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Eine Dorfgeschichte
Es war ein Wochentag und mitten in der Weizenernte. Aber da es die Tage zuvor geregnet hatte, so war an ein Einbringen des nassen Getreides nicht zu denken. In der Nacht hatte der Himmel sich des Regens begeben und seit den frühesten Morgenstunden rührten Männer, Frauen und Kinder sich auf den Feldern und bückten sich in langen Reihen, um die durchweichten Schwaden auszubreiten und in die halbverfaulten Weizen- und Gerstengarben Licht und Luft hineinzulassen. Die meiste Mühe kostete es, die Hocken, deren jedes aus fünfzehn oder zwanzig Garben bestand, Satz für Satz umzuwerfen, die Bänder der einzelnen Garben aufzulösen und den verregneten Weizen auf den feuchten Stoppeln frischgeschüttet hinzubetten. Da floß mancher Schweißtropfen über die braungebrannten Gesichter, die Schnapsflasche kreiste fleißig in der Runde und mancher Kernfluch fuhr auf zum grauverhangenen Morgenhimmel. Denn die Arbeit war um so verdrießlicher, als mit Trockenwerden die Garben von neuem gebunden und in Hocken aneinander gestellt werden mußten.
Darüber war der Tag lichter und lichter heraufgestiegen und als die Leute um neun Uhr, bald nach dem Frühstück, das Getane überschauten und aufatmend ihre Harken auf die Schulter nahmen, da blinzelte durch die schweren grauen Wolkenschleier lustig der erste Strahl der langentbehrten Sonne. Nun war es an ihr, zu tun, was ihres Amtes, und die klatschnasse Mahd, die in dünner Schicht auf den hohen Stoppeln hingestreut lag, mit sengendem Atem zu durchglühen. Bis abends oder morgen vormittags würde es dauern, ehe alles wieder resch und trocken zum Binden war. So lange mußte die Erntearbeit ruhen und anderes gab es wenig um diese Zeit zu tun. Ein langer müheloser Sommertag stand in Aussicht.
Ein heißer Wind strich über die gelben Felder der Niederung und flüsterte im Schilf der trägen Gräben und Wasserläufe, die weit und breit das ebene Land durchkreuzten. In scharfgeschnittener Silhouette gegen den hellen Untergrund der Felder und den blaugewölbten Himmel darüber bewegten sich die langen dunklen Linien heimkehrender Arbeiter längs den holperigen Feldrainen dem fernen Dorfe zu. Lange schwieg die Unterhaltung. Denn auf den schmalen Fußsteigen, die zwischen Disteln und wildem Klee sich hart am Rande der breiten Gräben hinwanden, mußte man sorglich des Weges und seiner Schritte achten, wollte man nicht unversehens an der steilen Böschung abrutschen und ins Wasser purzeln. Als aber der breite weidengesäumte Triftweg erreicht war, der aus den Feldern her gradwegs in das sonnenbeglänzte Dorf führte, da lösten sich die ungelenken Zungen und ein sattsames Geschwätz belebte die verarbeiteten Gesichter.
Die Sonne brannte schwül wie zur Mittagszeit, der Himmel erschien dunstigblau, gegen Norden hin, dort wo einige Stunden entfernt hinter der unabsehbaren Niederung das Meer liegen mußte, sank eine schwere Wolkenwand langsam gegen den Horizont.
Aber es sei kein Verlaß auf die Witterung, das war die allgemeine Ansicht. Zu viel Feuchtigkeit lag in der Luft. Man spürte ordentlich, wie es sich einem schwül auf die Brust legte und den Atem benahm. Wenn die Sonne so weiter brannte, mußte sie allen Regen, der in den letzten Tagen gefallen war, aus dem Boden wieder aufsaugen und dann könnte es ein schönes Gewitter absetzen. Um Mittag würde es sich entscheiden.
Wenn nur der Wind sich gehörig aufmachen wollte. Aber gerade der ließ immer mehr nach und gegen das Dorf hin, als man in den schützenden Bereich der Scheunen und Ställe gelangte, hörte er überhaupt auf.
Schlimme Aussichten für all den Weizen, der geschnitten oder gehauen auf den Feldern lag. Es könnte noch viel Arbeit mit dem Einernten geben. Am besten, wer gewartet und während der Regenzeit den Weizen auf dem Halm gelassen hatte. Aber das waren die wenigsten Besitzer im Dorf. Die übrigen konnten sich darauf gefaßt machen, daß ihnen die Ernte auf dem Felde verfaulte.
Eine kleine Pause trat ein, in der ein jeder sich dem Behagen der eigenen Sicherheit hingab. Ihnen war es gleich, ob Regen oder Sonnenschein auf die Felder der Besitzer fiel. Sie standen als Knechte in festem Lohn und Deputat und mußten noch zu dem Ihrigen kommen, wann es Chausseesteine vom Himmel hagelte. Aber auch kein Scheffel über das Bedungene fiel für sie ab, wann der Weizen einmal doppelt so viel schüttete wie in anderen Sommern.
So stapften sie breitbeinig und bedachtsam dahin unter den grauen verschrumpften Weiden, Männer und Weiber, schwankend wie vollbeladene Frachtschiffe, knochig und untersetzt, mit gewölbten Schultern vom Tragen langer Lasten, Geschöpfe dieser schwarzen Erde, die an ihren schweren Stiefeln klebte, und doch losgerissen von dem fruchtbaren Grund, aus dem sie aufgewachsen waren, besitzlos und entwurzelt, Herren nur ihrer Knochen und Sehnen, dunklem Wandertrieb geneigt.
»Glock drei is die Trauung,« sagte die Schinowskische, eine große hagere Frau mit einem rotwollenen Tuch, das sie zum Schutz gegen die Sonne fest um den Hals geschlungen hatte, und stieß ihren Mann in die Seite.
Es schien, als habe das Wort insgeheim allen auf der Zunge gelegen und nun sei der Bann gelöst.
Richtig! Heute die silberne Hochzeit bei Mesecks, und um drei Uhr sollte die Einsegnung in der Dorfkirche stattfinden. Das mußte etwas ganz Apartes werden.
»Wie alt is sie nu eigentlich, die olle Mesecksche?« fragte der junge Däms, ein hübscher, strammer Bursch von dreiundzwanzig Jahren, den alten Bartel, der gebückt neben ihm ging. »Die is doch 'n Johr zwanzig öller aß du, Bartel?«
»Im fünfundneunzigsten is sie, jo, im fünfundneunzigsten,« antwortete der Alte und wechselte die Harke von der linken auf die rechte Schulter. »Johr dreißig bin ich jünger aß sie. Ich besinn' mir noch gut. Ich stand in die besten Johre, wie sie nochmals heiraten tat. Sie war donnmols allbereits an die siebzig, mit einem Fuß in die Grube, wie man zu sagen pflegt, aber sie hat 'n andern nich nachgezogen, na, alles was recht is, sie hat sich gut gehalten. Einer sieht ihr die Johre nich so leicht an. Die fahrt noch nich so schnell ab. Wer weiß, wie mancheiner noch eher an die Reihe kömmt!«
Er wischte sich mit dem behaarten Handrücken den Schweiß von der verwetterten Stirn und strich ein paar weiße Haarsträhnen zurecht, die unter dem Rande des abgegriffenen Strohhutes über sein ausgedörrtes Gesicht gefallen waren.
»Is die Möglichkeit!« meinte Däms und schüttelte den Kopf. »Im fünfundneunzigsten! Kartoffeln puhlt sie aus der Erde wie nischt. Mein heiliges Wort! Ich tat's nich glauben, wenn ich sie nich mit meine eignen Augen gesehen hoad, vorchte Woch', wie wir 's letzte Heu vom Hinterland eingefahren haben.«
»Und er is vergangene Jahr ganz grau geworden,« warf die Schinowskische ein. »Paßt opp, wenn sich die man nich noch 'n dritten nimmt! Die gibt nich nach, bis daß sie ihm unter die Erde gebracht häwt.«
»Die goldne Köst Köst = Hochzeit. hat sie mit 'm ersten gefeiert. Von Dog Von Dog = Heute. die silberne mit 'm zweiten. Nu nochmal opp de Frieg' Frieg = Freite. mit 'm dritten. Dann wird sie woll Ruh' geben.«
»Die hat 'n Bund mit 'm Bösen gemacht. Solang aß sie will, muß er ihr am Leben lassen.«
»Is das wohr, daß sie immer nach die Sternchens kuckt?«
So flogen die Reden durcheinander, und am meisten taten sich die Frauen hervor, so daß der betagten Silberbraut die Ohren hätten klingen müssen von all den Freundlichkeiten, die man ihr nachzusagen wußte.
Darüber war man ins Dorf gelangt und die Männer zerstreuten sich auf die Höfe, die einer hinter dem andern wohlhäbig an der Chaussee hingelagert waren, während die Frauen sich in die weiter abliegenden Katen zurückzogen, die jenseits des lehmigen Flüßchens die dunklere Partie des Dorfes ausmachten.
Es war zehn Uhr vormittags, also noch Zeit genug, das Mittagessen für die Männer herzurichten und aufs Feuer zu bringen. Nach dem Essen wollte man dann die Hochzeitswagen abwarten und hinterher an der Kirchentür das Silberpaar an sich vorbei zum Altar treten sehen.
Es war aber auch eine gar seltsame Ehe, die an der gleichen Stelle heute erneuert werden sollte, wo sie vor langen fünfundzwanzig Jahren einst eingesegnet worden war. Unter den älteren Leuten des Dorfes erinnerte sich noch mancher des Tages, an dem die siebzigjährige Frau Gerlach, ihres Zeichens wohlgegründete Besitzerswitwe, ihrem um fünfundvierzig Jahre jüngeren Inspektor Meseck am Altar der umgrünten Dorfkirche die Hand zum Bunde fürs Leben gereicht hatte. Ein ähnlicher Erntetag war es gewesen wie heute und gleichfalls ein nasser Sommer, wie man denn hier in der Nähe der See auf die nassen Sommer eingerichtet war.
Frau Gerlach, die jetzt Frau Meseck hieß, hatte vor diesem über ein Jahr um ihren ersten Seligen zu trauern gehabt, mit dem sie in langer, aber kinderloser Ehe bis gegen das Alter des Propheten gediehen war. Ja, noch die goldene Hochzeit hatten die beiden miteinander gefeiert, wenige Tage, ehe das würdige dürre Männchen über Nacht die Augen für immer schloß. Man wußte nicht genau, ob vor Freude über das Unmaß von Glück, das ihm beschieden war, oder aus Schreck, daß es noch immer kein Ende nehmen wollte. Denn ob die Ehe der beiden Leute so glücklich gewesen war, wie man es von einem Jubelpaar verlangen konnte, darüber waren die Ansichten geteilt. Fehlte ihr doch der sichtbare Segen von oben, der leibliche Nachwuchs, und wer das Paar gekannt hatte, der konnte nicht im Zweifel darüber sein, daß es nicht an der Frau Gerlach gelegen hatte, wenn die Erben für das schöne Grundstück ausgeblieben waren. Noch in späteren Jahren war sie eine volle stattliche Erscheinung mit merkwürdig tiefen Augen und blauschwarzen Haaren, in denen nur wenige graue Fäden schimmerten. Man sah ihr an, daß sie in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen war und wohl viele Verehrer gehabt hatte. Um so größer war also die Verwunderung gewesen, als nach dem Tode des Vaters die begehrte Erbtochter vom Ausbau draußen die vermöglichsten Partien ausschlug und dem zweiten Lehrer im Dorfe Haus und Hof übertrug. Das war ein Bruch mit allem, was im Dorfe je erlebt worden, und das prophezeite Unheil blieb nicht aus.
