Wieder war ein Schächtelchen fertig. Der Loibacher löste das kleine, zierliche Ding aus der Drehbank, probierte noch einmal, ob sich der dünne Deckel auch richtig auf den Untersatz füge, und gesellte es dann zu den übrigen, die schon zu Dutzenden auf der Drehbank übereinandergeschichtet standen. Mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung wischte er sich den Holzstaub aus dem grauen Schnurrbart und von den furchigen Backen und schüttelte die krausen Späne von der blauen Leinenschürze. Aus einem vor Alter morschen Weidenkorbe nahm er ein kurzes, roh behauenes Stück weißen Ahornholzes und musterte die Übergänge mit einem wägenden Blick seiner dunklen, langsamen Augen, die, von zahllosen Fältchen umzogen, unter buschigen Brauen tief gebettet lagen. Achtsam spannte er das Holzstück zwischen die Bolzen der Drehbank und griff nach dem Hohleisen, dessen Schärfe er am Daumennagel prüfte.
Mit einem Stoß des Handballens brachte er das große, von einem groben Eisenreif umschlossene Schwungrad in Bewegung. Dabei seufzte er tief auf, wie unter schwerer Sorge, und neigte den Kopf zur Seite, um durch das kleine, offene Stubenfenster besser nach der Hausbank sehen zu können. Geraume Zeit verweilten seine Blicke da draußen, bevor er sie, wieder seufzend, zurückwandte zu seiner Arbeit. Wehmütig nickte er vor sich hin, schob den Fuß über die auf- und niedersteigende Tretstange und setzte mit festgeschlossenen Händen das Eisen an das wirbelnde Holz. Die Späne flogen auf, und während die krausen Scheitchen dem Alten gegen die Brust und über die stämmigen Schultern flatterten, sprühte ihm der feinere Drehstaub ins Gesicht und in die grauen Haare. Dazu erfüllte ein Zittern und Schwanken die kleine, ärmliche Stube.
Werkstätte, Schlafkammer und Wohnraum, das alles war diese Stube in einem. Die beiden Ecken an der längeren Fensterwand waren mit der Drehbank und dem Schnitzbock ausgefüllt; in der dritten Ecke stand das schmale Bett des Alten zwischen Wand und Ofen, in der letzten Ecke der Tisch und die Winkelbank. Das mit Palmzweigen und verdorrten Feldblumen gezierte Kruzifix war neben einem Bild der Muttergottes der einzige Schmuck der rissigen, vom Ofenrauch gebräunten Wände. Die Stube hatte zwei Türen, die weit offenstanden; die eine führte in eine enge Kammer, in der man einen roh gezimmerten Schrank, zwei Stühle und das Ende eines mit geblumten Kissen überdeckten Bettgestells gewahrte; die andere Tür führte in den Flur, dessen tiefere Hälfte als Küche diente. Ein weiteres Gelaß enthielt das Haus des Loibachers nicht; doch gewahrte man im Fußboden des Flurs eine Bretterklappe, unter der die Kellergrube lag, während an der Decke eine Falltür den Zutritt zum Bodenraum gestattete, den man auf einer Leiter besteigen mußte. Dort hinauf wanderten allabendlich die Schachteln und Schächtelchen, die der Loibacher tagsüber fertigstellte; am Ende der Woche wurde dann der ganze Vorrat heruntergeholt, auf die Kraxe verladen und zum »Verleger« ins Dorf geliefert.
Und wieder war ein Schächtelchen fertig. Wieder löste es der Loibacher aus der Drehbank, prüfte die Fügung des Deckels und stellte es zu den übrigen. Wieder schüttelte er die Späne von der Schürze und wischte den Staub vom Gesicht. Wieder seufzte er und warf dazu einen sorgenvollen Blick durchs Fenster.
Da ließ sich von der Haustür her eine müdklingende weiche Mädchenstimme vernehmen: »Vaterl, kannst mir schon wieder eine bringen.«
»Ja, mein Schatzl«, fuhr der Loibacher auf und stellte die Drehbank ab, die er eben erst in Gang gebracht. »Gleich bring ich dir ein Einsatz aussi!« Hastig wählte er aus dem Vorrat zwölf Schächtelchen verschiedener Größe, von denen immer eines in das andere paßte, und die, so ineinander gefügt, einen »Einsatz« bildeten. Den zur Probe zusammengefügten Einsatz schachtelte er wieder auseinander, legte die einzelnen Stücke vorsichtig in seine Schürze und eilte ins Freie.
Hier auf der Hausbank saß ein ärmlich, aber sauber gekleidetes Mädel, kaum älter als achtzehn Jahre. Welch eine Summe von Leiden aber mußte über dieses junge Leben gekommen sein! Dieses Gesicht mußte damals, als noch der frische Duft gesunder Jugend auf diesen nun so schmalen Wangen gelegen, von lieblicher Schönheit gewesen sein. Denn auch jetzt noch, trotz seiner durchsichtigen Blässe, trotz der tieftraurigen Wehmut, die aus den großen braunen Augen sprach – auch jetzt noch übte dieses Gesicht einen eigenartig sanften Zauber. Es war nichts Herbes an ihm. Leiden ohne Klage, Duldung ohne Bitterkeit und Vorwurf. das war die Sprache dieser Züge, der Ausdruck dieser schwächlichen, müd gebrochenen Gestalt.
Eine Krücke lag zu ihren Füßen. Eine große Lodendecke umhüllte ihren Schoß, auf dem ein kurzes, mit grellen Farben kunterbunt getränktes Brettchen lag. Auch ihre weißen, mageren Hände zeigten solche Flecken. Ihr zu Rechten standen kleine Töpfe mit verschiedenen Farben auf der Bank, während ihr zur Linken die Schächtelchen in Reih und Glied gestellt waren, damit die frische Bemalung in der hellen, warmen Sonne trockne.
»Ja was is denn? Heut geht's aber gschwind bei dir! Ich muß ja schier zruckbleiben hinter deiner!« schmollte der Loibacher, während er den Inhalt seiner Schürze dem Mädel auf den Schoß gleiten ließ. Doch wollten seine scherzenden Worte nicht recht zu den sorgenvollen Blicken passen, mit denen er im Gesichte der Tochter zu lesen suchte.
»Schau, und ich bin so froh drum, daß ich dir doch ein bißl was helfen kann!« Sie seufzte und hob die traurigen Augen zum Vater auf. »Denn weißt, allweil bloß essen und brauchen allein ... und nix dafür schaffen können, das ... das ... «
»Aber geh! « unterbrach sie der Vater kurz und herb. Das war nun wirklich ein Vorwurf.
In den Augen der Kranken erschien ein flüchtiger Glanz, und ein dünnes Lächeln huschte um ihren Mund. Sie atmete auf, griff nach dem größten der neuen Schächtelchen, legte es auf dem Brettchen zurecht und begann es von innen und außen mit einer dunkelroten Beize zu tränken. Den so gewonnenen Grund bemalte sie mit blauen Ringen und weißen Sternen, von denen sie dünne Strahlen in Gold und Silber nach allen Richtungen auseinanderzucken ließ. Dabei neigte sie das Gesicht tief über ihre Arbeit, und häufig hob sie die linke Hand, um mit dem Gelenk die kurze, immer wieder über die Stirne schwankende Strähne ihres schwarzbraunen Haars in die Höhe zu streichen.
Der Loibacher schwieg und drückte die linke Hand in den Nacken. Seine Lippen preßten sich herb zusammen, ein schroffer, fast zorniger Ausdruck erschien in seinen furchigen Zügen, und so ließ er über das waldige Gehänge, das im hellen Glanz der Mittagssonne lag, die Blicke niedergleiten ins Tal, in dem die Dächer des Dorfes aus den dichten Bäumen lugten. jenseits des Tales stiegen die Berge empor in gewaltiger Masse; dunkle Wälder umkleideten ihren vielgegliederten Sockel, während weitgedehnte, lichtgrüne Almenmatten den Übergang zu den schütteren Latschen– und Zirbelgehölzen bildeten, aus denen die grauen, nackten Felsen aufwärts starrten, um wieder zu verschwinden unter ewigem Schnee.
In jener steilen Ferne verweilten die Augen des Alten mit so finsteren, zornigen Blicken, als hätte er die stummen, regungslosen Berge zur Rechenschaft ziehen mögen für das namenlose Leid, das zwischen ihren starren Mauern über sein armes Kind gekommen.
Dort oben war die ganze Hoffnung seines Vaterherzens zunichte geworden – in einer einzigen Nacht!
Als man ihm vor Jahren das kreischende Kindlein in die Arme legte, da hätte er im Glück dieser Stunde trotz all seiner drückenden Armut nicht mit dem Reichsten im Dorf da drunten tauschen mögen. In der Liebe zu diesem Kinde hatte er den Tod seines Weibes verschmerzt. Er hatte gearbeitet Tag für Tag, vom grauen Morgen bis in die sinkende Nacht, und hatte gedarbt, um nur sein Dirnlein besser nähren und kleiden zu können. Und als das Mädel heranwuchs, so schmuck an Leib und Seele wie kein zweites im ganzen Tal, da trug der Loibacher den Kopf so stolz erhoben, als bärge die Hütte über der Loibachklamm von allen Gütern im weiten Lande das allerbeste. Wie groß erst hatte er getan, als Klara in das Alter kam, in dem die Mädchen auf die Almen fahren! Wie wählerisch war er gewesen, als die Almbauern sich meldeten, um das »Loibachermadl« für ihren Dienst zu werben. Charakter und Stellung des Bauern, Bestand und Ansehen der Herde, Ergiebigkeit und Lage des Almengrundes, Bauart und Sicherheit der Sennhütte – wie lang und reiflich hatte der Loibacher diese Dinge nach allen Richtungen hin erwogen, bevor er sein Jawort in eine der vielen Hände schlug, die sich ihm entgegen streckten. Und als er dann die langen Sommertage einsam vor seiner schnurrenden, rumpelnden Drehbank stand, da war sein ganzes Denken nur ein Träumen von seinem fernen Kinde, ein Träumen von dem Glück, das seinem Mädel unfehlbar erblühen mußte, wenn der liebe Herrgott nur einigermaßen in gerechter Ordnung seines Amtes waltete. Dabei dachte der Loibacher durchaus nicht an ein bestimmtes »Glück«; er träumte eben nur von irgendeinem, von einem ganz besonderen, von einem besonders seltenen. Und das Glück seines Kindes wäre dann auch doppelt das seine gewesen.
Und nun!
Wie war sein Kind von ihm gegangen! Und wie war es ihm von jenen Bergen heimgekehrt!
Als wär' es gestern erst gewesen, so deutlich stand die Erinnerung an jenen Morgen vor seinen Augen. Gleich unter dem ersten Blicke, den er damals im grauenden Frühlicht durch das Fenster geworfen, hatte ihn beim Anblick dessen, was die stürmische Nacht gebracht, die Sorge seines Vaterherzens mit banger Ahnung erfüllt. Wie weit aber war sein Bangen und Ahnen noch zurückgeblieben hinter der grausamen Wahrheit!
Ein jäher Schauer zog dem Alten den Kopf in den Nacken. Hastig trat er an Klaras Seite, setzte sich zu ihr und schlang wie schützend den Arm um ihre Schultern.
Mit dankbaren Augen schaute sie zu ihm auf und nickte ihm leise lächelnd zu. »So, Vaterl, vergönn dir auch ein bißl Rast! Ich mein, du kannst es brauchen.«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Ah na ... das grad net, aber ... « Da verstummte er wieder und preßte, schwer atmend, die Lippen übereinander.
Klara beugte das Gesicht tief über die Arbeit, um dem Vater die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen schossen. Mit doppeltem Eifer fuhr sie in ihrer Beschäftigung fort. Da rückte der Loibacher ein wenig zur Seite, um ihren Arm nicht zu behindern; und um ihr die ohnehin geringe Mühe noch zu erleichtern, hielt er ihr auf den Knien abwechselnd das Farbentöpfchen hin, das sie benötigte.
