Das war sein wirklicher Name: Egidius Trumpf. Wenn ihr's nicht glauben wollt, so könnt ihr im Lenggrieser Kirchbuch nachschlagen. Da muß sich der Name finden. Ihr sollt auch wissen, in welchem Jahrgang. Um das Jahr Achtzig lernte ich den Gidi kennen. Damals zählte er ein paar Jährchen über die Dreißig. Also muß seine Taufe ungefähr um das Revolutionsjahr im Lenggrieser Kirchbuch verzeichnet stehen. Das war auch just die richtige Zeit, um solch ein brausköpfiges Menschenexemplar in die Welt zu setzen. Sein Vater war wohl einer von denen, die damals nach freier Jagd schrien und nicht erst lange warteten, bis sie von oben herab bewilligt wurde. Aber dieser Vater hieß nicht Trumpf, sondern anders. Den Zunamen hatte der Gidi von seiner Mutter. Und zu dem Übernamen, »der Urmensch«, kam er als neunzehnjähriger Bursch. Damals war der Gidi ein Holzknecht – aber nur von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Wenn die Sonne hinuntertauchen wollte, warf der Gidi die Axt aus der Hand und holte die unter Moos und Streu versteckte Büchse hervor. Fünf Minuten nach sechs Uhr abends war der Holzknecht schon in einen Wildschützen verwandelt und blieb es bis sechs Uhr morgens..
Wenn er dann am Sonntag aus dem Bergwald hinunterkam in die Kirche, schlief er sich aus. Und um das recht gründlich besorgen zu können, hatte er sich mit mancherlei Listen das sicherste Plätzchen in der ganzen Kirche erobert: dicht unter dem Kanzelboden. Beim Knien und Sitzen war da gerade so viel Raum, als der Gidi brauchte. Doch wenn er stehen sollte, mußte er ein »Hockerl« machen, um sein Haardach vor unangenehmen Berührungen mit den Stuckschnörkeln des Kanzelbodens zu behüten. Das war nun freilich nicht »kamod«. Aber das enge Plätzchen hatte den Vorteil, daß der hochwürdige Herr bei der Predigt nicht sehen konnte, wie sanft der Gidi unter dem Schutz des Kanzelbodens schlummerte.
Und da war es um den »Wastelstag«. Und in der Sonntagspredigt schilderte der Hochwürdige das grausame Martyrium des heiligen Sebastian und malte den von Pfeilen durchspickten Leib des frommen Dulders mit so viel roter Farbe, daß allen gutherzigen Weibsleuten vor Erbarmen die Augen zu tröpfeln begannen.
»Nücht wahr, ühr chrüstkläubigen Zuhärer, wenn wür gewöhnlichen Mänschen uns nur mit einer kleunen Nadel stächen, empfünden wür schon den unanchönähmsten Schmörz. Und nun dänket euch hundert spützige, scharfe Pfeule ...«
Der Hochwürdige, dem das Hochdeutsch eine schweißtreibende Mühe verursachte, ließ in der Schilderung des Martyriums eine Pause eintreten und spähte mit gerunzelter Stirn über alle Betstühle hin, als hätte er irgend etwas Verdächtiges vernommen.
»Hundert spützige, scharfe Pfeule! Und dänket euch, wie diese haidnischen Werchzeuche den schmörzhaften Leub durchpohren ...«
Abermals verstummte der Prediger. Und wie der Hochwürdige, so hörten auch alle Andächtigen in der Kirche ein lautes Schnarchen, das bei jedem Zuge mit kräftigem Gerassel einsetzte, um dann wohlig zu verhauchen.
»Wer schloffft denn da scho wieda?« Bei dem dreifachen »fff« dieser Frage schlug der Pfarrer in gerechtem Zorn mit der Faust auf das Kanzelgesimse.
Egidius Trumpf erwachte, sprang erschrocken von der Sitzbank auf – und da gab's ein heftiges Gerappel und Gekrache. Denn der Gidi hatte mit seinem Haardach nicht nur die Stuckschnörkel der Kanzelkonsole gründlich beseitigt, sondern das gesunde Eisenköpfl auch noch zur Hälfte durch den Bretterboden gestoßen. Der geistliche Herr, dem der feste Standpunkt etwas erschüttert war, klammerte sich im ersten Schreck mit beiden Händen an das Kanzelgesimse; dann guckte er, unter dem Gekicher aller Andächtigen, durch das aufgesträubte Bretterloch auf den von weißem Kalkstaub überpuderten Gidi hinunter und sagte: »Egüdius, du büst ein ... ein Urmensch!« Dieser Übername blieb dem Gidi.