Gerlach, ein schmächtiger blasser Mensch mit einer Brille über der Nase und aufgesträubten Haaren, hatte sich zwar nicht ohne Würde in das neue Amt hineingefunden, und der Verfall der Wirtschaft, den man unter einem Schullehrer sicher erwarten mußte, war zur allgemeinen Überraschung nicht eingetreten. Eines aber hatte sich das Paar, das so vom Wege sicherer Überlieferung abgewichen war, doch nicht, vom Himmel erzwingen können: die Kinder.
Das war die Strafe, wenn ein Bauernfräulein aus altem Schlag und Erbtochter dazu sich einen schwindsüchtigen Fibelfuchser zum Manne nahm. Waren nicht genug andere da, die mit Freuden seine Stelle eingenommen hätten? Wie war die Frau nur auf den verschrobenen Einfall gekommen? Sie hatte nur einen gebildeten Mann haben wollen, so hieß es, darum war ihr Auge über all die stiernackigen Dorfjunker weg, die ihr Lesebuch längst wieder ausgeschwitzt hatten, auf den einzigen erreichbaren Vertreter von Bildung und Sitte gefallen. Dies war der zweite Lehrer, denn der erste war längst versorgt und glücklicher Vater von acht Töchtern.
So bekam sie denn ihren Willen, und es wurde wieder einmal klar, wie weit man mit der berühmten Bildung gelangte. Zu Kindern jedenfalls nicht.
Im übrigen hatte man im Dorf die beiden Leute ihr Schicksal tragen lassen, so gut oder so schlecht es eben gehen wollte. Das taten sie denn auch und kümmerten sich so wenig um die Nachbarn, wie diese um sie. Soweit man hier von Nachbarn überhaupt reden konnte.
Das Gerlachsche Gehöft lag nämlich wohl eine Stunde vom Dorfe entfernt einsam mitten im Felde, dem Hinterlande, wie diese abgelegene Gegend im Volksmunde hieß. Es war ein sogenannter Ausbau – und außer durch Kirche und Schulzenamt bestand wenig Gemeinschaft zwischen Dorf und Ausbau. Dieser führte ein Dasein für sich, von dem nur selten ein Lebenszeichen in die dörfliche Außenwelt drang. Wohnhaus, Scheune und Stallgebäude standen nach Landesart im Rechteck zueinander, ein hoher, dichter Weidenhag umschloß das Ganze, so daß nur auf der Vorderseite eine Einfahrt offen blieb und gerade noch der rote Dachgiebel über die Weidenwipfel hinausragte. Ringsherum aber auf den Äckern und sumpfigen Wiesen breitete sich tiefstille Einsamkeit, nur selten unterbrochen durch den Ruf eines Kiebitzes oder das Gelärm der Rohrdommeln, die in den nahen Moorlachen ihr Wesen trieben.
Ja, man mochte auf eigene Gedanken kommen in dieser weltfernen Abgeschiedenheit. Die Frau, die statt eines strammen Besitzerssohnes einen armen, spindeldürren Schullehrer hier hineingesetzt, hatte wohl nicht umsonst ihre Jugendzeit in solcher Umgebung verlebt. Sie hatten ja alle ihren kleinen Sparren weg, die da draußen auf dem Ausbau, es mußte wohl in der Luft und dem Alleinsein liegen. Warum sollte die letzte Erbtochter schließlich eine Ausnahme machen? Mochte sie ihren Todeskandidaten behalten.
Und sie behielt ihn lange genug. Für einen Schwindsüchtigen, dem das Dorf kein Jahr mehr gegeben, hatte sich der gute Gerlach erträglich konserviert. An seinem goldenen Hochzeitstage erwies sich die Wahrheit des alten Wortes von dem Manne, der zuletzt lacht. Jetzt konnte er lachen, denn den allermeisten, die damals schadenfroh sein nahes Ende angesagt hatten, war längst das Lachen und alles andere dazu vergangen.
Man kam zu Jahren draußen auf dem Ausbau, das hatte von jeher im Dorfe gegolten und nun bestätigte es sich wieder einmal, wenn man die Zähigkeit sah, womit der alte Herr trotz seines mumienhaften Äußeren und seiner eingeschnurrten Lunge den einmal erworbenen Posten behauptete.
Freilich gegen seine Frau kam er nicht auf. Denn als man ihn nach brav erfülltem Lebenswerk vierlang ins Dorf zurückkutschierte, vorüber an demselben Schulhaus, aus dem er einst im schmalen Röckchen zum Brautgang angetreten war, da ließ es sich seine Witwe nicht nehmen, schon eine Weile vor dem Dorfe vom Wagen zu steigen und festen Schrittes, ungestützt, hinter dem Sarge einherzugehen. Und auf dem Kirchhofe, wo man ihn hart neben der Kirche im Erbbegräbnis einbettete, da schüttete sie ihm die letzte Handvoll Erde ins Grab nach, ohne mit der Hand zu zittern oder mit der Miene zu zucken. Und keinen Ton sprach sie, vergoß auch keine Träne und nichts in ihrem Gesicht verriet, was eigentlich innen vorging, sondern wandte sich aufrechten Kopfes von der Gruft weg, ungebeugt vom Schmerz wie von der Last der Jahre. Denn hoch in den Sechzig mußte sie sein, nur wenig jünger als der, den nun die wohlverdiente Erde deckte, aber sie sah aus, als habe sie kaum die Fünfzig hinter sich und stände noch in den besten Jahren mit ihrem noch immer schwarzen Haar und der mittelgroßen, ungebrochenen Gestalt.
So schien sie eine von den langsamen Naturen, die selten und kostbar wie alter Wein mit den Jahren an Kraft und Feingehalt zunehmen und denen man Zeit lassen muß, zu reifen, damit sie dann weit über Menschenmaß dauern. Für solche Wesen entfaltet sich das Leben erst voll im Alter, und zu einer Zeit, wo anderen schon müde der Kopf auf die Brust sinkt, überraschen sie durch Jugendtaten. Im Dorfe sahen das freilich die meisten anders an. Die Aufgeklärten sprachen von Herzenskälte und Gemütsroheit, im Volke aber munkelte man von Hexerei und allerlei bösen Künsten.
Und dann geschah, was allem die Krone aufsetzte. Frau Gerlach heiratete zum zweiten Male. Ein solcher Fall bei einer neunundsechzigjährigen Witwe war weit und breit noch nicht erlebt worden. Und ein Mann von kaum fünfundzwanzig war der glückliche Bräutigam.
Meseck war bald nach dem Tode des ersten Mannes als Inspektor auf den Hof gekommen. Darin war nichts Auffälliges, und niemand ahnte, daß es schließlich mit einer Heirat enden würde. Der junge Inspektor stammte aus einem der Nachbardörfer von der sogenannten Höhe. Dies war ein hügeliger Landrücken, der sich von weither aus dem Innern des Landes bis gegen die See hinzog und als einzige Erhebung den Blick aus der sonst unbegrenzten Ebene nach Westen abschloß. Hinter jenen blauen Hügelketten ging jeden Abend die Sonne unter, und wenn das ermüdete Auge in all der grenzenlosen Weite einen Ruhepunkt suchte, so richtete es sich gegen Abend und weilte auf den dunstigen Höhenkämmen, die von dunkeln Fichtenwäldern gekrönt je nach der Luftstimmung näher heranzurücken oder ferner zurückzutreten schienen.
Aus einem der deutschen Dörfer am Abhänge jener Höhen, denn weiter ins Land hinein, jenseits der blauen Wälder, herrschten schon polnische Sprache und Art, war der junge Meseck gebürtig. Man sagte dem Schlag, der von dort kam, nach, daß er bieder und zuverlässig sei. Auch galten sie für tüchtige Landwirte, die es wohl mit den weit und breit berühmten Bauern der Niederung aufnahmen. Doch gab es dort meist kleinere Besitzungen, die sich nach altem Brauch vom Vater auf den ältesten Sohn vererbten, indes die jüngeren Söhne, mit einer geringen Abfindung in der Tasche, auswärts als Verwalter oder Inspektoren ihr Glück versuchten und wohl auch manchmal in ein warmes, weich gebettetes Nest hineinheirateten.
So einer von den Nachgeborenen und Enterbten war auch der jugendliche Inspektor, den die Witwe des Herrn Gerlach, kurz entschlossen, sozusagen eigenhändig sich aus dem väterlichen Gehöfte weggeholt hatte. Er war ein großer, strammer, etwas vierschrötiger Junge, mit Pferden und Schweinen aufgewachsen, unter den Knechten wie zu Hause, zugreifend und ohne Zimperlichkeit, jeder Arbeit kundig, die im Wechsel des Jahres auf einem Hofe vorkommen konnte, ebenso gewandt in der Stellmacherwerkstatt wie beim Vieh und auf dem Felde, für den Posten eines Wirtschafters geboren.
Und er wirtschaftete mit Leidenschaft. Unter den wenigen Gedanken, die ihn beherrschten, war dies der mächtigste, er möchte nur immerfort wirtschaften und wirtschaften dürfen, disponieren und anordnen und, was das liebste, selbst mit Hand anlegen, wenn Not am Mann war. Aber hier stocherte, seit er denken konnte, der dumpfe Schmerz in ihm, daß er einmal fort müsse von der elterlichen Scholle, wenn er groß sein würde und der Vater tot. Denn es waren ihrer sieben Geschwister, darunter der sechste er selbst, und der Raum war zu knapp für sie alle, das begriff er wohl.
Da war eines Tages, gerade um die Zeit, da er konfirmiert werden sollte, mit den ersten Härchen auf seiner Oberlippe der Gedanke in ihm aufgekeimt, er brauchte ja nur, wie schon mancher andere, von dem er gehört hatte, eine reiche Partie zu machen, um die Ungerechtigkeit seines Loses wieder auszugleichen. Der Einfall eines Augenblickes, da ihm sein Schicksal gerade besonders hart erschienen war, hatte sich mit den Jahren festgewurzelt und wuchs dicht neben dem anderen, daß der Zeitpunkt des Abschiedes von den elterlichen Fleischtöpfen näher und näher heranrücke. Allzuviel Zeit zum Nachdenken war ihm ja überhaupt nicht gelassen, dafür sorgte schon der Vater, der ihn wie den übrigen Hausstand in frostiger Morgenfrühe aus dem Bette jagte und ihn den ganzen Tag vom Hof ins Feld und vom Felde wieder auf den Hof hetzte, bis der ungeschlachte Bengel abends um neun schwer wie ein Sack umfiel und die ganze Nacht traumlos durchschlief.
Da war also wenig Raum für Grübeleien, aber wenn einmal am Sonntagnachmittag eine ungewisse Angst vor der Zukunft ihn beschleichen wollte, so griff er nach dem Zauberkräutlein, dazu brauchte er sich kaum zu bücken, so bequem stand es zu Händen, und die bösen Bilder waren weggebannt, dafür mit einem Schlage eine weite Fernsicht aufgetan über Wiesen, frisch gestürzte: Brache und Zuckerrübenäcker bis zu einem langgestreckten schloßartigen Bau in einer Waldlichtung, gerade noch so weit erkennbar, daß man die hohe Auffahrtsrampe vor dem Portal unterschied und die lange Front winziger Fensterkarrees in der Abendsonne brennen sah. Und hier hauste als allgebietender Gutsherr er selbst und ritt von morgens bis abends die Felder ab, kommandierte und kujonierte, faßte auch selbst mit an, wo etwas verfehlt war, und ließ sich von niemandem in die Wirtschaft dreinreden, denn er hatte von der Pike auf gedient und verstand alles am besten. In den Forsten aber, die sich hinter dem Schloß noch eine Stunde weit hinzogen, hielt er manchmal eine kleine Treibjagd ab, doch nur im Spätherbst, wenn alles zugepflügt und für den Winter bestellt war. Denn Arbeit geht vor Erholung und unter Extravergnügungen darf die Wirtschaft nicht leiden.
