen!« In seiner Raserei zog er die junge Frau, die sich auch gar nicht sträubte, immer weiter vorwärts, bis sie zuletzt über den Ermordeten, den so wenig sie, als er, bemerkte, stolperte und niederstürzend zu Boden fiel. Mit Entsetzen raffte sie sich wieder auf, erst an ihrem befleckten weißen Kleide, das der Tote aus seiner noch sprudelnden Wunde mit Blut gefärbt hatte, erkannte der Mann, was geschehen war. Er leuchtete dem Leichnam ins Gesicht und erstarrte, dann rief er: »Gut, Matteo, gut, daß du mir die Arbeit abgenommen hast, den hätte ich nicht töten können, es ist mein Jugendfreund!« Unwillkürlich warf auch Matteo, der dastand, als ob er erwartete, daß ihn gleich ein Berg, heranwandelnd und über ihn zusammenbrechend, bedecken würde, auf den Getöteten einen Blick. Das entstellte Gesicht des Signor Barbarucci grinste ihm entgegen, und nun war ihm auf einmal, als ob das, was er getan habe, leicht zu tragen sei, um so mehr, als sein Arm ihn eben sehr zu schmerzen anfing. »Einen Arzt! Einen Arzt!« schrie die junge Frau und warf sich mit dem ungebundensten Jammer maßloser Liebe über den Leichnam hin. »O du Verruchter!« rief sie dann, wieder aufspringend, drang furienhaft wütend auf Matteo ein, riß ihm den Dolch weg und stach nach ihm. Ihr Mann schleuderte sie in eine Ecke, und Matteo sprach, indem er seinen blutenden Arm in die Höhe hob: »Ich wurde zuerst angegriffen und habe mich nur meines Lebens gewehrt.« »Deines Lebens, du Hund?« – kreischte sie – »errötest du nicht, daß du noch lebst, und daß der tot ist, der, wie ein Licht, über die Erde wandelte? Verflucht sei die Hand, die dir wieder Brot und Wein reichen wird!« »Du hast dich selbst verflucht« – sprach ihr Mann – »denn noch heut abend sollst du Matteo speisen und tränken, und sogleich sollst du ihm seinen Arm verbinden!« »Den Arm, der den Geliebten meiner Seele niederstieß?« schrie sie und schlug ein helles Gelächter auf. »Metze, Metze, das mir?« – rief der Mann erblassend – »deine letzte Stunde ist da!« Er stürzte auf sie los, sie kauerte sich nieder und hielt ihre Hände vor die Augen, der Knabe umklammerte, heranspringend und vor seine Mutter tretend, die Knie des Wütenden, aber er packte ihn und warf ihn weit von sich, so daß der kleine Kopf dröhnend gegen die harte Wand fuhr, und das Kind, ohne einen Laut von sich zu geben, liegen blieb. »Heiliger Gott!« – rief Matteo erschaudernd und ergriff die zur Erde gefallene und nur noch mühsam fortglimmende Kerze –»Ihr habt den Knaben getötet.« Der Mann, der die Frau inzwischen bei der Gurgel gepackt hatte, drehte langsam den Hals herum und sprach: »Das lügst du!« »Er atmet nicht mehr!« sagte Matteo, sich mit dem Kinde beschäftigend. Der Mann trat mit schwankenden Schritten heran, in einiger Entfernung von Matteo blieb er stehen und sprach halblaut: »Wer weiß denn, ob es mein Sohn ist!« »Er ist's, er ist's!« – kreischte die Frau – »ich schwört bei allen Heiligen im Himmel, die jetzt ihr Antlitz verhüllen, weil der eigene Vater ihn umgebracht hat!« »Dann fahr ihm nach und sage den Heiligen, daß du schuld an dem Greuel bist!« So rief er, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Jetzt rührte sich der Knabe und öffnete die Augen, als er aber seinen finster vor sich hinstarrenden Vater erblickte, schloß er sie wieder fest zu. »Gebt Euch zufrieden« – sprach Matteo – »er lebt!« Als die ängstlich aufhorchende Frau dieses Wort vernahm, rutschte sie auf ihren Knien herbei, nahm den Fuß ihres Mannes und setzte sich ihn stillschweigend auf den Nacken, in ihrem Innern zum erstenmal von einem Gedanken zerspalten, der sie, wie in blutrotem Licht, von fern die ungeheure Verwirrung erkennen ließ, die ein Weib, das die ehelichen Schranken leichtsinnig überspringt, in alle menschliche Verhältnisse hineinbringt. Der Mann ließ sie gewähren und sah nur auf den Knaben, der erst in sehr langer Zeit die Augen wieder aufschlug, und nun von Matteo in die Arme seines Vaters gelegt ward. »Ich preise diesen Abend« – sprach der Mann feierlich – »er hat den Argwohn, den ich gegen mein schlechtes Weib hegte, zwar schrecklich bestätigt, aber er hat mir doch zugleich auch die Überzeugung gegeben, daß der Knabe hier, den ich oft, wenn ich ihn küssen wollte, mit eiskaltem Schauder wieder niedersetzte, ohne es zu tun, wirklich der meine ist, denn der Wut dieser Nichtswürdigen, die mich aus Rache gern zum Kindesmörder gestempelt hätte, darf ich glauben, was ich nach dem, was geschah, ihren Beteuerungen nie geglaubt haben würde.« »O verzeih mir« – stöhnte die Frau – »und töte mich, wenn du mir nicht verzeihen kannst, erst deine Tat hat mich über die meinige belehrt, und ich hasse, obgleich er tot ist, meinen Verführer jetzt mehr, als ich ihn je geliebt habe.« Der Mann, sie scharf betrachtend, versetzte: »Ist das wahr?« »Ich schwöre!« erwiderte sie und hob die Hände gen Himmel. »Dann beweise es dadurch« – sagte er kalt – »daß du die Leiche, die hier nicht liegen bleiben kann, auf deinen Schultern die Straße hinunterträgst, bis auf den wüsten Platz, wo schon so mancher Mord vorfiel.« Statt aller Antwort ging sie zitternd, aber entschlossen auf den Toten zu und versuchte, ihn aufzuheben. »Laß ab, es ist genug« – sprach der Mann sanft – »ich will es selbst tun, aber du verbindest mittlerweile Matteo den Arm, denn er bleibt, statt des glatten, geschmeidigen Burschen, den ich gestern gehen ließ, als Diener bei uns!« Der Mann schaffte nun den Leichnam fort, was ihm, da die Gasse, wo er wohnte, einsam und verrufen war, trotz des hellen Mondscheins gelang, ohne daß er gestört oder auch nur bemerkt wurde; die Frau verband Matteos Wunde und trug ihm ein gutes Nachtessen auf, und Matteo dachte bei sich selbst, daß, wenn er sich in einem so guten Hause, wo ihm aus allen Ecken die Wohlhäbigkeit entgegenlachte, so plötzlich untergebracht sähe, er dies einzig und allein seiner Häßlichkeit verdanke, und söhnte sich mit der ewigen Macht, die den Reif, innerhalb dessen ein menschliches Dasein sich bewegt, wohl zuweilen zerbricht, aber ihn doch auch zur rechten Zeit wieder zusammenfügt, in seinem Herzen einigermaßen wieder aus.