Es ist eine seltsame Erscheinung, daß die neuere deutsche Literatur vorzugsweise einen Überhang zur Erzählung erhalten hat.
Was ist jetzt die Erzählung? Ist sie noch der glorreiche, bunte, abenteuervolle Roman wie »Tristan und Isolde«? Setzt dieser noch immer seinen Hauptwert in Schilderungen der Leidenschaften, in Kämpfe der Tugend wie Clarisse Harlowe und Werther? Schwelgt er noch in Abendröten und Mondscheindämmerungen, in unsagbaren Gefühlen wie Titan und Hesperus?
Er ist mehr – er ist weniger.
Mehr; denn fast ist er das alleinige, breite Schlachtfeld geworden, wo alle Gedanken und Anschauungen der Zeit zusammenstoßen, bekämpft, ausgetauscht werden; in seinen Gestalten drängen sich ganze Generationen ganze Volksklassen und zugleich Geschmacksrichtungen zusammen. Weniger; denn er hat damit seine Geschlossenheit verloren, er ist »schlußlos« geworden. Über sein Ende hinaus reichen die Fäden, die er gesponnen, weit hinaus in die Zukunft der Zeiten; die Fragen, die er angeregt, bleiben, wie das Rätsel der Sphinx, ungelöst im Geiste des Lesers, weil sie selbst im Gedicht nur eine scheinbare Lösung fanden.
Man hat daher gesagt: Lassen wir die Ideale, die großen Bestrebungen der Zeit, retten wir uns in die Wirklichkeit, die sich mit unsern leiblichen Augen sehen, mit unsern Händen greifen läßt! Setzen wir den ätherischen Gestalten der Tee-Romantik unsere Bauernmädchen, den träumerischen Handwerkern der George Sand unsere Kommis entgegen! Es waren, weil allmählich sich heranbildend, keine ursprünglichen Poeten, die so dachten, aber sie besaßen ein scharfes Auge für diese Realität und flüchteten sich in ihre kleinsten Kreise, weil sie dieselben am leichtesten übersehen und in eine gewisse malerische Perspektive setzen konnten. Sie gefielen sich in der Schilderung der Alltäglichkeit. Die kritischen Verteidiger dieser Richtung leugnen die Notwendigkeit einer phantastischen Welt für ein wahres, kunstgemäßes Gedicht; nur »bei seiner Arbeit« soll der Roman das Volk aufsuchen, nicht bei seinen Ahnungen, Wünschen, Gefühlen. Als ob nicht gerade in dieser Innerlichkeit der beste, arbeitende Teil seines Wesens läge, als ob sie, in seine Taten hineingearbeitet, nicht diesen erst Wert und Geltung verliehe!
Die Doktrin allein hätte freilich diesen Umschwung nicht hervorgerufen und die Welt von Goethe, Byron, George Sand unter die Räder ihres Wagens geworfen, wenn ihr nicht die Mode und die Gesellschaft selbst zu Hilfe gekommen wären. Die haben zuerst aus angeborener Lust nach Neuem, aus Blasiertheit, um ihren abgestumpften Nerven einmal stärkere Gerüche als die von Veilchen und Rosen zu bieten, das Genre der Dorfgeschichten, die englischen Novellen von Boz und seiner Nachahmer als die einzige, noch übrige Zuflucht der Poesie gerühmt und aus den Papieren des Pickwick-Klubs einen neuen Musenberg gebildet. jedem seine Ehre! Diese Darstellungen des Lebens sind oft feine, zierliche holländische Schildereien, mit getreuem, oft seelenvollem Blick der Wirklichkeit abgelauscht – aber sie haben auch nur diese Spiegelbildswahrheit und die Schönheit der genrebildlichen Ausführung für sich; – Kunst im höhern Sinne des Worts, wie sie sich in der Erfassung und poetischen Begeistigung eines umfassenden Plans offenbart, innerliche Verklärung ihrer Gestalten und ein kühnes Formen und Bilden mit des Dichters in »schönem Wahnsinn rollendem Auge« ist wenig in ihnen.
Der bedeutendste Roman dieser Richtung, den uns das vergangene Jahr brachte, war: »Zwischen Himmel und Erde«. Von Otto Ludwig (Frankfurt am Main, Meidinger Sohn & Komp., 1856).