So saßen sie schweigend; in den nahen Bäumen zwitscherten die Vögel; ein leises Flüstern ging durch alle Blätter; aus der Felsschlucht, die sich nah beim Hause durch den Berghang sprengte, quoll das eintönige Murmeln und Raunen der Loibach, und von der nicht sichtbaren Straße, die dort unten zwischen Wasser und Felsen bergwärts zog, tönte das wechselnde Geräusch eines ungewöhnlich regen Verkehrs; bald das Rasseln eines leichten Wagens, bald einsam hallende Schritte, bald das Pfeifen oder Singen eines Wandernden, bald wieder der klappernde Taktschritt eines größeren Trupps, vermischt mit lautem Stimmengewirr, mit hellem Gelächter oder falsch zusammenstimmendem Gesang.
»Heut geht's aber lebendig zu auf der Straßen drunt. Was is denn los?« fragte Klara nach einer Weile.
»Aber Schatzl, wie bist denn dran in der Zeit?« staunte der Loibacher. »Weißt es denn net? Morgen ist ja 's Kirchenfest bei der heiligen Mutter in der Einöd! Freilich, wenn man d' Leut so hört, da möcht man's keim net anmerken, daß er auf der Wallfahrt is. Und wär doch manchem 's Beten nötiger als wie 's Lachen und 's jodeln. Aber natürlich, da geht's auch mehr ums Essen und Trinken als wie um der heiligen Mutter ihr Fürbitt.«
Damit erhob sich der Loibacher, um zu seiner Drehbank zurückzukehren. Und während gleich darauf in der Stube drinnen das alte Rappeln und Schnurren begann, ließ sich wieder einmal aus der Tiefe der Straße das Lärmen einer vorüberziehenden Schar vernehmen. Lustig schnatterten die Stimmen der Burschen und Mädchen durcheinander. Nun zog die Schar dicht unter dem Hause vorüber, und als in der Stube gerade die Drehbank stockte, hörte Klara aus all dem wirren Geplauder deutlich eine heiser lachende Männerstimme heraus: »Was ist denn eigentlich mit dir? Weswegen bist du denn auf einmal so stad? Machst ja ein Gsicht wie der Has, wann der Fuchs net weit ist? Geh, sag, was hast denn, Alois?«
Beim Klang dieses Namens zuckte Klara zusammen, und fiebernde Röte schoß in ihre schmalen Wangen. Und während sie wie in bangem Lauschen langsam den Kopf erhob, erweiterten sich ihre Augen, und die Lippen fielen ihr auseinander.
Drunten auf der Straße ließ sich, kaum noch verständlich, beinahe völlig erstickt von all dem wirren Geplauder, eine murrende Stimme zur Antwort auf jene andere vernehmen.
Da flog ein jähes Erblassen auf Klaras brennende Züge, und mit gewaltsamer Anstrengung versuchte sie sich aufzurichten. Kraftlos aber sank sie wieder zurück, ihre Hände fuhren nach dem Herzen, und während ihr die Lider brachen, fiel ihr das Haupt schwer an die Mauer. Das Brettchen glitt von ihrem Schoß und stürzte klappernd auf die Steine; das frisch bemalte Schächtelchen, das darauf gestanden, hüpfte über das Master hinweg und rollte weit hinaus ins Wiesengras.
»Ja lieber Herrgott, Schatzl, was is denn?« klang es mit ängstlicher Frage aus dem Fenster. Und da stand der Loibacher auch schon vor Klara, zog sie in seine Arme und stammelte: »So red doch! Um Gotts willen, was hast denn schon wieder?«
Ein heftiges Zittern überrann den Körper der Kranken. Sie schlug die Augen auf, und ein schwerer, stockender Atemzug schwellte die Brust. Schmerzlich und hilflos lächelnd, schaute sie den Vater an und sagte mit gebrochener Stimme: »Mußt dich net sorgen ... na ... gwiß net! Grad ein bißl gspürt hab ich's halt wieder ... weißt, so in mir drin ... wie's halt diemal kommt. Aber es ist schon wieder gut! «
Der Alte schüttelte in stummer Verzweiflung den grauen Kopf, und schwere Kümmernis malte sich in seinen furchigen Zügen. Klara lehnte den Kopf an seine Schulter und starrte mit heißen Augen in ziellose Ferne. Dann plötzlich fuhr sie auf, streifte mit einem scheuen, flackernden Blick das Gesicht des Vaters und stammelte in leidenschaftlicher Erregung: »Vaterl, mußt mir net harb sein ... aber seit ich weiß, daß morgen ... schau, Vaterl, von Menschenhilf, da därf ich mir nix mehr hoffen... aber die heilig Mutter in der Einöd, sagen d' Leut, die soll so gut sein und so gnadenvoll! Vaterl, schau, grad bitten tu ich dich, laß mich morgen Wallfahrt machen zu der heiligen Mutter auffi in d' Einöd! Nachher, mein ich, nachher könnt ich leicht noch gsunden! Vaterl, ich bitt dich, mir hängt die ganze Seel an der Wallfahrt! Laß mich, laß mich morgen auffi in d'Einöd!«
»Wie gern, mein Schatzl, wie gern! Und ich glaub dir's ja und hätt auch selber ein richtigs Zutrauen zu der heiligen Mutter«, stotterte der Alte und fuhr sich in ratlosem Kummer mit beiden Händen durch die Haare, »aber schau, wie könnt denn so was möglich sein! Vermagst ja kaum ein paar Schritterln auf deine armen Füß ... und auffi in d' Einöd is woltern ein Weg von fünfthalb Stund! Und ein Wagen ... mein liebs, liebs Madl ... ein Wagen, den vermag ich net!«
Er hatte nicht den Mut, seinem Kind in die angstvoll flehenden Augen zu sehen. Zögernd erhob er sich, nahm mit zitternden Händen das Brettchen von der Erde auf, holte das Schächtelchen aus dem Grase, legte beides auf die Bank und schlich, das Kinn auf die Brust gesenkt, mit müden Schritten in das Haus zu seiner Drehbank. Aber seinen zitternden Händen wollte keine Arbeit mehr geraten. Unter der Willkür des unsicher geführten Eisens verdarb ihm ein Holzstück um das andere. Brütendes Sinnen sprach aus seinen zerstreuten Augen, aus seinen gefurchten Brauen. Und plötzlich warf er das Eisen beiseite, riß die Schürze von den Lenden und stieß die hölzernen Pantoffel von den nackten Füßen. Lautlos eilte er in den Flur, stieß an der niederen Decke die Falltür auf, setzte die Leiter an und bestieg den Bodenraum. Eine Weile kramte er dort oben umeinander, und als er wieder auf der Leiter erschien, zog er eine hohe, schwer und plump gebaute Kraxe hinter sich nach, die er mit seinem ganzen Vorrat an Schachteln und Schächtelchen beladen hatte. Er nahm sich nicht einmal Zeit, die Leiter wieder umzulegen und die Falltür zu schließen. Hastig stellte er die Kraxe auf den Herd, eilte in die Stube, fuhr zugleich mit den Armen in den abgetragenen Spenser, mit den Füßen in die knolligen Nagelschuhe und riß den mürben Filzhut von der Ofenstange. Beim Verlassen der Stube tauchte er die zitternden Finger in ein irdenes Kesselchen und besprengte sich das Gesicht mit dem geweihten Wasser. Unter stockendem Seufzer trat er vor den Herd, legte das tellerförmige Kraxenkissen auf den Kopf, der sich beim Tragen der Kraxe mit dem Rücken in die Last zu teilen hat, bückte sich, zog die beiden Tragriemen über die Schultern und richtete sich auf. Erst verwahrte er noch den Hut auf dem Kopfgesims der Kraxe, dann trat er ins Freie. Da sah er, wie sich Klara hastig mit beiden Händen über die Augen fuhr.
Sie wollte nach ihrer Arbeit greifen, doch als sie den Vater so unerwartet zum Ausgang gerüstet sah, fragte sie erschrocken: »Aber Vaterl, was treibst denn jetzt auf einmal? Heut is ja net Liefertag?«
»Macht nix, Schatzl, macht nix! D' Hauptsach ist, daß ich was zum Liefern hab ... und da kann ich ja liefern, wann ich mag. « Zärtlich strich der Alte die schwielige Hand über das weiche, dunkelglänzende Haar des Mädels. »Drum bhüt dich Gott derweil! Gar z'Iang bleib ich net aus ... und wer weiß, leicht könnt's mir dengerst noch graten, daß ich dir dein frommen Wunsch erfüllen kann... wegen der Wallfahrt auffi in d'Einöd.«
jähe Freude leuchtete aus Klaras Augen, um rasch dem Ausdruck ängstlicher Sorge zu weichen. »Jesus Maria, Vaterl! Na, na! Das will ich fein gwiß net, daß ... «
Der Loibacher aber hörte nicht mehr auf ihre Worte; mit einem ermutigenden Lächeln nickte er ihr noch einmal zu, während er schon dem schmalen, talwärts führenden Fußpfad folgte.
Nach einem halbstündigen Marsch erreichte er das Dorf und lieferte seine Ware beim »Verleger« ab. Als er aus dem Ladenraum mit leerer Kraxe auf die Straße trat, hielt er den kargen Verdienst auf flacher Hand vor sich hin und murmelte trübselig: »O mein Gott, da fehlt's weit! Und völlig auslassen kann ich mich ja dengerst net!«
Im ganzen Dorfe wanderte er umher, um eine Fahrgelegenheit für sich und Klara zu erfragen. Aber alle, die zu Wagen das Kirchenfest in der Einöd besuchten, hatten schon vor Stunden das Dorf verlassen. Ebensowenig gelang es ihm, für sich und seine Tochter ein eigenes Gefährt zu mieten; denn da der ehrliche Alte jeder Anfrage gleich die Bemerkung beifügte, daß er vorerst nur einen kleinen Teil des Fuhrlohns bezahlen könnte, wurde er überall, wo er anklopfte, mit Ausreden abgespeist; da waren bald die Pferde von schwerer Arbeit ermüdet, bald waren sie für den anderen Tag schon vergeben, bald hatte das Sattelpferd einen schwärenden Huf, bald wieder das Handpferd einen bösen Husten.
Mit kummervollem, finsterem Gesicht machte sich der Loibacher endlich auf den Heimweg. Doch seltsam – als er sein Haus erreichte, sprach helle Zufriedenheit aus seinen Zügen. Schmunzelnd nickte er seiner Tochter zu, die ihm bang entgegenschaute, und rief sie mit den fröhlich tröstenden Worten an: »No, also, Schatzl, schau, jetzt geht's dir dengerst naus! Alles kostet grad ein Probierer! Bis morgen zur Kirchenzeit bist draußen in der Einöd ... und gelt, da heißt's nacher woltern ein Packl Vaterunser beten zu der heiligen Mutter! Leicht hat s' nacher doch einmal ein Einsehn mit dir, du Hascherl, du arms!« Da wollte ihm das Schmunzeln und Fröhlichsein nicht mehr recht gelingen. »Aber gelt, zeitig schlafen legen mußt dich halt, damit ums Tagwerden wieder munter bist! Denn bis um drei in der Fruh, da steht schon der Wagen vor der Tür, ja, ein ganz kamoder Wagen! «
Klara brachte kein Wort über die Lippen; aber ihre Augen brannten, und krampfhaft hielt sie im Schoß die Hände verschlungen, als wollte sie mit Gewalt das heftige Zittern überwinden, das ihr vom Nacken aus durch alle Glieder rann.
»Aber geh, Schatzl, was hast denn? Schau, da brauchst dich jetzt wegen gar nix zu sorgen! « tröstete der Alte und strich dem Mädel mit beiden Händen das dunkle Zaushaar aus der bleichen Stirn. »Denn daß ich dir's nur sag ... er tut mich gar nix kosten, der Wagen! Ah na, net ein bißl was ... auf Ehr und Seligkeit! ja, schau, und jetzt richt ich dir gleich dein Süpperl her, daß bald zum Schlafen kommst ... gelt, ja?« Bei diesen Worten zog er schon die Arme aus den Riemen, eilte ins Haus, stellte im Flur die Kraxe nieder und prüfte mit Händen und Augen von allen Seiten ihre Festigkeit. Befriedigt nickte er vor sich hin, trat an den Herd und entfachte mit dürrem Reisig ein loderndes Feuer.