Ein Jahr nach dieser Kalktaufe wurde er Soldat und begann seine militärische Laufbahn mit einer Woche Dunkelarrest. Da hatte ihn ein Landsmann am Rekrutierungstage zu München ins »Ewige Licht« geführt, in jene berüchtigte Soldatenkneipe auf dem Marienplatz. Hier traf er mit einem Kürassier zusammen, der die selbstbewußte Meinung äußerte: »Mi sauft sobald net oaner hi'!« Solch eine stolze Rede vertrug sich nicht mit dem Ehrgeiz des Egidius Trumpf. Er schlug zur Wette einen Kronentaler auf die Tischplatte und schrie: »Geh her, du Lauser, bal die traust!« Natürlich traute sich der Kürassier. Um zehn Uhr vormittags begannen die beiden Kampfhähne dieses sinnlose Schlucken, und gegen sechs Uhr abends lag der Kürassier unter dem Tisch. Gidi sackte die beiden Kronentaler ein, und während die Unparteiischen dem stillen Reitersmann den Geldbeutel aus der rotgestreiften Hose zogen, um die verlorene Zeche zu bezahlen, erklärte der Gidi: »Sakra, soviel Bier, dös macht oan dürsti!« Sprach 's – und faßte mit beiden Händen den unter dem Bierfaß stehenden Tropfganter – und schluckte das seit dem Morgen angesammelte Tropfbier mit samt den hundert ertrunkenen Fliegen glatt hinunter in seine heißgewordene Seele. Er fand noch auf eigenen Füßen den Weg zur Kaserne. Den Kürassier mußten sie heimtragen. Der brauchte dann vier Wochen, bis er den bösen Katzenjammer los wurde, und wäre dabei schier raufgegangen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, und der Urmensch mußte eine Woche dunkel brummen. Noch zwölf Jahre später, als er mir die Geschichte erzählte, geriet er über diese »Ungerechtigkeit« in einen brüllenden Zorn: »Da rumpelst an so an Krippenreiter oni, der nix vertragt, und nacher spirren s' di acht Täg lang ein! Guat schaugt s' aus, dö irdische Grechtigkeit! Pfui Teufel! Da durft unser Herrgott scho bald wieder amal aufmischen.«
Als Gefreiter machte Egidius Trumpf den Feldzug in Frankreich mit und holte sich vor dem Feinde das eiserne Kreuz und den Militärverdienstorden. Von diesem Feldzuge erzählte er gerne. Aber eine Geschichte des deutsch–französischen Krieges hätte man nach diesen Schilderungen nicht schreiben dürfen. Von Tapferkeit und ähnlichen Dingen pflegte der Gidi nie zu reden. Was von dieser Heldenzeit in seinem Gedächtnis geblieben war, das drehte sich um vermauerte, mit Scharfsinn ausgespürte Weinkeller, um »mudelsaubere Franzeesinna« und geprügelte Zuaven. Schade, daß man dieses Wort – Zuaven – nicht niederschreiben kann, wie es der Gidi aussprach. Wenn er das auf die Zunge nahm, da sah man gleich etwas Ungeheuerliches, etwas wunderlich Groteskes und unglaublich Komisches. Man mußte schon lachen, bevor der Gidi seine Geschichte noch begann.
Was der Urmensch damals in Frankreich trieb, das nennt man mit einem Terminus der heutigen Kaffeehausphilosophie: sich ausleben! Und es hatte nichts Unwahrscheinliches, wenn man aus seinen Erzählungen den Schluß zog, daß die Französinnen in den Quartierdörfern diesem übermütigen Kraftkerl nachrannten wie die neugierigen Kinder dem Bärentreiber. Wenn der Gidi erzählte, übertrieb er nur im Ausdruck. In der Sache selbst blieb er sicher bei der Wahrheit. Und man durfte ihm glauben, wenn er der Meinung war, daß er anno 70 und 71 zum Ausgleich der feindlichen Rassen ein Wesentliches beigetragen hätte. Doch für den sinngetreuen Bericht der Abenteuer, die Egidius Trumpf in Frankreich erlebte, hat die Literatur, die modernste nicht ausgenommen, eine geeignete Kunstform noch nicht entdeckt. Drum muß ich die einschlägigen Heldentaten des Gidi mit Schweigen übergehen – bis auf eine. Die will ich erzählen, auch auf die Gefahr hin, daß sie den Gidi für euer Urteil in eine falsche Beleuchtung rückt. Doch ihn selbst darf ich dabei nicht schwatzen lassen. Da würde was Schönes herauskommen!
Die lebendige Mauer war um Paris gezogen. Und das Regiment, bei dem der Gidi stand, lag irgendwo vorne dran. Nun war es um die Zeit, in der man zu Paris schon die Ratten nach ihrem Nahrungswert zu schätzen begann. Da kamen um die Dämmerung und in der Nacht zuweilen allerlei scheue Gestalten zwischen den Pariser Vorwerken herausgeschlichen, um von den deutschen Vorposten einen Bissen Brot zu erbetteln. Mit Worten konnte man sich nicht verständigen. Aber diese typische Bewegung der Hand nach dem Munde, dieser Faustdruck auf den hohlen Magen und dieser heiße Sehnsuchtsblick war leicht zu deuten. Auch für den Egidius Trumpf Der hat da wohl zu dutzendenmalen seinen Brotsack ausgeleert. Bei seiner haarigen Wildheit war der Urmensch immer ein guter Kerl. Aber nicht nur Hungrige kamen da herausgeschlichen. Es stellten sich bei der Vorpostenkette auch findige und unternehmungslustige Pariser Dämchen ein, mit deren praktischer Gewinnfreude sich der Deutschenhaß recht gut vertrug. Solch einen Besuch erhielt Egidius Trumpf eines grauen Morgens, als er auf Vorposten stand. Und während die Pariserin und der Lenggrieser sich über politische und nationale Gegensätze verständigten, hörte der Urmensch immer etwas klappern und klingen. Im Gidi regt sich die Neugier. Und seine tastende Klaue greift an dem Rock der Pariserin eine Tasche, die schwer ist von Geld. Und da hat der Urmensch einen seiner »lustigen« Einfälle. Ganz heimlich holt er sein Messer heraus und macht einen flinken Schnitt. Und als die freundliche Pariserin mit einem schelmischen »Au revoir, monsieur!« davonhuscht, klappert und klingt es nicht mehr. Was da geklungen und geklappert hatte, das blieb im grauen Erwachen des Tages bei Egidius Trumpf zurück.