Und wie seltsam hatte sich nun alles gefügt und stimmte doch gar nicht so recht zu den Bildern, die an Sonntagnachmittagen der heranwachsende Kleinbauernjunge sich von der Zukunft entworfen hatte. Er war selbständiger Besitzer geworden, ja, darin hatte ihn seine Ahnung nicht betrogen, und wenn auch das Rittergut zu einem mäßig großen Bauerngrundstück zusammengeschrumpft war und statt eines Schlosses mit einer Auffahrt nur ein einfacher, aber wohnlicher Ziegelbau mit einem Holzbeischlag inmitten der verschattenden Weidenmauer stand, so war es doch der eigene Grund und Boden, den der frischgebackene Besitzer und Ehemann mit seinen schweren Stiefeln trat, indes seine älteren Brüder sich mühselig in der Welt herumschlugen oder der heimatlichen Erdscholle den kargen Verdienst abrangen.
Ja, soweit hatte es seine Richtigkeit. Aber dafür fehlte es im Übrigen. Ein Punkt war da vor allem. Der hatte in seinen Plänen eigentlich nur eine nebensächliche Rolle gespielt, und wenn der junge, groß und breit aufgestämmte Mensch einmal daran gedacht, so hatte er seine rötlichen Schnurrbartstoppeln rechts und links gezupft und vergnügt mit den kleinen Augen gezwinkert. Die würde nicht ausbleiben. Damit hatte er das Mädchen oder die Frau gemeint, die ihm mit ihrer Hand zu dem ersehnten Gute verhelfen sollte. Denn ohne solch ein weibliches Anhängsel ging es nun einmal nicht ab. Wer den goldenen Wagen und das silberne Geschirr wollte, mußte auch das Pferd mit in Kauf nehmen, das darin eingespannt war. Kutschieren wollte er dann schon selber und nach Herzenslust.
Wie aber das Rößlein aussehen würde, das ihm all die schönen Sachen, wonach sein Herz trachtete, eines Morgens vor die Tür bringen sollte, darüber hatte er sich nie besonders den harten Schädel zerbrochen, konnte es sich aber nicht anders vorstellen, als jung und schmuck. Liefen doch genug solche verliebten Erbtöchterchen herum, die mit sehnlichen Augen nach einem stattlichen Mann und tüchtigen Landwirt ausspähten. So eine bekam er gewiß auch, brauchte sich also über diesen Punkt keine Extrasorgen zu machen.
Als daher Frau Gerlach ihn auf ihren Hof mietete, kam ihm mit keiner Silbe ein, es möchte etwa schon hier und so bald seinen Schritten ein Ziel gesetzt sein, sondern nahm die Stelle als ein passendes Sprungbrett für einen tüchtigen Satz mitten in die Welt hinein. Aber sein Schicksal hatte es anders gewollt. Eine Faust hatte sich aus dem Dunkel nach ihm ausgestreckt und ihn in den fremden Grund eingerammt, und eine Stimme hatte über seinem Kopfe geschrien: Nicht von der Stelle! Was du gewollt hast, soll dir werden und noch etwas darüber, was du nicht wolltest und dir nicht träumtest. Angewurzelt sollst du stehen in dieser Erde, und einst soll sie dich decken, wenn du sie genug durchwühlt hast. Keinen Schritt weiter!
Er aber hatte die Stimme zu seinen Häupten nicht gehört, denn er war dumpfen Sinnes und wie betäubt, und als er aufwachte, hing eine Frau an seinem Arm, die konnte reichlich seine Großmutter sein.
Das hatte sich aber folgendermaßen zugetragen.
An einem schönen Juniabend, da rings auf Wiese und Sumpf die Chöre der Frösche ihre unverstandenen Weisen der lauen, stillen Einsamkeit vertrauten, saß Frau Gerlach auf der Gartenbank zur Seite ihres Hauses und horchte dem Schlüsselklirren, das noch manchmal von Hof und Stall herüberklang und ihr verkündigte, daß ihr Inspektor auf dem letzten Rundgang durch die Wirtschaft begriffen sei. Es war bis spät gearbeitet worden, denn die Heuernte drängte und die schönen Tage waren kostbar. Nun lag alles tief im Schlaf, und der blasse Dämmerschein, der um diese Jahreszeit nie vom nächtlichen Horizonte wich, hatte sich vom Nordwesten, wo um neun die Sonne untergegangen war, schon weit nach Norden herumgezogen. Es mußte gegen Mitternacht sein.
Ein süßer Friede erfüllte die einsame alte Frau, wie sie so mit gefalteten Händen dasaß und zurückgelehnt vor sich hinsann. Glich nicht ihr eigenes Alter, das Gott der Herr in seiner Gnade ihr beschieden, dieser traumhaft stillen Abendstunde? Die Sonne mit ihrem warmen Glanz war längst hinunter, doch die Luft ging mild und ein letzter Schimmer wie vom Tag stand tief am Horizont. Hoch zu Häupten aber zogen die Sterne ihre ewige Bahn durch die dunkelblaue Nacht, aus dem Garten dufteten die Nelken genau so schmelzend süß, wie sie es vor fünfzig Jahren getan hatten, und freundlich grüßte sie der Schlüsselklang vom Hof, als wollte er sie trösten: Sei ruhig, meine Seele! Du bist nicht allein! Du stehst in guter Hut.
Vor ihren wachen Geist trat das Bild des jungen Inspektors, der in nimmermüdem Eifer noch Scheune und Stall mit der Laterne abschritt, und ein nie gekanntes Gefühl von Sicherheit und felsenfestem Vertrauen überkam die alte Frau, als streichle ihr ein lieber Sohn mit der Hand über das noch immer volle Haar. Wie er sich sorgte und abarbeitete in ihrem Dienst und ihr jeden ihrer Winke von den Augen ablas! Ihr eigenes Kind hätte es nicht besser gekonnt! Aber dieser Segen war ihr vom Himmel versagt geblieben. Nun mußte sie mit fremden Menschen hausen, und wenn der junge Mann im Wankelmut der Jugend sich eines Tages zum Gehen wandte, so konnte sie ihn nicht halten, mußte sich an ein neues unbekanntes Gesicht gewöhnen und so fort im Wechsel an immer andere, bis sie schließlich auf der Bahre liegen und das alte Grundstück an die Verwandtschaft fallen würde, die sie kaum gekannt und nie hatte leiden mögen.
»O Gott, warum hast du mir das bestimmt?!« schrie es in ihrem Innern zum Himmel auf.
»Ich bring' Ihnen die Schlüssel, Frau Gerlach! 's is alles in Ordnung.«
Es war die Stimme des Inspektors, die sie aus ihrem Sinnen schreckte. Da stand er vor ihr, der breite, massive Mensch, mit seiner mächtigen Figur, die dunkel umrissen, fast unheimlich, in die Nacht ragte. Einen Augenblick durchfuhr es die alte Frau, als sei plötzlich dicht neben ihr ein düsteres Verhängnis aus der Erde gestiegen und breite seinen Schatten über ihr Leben. Aber beim wohlvertrauten Klang der Worte faßte sie sich sogleich. Das war der Ton von Ehrerbietung und Ergebenheit, den der staatliche Mann vom ersten Augenblicke seines Hierseins gegen sie angeschlagen und der ihrer stolzen Seele so wohl tat. Mit all seiner Körperkraft beugte sich dieser Riese vor ihr, der alten, wenn auch noch lange nicht greisen und abgewirtschafteten Frau, und erkannte willig die Überlegenheit ihres jugendstarken Geistes. Glich er nicht einem großen, plumpen, bis auf den Tod getreuen Bernhardiner in seiner unbeholfenen Haltung und dem einfältig gutmütigen Ausdruck der Augen? Mit einem Gefühl von Rührung sah sie ihn da vor sich stehen, der den ganzen ausgeschlagenen Tag in Hof und Feld herumgetrabt war und nun die Aufträge für den folgenden Morgen in Empfang zu nehmen kam.
»Wollen Sie sich nicht hinsetzen, Meseck?« fragte sie mit einem ungewohnten Klang von Güte und lud ihn mit einer Handbewegung neben sich auf die Bank.
»Dank' schön, Frau Gerlach, ich steh' schon.«
»Aber nein, Sie müssen ja müde sein. Sie haben sich ja ehrlich abgeplagt heut! Ist denn das Heu bald drin?«
»Noch vier Fuder morgen. Bis Frühstück is alles über Seit'.«
»Nu setzen Sie sich aber doch!«
»Schön Dank, Frau Gerlach. Ich kann ganz gut stehen.«
»Aber weshalb denn bloß nicht?«
»Weil sich's nicht schicken tut. Weil Sie die Frau sind und ich man Inspektor.«
»Wenn Sie nu aber mal Herr werden, was machen Sie dann? Stehen Sie dann auch noch? Oder möchten Sie nicht Herr werden?«
Meseck starrte verständnislos auf die imponierende alte Frau. Er glaubte zu bemerken, daß sie leise lächle, aber er konnte in dem Halbdunkel der Nacht aus ihrem Gesicht nicht klug werden. Er war immer nur mit Ehrfurcht um sie herumgegangen, hatte nie einen Ton über das dienstliche Maß mit ihr zu sprechen gewagt. Nun wußte er nicht, wie er sich drehen und wenden sollte, da die ungewohnten Worte ihn trafen. Darum hielt er sich am liebsten still und schwieg.
»Na, Sie antworten ja gar nicht? Möchten Sie wohl mal Herr hier auf dem Hof werden? Oder haben Sie keine Lust?«
»Lust schon ...« lachte er blöde und hatte nun vollends den Faden verloren.
»Aber?«
»I, Sie machen ja man Spaß,« stieß er verlegen heraus und kratzte sich hinter den Ohren.
»Ich mach' gar nicht Spaß! 's ist mir ganz ernst damit! Ich hab' schon lang gedacht, ich will mich nochmal verheiraten, wenn ich nur einen Mann finde, der's gut und ehrlich mit mir meint und mit der Wirtschaft auch, 's geht ja nicht so. Ein Herr muß sein. Ich kann mich auch nicht um alles bekümmern. Und vor 'm Inspektor, wenn er noch so tüchtig ist, hat nu mal keiner den richtigen Respekt. Sehen Sie, Otto, Sie sind noch jung und ich bin beinahe schon 'ne alte Frau, aber wenn der liebe Gott mir die Gesundheit schenkt, und das hat er ja bis jetzt unberufen getan, ich will mich nicht besser machen, als ich bin, aber ich nehm's noch mit mancher Jungen auf. Nächste Woche ist es ein Jahr, daß Sie auf dem Hof sind. Ich hab' Sie die ganze Zeit im Aug' gehabt und ich kann sagen, Sie haben sich um die Wirtschaft angenommen, besser, als 's der eigne Herr gekonnt hätte. Ja, ja, Sie brauchen gar nicht mit dem Kopf zu schütteln. Ich kenne Sie besser, als Sie sich vielleicht selbst kennen, und da sag' ich mir, warum soll sich nicht auch mal alt und jung zusammenfinden, wenn jedes den guten Willen hat, es dem andern recht zu machen, und der liebe Gott gibt seinen Segen dazu. Und für Sie, Otto, ist es auch nicht das Schlechteste. Sie heiraten in ein schönes Grundstück 'rein, ohne Schulden und gut imstande, mit 'm Boden, wie Sie ihn bei sich auf der Höhe nicht mal im Traum zu sehen bekommen. Das ist doch für Sie die Hauptsache. Hab' ich recht? Was wollen Sie mehr? Also überlegen Sie sich's! Sie sagen ja gar nichts?«
Meseck sagte in der Tat nichts. Der Erdgrund tanzte unter seinen Füßen. Rings um ihn aber erstrahlte die Sommernacht in bengalischem Licht, wie es der Kriegerverein in der Kreisstadt zur Sedanfeier abzubrennen liebte, und darin sah er die fetten Wiesen und schwergründigen Äcker des Gerlachschen Grundstückes, die mächtigen Scheunen und ziegelgepflasterten Ställe, strotzendes Vieh und funkelnagelneues Inventar, an dem spitzen Giebel des Wohnhauses aber ein leuchtendes Transparent mit der Inschrift: Meseckscher Hof.