Fern über den Bergen war die Sonne schon gesunken, und eben hallte mit schwebendem Klang das Abendläuten aus dem Tal herauf, als der Loibacher mit schlurfenden Schritten wieder ins Freie trat, eine dampfende Schüssel zwischen den vorgestreckten Händen. Er setzte sich auf die Hausbank, nahm aus der Spensertasche zwei blecherne Löffel und legte sie in die Schüssel, die zwischen ihm und Klara stand. Erst beteten sie mit halblauter Stimme den Abendsegen, dann aßen sie. Nach kurzer Weile legte Klara den Löffel wieder beiseite.
»Aber geh, so iß doch und laß dir's schmecken! Von dene paar Schüberln kannst freilich kein Kraft net kriegen! « mahnte der Alte.
Schwer atmend schüttelte Klara den Kopf. »Ich dank schön, Vaterl, ich kann nimmer!«
Der Loibacher aber ließ nicht nach mit Drängen und Bitten. Klara mußte wieder zum Löffel greifen und mithalten, bis der Boden aus der Schüssel guckte. Wieder sprachen sie ein Gebet. Dann erhob sich der Alte. »So! Und jetzt komm, jetzt bring ich dich schlafen!« Er beugte sich über Klara, die ihre beiden Arme um seinen Nacken schlang, und hob sie mit zärtlicher Sorgfalt empor an seine Brust. Er schien ihre Last kaum zu fühlen, so rasch und sicher trug er sie durch Flur und Stube in die Kammer. Dort ließ er sie auf einen Sessel gleiten, ordnete die Kissen des Lagers und brachte dann das Mädchen zur Ruhe, gleich einem Kinde, das seine Glieder noch nicht zu brauchen weiß.
»No also! Morgen nacher, gelt? Und bet noch ein Vaterunser zum Einstand bei der heiligen Mutter! Und nacher schlafst mir! Und ordentlich! Ich weck dich schon zur richtigen Zeit. Und jetzt gut Nacht, mein Schatzl, gut Nacht! Und der liebe Herr Christus soll's uns graten lassen, daß du morgen net umsonst auf d'Wallfahrt gehst zu seiner heiligen Mutter! «
Seufzend bekreuzte der Loibacher das Gesicht seines Kindes und verließ die Kammer.
Regungslos lag Klara in den Kissen, hielt die Hände über der Decke gefaltet und starrte in den matten Dämmerschein des kleinen Fensters. Sie hörte, wie der Vater draußen die schweren Schuhe von den Füßen streifte; dann vernahm sie wohl seine Schritte nicht mehr, doch hörte sie bald aus dem Flur, bald aus der Stube gedämpftes Geräusch, das ihr verriet, daß sich der Vater da draußen noch mit irgend etwas zu schaffen machte. Endlich nach geraumer Zeit vernahm sie jenes leise Ächzen, das sie allabendlich hörte, wenn sich der Vater auf sein hartes Lager streckte.
Stunde um Stunde verrann, doch über Klaras Augen senkte sich kein Schlummer. Sie regte sich nicht, denn sie wußte, welch einen leisen Schlaf der Vater hatte; aber sie zitterte am ganzen Leib, als läge sie in brennendem Fieber. Unablässig bewegten sich ihre Lippen in lautlosem Gebet. Manchmal schloß sie für eine Weile die zuckenden Lider, um die Glut ihrer Augen zu fühlen; dann wieder starrte sie hinaus in die finstere Nacht, empor zu dem zitternden Schimmer eines einsamen Sternes, der im Fenster aufgetaucht war, um nach stundenlangem Verweilen hinter dem anderen Mauerrande wieder zu verschwinden. Noch hingen Klaras Augen an der Stelle, an welcher der winkende Schimmer erloschen war, als ein Geräusch in der Stube sie aus ihrem starren Schauen weckte. Der Vater mußte erwacht sein und sich erhoben haben. Sie hörte seine leisen Schritte, und halb auch vernahm sie durch die Wand das Knistern des Herdfeuers.
Schon wandelte sich die Dunkelheit der Nacht zu grauem Zwielicht; da hörte Klara, wie der Vater zur Kammertür kam. Sie stellte sich schlafend und ließ sich von ihm wecken. In der einen Hand ein flackerndes Talglicht, in der anderen eine Schale mit heißer Suppe, so stand er vor ihrem Bett. Er trug sein bestes Gewand, das vor zwanzig Jahren neu gewesen, als er mit seinem seligen Weib zur Kirche gegangen: die dunkel graue Joppe mit dem grünen Umschlag, die hochrote Latzenweste, den breiten Ledergurt mit dem bunten Zwirnzierat, die graue Kniehose aus grobem Leinenstoff, die weißen, filzigen Halbstrümpfe und das Feiertagshemd mit dem umgelegten Kragen.
Er setzte sich zu Klara auf das Lager, hielt ihr die Schale mit dem Löffel hin. Und während sie aß, fragte er, wie sie geschlafen, und wie sie sich befände. Klara erwiderte, was der Vater in seiner Sorge zu hören hoffte. »No schau, da rührt sich leicht die heilige Mutter schon, weil's dir gar so gut geht heut!« sagte er mit einem erleichternden Seufzer; dann richtete er Klara aus den Kissen empor und legte ihr das Gewand zurecht: den schwarzen Faltenrock mit der schillernden Seidenschürze, das braune Leibchen, das geblumte Brusttuch mit den langen Fransen und das schwarzseidene Kopftuch. »So, da hast deine Sachen beinander, und wenn nacher fertig bist, kann's gleich dahingehen. Der Wagen steht schon draußen. «
»Der Wagen ist schon da? Ich hab aber gar nix ghört, daß er kommen ist! «
»Natürlich net, Dapperl, wann gschlafen hast! Aber gwiß wahr, grad gerumpelt hat er! « versicherte der Loibacher, wobei ein leises Schmunzeln um seine Lippen zuckte. Er trat an das Fenster, wischte mit der Hand über die Scheiben und schaute forschend in den ergrauenden Morgen hinaus.
»Vaterl, jetzt bin ich grecht!« So rief ihn das Mädel nach einer Weile mit bebender Stimme an.
»Na also, so komm, mein Schatzl! Und die heilige Mutter soll dir d' Wallfahrt gsegnen!« Bei diesen Worten hob der Loibacher sein Kind mit beiden Armen empor und trug es durch Stube und Flur ins Freie.
»Vaterl? Ich sieh ja kein Wagen net?«
»Aber geh, und da steht er ja grad vor deiner! « lächelte der Alte und ging auf die Kraxe zu, die neben der Hausbank auf der Erde stand.
»Jesses, na, Vaterl, na, na! Das därf net sein! Das laß ich net zu! « schrie Klara erschrocken. Denn nun begriff sie, was der Vater meinte und wollte. »Na, na, das könnt ich mir in meim Leben net verzeihen! «
»Geh, was is denn jetzt da so bsonders dran? Wann ich im Fruhjahr und Herbst meine Zirbenblöck vom Berg abitrag, da geht's nie unter zwei Zentner ab. Und da soll mir nacher mein Buckel z'wehleidig sein, wann ich dir ein frommen Wunsch erfüllen kann, und wann's dein Gsundheit gilt? Ah na, mein Schatzl! Und schau, grad ein bißl wann mich lieb hast, nacher laßt mir mein Willen und bist mir auch weiter net harb drum, daß ich dir kein kamodern Wagen net schaffen kann.« Dem Loibacher schwankte die Stimme.
Unter Schluchzen und Stammeln wehrte sich Klara mit zitternden Händen; der Loibacher hörte aber nicht auf ihre Worte, sondern ließ sie mit zärtlicher Sorgfalt auf den Sockel der Kraxe niedergleiten, den er mit dem Kopfpolster und der Decke seines Lagers überbunden und so in einen weichen bequemen Sitz verwandelt hatte. Dann breitete er seinen Wettermantel über Klaras Schoß und schlang ein geschmeidiges Seil um ihre Füße und Hüften. »So, gelt, Schatzerl ... ich mein, so könnt's dir taugen? Ja, weißt, und da brauchst jetzt bloß noch dein Armerl herlegen übers obere Brettl, nacher kannst im schönsten Polsterstuhl net besser und sicherer sitzen! « Mit einem ermunternden Lächeln nickte er dem Mädel zu und eilte davon, um das Haus zu sperren.
»Vaterl, Vaterl, laß mich daheim, ich bitt dich um Tausend gottswillen!« flehte Klara mit erstickter Stimme. »Ich gspür's in mir, daß ich eine Sünd tu, eine fürchtige Sünd, wann ich so was zulassen möcht! Du weißt net, Vaterl... du weißt net ... «
»Das, ja, das weiß ich, daß mich jetzt bald verzürnen kannst! « unterbrach sie der Alte. »Was is denn jetz da dran, an dem bißl Tragen? Mein Buckl is hart, und ich tät ja mein Herzblut geben, wenn's dir was taugen könnt in deiner Mühsal.« Mit zitternden Händen schob er Klaras Krücke zwischen die Kraxenstützen, legte den Filzhut über das Kopfgesims, und während er sich auf die Knie niederließ, zog er die Tragriemen über die Schultern und tauchte den Kopf mit dem Kraxenkissen gegen das harte Brett. Die Linke preßte er auf die Hausbank und griff mit der Rechten nach dem bereitliegenden derben Haxenstock. »No also, in Gottsnamen, packen wir's halt an! « sagte er und stemmte sich langsam in die Höhe.
Bei diesem schwankenden Steigen schien es wie ein Schwindel über Klara zu kommen, und während ihr das Haupt in den Nacken sank, bedeckte sie mit beiden Händen das Gesicht.
Schweren Schrittes stieg der Loibacher mit seiner Last zur Straße hinunter, folgte ihr eine Weile und lenkte dann auf einen schmalen Fußpfad ein. Nun ging es langsam bergan durch den steilen Bergwald, zwischen dessen Ästen bei Vogelsang die ersten Strahlen der steigenden Sonne blitzten. In rastlosem, gleichmäßigem Gange setzte der Alte Fuß vor Fuß. Dunkle Röte deckte sein Gesicht, an Stirn und Schläfen schwollen ihm die Adern zu dicken, bläulichen Striemen, in schweren Tropfen rann ihm der Schweiß über Hals und Wangen – doch keinen Seufzer, kaum einen tieferen Atemzug ließ er vernehmen.
Ehe der Loibacher noch eine halbe Stunde Weges zurückgelegt hatte, bat und mahnte Klara schon: »Vaterl, aber geh, magst denn net ein bißl rasten?«
»Jetzt schon? ja was fallt dir denn ein? Müßt mich ja schamen!« lachte der Alte. Aber die Lippen zuckten ihm bei diesem Lachen.
Klara schwieg; doch schon nach kurzer Weile fragte sie wieder: »Vaterl, sag, bist denn net müd?«
»Na, mein Schatzl, gar net ein bißl!« versicherte der Loibacher und stützte sich schwerer auf seinen Haxenstock. Denn ihm begannen vor Erschöpfung schon die Knie zu zittern.
So wiederholte sich Frage und Antwort immer aufs neue, bis nach zweistündigem Anstieg eine von schütterem Lärchenwald umgrenzte Almenlichtung erreicht war. Hier endlich ließ sich der Loibacher nieder und setzte seine Last zur Erde. »Aber mußt net glauben, ich tu's, weil ich müd bin«, sagte er, »ah na ... bloß daß einmal zfrieden bist und daß du ein bißl rasten kannst. Aber schau, d' Hauptsach ist ja schon überstanden! Ein Stünderl noch und 's Steigen hat ein End! Die anderthalb Stünderl bergab, das ist ja nachers reine Kindergspiel.«
Bei diesen Worten löste er die Seilverschnürung, hob Klara von der Kraxe in das weiche, blumige Gras und setzte sich an ihre Seite.