Als der Urmensch diese Geschichte beim Herdfeuer in der Jagdhütte erzählte, regte sich in mir die Moral des Kulturmenschen.
»Aber! Gidi!«
»Was, aber? Is lauter boarisch Geld gwesen!« Dazu lachte der Urmensch, daß unter seinem schwarzen Bart die weißen Zähne blinkten. Und die kleinen Falkenaugen blitzten in der Freude des Erinnerns.
So muß sich ein Fuchs freuen, der im Pfarrhof ein Perlhuhn gestohlen hat. Und da soll nun der Pfarrer oder seine Köchin kommen und dem Füchslein predigen, daß man so was nicht tun sollte. Der Fuchs würde wohl genau so dreingucken, wie der Egidius Trumpf bei meinem »Aber!«
Ich weiß nicht, was ihr nach dieser Geschichte vom Urmenschen halten werdet. Denkt ihr schlecht von ihm, so bekommt sein Gesicht eine Linie, die es im Leben nicht hatte. Und vergeßt nur nicht, daß er trotz allem einer von den knochenfesten jungen war, die uns damals siegen halfen. Ich kann mir vorstellen, wie er feuerte und mit dem Kolben drosch! Und ich mag mir denken, daß sich jene kluge Pariserin lachend mit dem Sprichwort tröstete: »C'est la guerre!«
Nach dem Friedensschluß verwandelte sich der Gefreite Egidius Trumpf in einen Floßknecht. Und wenn er nicht die langen Wasserstiefel trug, dann machte seine wachsende Jagdpassion alle um Lenggries gelegenen Reviere unsicher. Daß der Gidi »ging«, das wußten alle Jäger. Aber sie erwischten ihn nie. Um diesen Jagdschaden loszuwerden, gab es kein anderes Mittel, als den Gidi zum Jäger zu machen. Im Jahr 1876 wurde er königlicher Jagdgehilfe in der Wartei Fall. Und da erwies sich an ihm die Hypnose des ehrlichen Berufes. Der Urmensch färbte sich über Nacht in der Haut. Ein so rassiger Wildschütz er bisher gewesen, so ein rassiger Jäger wurde er jetzt. Dennoch merkte er, daß sich beim Jagdpersonal das Mißtrauen gegen ihn nicht völlig beschwichtigen wollte. Das ärgerte den Gidi. Und mit Sehnsucht harrte er auf eine Gelegenheit, bei der er sich im königlichen Dienste auszeichnen könnte. Doch so fleißig er auch bei Tag und Nacht auf den Beinen war – das ersehnte Stündl, in dem der Egidius Trumpf einmal auftrumpfen wollte, stellte sich nicht ein. Die Lenggrieser Wilddiebe wußten: der kennt unsere Schliche. Und drum verschonten sie das Revier des Gidi mit ihrem Besuch. Nun dachte sich der Gidi: »Da muaß i wildern, anderst geht's net!« Und in einer milchigen Mondnacht fing er über der Grenze drüben, im Revier des Herzogs von Koburg, einen Tiroler Wildschützen. Den lieferte er aber nicht in der Hinterriß beim Koburgischen Wildmeister ab, sondern trug ihn, wie einen Hirsch zusammengeschnürt, auf dem Rücken über die Grenze ins Bayerische herüber und die drei Stunden hinunter nach Fall. Damit hatte der Urmensch ein Novum in der Geschichte der Jägerei geschaffen: daß man nicht nur auf Wild, sondern auch auf Wilderer wildern kann.
Natürlich saß der Gidi jetzt warm im Vertrauen seiner Vorgesetzten. Aber der Gewaltstreich hatte Folgen. Da saß der Urmensch ein paar Wochen später zu Vorderriß in der Leutstube. Am Nachbartische zechten ein paar Tiroler Holzknechte. Die spöttelten ein bißchen, schwatzten aber sonst ganz lustig und »verträuli« mit dem Jäger. Doch als sie sich erhoben, um sich wieder an die Arbeit zu machen, trat einer von ihnen auf den Gidi zu, holte eine Handvoll frischgegossener Zinnkugeln aus dem Hosensack heraus, hielt sie dem Jäger vor die Nase und sagte lachend, als gält' es einen Scherz: »Schaug on, jager, do isch die deinig auch derbei!«
»So? Moanst?« Es blinkerte dem Urmenschen in den Augen. »Die wöll waar's denn nacher?«
»Konscht d'r oane aussuachen!«
Gidi wählte lange, bis er sich für eine tadellos gegossene Kugel entschied. »Dö da!« sagte er kichernd. »Dö gfallet mer am besten!«
»So mach a Kreizl drauf, woascht, daß es koa Verwechslung geit!«
Immer lustig, den »Spaß« völlig verstehend, kritzelte Gidi mit dem Knicker ein kleines Kreuzl auf die Zinnkugel; während er sie in die Hand des Tirolers zurücklegte, gab er ihm noch lachend den Rat: »Gelt, halt fei guat hin! Daß d' mi net ebba faihst!«
Der Tiroler schob die Kugeln wieder in den Hosensack und stapfte zur Tür hinaus.