So war es denn geschehen. Er hatte mit einem blöden Ja in die Hand der Frau eingeschlagen, ohne eigentlich zu wissen, wie und warum. Aber geschehen war es und nie wieder zu ändern, es sei denn, daß seine Eheliebste über ein kurzes, wie kaum anders zu erwarten, zu ihrem ersten Seligen heimging und ihm, dem zweiten, das schöne Grundstück hinterließ. Dann, aber auch erst dann, keinen Augenblick früher, durfte er als unbeschränkter Herr auf diesem Grund und Boden schalten und nebenbei, wenn es nicht gar zu lange dauerte, noch an eine zweite jüngere Freischaft denken, bei der er nachgeholt hätte, was ihm das erstemal entgangen war.
Bis dahin konnte es nicht ewig dauern. Sie hatte es zum längsten getrieben. Die Jahre, die ihr noch übrig blieben, waren gezählt. Und dann ... Seltsamer Widerspruch! Seinem kurzen Verstande imponierte diese merkwürdige alte Frau, die Kopf und Rücken noch aufrecht trug, soviel der Jahre sich schon darauf gepackt hatten, und mit ihren scharfen Augen noch in die Sonne sah, ohne zu blinzeln. Das brachte kaum er selbst zustande, obwohl er an Stelle der Augen zwei schlitzartige Öffnungen im Gesichte hatte, die nur wenig Licht einließen und ihm das Sehen in die Sonne erleichterten. Sie aber, die Siebzigjährige, hatte große, manchmal noch brennende Augen von unbestimmter dunkler Farbe, die bis auf den Grund der Seele zu dringen schienen. Jedenfalls fürchtete er sich vor ihnen und hätte sich nicht getraut, ihnen etwas geheim zu halten. Denn sie brauchte ihn nur damit anzusehen, so erriet sie, was er dachte, und konnte ihm sagen, was er selbst noch kaum wußte.
So war es gewesen, als er eben erst hergekommen, und so blieb es auch, nachdem er längst verheiratet war. Er war der Abhängige, der Angestellte, der Mittler zwischen Herr und Knecht, der die Befehle von oben empfing und sie nach unten weitergab, um über ihre Ausführung wieder nach oben Rechenschaft abzulegen. Ein Verwalter fremden Gutes, weiter nichts. Ein Inspektor nach wie vor, nur mit dem Unterschiede, daß er früher als freier Herr sein Bündel hatte schnüren dürfen, wenn es ihm nicht mehr paßte, und anderswo sein Glück versuchen. Jetzt aber hieß es hübsch dableiben, abwarten und standhalten, sonst ging die ganze schöne Rechnung in die Brüche, und es wäre besser gewesen, sich gar nicht erst auf die Lauer zu geben, als jetzt, wo das Ziel vielleicht schon in Schußweite lag, die Flinte voreilig ins Korn zu werfen. Einmal mußte es ja ein Ende nehmen, und selbst, wenn es noch einige Jahre dauerte, so war er ja noch jung und konnte sich entschädigen.
Aber manchmal kochte eine dumpfe Wut in ihm auf, die ihm bis zum Halse stieg und ihm die Sinne betäubte. Dann wurde es ihm grün und blau vor den Augen, und die große schwere Gestalt kam ins Taumeln. In solchen Zuständen war er fähig, einen Menschen mit einem einzigen Fausthieb niederzuschlagen oder gegen sich selbst zu wüten, wenn niemand da war, an dem er sich austoben konnte.
Von Jugend auf hatte dieser blinde Jähzorn in ihm geschlummert und war in gelegentlichen Ausbrüchen erwacht, wie eine wilde Bestie, die man an der Nase kitzelt. In seinem Heimatsdorfe war er dafür bekannt und gefürchtet und auch in seiner neuen Stellung hatte er sich bald in den nötigen Respekt gesetzt, als er einmal einem aufsässigen Knecht, der ihm ins Gesicht lachte, mit einer Wagenrunge über den Kopf gehauen hatte, daß der Mensch lautlos umfiel und vom Platz getragen werden mußte. Seitdem hütete man sich auf dem Ausbau, ihn zu reizen und führte seine Befehle anstandslos aus. Vor den Arbeitsleuten hatte er seinen Befähigungsnachweis als Herr erbracht.
Freilich konnte er damit nicht verhindern, daß insgeheim manche Spottrede über ihn und seine Heirat ging, und daß Knechte und Nachbarn jede Gelegenheit benützten, dem jungen Ehemanne, der sich mit der alten Frau ein so hübsches Grundstück erheiratet hatte, hinterrücks eins anzuhängen.
Mochte es nun das dunkle Bewußtsein seiner Lächerlichkeit sein oder die Unzufriedenheit des Wartens, mochte es die Ahnung einer verfehlten Lebensspekulation oder dies alles in allem sein ... Öfter als früher und immer öfter wiederholten sich bei Meseck diese blinden Wutanfälle, die ihm die Sinne benebelten und ihm die Nase wie mit Blutdunst beizten.
Wenn er so aus nichtigen Anlässen Tische und Stühle um sich herum kurz und klein schlug und mit dem Kopf gegen die Wand stieß, dann durfte nur ein Mensch es wagen, ihm zu nahe zu kommen. Das war seine Frau. Sie besaß eine vollkommene Gewalt über ihn. Ein Blick aus ihren Augen genügte, um ihn mit einem Schlage zur Besinnung zu bringen. Dann ließ er die Arme sinken, strich sich wohl auch mit der Hand das wirre Haar aus der niedrigen Stirn und sah um sich, als erwache er aus einem wilden Traum. Und er war wieder der Fügsame und Unterwürfige, wie damals, als er zum erstenmal in den Bann diese Hofes getreten war.
Eine fast abergläubische Scheu, die mit den Jahren noch zunahm, hielt ihn in ihrer Gegenwart fest und verließ ihn nur während der Stunden, wo er draußen auf dem Felde bei den Arbeitern stand und der frische Wind ihm um die Backen blies. Da fühlte er sich leichter und freier und schöpfte neuen Mut für kommende Tage. Aber er knirschte auch manchmal mit den Zähnen und begriff nicht, wie er diese Fuchtel so lange ertragen hatte und noch weiter ertragen sollte. Dann war es ihm, als müsse er Reißaus nehmen und laufen, soweit ihn seine Beine tragen wollten, weiter und weiter über die unendliche Ebene, bis dort, wo Himmel und Erde in eins zusammenflossen und alles in grauem Dunst verschwamm. Dort ging erst die wirkliche Welt an, nach der er sich immer gesehnt hatte und in die er nie hinausgekommen war.
Aber wenn er so sann und sann, dann rief ihn das Wort irgendeines Knechtes, der eine Anweisung verlangte, wieder auf die Scholle zurück, und in harter Arbeit verging der Drang, um bald von frischem zu erwachen. Doch immer hemmte ihn eine unsichtbare Macht und führte ihn beim Abendgrauen dumpf und abgeschlagen heim zu Lampenschein und wohlgedecktem Tisch.
Wenn er nur vermocht hätte, den unerklärlichen Bann abzuschütteln, der immer wieder seine Glieder lähmte, sobald er aus der sonnenhellen Freudigkeit von Feld und Hof in das schweigsame Halbdunkel des Hausflurs tauchte und aus irgendeinem Winkel, von einer Treppe herunter oder aus dem Keller herauf, die Gestalt seiner Frau auf ihn zutrat.
Seiner Frau? Er brachte das Wort kaum über die Lippen. Sie stammte aus einer fernen, fremden Zeit, von der er schon in seiner Jugend als von einer lang entschwundenen Vergangenheit hatte erzählen hören. Seine Großeltern, die er nur noch als alte verwitterte Leute gekannt hatte, mochten etwa dem gleichen Geschlechte angehören. Sie deckte nun schon lange der Rasen. Diese Frau aber, die mit ihnen in die Schule gegangen sein konnte, wanderte noch rüstig und rastlos an ihrem dürren festen Krückstock durch Küche, Keller, Speicher und Kammern des weitläufigen Wohnhauses, treppauf treppab, treppab treppauf, wie von einem bösen Geist gehetzt, der sie des Nachts um zwei Uhr nach kurzer Ruh' aus dem Bette trieb und sie den ganzen lieben langen Tag bis spät gegen Mitternacht zum Schrecken der Mägde auf den Beinen erhielt.
Und diese unstete Alte, die es jedem Kerl gleichtat im Kommandieren, Revidieren und Kontrollieren, die das ganze Wirtschaftsgetriebe drinnen und draußen übersah und ihn selbst wie den ersten besten dummen Jungen mit ihrer knochigen Hand am Schnürchen hielt, sie war seine angetraute Frau: das war das Unbegreifliche für Meseck und wurde ihm unfaßbarer mit jedem Tage, den sie weiter über die Grenzsteine des Menschlichen hinausschritt.
Wenn sie so des Nachts vom Lager stieg und im grellgeblümten türkischen Schlafrock die Stuben und Gänge absuchte, so war es, als spaziere eine lange Vergangenheit hinter ihr her und um sie herum, eine Wolke des Gewesenen und Verstorbenen, ein Regiment von gespenstischen Schatten, unter denen Meseck wohl auch den abgeschiedenen Geist seines Vorgängers hier am Ruder zu erkennen glaubte. Dann gruselte es ihm, wie es den Mägden gruselte, an deren Schlafkammer sie zum Aufstehen klopfte, daß es hohl durch das träumende Haus dröhnte, und der Gedanke durchschlich ihn, wie er selbst vielleicht einmal in diesem Reigen der Gespenster mit um die ruhelose Alte herumtanzen und die persönliche Bekanntschaft seines Vorgängers machen werde, um gemeinsam mit ihm dem dritten Manne der Hundertjährigen zu erscheinen und mit ihnen beiden später wieder dem vierten und so fort in endloser Reihe. Denn die Männer dieser Frau schienen wie die Blätter an einer uralten Esche, die mit der Frühjahrssonne aufkeimen, mit dem Herbststurm welk zur Erde sinken und einander in unabsehbarer Folge ablösen. Sie aber steht da, eisgrau und vermorscht, die zerrunzelten Arme zum Sturmhimmel aufgereckt, wie in furchtbarem Entsetzen, daß sie selbst nicht sterben kann.
Ja, hier lag das Unheimliche für Meseck und der eigentliche Grund, warum die Scheu, die ihm beim ersten Anblick der Siebzigjährigen über den Rücken gekrochen war, mit der Zeit nur wuchs, statt sich zu legen. Die Frau schien nicht älter zu werden. Bis zu einem gewissen Punkte war sie gegangen: Das Gesicht ein wenig zusammengeschrumpft, die Gestalt etwas gebückter, ein paar silberne Fäden mehr im straffen Haar, aber nicht allzuviel, und noch sämtliche Zähne. Und so blieb sie. Jahrelang war keine Veränderung an ihr zu bemerken. Die Zeit schien spurlos über sie hinzugleiten. Wenn sie nicht in Haus und Hof herumirrte, so fand man sie im Garten, wie sie mit dem Spaten Gemüsebeete umgrub, oder sie saß in einer Fensterecke und hatte einen gelbfleckigen Schweinslederband vor sich, den sie, Seite für Seite umblätternd, langsam durchlas. Meistens waren es populäre philosophische oder naturwissenschaftliche Schriften über die Unsterblichkeit der Seele oder den Bau des Weltalls, alle noch aus dem Anfange des Jahrhunderts und von vergessenen Autoren, Bestandteile einer bescheidenen Familienbibliothek, die sich von Geschlecht zu Geschlecht auf diesem Hofe vererbt hatte, in großen steifen Lettern gesetzt und auf stockigem Papier gedruckt.