Was schwankte hier nicht »zwischen Himmel und Erde«? Nicht bloß das einsame Schiff des Schieferdeckers um den St.-Georgenkirchturm, sondern jedes darin geschilderte Leben. In diesem gesuchten Titel schon lebt die Metaphysik, die uns auf jeder Seite begegnet und durch spitzfindige, zuweilen tiefe Dialektik uns über die Kleinheit der Handlung und die Armut der schaffenden Phantasie zu täuschen sucht. So frisch und wahr auch die Nebenumstände, das Haus und die Kirche, worin die Geschichte spielt, die Arbeit des Schieferdeckers daguerreotypiert erscheinen, so sehr die eigentliche Muse dieser ganzen Richtung, die Erinnerung, ihr günstig war, die Erfindung selbst krankt an Unmöglichkeiten. Der alte Nettenmair möchte sich nicht schlecht in spanischer Alkaldentracht mit dem Stab des Richters von Zalamea in Calderons Schauspiel ausnehmen oder in der Welt des Don Gutierre als Arzt seiner Ehre; aber in seinem blauen Rock auf dem Kirchturme ist er eine chinesische Pagode. Hier zeigt es sich, zu welchen Dissonanzen das Übertragen rein idealer Konflikte der Ehre und der Liebe in Lebensverhältnisse führt, in denen sie wohl vorübergehend empfunden, aber schon durch die Not und die Pflichten jedes Tags verdrängt und betäubt werden. An Lelia sollen wir nicht glauben, wie können wir an Apollonius glauben?
Wie in seinen Dramen, ist Otto Ludwig auch in seinen Erzählungen ein geschickter Anatom der Seele; das ist sein Ruhm, aber auch seine Grenze. Sein symmetrischer Bau macht keinen harmonischen Eindruck. Er arbeitet mühevoll, gebunden an die realistische Theorie, eingefangen und begrenzt von dem Boden der Wirklichkeit, immer suchend und tastend, ob das da so geschehen ist oder so geschehen sein könnte. Seine »Makkabäer« sind infolge solcher Ängstlichkeit fast durchgängig gleichsam in ein- und zweisilbigen Worten geschrieben; das ist nicht der Strom, in dem man einen so bedeutsamen Geist zu sehen wünschen muß.
Frischer, nicht von beständiger Seelenmalerei angekränkelt und reicher an tatsächlichem Inhalt sind die »Dorfgeschichten aus dem Ries. Von Melchior Meyr« (Berlin, Springer, 1856). Dem Dichter sind Land und Leute wie keinem bekannt, denn lange hat er auch in diesem Gau, der zwischen Bayern und. Württemberg liegt, gelebt. Seine drei Novellen zeichnen sich durch die Klarheit ihrer Darstellung, durch die scharfe Charakterisierung ihrer Gestalten aus. Wahrhaft Schöpferisches und nach irgendeiner Seite hin Originales bringen und geben sie allerdings nicht. Solange wir uns nicht in der Theorie von dem Realismus befreit haben, wird alles, was in dieser Richtung geschaffen wird, nach kurzem fesselnden Reiz zu bald verklingen.
Wenn der Zwiespalt, der diesen realistisch-dorfgeschichtlichen Darstellungen eigen ist, sich bei Otto Ludwig am schlagendsten in der Erfindung der Konflikte offenbarte, in die er seine Helden verwickelt, ruht er in den Romanen und Novellen Josef Ranks in dem Mißverhältnis zwischen Darstellung und Inhalt.Rank ist ein fleißiger Schriftsteller, im vergangenen Jahre erschien von ihm »Sein Ideal«, »Von Haus zu Haus, kleine Dorfgeschichten« (Leipzig, Voigt & Günther, 1856) und»Achtspännig« (Volksroman, Leipzig, Mendelssohn, 1857) in zwei Bänden.