Noch ehe die folgende Woche vergangen war, wurde in der Gegend der Hinterriß ein Mensch vermißt. Das war aber nicht der Gidi. Der war kreuzgesund, tat in Ruhe seinen Dienst und guckte in den Wirtsstuben neugierig drein, wenn von dem vermißten Tiroler die Rede war.
Später erzählte man zwischen Lenggries und Mittenwald, daß der Trumpf–Gidi an seinem Hals ein seidenes Schnürchen mit einer Zinnkugel trüge, wie andere am Hals einen geweihten Muttergottespfennig tragen. Aber dieses Gerede war Unsinn. Ich habe mit dem Gidi ein Jahr lang gejagt. Dabei hatte er immer, Sommer und Winter, das Hemd an der haarigen Brust weit offen. Doch ein seidenes Schnürchen hab ich nie an seinem Hals gesehen. Wahrheit ist nur das eine: daß es immer zu bösen Prügeleien kam, wenn der Urmensch in den Wirtsstuben mit Tirolern zusammentraf. Seine Vorgesetzten mußten ihm einschärfen: sich auch im Wirtshaus daran zu erinnern, daß er ein königlicher »Biamter« wäre, der seiner Würde nichts vergeben dürfe. Wie sehr sich der Urmensch diese Warnung zu Herzen nahm, das konnte ich späterhin mit eigenen Augen gewahren.
Im Sommer 1880 lernte ich den Gidi kennen. Da war ich, zu Anfang des August, seit einigen Tagen als Jagdgast in Fall. Eines Abends, als wir von der Pirsche heimkehrten, sah es nach schlechtem Wetter aus. Den Regentag, der da zu erwarten stand, wollte ich benützen, um mich wieder einmal auszuschlafen. Aber früh um acht Uhr, als ich erwachte, glänzte der schönste blaue Himmel durch die Scheiben herein. Mit einem gesunden Jägerfluche fuhr ich aus dem Bett und riß das Fenster auf. Ein Morgen war's, der das Blut zittern und die Seele dürsten machte. Und drüben, über den Wiesen der Dürrach, auf einem sonnbeglänzten Graslahner des nahen Jägerberges, schimmert ein roter Fleck. Hochwild? So spät am Morgen noch bei der Äsung? Unmöglich! Das muß was anderes sein! Flink wird das Fernrohr vom Zapfenbrett geholt, aufgezogen und gerichtet. Wie Feuer fährt mir's in die Glieder. Da drüben steht ein Hirsch! Und ein Fetzenkerl! Ein Vierzehnender!
Meiner Lebtag bin ich nie so flink in die Hose gekommen wie damals. Und im Saus über die Stiege hinunter. Aber der Förster ist nicht daheim. Jesus Maria! »Und keiner von den Jägern?«
»Ah woll, Herr Dokter! Grad is der Urmensch einitrappt in d' Jagerstuben.«
Ich hatte den Urmenschen noch nie gesehen, wußte nur, daß er Jagdgehilf war, und kannte seinen Namen.
Wie ein Narr fuhr ich zur Haustür hinaus und rannte um die Ecke, wo die Jägerstube lag.
»Trumpf! Trumpf! Trumpf!!«
Der Gidi kam aus der Tür gesprungen. Aber da hatte ich keine Zeit, mir den Urmenschen anzusehen. Ich sah nur den Hirsch da drüben. Und schwatzte und deutete.
»Mar' und Josef! Hat der a paar Stangen droben!« Um das zu sehen, brauchte der Gidi kein Fernrohr. Der sah's mit freien Augen, obwohl es bis zu dem Lahner, auf dem der Hirsch weidete, etwa zwölfhundert Meter hinüber war.
Im Laufschritt sausten wir, jeder mit der Büchse in der Hand, über die Wiesen. Dann mit Keuchen das steile Gehänge hinauf, gedeckt durch einen Waldstreif. Immer zitterte die Angst in mir, daß der Hirsche nicht aushielte. Und als wir auf zweihundert Gänge vor dem Lahner waren, ohne den Hirsch zu sehen, begann mich das Fieber zu beuteln.
»Schnaufen S' aus!« zischelte der Urmensch. »Lassen S' Eahna derweil! Der Hirsch is no da.«
»Woher weißt du denn das?«
»Schmecken tuar i's. Geht ja der Wind grad her! Haben S' denn koa Nasen net?« Der Gidi schnupperte. »Dämpfen tuat 'r in der Sunn!«
Für einen Augenblick kühlte mir die Verblüffung den schwülen Blutschlag des Hirschfiebers. War das ein Mensch? Oder ein Jagdhund.