Von Kind an hatte die Alte diese Vorliebe für Bücher gehabt und mochte sie auch jetzt nicht missen. Da sie fernsichtig war, so bediente sie sich zum Lesen einer Hornbrille. So hockte sie oft stundenlang und folgte Zeile um Zeile mit dem Zeigefinger oder der Stricknadel, als wolle sie kein Wort des kostbaren Inhaltes verlieren. Dann erfüllte sich ihre Seele mit weiten fremden Fernsichten, und der suchende Geist durchirrte das Dunkel des Lebens, bis er in einem seligen Lande ausruhte, wo endlich Friede und Erleuchtung selbst in die unruhigsten Herzen einzogen. Wenn sie so in tiefes Sinnen und Nachdenken verloren dasaß, so glich sie auf ein Haar einem alten klugen Uhu, der mit seinen großen runden Augen die Nacht rings um sich her durchdringt und Geheimnisse enträtselt, die jedes anderen Blick verschlossen bleiben.
Doch sprach sie selten von dem, was sie zu tiefst bewegte. Wem hätte sie sich auch mitteilen sollen? Ihre Umgebung war stumpf und dumpf. An diesen niedrigen Stirnen, die sie rings um sich sah, prallte jedes feinere Wörtlein machtlos ab. Ihr Mann war für sie weiter nichts als ein spätes Kind. Ihre erste Ehe war unfruchtbar geblieben, so heiß sie sich nach einem Kinde gesehnt hatte. Vielleicht war dieser unerfüllte Wunsch ihr zu Kopfe gestiegen, daß sie seltsam und wunderlich geworden war und irre Wege ging, die niemand um sie her begriff. Nun hatte sie in hohen Jahren einen jungen unreifen Menschen geheiratet, um einen Ersatz an Kindes Statt zu haben. Auf ihn sammelte sich ihre mütterliche Sorge. Ihrem ersten Manne war sie das Weib gewesen, wenn auch mit manchem ungestillten Begehren, sie, die Stattliche, Üppige, bei dem kränklichen, ewig um sich besorgten Männchen, an dem sie sich mehr in den Lehrer, als in den Mann verliebt hatte. Nun war das alles erloschen und tot, aber als habe ein geheimer Drang sie getrieben, den Irrtum ihrer Jugend gutzumachen und das Versäumte um jeden Preis nachzuholen, so war ihre Wahl diesmal auf einen Mann von rotbäckiger Gesundheit und einer durch keine Wissensqual geschwächten Lebenskraft gefallen.
Tragischer Irrtum abermals! Es war zu spät! Der zweite konnte der Siebzigjährigen nicht mehr bieten, was fünfzig Jahre früher der erste ihr hätte sein sollen und nicht gewesen war. Es war vorbei! Es war verpaßt! Der junge Mann galt ihr höchstens als ein großes, dummes, törichtes Kind, das sie nicht einmal selbst im Schoße getragen hatte und von dem sie sich nur in guten Stunden vorstellen konnte, daß es ihr eigenes sei. Dann hegte und hätschelte sie ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit und steckte ihm die besten Bissen in den Mund.
Aber es gab auch Zeiten, wo sie einen stummen Groll gegen ihn barg und jede seiner Bewegungen mit eifersüchtigem Argwohn überwachte. Denn sie merkte wohl, daß es im Grunde nur eine Art von tierischer Anhänglichkeit und Furcht zugleich war, die ihn regierte und jeden Augenblick in ihr Gegenteil umschlagen konnte. Dann aber war alles verloren, das wußte sie. Darum durfte er nie zum Bewußtsein seiner selbst erwachen. Gebannt mußte er stehen bleiben auf dem Platz, dahin sie ihn gestellt hatte. Wie eine Tierbändigerin mußte sie ihn unverwandt ins Auge fassen und ihn bald mit Güte, bald mit Strenge in seiner Pflicht erhalten. Nachdem er sich einmal an sie gewöhnt, durfte kein fremder Gedanke in ihm aufkommen, vor allen Dingen kein fremdes Weib.
So hütete sie seine Schritte eifersüchtiger als eine Mutter, und wenn sie nicht hinter ihm her sein konnte, durchbohrte sie ihn noch nachträglich mit ihrem Blick, um die Gründe seiner Seele zu erforschen.
Eines Tages, sie waren etwa zwölf Jahre verheiratet, hatte er seine Augen auf eine junge Magd geworfen, die erst kurz im Hause diente. Sie war groß und blond, von starkem Wuchs und üppigen Formen, die sie herausfordernd zur Schau trug, indem sie Kopf und Brust beim Gehen zurücklehnte und sich in den Hüften wiegte. Dann schien ihr Blick stolz an ihrer eigenen Fülle herunterzugleiten, als wolle sie sagen: Zeigt mir mal eine, die's mit mir aufnimmt! Wer will mich oder wer will mich nicht? Greift nur zu! Vielleicht kriegt ihr mich!
Und alle griffen zu, aber keiner war, der nicht derb auf die Finger geklopft erhielt. Denn die Eitle versprach mit Blick und Haltung mehr, als sie mit der Tat hielt. Ihr Gesicht war rund und weich, die Lippen zum Küssen aufgeworfen und zärtlich schmiegte sich das gescheitelte Haar um die schmale Stirn, aber in den stahlblauen Augen lauerte es kokett und kalt zugleich. Für eine Magd war sie auffallend und ungewöhnlich. Bei den Frauen war sie wenig gelitten, wechselte häufig die Stellungen und fand schließlich nur schwer ein Unterkommen. So verirrte sie sich eines Tages auch nach dem Ausbau. Dort brauchte man gerade eine Magd, die für die Leute zu kochen hatte und melken konnte, auch sonst im Hause Bescheid wußte, und da es schwer hielt, Gesinde hier heraus in die Einsamkeit zu finden, so entschloß sich Frau Meseck trotz aller geheimen Bedenken, die schöne Guste versuchsweise aufzunehmen, aber beim ersten Verdacht wieder davonzujagen.
Das Mädchen seinerseits, mit dem instinktiven Einverständnis, das so oft feindliche Frauen schweigend verbindet, wußte ganz genau, was ihr von ihrer Dienstherrin bevorstand und hatte sich ihren Plan danach eingerichtet. Sie war es satt, sich von Hof zu Hof herumstoßen zu lassen und wollte endlich in einem warmen Neste unterschlüpfen. Dafür schien ihr der Mesecksche Hof gerade recht. Was wäre leichter, als zwischen der alten Frau und dem jungen Herrn diesen zu sich herüberzuziehen? Mit ihm zusammen getraute sie sich dann wohl, den Kampf gegen die Alte aufzunehmen und ihr das Leben so zu versauern, daß sie aus reinem Ärger in die Grube führe. Dann war der Platz frei und ein gutes Werk obendrein getan, indem der zählebigen alten Hexe, die nicht sterben konnte, zur wohlverdienten Ruhe, dem armen geplagten Manne aber zu einem hübschen jungen Weib verholten war. Das war sie selbst und sah sich schon als wohlbestallte Nachfolgerin mit dem mächtigen Schlüsselbund an der Seite, wie sie in der reich gefüllten Speisekammer stand und Brot und Speck in schmalen Portionen an die Mägde austeilte. Denn haushalten wollte sie, daß es eine Art war, und wie sie einst Hunger gelitten hatte, so wollte sie es dann den anderen heimzahlen.
Bis dahin war der Weg freilich noch weit, und sie selbst nichts anderes als eine arme Magd, die sich so manchesmal mit knurrendem Magen in ihr grobkörniges Bett legte und dabei mit den Zähnen knirschte, daß sie es so gar keinen Schritt näher zu ihrem Ziele bringen konnte, da sie doch schon mehrere Monate auf dem Hofe diente und tagtäglich soundso oft dem Herrn unter die Augen kam. Er aber schien gar nicht acht auf sie zu geben oder tat wenigstens so, denn so viel glaubte sie doch zu bemerken, daß er manchmal von der Seite her zwischen seinen schmalen Augenlidern gar merkwürdig auf ihre vollen nackten Arme hinzwinkerte, wenn sie in rundem Schwung den mit Überresten und Abfällen gefüllten Trankeimer in den Schweinetrog ausleerte oder mit dem struppigen Weidenbesen über die braunroten Ziegelfliesen der Küche hinschruppte. Dabei geschah es manchmal, daß er wie zufällig ihren Arm oder ihre Schulter streifte, sich aber gleich abwandte und über die Achsel weg irgendeinen mürrischen Befehl erteilte. Denn gewöhnlich tauchte in diesem Augenblick aus einem der dunklen Winkel des Hauses Frau Meseck vor den beiden auf und schnitt dazwischentretend mit einem kurzen scharfen Blick jede Weiterung ab.
So ging es monatelang, und jede Möglichkeit einer Annäherung schien bei der Wachsamkeit der Alten ausgeschlossen. Kaum jemals verließ sie den Hof, um einen Besuch im Dorf zu machen, und nach der benachbarten Kreisstadt war sie schon seit Jahren nicht gekommen. Wie ein Soldat im Kriege hielt sie auf ihrem Posten aus und wich nicht von der Stelle, tat sich freilich auch leichter dabei als andere, denn sie litt an Schlaflosigkeit und fand es als eine Art von Zeitvertreib, solcherweise mit dem Feuer zu spielen. Ja, wo andere zusammengebrochen wären, da schien das ewige Herumwandern und Auf-der-Lauer-liegen ihren Geist zu schärfen und ihre Kräfte neu zu beleben.
Eines Tages aber kam es doch über sie. Ganz plötzlich, wie die Leute meinten. Doch sie selbst wußte es besser. Schon in der Nacht, die dem Tage vorausging, hatte sie gefühlt, wie etwas Unsichtbares und Unbekanntes sachte, sachte an ihr Bett schlich, während sie dalag und vor dem wachen Geiste die Blätter ihres Lebens eines nach dem andern umschlug. Gleichmäßige Schriftzüge bedeckten diese Blätter, von der ersten kaum noch leserlichen Seite des dickleibigen, wurmstichigen Folianten an bis auf den heutigen Tag, der vielleicht den Schlußstrich setzen würde unter dieses ganze weitläufige und doch so abwechslungslose Lebenswerk. Wer wußte es? Sie fühlte sich müde und überflüssig wie nie. Blatt um Blatt zurück, in endloser Reihe immer dieselben leeren Worte, immer der gleiche eintönige Inhalt: Leben müssen, immer wieder leben müssen für nichts und wieder nichts, nur weil man einmal da war und nicht fort durfte, ehe man gerufen wurde. Von wem gerufen wurde? Wohin gerufen wurde?