Viel Material, aber wenig Eigentümliches, wenn man die Manier nicht so nennen will. Die Manier ist hier, das Kleinste und Alltäglichste zu idealen Höhen hinaufzuschrauben und die vorübergehenden Verhältnisse des Lebens mit dem Auge zu betrachten, wie wenn Scipio Karthago verbrennt oder Julia den toten Romeo an ihrem Sarge sieht. Freilich empfindet der Fuhrmann im Kittel Schmerz und Freude so gut wie Hamlet oder Desdemona, aber es ist nicht wahr, daß er sie so äußert wie jene. Die Liebe eines Bauernmädchens mag reiner, mag natürlicher sein als die Leidenschaft, die in den Versen der Sappho und in den Briefen der Julie Lespinasse lodert, aber warum ist sie schöner? Am wenigsten ist sie es, wenn sie sich mit solchen Blumen schmecken will, wie Julie ihre Liebe zu Romeo schmeckt
»Achtspännig« ist die Bekehrungsgeschichte – eines Frachtfuhrmanns, der aus einem Todfeind der Eisenbahnen zu ihrem Freunde und Anhänger wird! Es ist eine Allegorie von den Ruinen der Schlösser, aus denen die Bauern der Nachbarschaft Steine zum Bau ihrer neuen Häuser brechen. Die Konflikte, die bei Melchior Meyr Herzensirrungen, Kämpfe zwischen Söhnen und Vätern, in Otto Ludwigs Novelle einschneidende, allgemein menschliche und tragische sind, haben hier einen sozialen Hintergrund gewonnen und die Färbung von Prinzipienstreiten angenommen; darum ist ihre Lösung eine zweifelhafte, nur für diesen Fuhrmann Weringer eine gültige und bruchlose. Denn nicht jedes »Alte« geht segenwünschend dem »Neuen« in ihm unter und auf, nicht jedem löst sich der Kampf seines Lebens so rein und leicht. Poesie, wie wir sie verstehen, Durchdringung und Durcharbeitung des Gegebenen zur Idealität, findet sich in diesem Roman wenig, wohl aber Abkonterfeiung des Dorfs, seiner Spiele und Feste, seiner Leiden und Stürme, ja sogar seiner Pferdekrankheiten. Es ist wie in der alten Dresdener Galerie, wo fünfzig Bilder Wouwermans nebeneinander hingen. Und dennoch, welche Abwechselungen, welch überraschender Farbenwechsel bei alledem bei diesem Maler! Wie weiß er seine Themata – Reiterschlachten oder Ausritte zur Jagd beständig durch einzelne kleine Züge neu und frisch zu gestalten Wie grau, wie eintönig aber und ewig einerlei ist alles in euern Dorfnovellen! Am anziehendsten sind die kleinen Bilder, die Josef Rank in seinem »Von Haus zu Haus« entwirft; hier hat ihm in der Landschaftsmalerei Stifter zum Vorbild gedient. Schade, daß dem buntfarbigen Schmetterling dabei sein bester Schmelz von den Flügeln gewischt worden ist. Die Erwartung wird in diesem Buche nicht getäuscht; man findet, was man gehofft: Genrebilder. Die letzte Erzählung »Klärchen« leidet mit dem plötzlichen Hineinspielen einer sentimentalen Romantik an dem Zwiespalt, von dem wir oben sprachen. Die Ostades sollten sich keine Raffaele dünken; eine Bemerkung, die indessen nicht dem bescheidenen und immer anspruchslosen Wirken und Dichten Josef Ranks gelten soll.
Nach Jeremias Gotthelfs Tode bleibt nächst Rank der Sinnigste und Bedeutsamste auf diesem Gebiete immer Berthold Auerbach. Nach Versuchen, in diese oder jene Sphäre, die eine größere Gestaltungskraft und selbsterfindende Phantasie erfodert, abzuschweifen, kehrt er am glücklichsten immer wieder auf das Gebiet zurück, wo er auf festen heimatlichen Boden tritt und ihm Wirkungen von seltenem Reiz gelingen.
Indessen hat uns »Barfüßele« (Stuttgart, Cotta, 1856) nur in seinem letzten Drittel befriedigt. Sogar gefahrvoll erscheint uns die Weise zu sein, der sich der Dichter in dieser Erzählung bis Seite 166 ergeben hat. Es ist der idealisierte Realismus, der, wenn er sich bei seinen Verschönerungen und Vertiefungen die Miene gibt, doch nur die Natur und nichts als die Natur zu wollen, der verwerflichste von allen ist. Ein Mädchen, das auf dem Dorfe nur barfuß geht und die Gänse hütet, wird immerhin verständiger sein können, als ihre platte, gewöhnliche, ja schmutzige Situation zunächst mit sich bringt; aber so hoch hinaus potenziert, wie es hier geschehen ist, wird die Erscheinung unwahr und theatralisch. In einer unendlichen Monotonie ziehen sich geradlinig fort von diesem Mädchen Charakterzüge, die fast sämtlich den Stempel der Abstraktion tragen. Statt daß wir von ihren nächsten Sorgen, z. B. um die Gänse, unterrichtet würden, entwickelt sie an ihrem Leben eine Reihe von zufälligen Apergus, die nicht auf ihrem eigenen Anger erblüht sein konnten,' sondern nur den Beobachtungen aus dem Leben der Bildung entnommen sind. Ihre Urteile über Orden, ihr Geldwegwerfen, ihre Betrachtungen über den Wind, ihre Rätsel, ihre Lieder sind künstlich auf sie übertragene Kollektaneen des Dichters, der mit seinem eigenen Selbst aus dieser Theaterfigur überall herausschaut.