Und richtig – als ich über den Waldgrat hinüberguckte, stand der Hirsch noch mitten auf dem Lahner. Hatte aber das Haupt schon aufgeworfen. Und als ich die Büchse hob, sah er den Sonnenblitz auf dem Lauf und sauste mit langen Fluchten davon. Der Schuß krachte.
»Hat 'n scho!« schrie der Urmensch. »A bißl hoach haben S' 'n derwuschen. Glei weard 's 'n reißßßn.«
Drüben im Buchenwald ein Gepolter und Gekrache – da rollte der Hirsch durch den steilen Wald hinunter und zerschlug mit Geweih und Läufen die Zweige. In meiner Freude begann ich ein sinnloses Rennen – damals war ich vier Wochen über die Fünfundzwanzig – und immer tiefer ging's, immer hinter dem Hirsche her. Doch erst auf der Wiese erreichte ich ihn. Da saß er am Waldsaum, mit entzweigeschossenem Rückgrat, ein leises Zittern in den aufgestemmten Vorderläufen. Er machte keinen Versuch mehr, sich vom Fleck zu rühren, sondern sah mich mit stolzen, blutunterlaufenen Lichtern an. Aber was dieser Blick in mir erweckte, ging nur wie ein flüchtiger Nebel durch meinen Verstand. Es war mein erster Hirsch! Und die Freude war wie Irrsinn in meinem Blut. Wie soll man da denken, oder beobachten, oder den Vorwurf empfinden, daß man eine schöne Lebensform zerstört? Mir fiel nichts anderes ein, als den Jägersieg dieses Morgens voll zu machen und dem Hirsch mit dem Messer den Fang zu geben. Die Klinge blitzte in der Sonne, und während ich mit der Rechten ausholte zum Stoß, faßte ich mit der Linken den Hirsch am Geweih.
Da brüllte im Wald eine Stimme: »Sakrament no amal! Die Pratzen davon!« Aber im gleichen Augenblick verging mir Hören und Sehen –solch einen Purzelbaum ließ mich der Hirsch über seine Stangen machen. Im Dusel hörte ich noch den Hall eines Schusses. Und als ich mich wieder ermunterte und meine Knochen langsam aus dem Gras zusammenklaubte, lag der Hirsch verendet im Schatten einer Buche, und der Gidi stand vor mir und brüllte in heißem Zorn: »Sie Narrenschüppel! Da können S' von Glück sagen, daß Eahna der Hirsch die stadtischen Darm net auslassen hat! Wia ko ma denn an Hirsch, der dö halbete Kraft no hat, so mir nix dir nix angreifen! Sakrament no amal! Und i waar nacher verantwortle gwesen. Himmel Herrgott no amal! Daß d' Leut aber allweil jagern müassen, bal s' koan Dunst net haben davon!«
Ich schnaufte. Der »edle Weidmannsstolz« dieses Morgens war mir gründlich beschnitten. Den Schmerz, der mir in allen Gelenken brannte, verbiß ich wohl. Aber zu einem Laut des Widerspruches schwang ich mich doch nicht auf, sondern guckte nur immer den Urmenschen an, der sich die Galle aus der Leber schimpfte. Und so im Zorn mußte man ihn sehen! Da sah er viel schöner aus, als wenn er gemütlich lachte.
Er war nicht groß, fast unter dem Mittelmaß. Aber Beine hatte er wie Säulen und Arme wie Dreschflegel. Und wenn er den Arm bog oder beim Gehen die Knie so hart durchdrückte, hatte man immer die Vorstellung: das sind eiserne Scharniere mit fest angezogenen Schrauben. Die Schultern waren unverhältnismäßig breit und wuchtig. Zu diesen Schultern hätte ein Mensch gehört, um einen Bauernschuh noch größer als der Gidi. Die Brust, an der das Hemd immer offenstand, war bis an die Halsgrube herauf ganz schwarz behaart. Kegelförmig strammten sich aus den Schultern die dicken Sehnen gegen den Hals hinauf, der den kleinen, flinkbeweglichen Kopf trug, umwustet vom schwarzen Ringelhaar. Und der schwarze Vollbart, der lang und starr über die Brust herausstand, hatte etwas Stilisiertes, etwas Altpersisches. Ganz merkwürdig war das anzusehen, wie diese harte, schwarze Bartflamme bei der hurtigen Beweglichkeit des kleinen Kopfes hin und her flog.
Wenn der Gidi bei guter Laune war, trug er den mürbverwitterten zwiebelgelben Filzhut mit der Adlerfeder immer tief in die Stirn gerückt. Und da sah man unter dem schwarzen Haargewirr nicht viel von seinem Gesicht. Eine schmale, scharfe Nase mit ungewöhnlich beweglichen Nüstern stach heraus, im Schatten der Hutkrempe funkelten die kleinen, huschenden Augen ganz winzig, und beim Lachen blinkten die starken Zähne weiß aus dieser Schwärze. War aber der Urmensch wütend – wie damals vor meinem Hirsch – dann trug er den Hut übers Haar zurückgeschoben, die Stirne war kreidebleich, ein Netz von bläulich geschwollenen Adern zog sich über jede Schläfe hinauf, die erweiterten Augen blitzten wie polierter Stahl, auf den Wangen brannte die Haut unter dem Ansatz des Bartes wie Scharlach, und in seiner Stimme – so laut er auch brüllte – zitterte immer etwas unheimlich Versunkenes.