Mit feuchten Augen schaute sie in sein erschöpftes Gesicht, und während sie ihm mit ihrem Tüchlein den Schweiß von Stirn und Wangen trocknete, stammelte sie: »Jetzt, Vaterl, jetzt weiß ich's, daß die heutige Wallfahrt net umsonst sein kann. Dir z'lieb, Vaterl, schon dir z'lieb muß mich die heilig Mutter gsunden lassen.«
»Was redst denn jetzt da daher!« schmunzelte der Loibacher. »Meinst leicht, die heilig Mutter braucht lang auf so ein alten Schnackler z'denken, wie ich einer bin? Ah na! Aber dich wann s' erst einmal gsehen hat ... da paß auf! Da wird s' nacher gleich bei der Hand sein mit ihrer Gnad und Hilf ... gschwinder, als dir's vermeinst.«
Klara seufzte tief und nickte unter trübem Lächeln vor sich hin. Dann begann sie die Blumen, die im Bereich ihrer Arme standen, in ihren Schoß zu sammeln. Mit Hilfe einiger Fäden, die sie aus dem mürben Saum des Wettermantels zog, wand sie die Blumen zu einem kleinen Kranz, den sie über die Gabel der Krücke hängte. Fragend schaute der Vater auf, und da wandte sie das matt errötende Gesicht zur Seite, unter den flüsternden Worten: »Ganz leer kann ich ja dengerst net zur heiligen Mutter kommen.«
Der Loibacher nickte; auf seiner Stirn vertieften sich die Furchen, unstet blickten seine Augen, und um seine schmalen Lippen legte sich ein herber, schmerzlicher Zug.
»Auf meine paar Groschen wird die heilig Mutter wohl kein Anspruch machen?«
Nun saßen sie und sprachen kein Wort mehr, bis der Loibacher sich erhob und zum Aufbruch mahnte. »Weißt, er zieht sich halt doch noch woltern, der Weg«, sagte er, »und ich möcht dengerst mit dir ein Zeitl vorm Hochamt in der Kirchen sein, damit net grad mitten eini kommst in das Drucken und Schieben von die Leut.«
Wieder hob er das Mädel auf die Kraxe, verschnürte das Seil, ließ sich auf die Knie nieder und stemmte sich mit seiner Last in die Höhe.
Langsamen Schrittes stieg er weiter bergan auf dem schmalen und steilen Pfade.
Bald gelangte er aus dem Wald auf die offene Felsenhöhe.
Da tauchte vor Klaras Augen in leuchtender Herrlichkeit die weite Kette der Berge auf, die sich jenseits der von grauem Morgenschatten noch erfüllten Täler emporbauten in die blauen Lüfte.
Ein Zittern überkam ihren Körper, während sie starr hinüberschaute in jene sonnige Weite. Der silberne Glanz der Ferner, durch deren weißen Schnee an manchen Stellen das Gletschereis seine bläulichen Buckeln schob, blendete fast ihre Augen. Scharf hoben sich die Konturen der einzelnen Felsgebilde aus dem verschieden getönten Steingrund. Die langgestreckten, dunkelgrünen Latschenfelder waren so grell beleuchtet, daß Klara jeden Busch unterscheiden zu können meinte. Und dort, wo diese Felder über einen schief abfallenden Bergrücken sich in ein tiefes Felsental hineinkrümmten, gewahrte sie deutlich eine dünne, weiße, halb verschwindende, bald wieder auftauchende Zickzacklinie. Das war ein Almensteig. Wie gut sie den kannte! Es war ja der letzte Weg, den sie mit eigenen Füßen gegangen, der Weg, auf dem sie hineingeschritten war in jene grauenvolle Nacht.
Mit zögernden Augen verfolgte sie jene weiße Linie talwärts und fand das lichtgrüne Almenfeld, auf dem einst ihre Herde mit läutenden Glocken geweidet hatte. Die Sennhütte konnte sie nicht gewahren, aber sie kannte die Stelle so genau, daß sie das kleine trauliche Blockhaus wirklich zu sehen meinte. Und da war es ihr, als stünde sie wieder zwischen den rauchgebräunten Wänden, als flackerte vor ihr auf dem Herd das lustige Feuer, als klänge von draußen das Läuten und Brüllen der Rinder – und nun mit einemmal jener rasche, kräftige Schritt, den sie niemals noch gehört, der sie unwillkürlich aufblicken machte von der Pfanne, in der ihr bescheidenes Abendmahl brodelte. Wieder sah sie den Burschen auf der Schwelle stehen, die Holzaxt über der Schulter; wieder wie damals maß sie mit den Augen die schlanke, stramme Gestalt, sah das wohlgefällige Lächeln in seinem hübschen, braunen Gesicht und sah die staunenden Blicke, mit denen er sie betrachtete. Sein keckes, lustiges Wesen, sein munter scherzendes Geplauder, sein helles Lachen, seine fröhlichen Lieder, das alles hatte ihr so wohl gefallen, gleich am ersten Abend. Und immer wieder war er gekommen. Er war aus einem Dorfe, das der mächtige Bergstock, auf dem ihr Almfeld lag, von dem ihren trennte. Sein Vater war ein reicher Bauer, der ausgedehnte Waldungen besaß. In diesen Wäldern war der Sohn auf Arbeit, und dabei hauste er den ganzen Sommer über mit einem Knecht in dem Holzerhaus, das kaum eine Wegstunde von ihrer Sennhütte entfernt lag. Eine Wegstunde, das ist in den Bergen ein Katzensprung. Und was braucht es dort oben noch schmeichelnde Wort und heiße Blicke – die mächtigste Verführerin ist jene stille, träumerische, Verlangen und Sehnsucht zeugende Einsamkeit zwischen starren Felsen und rauschenden Wäldern. Klara war schon sein eigen, noch ehe sie wußte, wie alles gekommen und geschehen. Nichts anderem fragte sie nach, als der abendlichen Stunde, die ihn zu ihrer Hütte führte. In heißer, dürstender Liebe hing sie an ihm, wie der Efeu an dem Stamm, den er mit all seinen Ranken umschlingt. Wie im Traum verging ihr Tag um Tag, der ganze Sommer, in heimlichem Glück und stillen Freuden. Dann freilich kam ihr das Erwachen, nicht in Reue, aber doch in Scham und Sorge. Aber wenn er in die Hütte trat, zeigte sie ihm ein lächelndes, glückseliges Gesicht. Sie vermochte es nicht über sich, seine sorglos genießende Freude zu stören. Von einem Tag auf den andern verschob sie das Geständnis, das ihr schwer und brennend auf der Seele lastete.
So kam die letzte Septemberwoche, die letzte Woche ihrer Almenzeit. Stürmisches Regenwetter war eingefallen und hatte ihn zwei Tage von ihrer Hütte ferngehalten. Als er dann am vorletzten Abend vor ihrer Heimfahrt trotz strömenden Regens wiederkam, klammerte sie sich in Freude an seinen Hals. Am anderen Morgen saßen sie bei der dampfenden Pfanne und aßen zusammen. Ihm schmeckte die Speise so gut, die sie ihm bereitet hatte; sie selbst aber brachte kaum einen Bissen über die Lippen. Lachend fragte er sie, weshalb sie nicht besser zugriffe. Da brach sie in Schluchzen aus und bekannte ihm, wie es um sie stünde. Sein verlegenes Gesicht und sein hilfloses Lächeln taten ihr in der Seele weh; aber sie schalt sich selbst um der Zweifel willen, die jählings in ihrem Herzen auftauchten; lieben und glauben, das waren für sie zwei Worte, die untrennbar zusammengehörten. Sie verlangte kein Versprechen, keinen Schwur von ihm. Aus freien Stücken versprach er ihr alles, was er in solcher Stunde nur versprechen konnte. Lange saßen sie schweigend. Dann hatte sie eine Bitte an ihn. Es waren seit dem vorletzten Tage zwei Kälber von der Herde abgängig. Am verwichenen Abend hatte sie die Glocken der beiden Tiere von einer steilen Felsenhöhe gehört; sie mochten sich dort oben wohl verstiegen haben. Nun wollte sie am Nachmittag die Verlorenen suchen und bat ihn, ihr dabei behilflich zu sein. Er versprach es ihr und zeigte sich beleidigt, als sie schüchtern die Befürchtung äußerte, ob ihn nicht doch das üble Wetter vom Kommen abhalten würde. Mit zärtlichen Worten beruhigte sie den Gekränkten, und er vergab ihr auch, küßte sie noch einmal unter heiligen Schwüren und verließ die Hütte.
Klara hörte seinen Schritt verhallen, und da war es ihr plötzlich, als bräche ihr das Herz entzwei. Lange noch saß sie regungslos auf dem Herd; eintönig klatschte der Regen über das Dach, und pfeifend fuhr der rauhe, kalte Wind durch alle Fugen des Gebälkes. Endlich erhob sie sich und ging wie im Traum ihrer Arbeit nach. Gegen vier Uhr nachmittags versperrte sie die Hütte und machte sich auf den Weg.
Wohl eine Stunde hatte sie zu steigen, um die Stelle zu erreichen, wo er mit ihr zusammentreffen wollte. Sie fand ihn nicht, als sie den Platz erreichte, und ihre Rufe blieben ohne Antwort. Um zu warten, kauerte sie sich auf einen nassen Felsblock. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Wind war noch ungestümer und kälter geworden. Blasse Nebel flatterten in wilder Eile über das triefende Gestein. Tiefer und tiefer senkte sich das höhere Gewölk, und während sich eine seltsame Dunkelheit über alle Berge lagerte, nahmen die bleischweren Wolken eine fahle gelbliche Färbung an. Klara wußte, was diese Wolken verkündeten: Schnee oder Hagel.
Dennoch blieb sie und harrte. Schon fielen die ersten Flocken, und immer noch ließ sich kein Schritt, kein Ruf vernehmen. Eine beängstigende Sorge beschlich ihr Herz, nicht um des drohenden Wetters willen – nur seinetwegen. Weshalb nur kam er nicht, nachdem er es doch so fest versprochen hatte? Vielleicht war er vom rechten Wege abgeraten, vielleicht war ihm ein Unfall zugestoßen, oder er war erkrankt? Mit brennenden Augen starrte sie über den Berghang nieder, doch die wirbelnden Flocken wehrten ihr den Ausblick. Schon lag der Schnee in weißer Decke über Moos und Steinen, über ihrem Schoß und ihren Schultern. Fauchend umfuhr sie der Wind und trieb ihr die starrende Kälte durch das dünne Gewand in alle Glieder. Da plötzlich meinte sie von dem höheren Felsenhang die Glocken der beiden Kälber zu hören. Erschrocken dachte sie ihrer Pflicht und mühte sich über das beschneite Gestein empor. Mit gellender Stimme schrie sie die Namen der Tiere in den sausenden Wind, in das Wirbeln und Jagen der handgroß fallenden Flocken. Gewaltsam kämpfte sie sich durch die dicht vernetzten Latschenfelder, die ihr den Weg versperrten. Die schlagenden Zweige überschütteten sie mit schwerem Schnee und zerrissen ihr Hände und Gesicht. Das kalte Wasser rann ihr über Brust und Rücken, und in klatschender Nässe wirrten sich die triefenden Röcke um ihre Füße. Schauer um Schauer rüttelte ihren Leib, aber nun dachte sie nicht mehr an sich, nur noch an die beiden bedrohten, verlassenen Tiere.