Die Wirkung ist verfehlt aus einem doppelten Grunde. Einmal ist diese überreife, sich verdrängende Apartheit und dreinredende Besserweisheit der Gänsehirtin unerquicklich an sich und läßt uns kein weises, nur naseweises Mädchen kennen lernen. Dann aber auch befindet sich der Dichter in dem Grade in Bewußtheit über diese Persönlichkeit, daß er sie bis zum Schöntuenden ausmalt. Nie ist der Autor so weit über die Grenze der Anmut bis zum Lovely oder dem Albumstil hinausgegangen wie in diesem bunten Aufputz einer Unmöglichkeit. Er legt seiner Heldin Stimmungen, Traumzustände, Naturschauer unter, die nur dem süßlichen, alles Inhaltlose liebenden Geschmack der Zeit an dieser Stelle glaubhaft sein können. Schon die Titelüberschriften seiner Kapitel: »Es klopft an«, »Er ist gekommen«, »Tu dich auf!«, »Die ferne Seele« usw., beweisen des Autors Absichtlichkeit, ein objektives Bewußtsein über den preziösen Zweck und die zu seiner Erreichung gebrauchten Mittel.
Von Seite 166 jedoch an kehrt dem Dichter sein besserer Genius zurück. Nehmen wir die preziöse »Silbertrab«-Episode, ohnehin Nachahmung einer Gottfried Kellerschen Situation, aus, so wächst von da ab seine alte Kraft und reißt uns, da es zugleich zu Lust und Freude geht, in mächtiger und gesunder Umarmung fort. Worin liegt hier plötzlich der unwiderstehliche Zauber? Darin, daß die Situation wirklich ein untergeordnetes Magdtum seiner Heldin notwendig mit sich bringt. Stört auch da und dort wieder jenes altkluge und vorwitzige »Hör' du, das mußt du nicht tun!« usw. – so verschwinden diese gesuchten Bewußtheiten doch gegen die nun sich notwendig ergebende Wahrheit der anderweitigen Umstände und trefflich gezeichneten Personen.
Als wir jedoch die Erzählung zu Ende hatten, war es uns bei alledem, wie wir bei dieser ganzen Literatur des Realismus immer empfinden. Die Drehorgel schweigt, und die Figuren, die durch den inneren Mechanismus des Kastens oben auf seinem Deckel tanzen, stehen plötzlich in schreckhafter Wirklichkeit mit derselben lachenden Miene, dem aufgehobenen Beine, eben ansetzend zum Tanz, eben den Mund öffnend zum Sprechen, stumm und starr vor uns. Es ist uns nur etwas vorgespielt und vorgejodelt worden. Es fehlt der Nachklang der Wahrheit! Die angeregte Phantasie ist übersättigt; sie kann, da sie zu viel, zu Objektives, zu daguerreotypisch Aufgenommenes empfing, nichts weiter ausspannen und ins Endlose hinaus sich das Leben und künftige Sein dieser Gestalten mit wahrhaftem Glauben selbst ausmalen. Die tiefe Unwahrheit dieser Literatur, die mit diesem unleugbaren Kennzeichen doch gerade wieder eine so lebhafte Provokation an das Geglaubtwerden verbindet, macht sie ebendeshalb auch zu einer Förderung der Reaktion. Nur zum Gedankenlosen kann es führen, wenn man die Roheit, die Unbildung, die religiöse Verdumpfung, die Sittenlosigkeit der Bauernwelt nicht mit derselben energischen Hand anfaßt, die ihr doch habt, wenn ihr – auf anderen Gebieten aufräumt!
Diese Betrachtung auf Malerei, auf Musik, auf Plastik auszudehnen (wo der Realismus es auch noch dahin bringen wird, daß wir uns seine Schöpfungen eher in Dragee als in Marmor ausgeführt denken müssen), liegt nahe. Doch brechen wir sie für heute ab, um sie gelegentlich wieder aufzunehmen.