Bei dem viereckigen Mißverhältnis zwischen Breite und Länge war der Gidi alles andere eher als das, was man einen schmucken Kerl zu nennen pflegt. Doch wenn ihm die Galle kochte, wurde er schön durch die Wildheit seines Zornes und durch das Wuchtige seiner Kraft.
Damals, auf der Wiese unter dem Jägerberg, verschlug's mir die Sprache. Und ich guckte den Gidi immer an. Der wurde erst ruhiger, als er mir auf grünem Bruch die schönen Granen des Hirsches hinbot.
Gegen 10 Uhr lag meine Beute schon in der Zwirchkammer. Und um den Urmenschen wieder gemütlich zu stimmen, ließ ich im Wirtshaus einen Eimer Bier auflegen. Der war um 5 Uhr abends leergetrunken. Wir rechneten nach: der Förster, der Wirt, die Tochter und der Sohn des Wirtes, ein Grenzaufseher und ich, wir hatten zusammen –ganz ehrlich gerechnet – 33 Maß getrunken. Was zum Eimer noch fehlte – 27 bayerische Maß – hatte der Gidi für sich allein geschluckt. Da war er nun freilich gemütlich geworden. Aber um sechs Uhr lud er seinen schweren Rucksack mit dem Wochenproviant auf den Buckel und stieg noch die drei Stunden zur Lärchkogelhütte hinauf.
Dann hab ich den ganzen Sommer und Herbst mit ihm gejagt, bis Ende November. Und was ich von ihm zu erzählen hätte, würde ein Buch füllen. Aber ich will aus dem Guglhupf dieses Kraftlebens nur ein paar Weinbeeren herausbohren.
Wir kamen da eines Vormittags von der Pirsche zurück und saßen im Wirtsgarten, der keinen Zaun hatte, aber zur Hälfte umzogen war von einer Mauer aus Scheitholz, das mannshoch für den Winter aufgeklaftert stand. Und während wir da beim Krug sitzen, kommt ein Tiroler Teppichhändler mit seinem Kasten, ein baumlanger, schwarzzottiger Patron. Dem zwinkert was in den Augen, als er den Gidi sieht. Doch er setzt sich zu uns an den Tisch, tut zuerst dreckfreundlich, fängt aber dann zu spötteln an, redet von Zinnkugeln und »Kkreizln« und gerät in Wut, weil der Urmensch so ruhig bleibt, als wäre der Tiroler Luft für ihn. Doch weil der Teppichhändler seine bedenklichen Späße immer dicker auflegt, guckt ihn der Gidi an und sagt: »Halt's Maul, du Lackl! I bin a Biamter, daß d' es woaßt!«
»Wos bischt?« Dann kam eine Aufforderung, die ihr in Goethes Berlichingen nachlesen könnt.
Der Gidi lacht. So was griff ihm nicht an die Ehre.
Diesem Lachen gegenüber verliert der Teppichhändler die Besinnung. Er packt seinen Krug und schüttet dem Urmenschen das Bier ins Gesicht.
Da steht der Gidi auf, schiebt den triefenden Hut zurück, und an seinen Schläfen erscheint jenes bläuliche Netz. »Sakrament no amal!« Mit beiden Fäusten will er zugreifen. Aber da schüttelt er den Kopf und brüllt: »Na, Brüaderl! Ah na!« Er schleudert den Hut ins Gras, reißt die Joppe herunter, nimmt einen Anlauf und springt wie verrückt ein dutzendmal über das aufgeklafterte Scheitholz hin und her, so lange, bis ihm der Atem zu keuchen beginnt. Dann stemmt er sich mit dem Rücken gegen die schwere Holzmauer, bläst und keucht und schiebt und drückt, bis die ganze Scheiterbeuge mit Grassel über den Haufen purzelt. »So, Brüaderl, jetzt bin i grecht für di!« Nun packt er den Teppichhändler, wirft ihn zu Boden und drischt so grob auf ihn los, daß der Wirt, die Wirtin, der Hausknecht und die Wirtstochter gerannt kommen und mit Kreischen zu wehren beginnen. Ich helfe mit, und wie wir den schnaubenden Urmenschen endlich hinter dem Tisch haben, steht der Teppichhändler mit kreidebleichem Gesicht vom Boden auf, hebt den bunten Kasten auf seinen Rücken und macht sich schweigsam auf die Wanderung.
»Mensch!« sag' ich zum Gidi. »Hast du denn völlig den Verstand verloren?«
Und die Wirtin zetert: »Jessas, jessas, die ganze Scheiterbeug hat 'r mer aussidruckt! Dös Uuurviech!«
Aber der Gidi, weil er den Teppichhändler nimmer sieht, ist schon wieder ganz ruhig und sagt: »Macht nix! I klafter 's Holz scho wieder auf! Woaßt, z'earst hab i mer d' Wuat a wengl abküahlen müassen. Sunst hätt i dem Kerl am End no ebbes toan! Und da hätt i wieder a Nasen vom Forstamt kriagt: daß i mi net als Biamter betragen hab.« Dann sieht er den Tisch an, auf dem eine Lache schwimmt. »Schad ums Bier!« Und geht auf die umgeschmissene Holzmauer zu und beginnt gemütlich die Scheite aufzuklaftern.