Höher und höher stieg sie, keuchend und frierend. Die Stimme begann ihr zu versagen, ihre Blicke durchdrangen kaum mehr das weiße Gewirbel der Flocken, und an manchen Stellen versank sie schon bis über die Knie in dem eiskalten, klebrigen Schnee. Oft glitt sie jählings über einen niederen Hang, dann wieder brach sie mit den Füßen in eine verschneite Schrunde. Mühsam und stöhnend raffte sie sich auf und mühte sich weiter, bis sie plötzlich gewahrte, wie das Gestöber und der liegende Schnee das lichte Weiß verloren, und wie das dunkle Braun der steilen Wände und die Farbe der Latschen in ein trübes Grau verschwammen, als hätte sich ein dicker Schleier darüber gebreitet.
Da zuckte in ihren wirren Sinnen die Erkenntnis der Gefahr auf, in der sie sich befand, und eisige Todesangst umschnürte ihr das Herz. »Jesus Maria, der Nebel ... und d' Nacht! « Mit verzweifelten Blicken starrte sie um sich, schlug die Hände an die Schläfe und stürzte in wahnsinniger Eile talwärts, während der Sturmwind ihre klatschenden Röcke peitschte und ihre gelösten Haare zauste. Eine mauerhohe Schneewehe versperrte ihr den Weg. Sie suchte sich hindurchzukämpfen – vergebens. Bis an die Schultern versank sie in der grauen, eisigen Masse. Kaum vermochte sie sich zu befreien. Wieder mühte sie sich bergan, und fast bei jedem Schritte stürzend, überquerte sie einen steilen Hang. Als sie sich aufs neue talwärts wandte, verirrte sie sich in wirres Latschengestrüpp. Mit dem Aufgebot all ihrer Kräfte schlug sie sich durch die zähen Zweige und befand sich am Rande steil abfallender Felsen. Es gebrach ihr an Kraft und Mut, noch einmal den Rückweg anzutreten. Dazu verschleierte ihr die sinkende Nacht und das Gestöber die Tiefe des Absturzes. So drückte sie die Augen zu und sprang.
Ein stechender Schmerz durchfuhr bei dem heftigen Aufprall ihre Glieder, und die Sinne drohten ihr zu vergehen. Aber die Todesangst trieb sie wieder empor auf die zitternden Füße, und während sie mit Gleiten, Stürzen und Springen sich talwärts kämpfte, begann sie zu beten, die letzte Reue, das Gebet in der Todesstunde – und zwischen den Iallenden Worten der Gebete schrie sie mit gellender Stimme in Sturm und Nacht hinaus nur immer den einen Namen: »Alois ... Alois ... Alois! « Bald aber versagten ihr vor Erschöpfung die Worte, und lähmend legte sich über ihre letzten Kräfte die bluterstarrende Ahnung, daß all ihre wahnsinnige Mühe vergebens, daß die nächste Stunde ihre letzte wäre. Erfrieren! Erstarren und ersticken im eisigen Schnee! Fern von ihm, der ihr alles war, fern vom Vater, ohne Wegzehrung und Tröstung Gottes, mit der lebendig gewordenen Sünde unter ihrem Herzen!
Stöhnend brach sie zusammen, und in ihr grausiges Geschick sich ergebend, raffte sie das Gewand über das Haupt und preßte die Arme vor das Gesicht. Dann wieder sprang sie auf mit zitterndem Schrei. Es hatte der Sturmwind dumpfe Laute an ihr Ohr getragen – das wilde, zornige Gebrüll ihrer Rinder, die wohl in dichtgedrängter Schar die versperrte Hütte umstanden, da sie auf dem hoch beschneiten Grunde weder Lager noch Äsung fanden. Ein Schimmer von Hoffnung blitzte in ihr auf: Ihre Hütte konnte nicht mehr allzu ferne sein. Zitternd richtete sie sich empor, aber nach wenigen wankenden Schritten versagten ihr jählings wieder die Kräfte, ein schneidendes Weh durchfuhr ihren Leib, wimmernd stürzte sie in den Schnee und wand sich in Pein und Schmerzen. Das Grausen und die Schrecken der durchlebten Stunden hatten das winzige Leben getötet, das unter ihrem Herzen keimte.
Erschauernd wandte Klara die starren, fieberglänzenden Augen von den sonnigen Bergen, als vermöchte sie, wenn sie den Anblick jener Ferne floh, auch den bösen Bildern zu entfliehen, die sie verfolgten. Aber sie konnte sich ihrer Gedanken nicht erwehren, und während sie das blasse Gesicht mit den schmerzdurchzitterten Zügen niederneigte auf die Brust, versank sie tiefer noch in die Erinnerung all des Vergangenen. Sie hörte den müden, stockenden Seufzer nicht, mit dem der Vater, als er die Paßhöhe erreichte, im Stehen für kurze Sekunden rastete. Sie merkte des Weges nicht, auf dem er sie mit achtsam tastenden Schritten talwärts trug. Und sie sah nicht, wie langsam steigendes Gewölk den blauen Himmel und die Sonne verschleierte und graue Schatten über Tal und Höhen warf. Ihre Augen schauten nur in ihr Inneres und zurück in die vergangene Zeit. Auch daran dachte sie, was sie erst nach langen Tagen aus anderem Mund erfahren hatte: wie der Vater und die Knechte des Almbauern sie gefunden. Wochen und Wochen hindurch lag sie zwischen Tod und Leben. Mit aufopfernder Tätigkeit pflegte sie der Vater, und auch der alte Dorfarzt tat sein Möglichstes. Lange Stunden oft saß der alte Herr vor ihrem Lager, kopfschüttelnd und mit verdrießlichen Mienen. Er verstand die Krankheit des Mädels nicht, denn Klara hatte das bitterste Weh jener Unglücksnacht nicht nur dem Vater, auch dem Arzte verschwiegen. Das Fieber schwand, das klare Bewußtsein kehrte ihr wieder, aber der Winter verging, und statt der erhofften Genesung brachte ihr der Frühling nur ein immergleiches, schmerzvolles Siechtum. Ihr Körper blieb von einer teilweisen Lähmung befallen, und in ihrer Brust hatte sich ein schleichendes 1Dbel eingenistet. Mit stiller Geduld ertrug sie ihr Leiden. Nie hörte der Vater von ihr eine Klage. Oft aber, wenn er von irgendeinem Gange zurückkehrte, oder wenn sie tagsüber einige Stunden geschlafen hatte, schaute sie mit bangen, heißen Augen zu ihm auf und fragte leise: »Vaterl, sag, hat niemand net gfragt nach mir?« Freilich, freilich, alle Leute fragten nach ihr, sie war ja wohlgelitten im ganzen Dorf. Solche Antwort aber genügte ihr nicht. Namen um Namen mußte der Vater herzählen, und wenn er damit zu Ende war, ließ sie unter stockendem Seufzer das blasse Haupt zurücksinken in die Kissen und starrte mit irren Augen zur Decke empor, während tief schmerzliche Enttäuschung sich in ihren welken Zügen malte. Seltener und seltener stellte sie an den Vater diese Frage. Aber immer noch empfing sie ihn, wenn er von einem Dorfgang zurückkehrte, mit jenem bangen, stumm fragenden Blick. Und so oft er auch nach Hause kehren mochte, ohne ihr die ersehnte Antwort auf diese wortlos flehende Frage zu bringen, dennoch verließ sie die Hoffnung nicht, daß einst der Tag noch kommen müßte, der ihrem Glauben und ihrer Liebe recht geben würde vor ihrem martervollen Fürchten und Zweifeln.
Und nun, so wähnte sie, nun endlich war er gekommen, dieser lang und heiß ersehnte Tag.
Fernes Stimmengewirr und dumpfes Lärmen schreckten sie aus ihrem Sinnen auf. Das Ziel ihrer Wallfahrt, die Einöd, war erreicht. Jähe Röte huschte über Klaras Wangen, und ein heftiges Zittern befiel ihren Körper, während sie mit brennenden Augen niederschaute in das schmale Tal, darin inmitten des dichten Waldes ein freier Plan sich zeigte, auf dem nur drei Gebäude sich erhoben: die kleine Kirche mit der von Büschen und Bäumen besetzten Umfriedung, der Kaplanhof und das Wirtshaus. Rings um den Waldsaum aber zog sich die lange Reihe der Buden, die teils mit gelblich leuchtenden Brettern, teils mit weiß schimmernden Blachen überdacht waren. Zwischen ihnen und jenen Gebäuden wimmelten Hunderte von Menschen durcheinander, deren lautes, lebendiges Treiben eher vermuten ließ, als wären sie zu einer lustigen Kirchweih, nicht zu einem frommen Fest der heiligen Mutter gekommen. Als der Loibacher den ebenen Waldgrund betrat, sah er überall Gruppen von Burschen und Weibsleuten, die mit vollen Krügen und Tellern lachend und schwatzend unter den Bäumen lagen. Die Menschen, die ihm begegneten, wichen scheu zur Seite und betrachteten halb neugierig, halb teilnahmsvoll den Alten und seine schwankende Last; Leute aus seinem Dorfe sprachen ihn freundlich an und boten auch wohl mit herzlichem Trost dem blassen, kranken Mädel die Hand hinauf. So erreichte der Loibacher den offenen Platz; da blieb er stehen, schaute finster in das lustige Gewühl und wandte sich kopfschüttelnd seitwärts zwischen die Bäume. Von der Waldseite betrat er den Kirchhof. Hier sah er auf den im Gebüsch zerstreuten Stein– und Rasenbänken manch einen Einsamen kauern, dem ein schweres Leiden aus den müden, traurigen Zügen sprach. Kam er an solch einem vorüber, so wechselten die beiden mit stummem Nicken einen Blick, als hätten sie sagen wollen: »Gelt, wir zwei, wir wissen, weswegen wir da sind?«
Vor einer Steinbank, die in die Kirchenmauer eingelassen und von dichtem Buschwerk fast ganz umzogen war, stellte er die Kraxe zu Boden. Tief atmete er auf, reckte die Arme, drehte die Schultern und sagte mit einem Lächeln, das ihm nicht recht gelingen wollte: »No also, schau, jetzt sind wir ja da! « Und während er sich neigte, um die Seilverschnürung zu lösen, fragte er in zärtlicher Besorgnis: »Wie is dir denn? Ich mein, du mußt es schon gspüren, daß die heilig Mutter nimmer gar weit is! «
In wortloser Bewegung ergriff und drückte Klara seine zitternden Hände.
»Sorg dich net, Schatzl, ah na, mußt dich net sorgen!« stammelte er, wobei ihm der Schweiß in dicken Tropfen über die vor Erschöpfung blassen Wangen rann. »Wirst es schon sehen, ich hab den Glauben zu der heiligen Mutter, die wird schon wissen, wie s' alles recht macht! «
Nun hob er Klara von der Kraxe auf die Steinbank, über die er den Wettermantel gebreitet hatte. Die Krücke mit dem Kränzlein lehnte er an die Mauer und verbarg die Kraxe im Gebüsch. Dann setzte er sich an Klaras Seite, brachte ein kleines Bündel aus der Joppentasche, und während er das weiße Tüchlein, welches Schwarzbrot und kaltes Fleisch enthielt, aufknüpfte und über den Schoß des Mädels breitete, sagte er: »Da schau, da hab ich ein bißl was mitgnommen von daheim, grad für'n ersten Hunger. Nach der Kirchen, weißt, da schau ich schon, daß du was Bessers kriegst. Geh, komm, iß jetzt ein bißl!«
Er brach das Brot, zerschnitt das Fleisch in kleine Stücke und schob dem Mädel die besten Bissen auf der Messerspitze zwischen die Lippen.