Doch nein, da wurde es licht in all dem Dunkel um sie herum. Ein einziger Stern leuchtete mild und sanft durch die Nacht, wer weiß wie fern, aber sie erkannte doch, daß sie ihm immer näher und näher gekommen war auf der Bahn ihres Lebens und daß sie eines Tages dicht vor ihm halten würde, wo er dann wie eine Sonne strahlen und nie wieder erlöschen werde. Das war die Zuversicht auf eine bessere Welt und auf ein schöneres Leben, wo all die Blumen blühen würden, nach denen sie sich hier vergebens gesehnt hatte. Denn kalt und frostig war es von Kindheit her um sie gewesen. Die Eltern bei hohen Jahren, da sie als verspätete und unerbetene Gabe des Himmels erschienen war, mehr in Pflicht als in Liebe gehegt, ein ewiger Stachel für die erwachsenen Geschwister, denen sie das Erbe verkürzte, dann, da diese kurz nacheinander an schnellem Siechtum weggestorben waren, plötzlich einzige Erbin von Haus und Hof und daher wie zum Ersatz für verlorene Kindheit von den greisen Eltern mit später Zärtlichkeit überhäuft, fast erdrückt, bald danach verwaist und früh verheiratet.
Oh, diese unabsehbar lange Reise ihrer ersten Ehe! Wieviel Freuden hatte sie nicht erwartet mit jenem Manne an der Seite, den sie in kindischer Schwärmerei genommen hatte, damit er ihrem ungeschulten Geiste Aufschluß gebe über all die dunkel geahnten Wunder dieser Welt, und wie dürr und ausgebrannt lag nun der Weg, den sie mit ihm gegangen war, bis weit, weit zurück, wo er sich in der Dämmerung verlor. Wie war die Hoffnung eitel gewesen! Und eitel alles, was sie sich vom Leben geträumt hatte! Aber sie hatte nicht nachgegeben in ihrem wilden Durst nach Glück und hatte abermals den Mund zum Trinken angesetzt.
Und nun ... Fühlte sie nicht, wie da etwas herankroch aus der Dunkelheit und sich auf ihrer Bettkante niederkauerte? War das der Tod, der neben ihr saß und ihr die Hand auf die Brust legte, daß ihr der Atem stockte? Entsetzt richtete sie sich in die Höhe und strich sich keuchend den Schweiß von der kalten Stirn.
Ringsum lag das Haus in tiefstem Schlaf. Nur die Uhr nebenan wiederholte ihr unbarmherziges Ticktack, mit jedem Tick und jedem Tack einen Augenblick näher dem Ende. Wie unzählige solche Tick und Tack hatte es gekostet, ehe es zu diesem Momente gekommen war, aber nun war der Vorrat erschöpft, der einst der Jugendlichen unversieglich erschienen war, und die letzten Tick und Tack hackten an die altersschwachen Wände des ablaufenden Mechanismus. In dem Bette aber an der anderen Wand, da schlief der Dreißigjährige den traumlosen Schlaf der Jugend, und wenn er gegen alles Erwarten doch von etwas träumte, so war es vielleicht, daß er jetzt bald von der alten Hexe erlöst wäre.
Dann würde er seine große plumpe Faust an ihr Vaterhaus und all ihr Eigen legen, was sie bis zu diesem Tage so vorsichtig gehütet und so zäh festgehalten hatte. Und eine Junge würde er sich nehmen, deren Erstes es wäre, das Unterste zu oberst zu kehren, und die beiden würden der Alten ins Grab nachlachen, die so dumm gewesen war, einen Mann zu heiraten, dessen Großmutter sie hätte abgeben können!
Und das alles konnte schon morgen oder übermorgen geschehen. Ihr Grab aber würde verfallen und das Unkraut darüber wuchern. Denn die Neue würde gewiß alles daransetzen, damit der Alten Gedächtnis sich spurlos verwachse und überschatte. Und wenn es nun gar die Guste wäre, die hier nach ihr einzöge und in ihren Betten schliefe!
Bei diesem Gedanken überlief es die Aufrechtsitzende heiß und kalt. Warum hatte sie das freche, kokette Weibstück auf den Hof genommen! Nun war das Malheur geschehen oder konnte doch jeden Augenblick geschehen. Etwas Verdächtiges hatte sie zwar noch nicht ausgespürt, aber wer kennt die Schleichwege von Jugend und Lüsternheit, und jedenfalls hatte es das durchtriebene Frauenzimmer auf den blühenden, stattlichen Mann abgesehen.
Und er? Er würde nehmen, was sich ihm böte. Er würde trinken, ohne viel nach dem Becher zu fragen. Was konnte sie, die Alte ihm denn geben! Wußte er etwas von all der mütterlichen Zärtlichkeit, die sie auf ihn verschwendete? Er nahm es wie etwas Selbstverständliches und ging seiner Wege. Und er fürchtete sich vor ihrem Blick. Warum? Weil er auf ihren Tod spekulierte und sich durchschaut sah, wenn er ihrem Auge standhalten sollte. Da lag es! Das war das Geheimnis, das er mit sich herumtrug und vor ihr zu verstecken suchte. Aber sie war klüger als er und holte es aus ihm heraus. Auf der Stelle wollte sie ihn aus dem Schlafe aufschreien und ihn befragen.
Bei diesem Gedanken ballten sich ihre alten verschrumpften Hände. Sie lauschte einen Augenblick zu dem Schlafenden hinüber, aber was war das? Kein Atemzug drang durch die Dunkelheit zu ihr. Nichts schien sich zu rühren und zu regen. Lautlose Stille ringsumher. Oder täuschte sie sich? War es Wachen? War es Traum? War es der nahende Tod, der mit seinem eiskalten Atem über ihr Gesicht hauchte, daß ihr die Sinne vergingen? Sie wollte rufen, aber kein Ton kam aus ihrer Brust. Wie im Starrkrampf saß sie da und horchte mit vorgestrecktem Halse.
Und wenn ihr Mann nun wirklich aufgestanden war und sich davongestohlen hatte? Wenn er die Minuten ihres Schlafes benützt hatte, um zu der Magd in die Kammer zu schleichen, sie selbst aber lag hier, ohnmächtig ihm nachzusetzen, auf ihrem Sterbelager und rang mutterseelenallein und verlassen den stummen furchtbaren Kampf mit dem Tod. Morgen früh aber fand man sie kalt und weiß auf dem Bette. Dann konnten die beiden, die sich jetzt zusammen ergötzten, sie beerben und sich ins Fäustchen lachen. Fluch ihnen!
Die Sinne schwanden der Alten. Kraftlos sank sie in die Kissen zurück.
Am nächsten Morgen, da sie nach langem, traumlosem Schlaf die Augen aufschlug, fühlte sie sich leichter. Aber wie sie sich anziehen wollte, merkte sie, daß die Beine den Dienst versagten. Sie mußte sich in den Lehnstuhl setzen, sonst wäre sie umgefallen. Das war die Schwäche wie heute nacht.
Ihr Mann kam und sprach mit ihr. Sie antwortete wenig und forschte in seinem Gesicht, aber sie konnte nicht entdecken, ob sie geträumt hatte oder nicht. Er fragte, ob der Arzt geholt werden solle. Sie dankte und wehrte ab. Es bedeute nichts. Von dem Anfall, der sie in der Nacht niedergeworfen, sprach sie nichts.
Ihr Mann ging hinaus. Als sie allein war, kamen die Gedanken wieder, diese grauenhaften Gedanken, die sie noch verrückt machen würden. Im Hause wisperte und flüsterte man. Etwas Geheimnisvolles schlich umher und schlüpfte durch Türen und Wände. Wahrscheinlich machte man jetzt Rechnungen auf ihren Tod.
Noch nicht! knirschte sie und biß die Zähne zusammen. Sie fragte nach Guste. Die Magd sollte im Garten sein und Kartoffeln auspuhlen.
Ob der Herr auf dem Felde sei?
Nein, auch im Garten.
Frau Meseck glaubte zu sehen, wie das Mädchen sich das Lachen verkniff. Das wollte sie ihren Mägden austreiben. Sie ließ sich ihren Krückstock reichen und richtete sich in die Höhe. Da war noch einmal die alte, zähe Lebenskraft. Keine Spur mehr von Schwäche in den Beinen! Nur Gewißheit haben! Dann sterben! Oder lieber nicht sterben! Leben bleiben und sie alle in die Grube fahren sehen!
Draußen im Garten stand Meseck und lehnte sich an einen Birnbaum. Vor ihm am Boden kniete Guste und sammelte die frisch gegrabenen Kartoffeln in ihre grobe Schürze. Neben ihr lag der Spaten auf den durchwühlten Erdschollen. Schweigend verrichtete sie ihre Arbeit und sah nicht einmal in die Höhe, merkte aber doch, wie die Augen des Herrn sie umspielten.
Er hatte sie vorher angefahren, weil sie immer zu viel Kartoffeln in der Erde sitzen ließ, die dann beim Umpflügen verfault heraufkamen. Er wollte ihr einmal zeigen, wie man so eine Arbeit zu machen hatte. Nun stand er noch da und achtete darauf, daß auch keine von den rosa Knollen übrig blieb.
»Das wäre jetzt eine Gelegenheit,« dachte Guste bei sich, »die Alte lahm und krank und wer weiß, wie bald auf dem Brett! Höchste Zeit! Jetzt oder nie!«
»Was kuckt der Herr mich so an?« fragte sie mit einem Male wie beiläufig von unten herauf, ohne dabei die Stellung zu verändern oder einen Augenblick im Kartoffellesen anzuhalten.
Meseck war starr! Teufelsmädchen das! Er wußte nicht, ob er der kecken Spitzbübin eins mit dem Stock über den feisten, runden Rücken ziehen oder was er sonst tun sollte.
Er blinzelte auf sie hinunter. Da kniete sie noch, hatte aber den Kopf ein wenig zu ihm aufgeworfen und hielt die Schürze mit den Kartoffeln zusammengenommen in den Händen. Sie war mit ihrer Arbeit fertig. Langsam hob sie sich von den Knien in die Höhe, bis sie sich in ihrer vollen strotzenden Gestalt aufgerichtet hatte und auf Leibesnähe vor ihm stand.
»Was kuckt der Herr mich so an?« fragte sie wieder und sah ihm herausfordernd ins Gesicht. In ihren Augen flimmerte es von wilder Lust. Ihr heißer Atem mischte sich mit dem seinen.
»Kann ich nicht?« schrie er plötzlich stammelnd heraus. »Dazu bist du ja da!«
Und damit riß er die Wehrlose zu sich und umklammerte mit schmiedeeisernen Armen ihre breiten Hüften. Mit einem halb unterdrückten Aufschrei sank sie an ihn heran und zwischen ihnen beiden rollten die rosigen Kartoffeln in schwerer Sturzflut auf den fetten Acker.
So standen sie ein paar Augenblicke und rangen miteinander und umschlangen sich in dem hellen Sonnenlicht des Vormittags. Der schwere, massive Mann überragte das großgewachsene Weib noch um die Länge eines Kopfes, wie er es jetzt vor sich herschob und auf eine nahe Gartenbank zu drängen suchte. Eine trunkene Rücksichtslosigkeit benahm ihm die Sinne. Er sah und hörte nichts mehr. Er vergaß, wer und wo er war. Er fühlte nur den elastischen Leib in seinen Armen.
Plötzlich hörte er einen jähen, durchdringenden Schrei dicht vor seinen Ohren. Gleichzeitig riß die Magd mit einem gewaltsamen Ruck sich los, schlug wie in wahnsinnigem Schreck die Schürze über den Kopf und rannte, so schnell ihre Beine sie tragen wollten, quer über das Kartoffelfeld zur Gartentür hinaus.
Meseck faßte sich betäubt an die Stirn und rieb sich die blinden Augen. Da stand einen Schritt vor ihm, auf ihren Krückstock gestemmt, in grellem Sonnenschein die Alte, wortlos drohend, wie eine Erscheinung der Nacht, die aus dem dunkeln Grabe noch einmal an das Licht hinaufgestiegen ist, um sich ihr Recht am Leben mit Gewalt zurückzufordern.
Meseck überlief es eisig, als habe ein Gespenst ihm, dem Lebendigen, die Hand auf den Arm gelegt und wolle ihn mit sich nehmen.