Ein andermal, da wanderten wir am Morgen durch das Kotzental herunter nach Fall. Aus diesem Waldtal steigt eine schneidige Bergrippe, der Scharfreitergrat, steil und hoch ins Blau hinauf, wie nach der Schnur gezogen.
Unter der Hypnose dieses Namens – Scharfreitergrat – und wie einem manchmal etwas Sinnloses durch den Verstand fährt, sag' ich zum Gidi: »Wenn da einer auffireiten tät auf der Lederhosen, dem zahlet ich gleich ein paar Maß Bier!«
»Was?« schreit der Urmensch. »Zahlst es?« Er wirft sein Jagdzeug ins Gras, Hut und Joppe dazu, schwingt sich rittlings auf die Steinrippe, fängt zu rutschen an – und reitet, reitet und reitet, bis er da droben für mein Auge so klein wurde wie ein Floh.
Sechs geschlagene Stunden mußte ich warten, bis der Urmensch wieder kam. Und zu Fall im Wirtshaus mußte ich die vier Maß Bier bezahlen – denn der Gidi behauptete: Ein paar', das wären höchstens fünfe, aber mindestens drei. Und da ging ich den Mittelweg.
Ende August hausten wir miteinander in der Lärchkogelhütte. Der Proviant war uns ausgegangen, und der Träger wollte noch immer –nicht kommen. Im Zustand des Hungers pflegen die Grenzen zwischen Mein und Dein zu verschwimmen – und so vergriffen wir uns an ärarialischem Eigentum, indem wir einem Gemsbock, den ich erlegt hatte, zwei handgroße Wildbretstücke von der Innenseite der Schlegel wegstibitzten. Und der Urmensch, der sich nicht übel aufs Kochen verstand, machte sechs »Karminadln« draus. Viere verspeisten wir; die zwei übrigen kamen ins Kellerloch, um am folgenden Morgen als Frühstück zu dienen. In der Nacht aber kam der Träger mit dem Proviant. Eine Woche später, als wir eines Nachmittags vor dem Abmarsch die Hütte saubermachten, höre ich im Kellerloch den Gidi schreien: »Mar' und Josef! Da san ja no dö zwoa Karminadln!« Auf dem Holzteller bringt er sie hergetragen. Sie waren von gut genährten Maden ganz lebendig.
»Pfui Teufel! Hinaus!«
»Ah, wos! Is no allweil a Fleisch. Da waar oft oaner froh drum.« Sprach's, wickelte die »Karminadln« mitsamt ihrem fetten Leben schmunzelnd in ein Zeitungsblatt und ging aus der Stube.
Am Abend, als schon die blaue Dämmerung um die Berge träumte, kamen wir auf dem Heimweg an einer Hüterhütte vorüber, durch deren lückiges Balkenwerk ein roter Schein herausgloste.
»Schaugn mer eini!« sagt der Gidi. »D kon i an der Gluat mei Pfeifl anzenten!«
Wir traten in die Hütte. Und wo Kohlen glühen, setzt man sich gerne nieder. So saßen wir und schwatzten. In der dunklen Ecke hinter dem Herd war etwas Haariges und Plumpes, das sich träg bewegte und mit dem Atem rasselte wie ein Bär im Winterschlaf
Da sagte der Gidi: »Hansl? Mogst a Fleisch?«
»Ah woll! So ebbes rnog i allweil!« klang es aus der dunklen Ecke.
Der Urmensch nahm aus seinem Rucksack ein in Zeitungspapier gewickeltes Packerl.
Ich begriff – der Ekel schüttelte mich – aber die Neugier hielt mich fest; ich wollte den Moment nicht versäumen, in dem der Gidi den Dank seiner schenkenden Barmherzigkeit an den Kopf bekäme.
In aller Gemütsruhe, ganz ernst, begann der Urmensch die Lebensgeschichte eines Gemsbockes zu erzählen, den er im verwichenen Herbst unter dem »Luderer Gwänd« erlegt hatte. Dabei raschelte in der dunklen Ecke das Zeitungspapier. Und während der Gidi erzählt, wie der Bock die Gais zu treiben begann, sagt der Hansl: »Herrgott! Is dös aber mürb! Dös laaft oam ferm über d' Finger abi.«
»Gelt, Mannderl? So ebbes Guats hast im Leben no nia derwuschen?«
»Na!«
Und der Gidi erzählt: »No also, und wia der Bock die Goas so unter der Wand hin treibt, und in fünf Minuten dreimal stellt ...«
Aus der Ecke hörte man immer wieder ein leises Knacken, wie wenn ein Bub auf grüne Stachelbeeren beißt. Dann frägt der Hansl: »Was muaß denn dös sein, was i da allweil derbeiß?«
»Woaßt, da san Weinberln drin.«
»Gelt, ja! Hab mer's aa scho denkt. Weil's gar so süaßelet.«
Mit einem Sprung fuhr ich zur Hütte hinaus.