Als das Tüchlein leer war, faltete er es zusammen, schob es in die Tasche und erhob sich. »Jetzt schau ich mich einmal in der Kirchen um ein gutes Platzl um, gelt? Und weißt, mit der heiligen Mutter will ich schon auch ein bißl reden derweil! « Seufzend griff er nach der Krücke und dem Kränzlein, nickte seinem Kinde mit ermutigendem Lächeln zu und entfernte sich zögernden Schrittes. Vor der Kirchentür nahm er den Hut vom Kopf und strich sich die grauen Haare glatt. Ein Zittern befiel ihn, als er aus dem hellen, warmen Tag in die kühle Dämmerung der Kirche trat. Nur wenige Beter saßen und knieten in den braunen Stühlen. Die sonst so ärmliche Kirche trug ein festliches Gewand. Mit roten Tüchern waren die Altäre und die Wände verkleidet. Schwere Girlanden, aus deren dunkelgrünen Fichtenzweigen weiße und rote Papierblumen leuchteten, hingen von der Kuppel nieder und durchzogen nach allen Richtungen das Schiff. Der Hauptaltar verschwand fast unter blühenden Oleanderbäumen. Ihm zur Rechten zeigte sich eine kapellenartige Nische, deren Eingang mit einem Bogenbau von Fuchsien–, Nelken– und Rosenstöcken geschmückt war; aus ihren Blättern und Blüten leuchtete ein Kranz buntfarbiger Kugellampen, deren flimmernder Schein das Innere der Nische mit einem geheimnisvollen Licht erfüllte. Bis unter die blaubemalte, mit goldenen Sternen besetzte Kuppel war hier die Mauer bedeckt von Votivtäfelchen, deren grelle, kindliche Malereien mit ihren eckigen, steifen Inschriften eine seltsame Mosaik bildeten. Mit zahllosen kleinen Füßen, Armen, Händen, Herzen, Kühen und Pferden aus Wachs und dünnem Silber war das tischhohe Postament behängt, auf dem das wundertätige Muttergottesbild thronte, in starrem Brokatgewand, eine glitzernde Flitterkrone über dem vor Alter fast schwarzen Gesicht, das nackte Jesukindlein auf den ausgestreckten Händen.
Drei Stufen führten zu dem Postament empor, und auf der untersten dieser Stufen kniete der Loibacher und hielt unter inbrünstigem Gebet die Krücke mit dem Kränzlein an seine Brust gedrückt. Nun erhob er sich, trat mit frommer Scheu auf die oberste der Stufen, und während er Kränzlein und Krücke dem Muttergottesbild zu Füßen legte, sprach er: »O du gute, o du heilige Mutter du, gelt, sei fein gscheit ... und daß d' mir an mein Madl denkst! Da schau, das schöne Kranzerl hat's dir selber gmacht! Und den Stecken da ... weißt, mußt halt schauen, daß 's Madl kein andern nimmer braucht! «
Dann fuhr er sich mit dem Ärmel über das von Schweißperlen glitzernde Gesicht, bekreuzigte sich im Rückwärtsschreiten und taumelte aus der Kirche. Als er ins Freie trat, reckte er sich tiefatmend auf und eilte zu seinem Kinde. »Komm, Schatzl, so komm halt!« stotterte er, hob das Mädel auf seine Arme und trug es in die Kirche, geraden Weges vor das Muttergottesbild. Hier stand er und fühlte, wie Klaras Arm sich fester und fester um seinen Nacken schlang, während sie mit heißen, flehenden Blicken aufwärts starrte zu dem heiligen Bilde.
Da ging ein dumpfes Dröhnen durch den Kirchenraum – es begannen die Glocken zu läuten, die zum Hochamt riefen.
Während der Loibacher für sich und Klara einen Platz im Seitenschiff der Kirche suchte, strömten schon die Wallfahrer in dicht gedrängten Gruppen durch das enge Tor. Bald war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf den Altären wurden die Kerzen entzündet, unter gellendem Klingeln traten die Priester aus der Sakristei, die Orgel rauschte, eine verworrene Musik ertönte, und schwerer Weihrauchduft erfüllte den dämmerigen Raum.
An der Seite ihres Vaters, der betend auf den Knien lag, saß Klara regungslos im Stuhl. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. Ihr blasses Gesicht war tief geneigt, mit halbgeschlossenen Augen, als hätte sie nicht den Mut, einen Blick auf die Menschen zu werfen, die sie umringten. Wie Schauer ging es manchmal über ihr Haupt und über ihre Schultern, und dann hob und senkte sich unter schweren Atemzügen ihre Brust.
Das Hochamt war zu Ende, und eine drängende Bewegung kam in die Menge. Die Leute polterten aus den Stühlen, ihre Schritte klapperten über die Steinplatten, und ein summendes Flüstern ging durch den Kirchenraum.
Zögernd hob Klara das Gesicht. Ihre fahlen Züge bebten in Erregung. Die blassen Lippen standen offen, als wäre der Atem auf ihnen erstarrt. Bang irrten ihre Augen über die Gesichter der Menschen, die an ihr vorüberdrängten. Plötzlich zuckte sie zusammen, und heftiges Zittern befiel ihre Hände. Dort ... dort kam er! Hart an ihrem Platze mußte er vorüber. Und wie leicht erkannte sie ihn ... wie wenig hatte er sich verändert! Genau so wie damals, als er zum erstenmal ihre Hütte betreten hatte, genau so sah er aus. Das war der gleiche kecke Blick, die gleiche übermütige Haltung des hübschen Kopfes. Und der grauhaarige Mann an seiner linken Seite, das mußte sein Vater sein; sie erkannte ihn an der Ähnlichkeit, trotz der kalten Härte, zu der die weichen Züge des Sohnes im Gesicht des Vaters erstarrt schienen. Wer aber war die bunt aufgeputzte Dirn mit den strotzenden Formen und dem derben, roten Gesicht, die er an seiner Rechten führte? Seine Schwester? Sie wußte, daß er eine Schwester hatte. Wohl entdeckte sie an diesen beiden keinen Schimmer von Ähnlichkeit. Wer sonst aber konnte dieses Mädel sein, wenn nicht seine Schwester? Und nun neigte er sich zu ihr nieder, flüsterte ihr lächelnd einige Worte ins Ohr, und die Dirn nickte ihm schmunzelnd eine stumme Antwort zu. Kichernd drückte er den Kopf in den Nacken ... und da kreuzten sich seine Blicke mit Klaras Augen. Es war ein Blick von unsagbarem Ausdruck, mit dem sie zu ihm aufschaute. Dieser einzige Blick mußte ihm alles bekennen, was sie gelitten und erduldet, was ihr Herz an Weh und Sehnsucht erfüllte. Bis in den Hals erblaßte er vor diesem Blick. Das aber konnte Klara nicht mehr gewahren, denn die nachdrängenden Menschen hatten ihn schon an ihr vorübergeschoben.
Ein träumerischer Glanz erwachte in ihren Augen, und ihren Mund umkräuselte ein leises, glückliches Lächeln, während sie die zitternden Hände auf den Busen preßte, als wollte sie das ungestüme Pochen ihres Herzens beruhigen. Nun hatte er sie gesehen ... und da wußte sie, daß er sie suchen und finden würde.
jetzt kehrte sich der Vater nach ihr um und sah ihr staunend ins Gesicht. »Wie is dir denn, Schatzl? Sag, wie is dir denn jetzt?«
»Besser, Vaterl, woltern schon besser!«
In den Zügen des Alten blitzte die helle Freude. »No, schau, gelt, ich hab's ja gsagt! ja, die heilig Mutter, das is halt eine! Die kennt's fein gleich, wos Helfen anbracht is. Aber komm, jetzt sag ihr nur gleich ein richtigs Vergeltsgott!« Unter Stammeln und Tränen hob er Klara auf seine Arme und trug sie durch die verwundert vor ihm beiseite weichenden Leute vor das wundertätige Marienbild.
Der Meßner kam, löschte mit einem langen, schwankenden Stab die hundert brennenden Kerzen und räumte die Altäre. Aus der Sakristei hörte man halblautes Geplauder, vom Chor hernieder das Klappern von Instrumenten und hallende Tritte. Dabei leerte sich allmählich die Kirche, die von einer schweren, schwülen, beklemmenden Luft erfüllt war.
Als letzter verließ sie der Loibacher. Fest waren Klaras Arme um seinen Hals geschlungen, und auf seiner Schulter ruhte ihr heißes Gesicht. Achtsamen Ganges trug er sie zu jener Steinbank zurück. Die Sonne hatte das graue Gewölk durchbrochen und überströmte mit ihrem weißen, warmen Lichte das freundliche Plätzchen. »Da schau, da hast jetzt ein Bleiben, daß dir's net schöner wünschen kannst! « beteuerte der Alte unter Schmunzeln und Blinzeln, während er mit seelenvergnügter Geschäftigkeit seinem Kinde den Sitz auf der Steinbank so bequem als möglich zu richten suchte. »Ja, und jetzt spring ich gleich ins Wirtshaus ummi und schau, daß ich ein bißl was Warms für dich zum Essen krieg. Grad 's Beste müssen s' mir geben, was da is! Und da paß auf, wie dir das schmecken wird! Da wirst nacher gleich in dir ein ganz ein neuen Kraft verspüren. Denn weißt, wenn die heilig Mutter auch in der Hauptsach alles bsorgt ... nachhelfen muß man dengerst noch ein bißl. Das ist grad wie mit eim Ofen. Der Hafner macht ihn, aber heizen mußt ihn selber. ja, du, so ein Ofen, der braucht sein Holz ... und das gache Gsundwerden, das macht ein Hunger! So, gelt, jetzt bleibst mir recht schön sitzen da! Und bhüt dich Gott derweil! « Und da eilte er schon mit langen Schritten davon.
Klara streckte ihm die Arme nach, als hätte sie ihn halten oder bitten mögen, sie mitzunehmen. Kein Wort aber kam über ihre Lippen. Und als des Vaters Tritte auf der Kirchhoftreppe verhallten, drückte sie die zitternden Hände auf die von Sturm erfüllte Brust, und kraftlos sank ihr das blasse Haupt an die weiße, sonnbeglänzte Mauer. Wie unter atemlosem Lauschen waren ihre brennenden Augen nach aufwärts gerichtet, und der Ausdruck banger Erwartung zeigte sich in ihren Zügen.
Leises Flattern und feine Vogelstimmen ließen sich aus den ringsum stehenden Büschen hören. Ein sachtes Rauschen ging durch die dunklen Wipfel des nahen Waldes. Aus dem tieferen Tal tönte, gedämpft durch die Ferne, das Tosen und Brausen des wilden Bergbaches. Geschrei und Gelächter ließen sich vom Wirtshause her vernehmen, und von dem freien Platze, auf dem sich Hunderte der Wallfahrer durcheinander drängten, klang ein wirres Lärmen, aus dem sich scharf und kreischend die Stimmen der Budenbesitzer hoben, die ihre Waren zum Verkaufe boten. Auch andere Stimmen schieden sich manchmal deutlich aus dem allgemeinen Tumult, wenn plaudernde Gruppen oder Paare dicht unter der Kirchhofmauer vorüberzogen oder, für Klaras Augen durch die Büsche verborgen, den Kirchhof quer durchschritten.