Aber nach dem ersten Grauen packte ihn mit einem Male ein wilder Drang, sich zur Wehre zu setzen, und eine irre Wut.
»Was, du willst krank sein und spionierst?« brüllte er. »Scheusal du! Verstellt sich, daß sie besser spionieren kann! Scheusal!«
Mit erhobenen Fäusten wollte er auf sie los, aber wieder, wie so oft schon, prallte er vor diesen Augen zurück, die jetzt gegen die Sonne in einem durchsichtigen Grün wie Katzenaugen funkelten.
Da stand sie, die Alte, die ihn um sein Leben betrogen hatte, und er wagte es nicht, Hand an sie zu legen und sie zu erwürgen. Er mußte die Arme schlaff am Körper heruntersinken lassen und festgewurzelt ihre Worte anhören.
»Ihr habt mich wohl schon aufgegeben?« sagte sie. »Siehst du jetzt, wie du dich verspekuliert hast? Gründlich habt ihr euch beide verrechnet, du und das Frauenzimmer. Ich kann dir sagen, ich bin noch ganz lebendig. Ich halt' noch aus für zwei. Jetzt bin ich doch 'mal dahintergekommen. Gedacht hab' ich's mir immer. Du lauerst auf meinen Tod! Das ist deine ganze Rechnung! Irr' dich nicht, lieber Otto! Ich fahre noch lang' nicht ab. Den Gefallen tu' ich dir nicht. Wir wollen 'mal abwarten, wer den andern raustragen sieht. Vielleicht gehst du noch vor mir. Aber das prophezei' ich dir: Wenn ich eher sterbe als du, so bald noch nicht! Und wenn es 'mal kommt, du sollst nichts davon haben! Das versprech' ich dir. Ich will keine Ruh' im Grabe haben, eh' ich dich nicht nachgeholt hab'. Und wenn ich Nacht für Nacht wiederkommen muß und im Leichentuch an deinem Bett stehen, du sollst dir keine andere mehr nach mir nehmen. Ich hol' dich nach! Jetzt weißt du, was dir bevorsteht. Freu' dich nicht auf meinen Tod! Mein Tod hilft dir nichts!«
Sie hatte das alles mit einer dumpfen, tonlosen Stimme gesprochen, und die Vögel in den Obstbäumen des Gartens zwitscherten gar lustig zu dem düsteren Fluch, durch den sich die greise Frau für Leben und Tod mit dem jugendkräftigen Manne zusammengekettet hatte.
Noch in der gleichen Stunde mußte Guste, die Magd, ihr Bündel schnüren und von neuem auf die Wanderschaft. Sie hatte Widerrede versucht und gedroht, wenn man sie fortjage, wolle sie allenthalben ihr Abenteuer ausposaunen.
Aber Meseck bestand auf seinem Befehl. Ihm graute vor dem Weib, wie vor allen anderen Weibern, am meisten aber vor ihr, mit der er nun ausharren mußte bis ins Ende der Tage und darüber hinaus in alle Ewigkeit, das galt für ihn als unumstößliche Gewißheit, so sicher wie der Tod selbst. Die Prophezeiung saß fest in seiner Seele und wollte nicht mehr weichen.
Von dieser Zeit an begann er langsam zu altern. Unterwürfiger als je fügte er sich vor dem höheren Geiste seiner Frau. Nur manchmal verriet ein jäher Wutausbruch, wie es in seinem Innern aussah. Dann tobte er wie ein Tier, das vergebens an den Eisenstangen seines Käfigs rüttelt. Aber es gab kein Herauskommen. Er blieb angeschmiedet und mußte sich fügen. So beruhigte er sich immer wieder.
Allmählich wuchs in ihm eine Art von Neugierde, wer von ihnen beiden es wohl länger treiben werde. Aber selbst für den Fall, daß er sie überleben sollte, hatte er keine Hoffnung, denn er wußte ja, daß sie ihm keine Ruhe gönnen und ihn bald nachholen werde. Der Gedanke beschäftigte ihn nur so zur Unterhaltung, wenn er auf dem Felde stand und seine Leute beaufsichtigte. Es kam ihm vor wie ein Wettfahren, nur mit dem Unterschiede, daß hier siegte, wer am langsamsten fuhr und es verstand, den anderen immer vorauszulassen. Und dieser Vorausgelassene, dessen Kräfte sich allzuschnell aufbrauchten, war er selbst. Er fühlte deutlich, wie seine Sehnen müder wurden und seine Schwungkraft nachließ.
Sie aber, die Uralte, schien sich seit jenem furchtbaren Vormittage noch einmal erneut und verjüngt zu haben. Es war eine Krisis aller ihrer Lebenskräfte gewesen. Nun, da sie in dem Kampfe gesiegt, wanderte sie rüstig den Neunzigen entgegen. Meseck staunte manchmal über ihre Frische und Regsamkeit, wenn er sie von der Seite ansah, denn ihr ins Auge wagte er kaum mehr zu blicken.
Ja, sie brachte es fertig, noch im höchsten Alter eine letzte Leidenschaft zu entwickeln. Nicht mehr für die Menschen oder für das Leben um sie herum. Das edles hatte seine Farben verloren, wenn sie sich auch aus Pflicht und alter Gewohnheit noch darum kümmerte. Aber ihr Herz wandte sich jetzt den Sternen zu und ihre Augen durchforschten in klaren Nächten die Wunder des gestirnten Himmels.
Von früh an hatten ihre Blicke an den verschlungenen Bahnen der Sterne und ihren ewigen Bildern gehangen, aber nun begann sie gründlicher sich in das wechselnde und doch immer gleichbewegte Antlitz der Nacht zu versenken und die Namen der einzelnen Sterne, soweit sie sie noch nicht kannte, aus ihren Büchern zu erlernen. Oft pflegte sie sich auszumalen, ob wohl da droben in jenen unbegrenzten Höhen ähnliche Geschöpfe wie sie selbst auf den schimmernden und flimmernden Pünktchen dahinzögen, und sie erhob sich in der Vorstellung, daß es höhere, gottgleiche Wesen seien, zu denen sie selbst sich einst hinzugesellen werde, wenn sie die Erdenschwere abgeschüttelt habe.
Während sie so sich immer weiter vom Irdischen entfernte, zog es ihren Mann tiefer und tiefer in seine Wirtschaft, in das Räderwerk der täglichen Arbeit und zu dem rohen, aber gesunden und ungebrochenen Getriebe der Knechte. Von früh bis spät hielt er sich auf den Beinen und klammerte sich an alle die Kleinigkeiten, deren Summe ja das Leben des Menschen im allgemeinen und des Landwirtes im besonderen ausmacht. Es war, als suche er eine Zuflucht vor sich selbst und seinen quälenden Gedanken. Jeder Pfosten im Stall, jeder Nagel, jeder Spaten, jede Pflugschar wurde ihm lieb und teuer, und mit dem einzelnen wuchsen ihm Haus und Hof und Feld von Tag zu Tag fester ans Herz. So wußte er es bald nicht anders, als daß er von jeher Herr in diesem Hof gewesen, und aus den schwarzen Erdschollen seines Ackers sproßte ihm ein bescheidenes Trostkräutlein.
Darüber wurde er allmählich älter, die Jahre zogen ihm dahin wie die Pfluggespanne seiner Pferde, die am grauen Morgen frisch und mutig zur Feldarbeit ausrückten und am Abend abgerackert und müde in den gewohnten Stall zurückkehrten, um bei Tagesanbruch von neuem angeschirrt zu werden zum gleichen Gange. Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Und heute war es zum fünfundzwanzigsten Male, daß sich der Hochzeitstag des Meseckschen Paares im Auf und Ab der Zeit wiederholte.
Es war zwei Uhr nachmittags. Schwüle Stille lastete auf dem Dorfe. Am Himmel hatten sich schwere Wolken übereinandergetürmt. Kein Lüftchen rührte sich. Die Blätter an den Weiden- und Obstbäumen hingen schlaff herab. Ein schwefliger Dunst lag in der Luft und bedrückte den Atem.
Vor den niedrigen Türen der Häuschen und Katen lehnten wartende Weiber. Flachshaarige Kinder lungerten an den baufälligen Zäunen, aber sie spielten nicht wie sonst und erschütterten die Luft mit ihrem Gekreisch. Müde ließen sie die Köpfe hängen und blinzelten zu dem wettergelben Himmel. Manchmal krähte ein Hahn auf einem der Höfe, dann klang es tief und traurig durch die dicke Luft. Sonst schien alles zu schlafen, Hunde, Hühner, Pferde, Kühe, selbst die Fliegen, die zu Hunderten an dem schmutzigen Fachwerk der Katen klebten.
Auch die Unterhaltung der Frauen wollte nicht von der Stelle. Man lauerte auf das Eintreffen der Meseckschen Hochzeitswagen, die ja von dieser, der Chaussee abgekehrten Seite her in das Dorf herein und auf alle Fälle an den Katen vorüber mußten. Um drei Uhr sollte die Trauung stattfinden. Es konnte also nicht mehr lange bis dahin dauern.
Wie wohl das Paar sich zusammen ausnehmen würde? Die Alte war seit Jahren nicht mehr im Dorfe gesehen worden. Nur dunkle Gerüchte flüsterten von ihrem seltsamen Leben und Treiben draußen auf dem Ausbau, wo sie wie ein Luchs in ihrer Höhle hausen und bei lebendigem Leibe umgehen sollte. Denn daß sie ein geheimnisvolles Wesen sei, anders als gewöhnliche Menschenkinder, das stand weit und breit in der Gegend fest.
Wie eine Sage klang die Erzählung von der Alten, die nicht sterben wollte, in die Ohren der aufhorchenden Enkel, und mit jedem Tage, den sie älter wurde, mehrte sich der Zauber, der sie umgab. Man jagte die Kinder mit ihr ins Bett und selbst Erwachsene überlief eine gelinde Gänsehaut bei dem Gedanken, man könne ihr einmal des Nachts draußen begegnen, wenn sie ihren Hof umkreiste und dabei in den Sternen las, wie lange sie noch zu leben habe. Die wenigsten kannten sie von Aussehen. Nun sollte sie leibhaftig im Dorf erscheinen und sich im hellen Tageslicht den Menschen zeigen.
Der Himmel freilich zog ein gar eigenes Gesicht zu dem Schauspiel, das er da mit ansehen sollte. Der schweflige Schein, der die Ränder der dickgeballten Wolkenmassen säumte und das Himmelsgewölbe mit fahlem Lichte übergoß, stimmte so recht zu dem düsteren Bilde der fast Hundertjährigen. Unter Donner und Blitz würde sie ihre Hochzeit feiern, als zürne der Herr der Vermessenen, die seiner Macht zu trotzen schien, und rufe ihr aus den Gewitterwolken hernieder: Was willst du von mir? Ich habe nichts mit dir zu schaffen. Schon hörte man seine dumpfe Stimme von fernher rollen und grollen und in kurzen Absätzen wieder ersterben.
Jetzt klang schnelles Wagenrollen auf dem breiten Triftweg, der vom Hinterlande her in das Dorf hineinführte. An allen Katen streckten sich die Köpfe der Wartenden und reckten sich, so weit sie konnten. Ein Raunen und Wispern ging von Mund zu Mund. Man hörte, wie das Rollen eilig näher kam.
Aus dem hochaufspritzenden Wasser der Wegpfützen tauchte ein Wagen auf, und gleich hinterher ein zweiter. Und auf dem ersten, der von zwei starken Braunen gezogen wie rasend vorüberjagte, sah man in der Eile einen vierschrötigen Mann mit einem breitkrempigen Zylinder neben einem undeutlichen, zusammengesunkenen Etwas sitzen, von dem man nicht wußte, ob es ein Mensch oder ein Kleiderbündel sei. Das war das Brautpaar, und auf dem zweiten Wagen folgten zwei ältere nebst einem jüngeren Herrn, die ebenfalls Zylinder trugen und wahrscheinlich zur Verwandtschaft Mesecks gehörten. Hinter ihnen wirbelten Schmutz und Pfützenwasser wie ein Springbrunn auf.