Nun wieder schlug über den brüchigen Bord der Kirchhofmauer solch eine Stimme an ihr Ohr ... und das war jene gleiche, heiser lachende Männerstimme, die sie am verwichenen Nachmittag vor ihres Vaters Haus von der Straße herauf gehört hatte. Klara erkannte sie beim ersten Wort, das sie vernahm. »Schöne Sachen, das muß ich sagen. Schöne Sachen hört man von dir! Du bist mir ein Feiner! Aber no, meintwegen, ich tu dir den Gfallen. Ein andere Frag ist freilich, ob ich 's Madl find ... ich hab's ja noch nie net gsehen.«
»Geh weiter! Wann ein bißl dran denkst, wie ich's dir bschrieben hab, da kennst es am ersten Blick. Und ich mein, wenn beim Wirtshaus in der Näh umeinandersuchst, da gehst net weit fehl!« So erwiderte eine andere Stimme, die dem lauschenden Mädel jäh alles Blut zum Herzen trieb. »Und gelt, da tust mir halt den Gfallen und redst recht freundlich mit ihr. Weißt, sagst ihr halt, ich wär den Winter über selber krank gwesen, und im Fruhjahr hätt ich nie net abkommen können vor lauter Arbeit im Holz draußen. Sagst ihr, ich hätt die größte Freud ghabt, weil ich s' wieder einmal gsehen hab ... und ich hätt's heut schon selber aufgsucht, wenn ich mich traut hätt vor meim Vatern, der noch nix merken dürfet davon. Und sagst ihr; in einer von die nächsten Wochen tät ich mich schon einmal anschauen lassen bei ihr draußen.«
»Langsam, langsam!« lachte die andere Stimme. »Meinst denn, ich kann mir das alles grad auf einmal so merken?«
»Geh, so heikel iss ja net! D' Hauptsach is halt, daß 's Madl glauben muß, es wär heut alles noch grad so, wie's früher war. Viel Geduld hat's freilich ghabt. jetzt aber, wos mich wieder gsehen hat, und wenn ich gar nix dergleichen tät, da könnt's am End doch was laut werden lassen. Und das wär mir ein bißl unglegen ... acht Tag vor der Hochzeit. Denn weißt, wenn d' Leni auch verliebt is bis über d' Ohren, ihre gspaßigen Mucken hat s' dengerst. Z'naxt hat s' mir weiters kein Spitakl gmacht, wie unser Knecht so dumm dahergredt hat, ja ... und wann ich ihr net alles so steif ins Gsicht eini geleugnet hätt, leicht hätt s' mir am End gar wieder aufgsagt. No, die wann wissen tät, daß s' Madl mit uns auf der Wallfahrt is! Ein bißl ebbes hat s' sowieso schon gmerkt, daß mir was umgeht im Kopf. Wenn s' mir nur grad die acht Tag noch übersteht! Nach der Hochzeit kann s' meinetwegen erfahren, was s' mag ... da is mir alles einding. Also gelt, tust mir halt den Gfallen ... weißt ja, was ich dir versprochen hab! «
»No ja, ich will 's Madl schon suchen und will auch mit ihr reden, wie's dir taugt. Aber's Madl wird halt auch's Fragen anfangen.«
»Was solls denn lang fragen? Höchstens wird's dir vorjammern von derselbigen Nacht. No ja, und dann kann's dich am End schon fragen, warum ich selbigsmal am Abend net kommen bin, wie ich's versprochen hab. Sagst ihr halt, was dir einfallt, und kannst ja sagen, mein Vater wär da gwesen, wie ich selbigsmal in d'Holzerhütten heim kommen bin, und ich hätt auf der Stell mit ihm nunter müssen ins Ort.«
»Leicht reden tust dir schon, das muß ich sagen! Hast es ihr ja dengerst versprochen ghabt, daß kommst ... und du wenn dabei gwesen wärst, da hätt s' auch leicht wieder heim gfunden in d' Hütten und hätt die schieche Nacht net derleiden müssen.«
»So? Meinst? Ah na ... net ein bißl ein Gwissen mach ich mir draus! Das heißt, wie's am Abend so zum stöbern und winden angfangt hat ... und nacher in der Nacht wie's mir allweil gwesen is, als höret ich 's Madl schreien droben im Gwänd, da sind mir freilich die Grausbirn aufstiegen über'n Buckel. Hintnach aber hab ich mir gsagt, es hat ihr nix anders net ghört! Denn ihr Reden am selbigen Morgen ist nix anders net gewesen als wie Lug und Trug ... der reiche Bauernsohn, weißt, der hätt ihr halt taugt ... und da hat 's wohl gmeint, sie fangt mich damit, daß ich Ernst mach. Unser Herrgott hat s' aber auch gstraft für die Lug, wo s' mir anghängt hat. Denn wann's keine Lug net gwesen wär, hätt ich ja lang in der Zeit schon eine Botschaft oder ein Zetterl kriegen müssen ... «
»Du, da schau, mir scheint, du bist der Leni schon wieder z'Iang ausblieben! Die schaut ja umeinander wie ein Haftlmacher!«
»Na, jetzt so was! Aber ich weiß schon, net ein Augenblick hat s' ein Freid, wann ich ihr net allweil auf der Kittelfalten sitz. jetzt schau nur gleich, daß weiter kommst ... und daß mir fein alles gscheit anstellst, gelt? Ich druck mich herzeit hinter der Kirchen rum ... «
Da erlosch die flüsternde Stimme unter dem Klappern rasch enteilender Schritte. Noch waren diese Schritte nicht verhallt, als andere, flüchtige Tritte auf der steinernen Kirchhoftreppe sich vernehmen ließen. Über den Stufen erschien jene bunt aufgeputzte Dirn mit dem derben, roten Gesicht. Sie eilte auf die offene Kirchtür zu und spähte in das Dämmerlicht des stillen, menschenleeren Raumes. Kopfschüttelnd wandte sie sich auf den Weg zurück und folgte suchend dem kiesigen Pfad, der sich zwischen Büschen und Bäumen um die Kirche schlängelte. Nun plötzlich stand sie vor Klara. »Geh, Madl, sag, hast net ein Burschen gsehen?« begann sie zu fragen. Doch mitten in ihrer Frage verstummte sie und schaute halb erschrocken, halb neugierig das Mädel an, das ohne Leben auf der Steinbank saß, in sich zusammengesunken, mit gläsernem Blick, mit offenen, blutigen Lippen, mit fahlen, schmerzverzerrten Zügen. »Ja mein ... was is dir denn?« fragte die Dirn, während sie zögernd näher trat. »Fehlt dir leicht was?«
Klara schien nicht zu sehen, nicht zu hören. Regungslos starrte sie an der Dirn vorüber ins Leere, noch immer der Richtung zu, aus der sie jene wechselnden Stimmen vernommen hatte.
»Aber geh, so red doch, was is dir denn?« begann die andere wieder, faßte Klara beim Arm und rüttelte sie. »Mußt ja gar feindlich krank sein! Schaust ja aus wie 's leibhaftige Sterben! Wie kann man dich denn so allein lassen! Kann ich dir denn gar nix helfen? Wer bist denn, sag, wer bist denn?«
Da ging ein Schauer über Klaras Gestalt. In zitternden Händen führte sie ein blutiges Tuch an die Lippen und sah mit flackernden Blicken auf. Und während ihr die Arme kraftlos niedersanken, umzog ein bitteres Lächeln ihren zuckenden Mund. »Wer ... wer ich bin ... willst wissen? 's Loibachermadl heißen mich d' Leut! «
Langsam trat die Dirn zurück. Alles Mitleid war aus ihren Zügen geschwunden. Ihre Brauen furchten sich, ein lauernder feindseliger Blick schoß aus ihren Augen, und von ihren aufgeworfenen Lippen klangen scharf und hart die Worte: »So ... du also ... du bist 's Loibachermadl? No freilich ... ich hätt dich ja bloß drum anschauen dürfen! Und ich ... willst wissen, wer ich bin? Leni heiß ich ... und über acht Tag mach ich Hochzeit mit dem Oberholzer–Alois. Kennst ihn leicht?«
»Ah ja ... ich mein' schon, daß ich ihn kenn ... vom Sehen halt, ja ... vom Sehen.«
»So? Grad vom Sehen? Und mir is doch, als hätt ich wen sagen hören, du hättst ihn gnauer auch noch kennt?«
»Hast wen sagen hören? No schau, der weiß nacher mehr als ... als wie ich selber weiß! « * erwiderte Klara mit gebrochener, kaum noch vernehmlicher Stimme. Schwer sank ihr bei diesen Worten das Kinn auf die Brust.
»Anschauen tu mich, sag ich ... anschaun!« fuhr Leni zornig auf. »Denn wann das wahr is, was da gsagt hast, mußt mich anschaun können!«
Langsam hob Klara das totenblasse Gesicht. Steinerne Ruhe war in ihren Zügen. Das flackernde Feuer ihrer Augen war erloschen, und nur noch der Ausdruck staunender Frage lag in dem festen Blick, den sie über die Gestalt der anderen emporgleiten ließ bis zu dem derben, dunkelroten Gesicht.
Vor diesem Blick schlug Leni die Augen nieder; wortlos nagte sie an der dicken Lippe, um plötzlich scheu nach beiden Seiten über ihre Schultern zurückzusehen, als hätte sie das Gefühl, daß jemand hinter ihr stände. Dann streckte sie zögernd die Hand, und es schien ihr ein gutes, freundliches Wort auf der Zunge zu liegen. Dennoch schwieg sie ... und als sie eine kurze Weile vergebens gewartet hatte, daß Klara die dargebotene Hand ergreifen sollte, legte sie wie in trotzigem Hochmut den Kopf in den Nacken, zuckte die Achseln und eilte mit raschen Schritten davon.
Da ging ein jähes Zittern über Klaras Gestalt; wie in Todesangst und Verzweiflung starrte sie nach der Stelle, an welcher die andere zwischen den dichten Büschen verschwunden war; ein gurgelnder Wehlaut quoll ihr über die Lippen, die sich aufs neue von dunklem Blute röteten, und während sie die Arme streckte, raffte sie sich wankend in die Höhe. Doch einen Schritt nur tat sie, dann brachen ihr schon die Knie. Schwer schlug sie mit dem ganzen Körper zu Boden, ihre Finger krampften sich in die Erde, und unter Stöhnen drückte sie das Gesicht in den Rasen, der sich netzte mit ihrem Blut und ihren Tränen.
Dann plötzlich wieder verstummte ihr Schluchzen, in Angst und Zittern richtete sie sich halb empor, mit bebenden Händen trocknete sie ihre Lippen, verbarg das blutige Tuch in ihrem Gewand und zog sich mit keuchender Mühe auf die Bank.
Sie hatte ihres Vaters gedacht.
Und da hörte sie auch schon seine näher eilenden Schritte auf der Kirchhoftreppe.
Noch einmal preßte sie die Hände auf die Brust, als wollte sie mit Gewalt ihren fliegenden, rasselnden Atem zur Ruhe bringen; dann saß sie regungslos, das Haupt an die weiße, sonnige Mauer gelehnt, als wären ihr die Minuten, die der Vater fern gewesen, in stillem Harren vergangen.
Nun kam er, mit gerötetem Gesicht, in der linken Hand ein irdenes Töpfchen mit dampfender Suppe, in der rechten einen Teller mit rauchendem Fleisch. Wohl fiel sein erster Blick auf Klaras Züge, aber bei all der guten Hoffnung, die sein Vaterherz erfüllte, und in seiner plaudernden Geschäftigkeit hatte er kein Auge für den starren, todmüden Ausdruck im Gesichte seines Kindes. Er erzählte von dem Gedränge, das da drüben im Wirtshaus herrschte, und von der Mühe, die es ihn gekostet hatte, um das Bißchen zu erkämpfen, was er in Händen hielt. So unter Schwatzen und Plaudern setzte er sich an Klaras Seite und bat und nötigte sie so lange, bis sie auch das letzte Tröpfchen Suppe genossen hatte. Doch als er ihr den ersten Bissen Fleisch an die Lippen führte, war es zu Ende mit ihrer Überwindung. Heftig schob sie seine Hand beiseite, und schaudernd fiel ihr das Haupt auf die Schulter.
»Ja mein Gott! Schatzl! Was hast denn?« stammelte er. »Schau, ein bißl was mußt ja essen ... oder sag, willst leicht was anders haben? So red doch, geh ... schau, grad alles schaff ich dir her, was dir lieb is. Geh, Schatzerl, sag, was willst denn?«
»Heim will ich, Vater! Heim! Sonst gar nix als heim!« glitt es in klanglosen Worten von Klaras zuckenden Lippen.