»Zum Krug! Sie fahren nach 'm Krug!« schrie ein großer halbwüchsiger Bengel, der als Zeichen junger Manneswürde die frische Narbe eines Messerstiches auf der linken Backe zur Schau trug.
»Zum Krug! zum Krug!« pflanzte es sich durch die Reihen fort. Im nächsten Augenblick setzten sich Männer, Weiber und Kinder, soviel ihrer vor den Katen gelungert hatten, in Trab zum nahen Krug und stoben wie die wilde Jagd hinter den Wagen her.
Es stimmte in der Tat. Meseck hatte gewünscht, daß man erst im Kruge einkehre und Pferd und Wagen zum Schutz vor dem nahenden Gewitter in der Unterfahrt einstelle, ehe man selbst den Kirchgang antrat.
So ging denn die rasende Hochzeitsfahrt durch die beiden Reihen strohgedeckter, windschiefer Katen, vorüber an dem feierlich offenen Tor der grünumsponnenen Dorfkirche, deren spitzer Turm in dem Gewitterlicht seltsam bleich zum Himmel aufzeigte, vorüber an dem stummen Frieden geneigter Kirchhofskreuze und sehnsüchtig wie zur Umarmung über die Grabhügel gebreiteter Trauereschen, vorüber an der gedrängten Menge verwunderter Dorfinsassen, bis sie mit einem jähen Ruck vor dem niedrigen Kruggebäude stillhielten. Die Pferde schäumten in den Gebissen, daß die Flocken ringsherum auf die Röcke und Kleider spritzten. Eine dicke Kotschicht bedeckte die blankgeputzten Geschirre und das frisch geölte Wagenleder, und die altmodisch feierlichen Zylinder der Männer trugen graue Spritzflecken.
Lautlos umstanden die Gaffer die beiden Fuhrwerke. Niemand wagte sich zu rühren oder einen Ton zu äußern, dem es lag etwas in den Gesichtern der Hochzeitsgäste, vor allem der Meseckschen selbst, was auch dem Witzigsten das Behagen nahm und den Mund schloß.
Meseck war alt geworden. Die einst so stattliche aufrechte Gestalt war vornübergesunken. Der massive Kopf saß tief zwischen den noch immer breiten Schultern. Unter dem Zylinder fiel das ergraute Haar über den schwarzen Rockkragen. Die Augen blickten verkniffen und fuhren unstet in dem vergrämten Gesichte herum.
Er stieg schwerfällig vom Wagen und reichte seiner Frau die Hand. Sie stützte sich zittrig darauf und gelangte mühsam auf den Boden. Alle Blicke hingen an ihr. Das also war die Alte vom Ausbau, die auf ihrem Rücken fast hundert Jahre trug. Es gab zwar noch ein paar Neunzigjährige im Dorf und einige Achtzigjährige dazu, aber die kamen schon lange nicht mehr aus ihren engen Stübchen heraus und waren von den Jüngeren vergessen. Diese Frau aber gab dem Dorf und der Gegend noch weit und breit zu reden und setzte sich noch auf den Wagen und fuhr eine Stunde wieder zurück, um aller Welt zu zeigen, daß sie noch lange nicht ans Sterben denke.
Eine wunderliche Stimmung ging von der greisen, gebückten Gestalt und den großen, mächtigen Augen, die fast das einzige waren, was von den einst schönen, wohlgeschnittenen Zügen übriggeblieben. Alles andere in diesem Gesichte war verschrumpft und verdorrt und klein geworden und mitten drin saß eine richtige spitze Vogelnase, aber die Augen darüber schimmerten noch im letzten leisen Abendglanz, als sie über die Umstehenden hinweg sich wie in ferne fremde Räume verloren.
Und wie ihre alten müden Beine jetzt die sichere Erde berührten, da schien vor den Blicken der Menschen die Gebrechlichkeit der Greisin noch einmal zu schwinden. Langsam richtete sie sich zusammen und hob den Kopf in erwachendem Trotz, als wollte sie sagen: Ich hab' euch alle mein Leben lang verachtet, ich verachte euch noch heut, und schritt am Arm ihres Mannes langsam in die Herrenstube des Krugs.
Über die Masse aber, die draußen zugesehen hatte, lief es wie eine Ahnung, als ob diese Alte noch manchen überleben werde, der jetzt noch prahlhansig sich auf seine zwei festen Beine stemmte, vielleicht ihren eigenen Mann dazu.
Und dieser war der letzte, der daran zweifelte. Er wünschte es sogar und gab das Spiel verloren. Er war in einer tollen Verfassung heute. Am frühen Morgen war er aufgestanden und auf das Feld hinausgewandert. Dort lag, soweit sein Auge reichte, der frisch geschnittene Weizen, die reiche Ernte des Jahres, an der sein Herz hing und sein Schweiß klebte, und schien zum Himmel zu jammern, daß sie so elend in all dem Regen und wieder Regen verfaulen und umkommen müsse.
Und der alternde Mann, dessen letzte Hoffnung und Freude seine Wiesen und Weiden, seine Saaten und Äcker waren, hatte mit krampfhafter Hast seinen Leuten mitgeholfen, die nassen Garben aufzubinden und zum Trocknen auszubreiten.
Aber im Laufe des Tages war sein Herz schwerer und schwerer geworden, wie sich das Antlitz des Himmels bedeckte und verfinsterte. Wenn Gott kein Wunder täte, so würde ein furchtbares Unwetter losbrechen und alles von neuem überschwemmen. Und zu einer solchen Stunde mußte er sich aufsetzen und Haus und Hof im Stich lassen, um mit dieser Mumie, die ihm den Atem lähmte, seine silberne Hochzeit zu feiern.
Er stand am Fenster des Gastzimmers und sah unverwandt zum schwarzdrohenden Gewitterhimmel. Ihm war weinerlich zumute. Er nagte an seiner Unterlippe und stierte auf die düstere Dorfstraße hinaus, wo jetzt der Wind sich aufgemacht hatte und welke Blätter himmelauf fegte. In der Torfahrt sah er seine Verwandten stehen und bedenklich die Köpfe schütteln. Wer weiß, worüber die jetzt sprachen! Wohl über das Unglück, das ihn sein Leben lang verfolgt hatte. Jetzt konnten sie ihn auslachen. Sie waren kleine Leute geblieben, aber er mit dem ganzen großen Grundstück, was war er denn? Weniger als sie. Nichts. Und jetzt ging ihm noch das Liebste verloren.
Der erste Blitz zickzackte. Ein dumpfer Donnerschlag folgte. Regen und Hagel schlugen prasselnd gegen die Scheiben der Fenster.
Im Zimmer war niemand als er und die Alte, mit der er heute den Bund fürs Leben von neuem besiegeln sollte. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Der Krüger war hereingekommen, um zu gratulieren, hatte sich aber sofort vor dem finsteren Blicke des Mannes zurückgezogen.
Vom Himmel, der jetzt in einem einzigen Grau schwamm, schüttete es herunter wie aus Eimern, Der Mann am Fenster fühlte, wie es ihm vor den Augen schwindelte. Auf einmal sah er im grellen Lichte der ununterbrochen zuckenden Blitze sein ganzes verfehltes Leben daliegen, vom ersten Tage an, heute vor fünfundzwanzig Jahren, wo er Gott den Herrn herausgefordert hatte durch den unnatürlichen Bund mit der verwünschten Hexe, über all die Jahre weg, die er schon für den Frevel gebüßt, bis auf diesen Moment, da nun vollends die Rache des Himmels auf ihn und sein liebstes Eigen herabschmetterte. Bei diesem Gedanken mußte er sich festhalten, um nicht umzufallen. Plötzlich fühlte er, wie sich die Hand seiner Frau ihm auf die Schulter legte. Er drehte sich um und glotzte sie an. Aber kein Wort kam über seine Lippen. Die alte dunkle Wut kochte wieder in ihm auf und warf schwere Blasen. Seine Augen stierten blutunterlaufen.
»Wie siehst du aus?« fragte die Alte. »Komm zu dir! Es hilft nichts.«
Er deutete hinaus. Sein Arm zitterte. Er wollte reden, aber er lallte nur unverständliches Zeug.
»Wer kann dafür! Was Gott schickt, muß der Mensch tragen. Gott straft uns für unsere Sünden. Alles wird wieder gut.«
Sie sprach ruhig und gefaßt und sah ihm fest in die irren Augen.
»Du bist schuld an allem, allem, allem! Du Gespenst, du!« brüllte er mit einem Male heraus und holte mit seiner Riesenfaust von oben herunter gegen das Weib aus, während gerade ein Blitz mit furchtbarem Knall draußen in nächster Nähe einschlug.
Mit einem entsetzten Aufschrei prallte die alte Frau vor der niedersausenden Faust zurück und sank wie ohnmächtig auf einen Stuhl.
Der wahnsinnige Mann hatte ins Leere getroffen. Im nächsten Augenblick war er bei voller Besinnung. Er sah die furchtbaren Augen der Alten in dem halbdunkeln Zimmer ihn anfunkeln und durchbohren. Ihre Lippen murmelten leise, aber er verstand nichts. Vielleicht war es ein letzter Fluch, mit dem sie ihn und sein Leben verwünschte.
Da stürzte er von grauenhafter Angst gepackt hinaus, hinter ihm schlug die Tür ins Schloß.
Die betäubte Frau saß eine Weile und wartete. Allmählich sammelten sich ihre Sinne von neuem. Ein einziger Gedanke grollte in ihr: Das der Schluß ihrer Tage! Hatte sie das vom Himmel verdient?
Plötzlich wurde von draußen die Türe aufgerissen.
»Frau Meseck! Frau Meseck! Erschrecken Sie nicht! 's is was passiert!«
Der Krüger stand auf der Schwelle und flog am ganzen Leibe.
Die Greisin hob sich langsam vom Stuhl, aber sie sprach kein Wort. Ihre Augen starrten wie abwesend nach dem kleinen Manne, dessen wohlgenährtes Gesicht erdfahl geworden war.
»Ihr Mann hängt im Stall am Türpfosten! Sie haben 'n eben abgeschnitten! Da kommen sie schon mit ihm an! Sollen wir nach 'm Doktor schicken?«
Sie erwiderte nichts. Ein sonderbarer Gedanke zog ihr durch den Kopf, dem mußte sie nachsinnen. Nun hatte sie doch noch länger ausgehalten und er war vorausgegangen! Der Fluch hatte sich erfüllt. Der Herr hatte ihn gehört. Ein leises Gefühl wie von einem letzten Triumph hob ihr Kopf und Brust.
Als dann aber die Verwandten den Toten hereintrugen, zwei Männer am Kopfende und einer an den Füßen, und ihn auf den Fußboden niederlegten, da sank sie in sich zusammen wie morscher Zunder.
»Armer Jung!« murmelte sie in einem fort. »Armer Jung! Armer Jung!«
Und dann nach einer langen, langen Weile, da sie unverwandt in das stiere Totengesicht gesehen hatte, entrang es sich der tiefsten Brust wie ein Schrei um letztes Erbarmen.
»Wer doch auch schon soweit wäre! O Gott! Wer doch auch schon soweit wäre!«
Und aus den alten vertrockneten Augen brachen noch einmal die heißen Tränen jugendlicher Jahre.
Draußen aber leuchteten die letzten fernen Blitze, und vom Kirchturm her setzten die Feiertagsglocken langsam ein, um zur silbernen Hochzeit zu laden.