Erblassend fuhr der Loibacher auf und stieß den Teller auf die Steinbank. »Jesses ja! Mein Gott, schau ... «, und dabei zog er schon die Kraxe aus dem Gebüsche, »alles tu ich, was d' haben willst! Ich weiß schon: daheim, gelt, daheim is halt am besten. Komm, Schatzl, komm ... «
Da verstummte er und starrte erschrocken seinem Kind in das fahle Gesicht, in die stumpfen, verschleierten Augen, auf den klaffenden, von Schmerz verzerrten Mund. Er streckte die Hände und rührte wortlos die Lippen, bis er die Sprache fand: »Ja lieber Herrgott! Was is denn?«
Klara tastete nach ihm mit zitternden Armen. »Ich weiß net, Vaterl ... aber mir wird auf einmal so letz! Mir is ... ganz schwarz vor die Augen ... und ... mein Gott, Vater, mir wird so angst ... so sterbensangst ... «
In einem stöhnenden Röcheln erstickten ihre Worte. Eine Ohnmacht schien sie zu überkommen, sie wankte, schon aber fing sie der Vater in seinen Armen auf, und lautlos sank sie ihm an die Brust. Unter Zittern und Tränen hielt er sie umschlungen. »O heilige Mutter! ja wo bist denn? ja hast denn gar keine Augen net? O du gütiger Herrgott ... was fang ich denn an! « Da fühlte er, wie sich Klara in seinen Armen regte. »Jesse na! Mein Kindl mein liebs! Schau mußt dich net ängsten! Ah na, gwiß net! Gelt, es is dir schon besser?«
»Ja, Vater, ja ... besser ... ein bißl besser!« klang es mit lispelnden Worten.
»No also, schau, das is ja gwiß nix anders gwesen, als wie so eine gache Schwächen, wo dich angfallen hat, natürlich, der weite Weg, und alles, alles!« Und während Sorge und Hoffnung zugleich aus seinen Augen sprachen, richtete er das Mädel auf und streichelte ihm mit zitternden Händen die bleichen Wangen. »Aber laß nur grad den Mut net sinken! Die heilige Mutter hat noch kein verlassen, der ein richtigen Glauben ghabt hat auf ihr Güt und Gnad. Wirst es schon sehen, mein Kindl, mein liebs, wirst es schon sehen, was dich jetzt auf einmal so anpackt hat, das is nix anders gwesen, als wie der letzte Schnaufer von deiner Krankheit, und von jetzt an is aus und gar mit ihr, und 's Gsunden geht an! Und komm ... jetzt mach ich mich gleich auf'n Weg! Und bald wir daheim sind, da legst dich gleich nieder und tust mir schlafen und nix als schlafen ... und nacher Paß auf, wann nacher aufwachst! Du! Da wirst schauen! Komm, Schatzl, komm! «
Mit beiden Armen hob er Klara auf den Sockel der Kraxe. Unter tröstenden, hoffnungsseligen Worten richtete er ihren Sitz und legte wieder das Seil um ihre Füße und Hüften. Sie lächelte ihn mit blassen Lippen an und verbrauchte ihre ganze Kraft, um sich aufrecht zu erhalten. Doch als er vor der Kraxe niederkniete, um die Riemen über die Schultern zu ziehen, ging ein schmerzvolles Zucken über ihr Gesicht. Wie dem Ersticken nahe, so saß sie mit klaffendem Mund und krampfte die Hände in ihre Brust. Jetzt fühlte sie, wie sich der Vater mühsam in die Höhe stemmte, wie sich die Kraxe langsam mit ihr hob, und da sank sie in sich zusammen, und kraftlos fiel ihr das Haupt auf die Schulter.
Der Loibacher verließ den Kirchhof auf dem "gleichen Wege, auf dem er ihn betreten hatte, und suchte quer durch den Wald den heimwärtsführenden Fußpfad zu gewinnen. Noch war er nicht hundert Schritte gegangen, da fragte er schon: »Geh, sag, wie is dir denn?«
»Besser, Vaterl, ein bißl besser! «
Und so oft er seine Frage auch wiederholen mochte, immer hörte er die gleiche Antwort. Nur einmal, als der steile Anstieg fast schon zur Hälfte überwunden war, erwiderte Klara auf des Vaters Frage mit müder, kaum vernehmliche leiser Stimme: »Gwiß is mir besser, Vaterl, aber so viel hart schnaufen tu ich mich ... ich kann's schier nimmer derziehen!«
»Ja mein Gott, Kindl«, stammelte er, ohne den Schritt zu verhalten, »schau, mach dir's halt leichter ... weißt, im Gwand! Denn so beim Sitzen, natürlich, da schiebt's dir halt's Mieder in d'Höh.«
Sie mochte seinen Rat wohl befolgt haben, so meinte er ... denn als er nach einer Weile wieder fragte, ob sie sich nun besser und leichter fühle, hörte er sie mit lispelnder Stimme sagen: »Ja, Vaterl, woltern schon besser, jetzt spür ich schier nimmer, daß ich noch schnauf«
Erleichtert atmete er auf und stieg mit rascheren Schritten bergan.
Gegen die zweite Nachmittagsstunde hatte er die Paßhöhe erreicht. Dort oben dachte er zu rasten. Und da fragte er wieder: »Wie is dir denn jetzt, geh, sag?«
Doch keine Antwort kam. Erschrocken stand er still, und da meinte er leise, gleichmäßige Atemzüge zu vernehmen. Ein glückliches Lächeln spielte über sein erschöpftes, schweißtriefendes Gesicht, und unter diesem Lächeln raunte er vor sich hin: »Gott sei Dank! Jetzt macht s' ihr Schlaferl! Aber das wird s' gespüren ... das muß ihr gut tun ... no, Gott sei Dank!«
In dicken Tropfen rann ihm der Schweiß über Hals und Wangen, schwer ging sein Atem, aber lächelnd schritt er weiter und dachte nicht mehr ans Rasten. Er hätte ja die Schlafende wecken müssen, wenn er hätte rasten wollen. Und wie sacht und behutsam setzte er Fuß vor Fuß! Nun hatte er ja keine Eile mehr – und das langsame Gehen war ja auch ein halbes Rasten. jedem Steinchen wich er aus und jedem Wurzelknorren. Kein Schwanken, nicht der leiseste Stoß erschütterte die Kraxe. Manchmal, ohne die lautlosen Schritte zu verhalten, fragte er, um den Schlaf seines Kindes zu prüfen, mit flüsternder Stimme: »Schatzerl?« Und stets nach solcher Frage, die immer ohne Antwort blieb, überflog das gleiche, hoffende, glückliche Lächeln sein erschöpftes Gesicht. Wie fest und ruhig mußte sie schlafen! Wie leise mußten ihre Atemzüge gehen, da er sie nicht einmal bei gespanntestem Lauschen zu hören vermochte. Nur einmal war es ihm, als hätte sie sich im Schlafe gestreckt; dabei hörte er ein leises, gleitendes Rascheln – und als er unwillkürlich aufschaute, sah er Klaras blasse Hand über das Kopfgesims der Kraxe niederschwanken.
Noch langsamer wurden seine Schritte; es mußten ja seine Füße den Weg nun blindlings finden, denn seine Blicke wichen nicht mehr von dieser blassen, regungslosen, bei jedem Schritt nur sachte schwankenden Hand. Er spürte kaum noch seine Müdigkeit und achtete der Zeit nicht, die ihm verging. Wie staunte er da, als er nahe bei seinem Hause aus dem Bergwald trat und nun mit einemmal gewahrte, daß schon die Dämmerung ihren ersten Schleier über Tal und Höhen senkte.
jetzt stand er vor seiner Tür, atmete tief auf und warf einen forschenden Blick über Haus und Hof. Lange stand er still und lauschte in die Höhe »Kindl? ... Schatzerl?« fragte er mit leiser Stimme. Und als ihm keine Antwort kam, seufzte er bekümmert. »Jetzt muß ich's halt dengerst wecken, aus dem guten, guten Schlaf! Aber no, da wird's nacher auch wieder ihr Freud haben, wann's merkt, daß 's schon daheim ist! « Eine Weile noch zögerte er, dann rief er mit schüchternen Worten sein Kind beim Namen, erhob dazu den Arm und griff nach der bleichen Hand, die regungslos vom Kopfgesims der Kraxe niederhing. Da goß ihm die starre Kälte dieser Hand einen eisigen Schauer durch alle Glieder, und tödlicher Schreck verzerrte sein Gesicht. »Jesus Maria! « kreischte er auf, ließ sich wankend zur Erde nieder, riß die Arme aus den Riemen, sprang vom Boden auf und stand mit gestreckten Händen wie versteinert. Glasigen Blickes stierte er nieder auf das wie im Schlummer seitwärts geneigte Haupt seines Kindes, mit den zerfallenen Zügen, mit den gebrochenen Augen, mit dem offenen, blutbefleckten Munde. Nun kam ein Rühren und Zittern über seinen Körper, ein röchelnder Wehlaut quoll ihm aus der Kehle, noch einmal streckte er die Arme, dann stürzte er schwer zu Boden und lag bewußtlos – seinem toten Kind zu Füßen.
Drunten auf der Straße rasselte ein Wagen vorüber. In den Hufschlag seiner Pferde, in das Rollen seiner Räder mischte sich der Stimmenlärm eines näher kommenden Menschentrupps, der auf bequemer Wallfahrt heimwärts zog vom Kirchenfest der heiligen Mutter in der Einöd. Wirr klang das Lachen und Kreischen der Weibsleute mit dem Schreien und johlen der Burschen durcheinander. Besonders deutlich hob sich aus dem übermütigen Lärm eine heiser lachende Männerstimme. Und diese Stimme war auch noch zu hören, als im Weiterziehen des Trupps die Ferne schon das Gewirr der übrigen Stimmen dämpfte und erstickte ...
Drei Tage waren vergangen.
Mit drückender Hitze lag die Sonne über des Loibachers kleinem Hause. In der Stube waren die Fenster weit geöffnet. Und vor der schnurrenden, klappernden Drehbank stand der Alte, in Hemdsärmeln und mit der blauen Schürze. Ein starrer Zug war in dem langen, schmalen Gesicht. Auf der Stirne zogen sich enggereiht die Furchen bis unter das eisgraue Haar. In gebrochener Haltung stand er, mit gekrümmtem Rücken, und die Hände zitterten, mit denen er das Eisen führte.
Wieder war ein Schächtelchen fertig. Der Loibacher stellte die Drehbank, löste das kleine, zierliche Ding aus den Zwingen, prüfte den Schluß des Deckels und stellte es zu den übrigen. Er wischte sich den Holzstaub vom Gesicht und schüttelte die krausen Späne von der Schürze. Dann nahm er aus dem Weidenkorb ein neues Klötzchen und spannte es zwischen die Zwingen. Und während er mit einem Stoß des Handballens das Schwungrad in Bewegung setzte, neigte er seufzend den Kopf zur Seite und schaute durch das offene Stubenfenster nach der Hausbank. Da schossen ihm jählings die Tränen in die Augen. »Ja wie bin ich denn ... wie bin ich denn! Kann ich mir's denn gar net denken!« Seine Augen glitten durch die noch von Wachsgeruch und Weihrauchgeruch erfüllte Stube. Da fielen sie auf das Marienbild, das im Herrgottswinkel neben dem Kruzifix an der rissigen Mauer hing. Mit bitterem Lächeln nickte er dem Bildnis zu. »So also, Mutter, so hast es gmeint? jetzt freilich, ja, jetzt braucht mein Kindl gwiß kein Stecken nimmer, gelt? Und ich ... ah ja ... ich, meinst, ich kann's schon noch erwarten?« Die Worte versagten ihm.
Dann plötzlich streckte er sich, wischte die Tränen aus den Augen und stotterte: »Na! Aber na! Wie bin ich denn! Hab ich denn Zeit zum Weinen? Arbeiten muß ich ja, arbeiten! Der Pfarrer wartet, und der Mesmer wartet, und keiner von die Ministranten hat was kriegt, und 's gmalte Kreuzl is net zahlt ... «
Mit zitternden Händen brachte er die Drehbank in Gang, griff nach dem Eisen und setzte es an das wirbelnde Holz. Die Späne flogen auf, der feine Drehstaub sprühte dem Alten ins Gesicht, und die krausen Scheitchen flatterten ihm gegen die Brust und über die Schultern. Dazu erfüllte ein Zittern und Schwanken, ein schnurrendes Rappeln und singendes Knirschen die ärmliche Stube.
Und wieder war ein Schächtelchen fertig.