Als mir der Gidi nach einer Weile in der Dunkelheit nachkam, sagte er: »Schaugn S', so ko ma oft oam Menschen a Freid machen! Freili hat alls seine zwoa Seiten. Aber bal oaner bloß die guate siecht ...«
Eines Nachmittags, in den schwülsten Hundstagen, lagen wir in der Jagdhütte auf dem Heukreister und hielten Siesta. Die Glut des Tages und die Mucken quälten uns – Mucken von allerlei Arten.
»Du, Gidi!«
»Was?«
»Weißt du, das ist ja wunderschön ... die Jagd, so den ganzen Sommer ... aber manchmal möchte man doch ein bisserl Abwechslung haben.«
Er verstand mich gleich. Denn auch der Urmensch war dem ewig Weiblichen nicht feind, das uns hinanzieht. Sich halb im Heubett aufrichtend, tat er seinen Lieblingsfluch: »Sakrament no amal! jetzt dös is gspassi. Grad hab i aa dran denkt.« Eine Weile sinnierte er vor sich hin. Dann bekannte er mit rührender Offenheit: »Daß mer da bei uns umanander lauter Alte auf die Sennhütten haben, da bin fei i dran schuld. Dö Bauern lassen koa junge nimmer auffi.« Wieder studierte er und hielt die feucht schwimmenden Augen auf den grellen Sonnenfleck des Fensters gerichtet. Und schlang die Arme um die aufgezogenen Knie. »Sakrament no amal!« jetzt sah er mich an, mit schmunzelndem Gezwinker. »Sö! Glei überm Berg da drent, da wußt i an Alm. Sieben Hütten stengan beinand auf'm schönsten Fleck. Und sieben Sennerinna! Mudelwollete Weibsbäder. Und oane säuberer wia die ander. Sakrament no amal!« Er stieß mich mit dem Ellbogen an. »Was moanen S'? Springa mer ummi, morgen in der Fruah?«
»Wie weit haben wir denn da hinüber?«
»Ah wos! So a Katzensprüngl!«
»Na ja, aber ... da drüben kenn ich doch niemand?«
»Bal Eahna i rekommandier!«
jetzt konnten wir schlafen, trotz Hitze und Mucken.
Früh um zwei Uhr weckte mich der Gidi. »Z'earst machen mer unser Pirsch. Der Earnst geht allweil für. Und bal mer um achte marschieren, kumma mer allweil no fruah gnuag ummi.«
Ein wundervoller Morgen war's. Doch in der milden Kühle schien alles grüne Leben schon zu zittern vor den Gluten, die der Tag wieder bringen würde. Es gab an diesem Morgen mehr zu schauen als zu jagen. Denn das Wild begann sich schon zu verschliefen, als der erste Sonnenglanz die Bergspitzen anleuchtete.
»Heut bideut's uns nix!« sagte der Gidi um halb sieben. »I moan, mier marschieren glei.«
Ich nickte.
So begannen wir die Wanderung, der Gidi mit hetzenden Schritten voraus, ich hinter ihm drein. Eine Hitze kam, daß ich erst die Joppe und dann die Weste herunterzog und in den Rucksack stopfte. Und immer rann ein Gesicker von heißen Tropfen über Stirn und Wangen, über den Hals und über den Rücken. Und keine Straße! Nur ein schlechter Fußweg, bald über Geröll, bald über Wurzelwerk. Und immer hinauf und hinunter, hinauf und hinunter.
Gegen elf Uhr sagte ich: »Du! Wie lang dauert denn bei dir ein Katzensprung?«
Er lachte. »jetzt haben mer's bald.« Aber auch ihm war es heiß geworden unter dem zwiebelgelben Hut. »Sakrament no amal!« Er wischte mit der Faust über die Stirne.
Hinauf und hinunter! Und wieder hinauf, so steil, daß ich vor Ingrimm über meine Erschöpfung zu fluchen begann. Jeder Faden klebte mir naß am Leib. Und die Sonne brannte auf die Steine her, daß alles waberte in der Luft. In dem niederen Latschengestrüpp keine Flocke von Schatten. Nirgends ein Tropfen Wasser, nirgends ein Laut, kein Vogelruf nichts, nichts, nichts, was an Leben hätte denken lassen. Alles, was lebte, schien verschmachtet in dieser Schwüle. Und der harte Steinboden glutete, daß mir die Schuhsohlen heiß wurden. In die Höhe konnte ich nirnmer schauen – so blendete der gleißende Sonnenglanz, der über die weißen Kalksteinwände ausgeschüttet lag. Ich mußte immer mit gesenktem Kopf und halbgeschlossenen Augen gehen.
Um ein Uhr sagte ich: »Gidi! Jetzt leg ich mich hin und stehe nimmer auf vor Nacht.«
»Sakrament no amal! Dö paar Sprüngln bis da auffi wearn S' wohl no dermachen. Von droben sieht ma dö sieben Hütten scho.«
»Na also! In Gottes Namen!«
Als wir den Grat erreichten, deutete der Gidi: »Da schaugn S' her! Da haben mer jetzt dö sieben Hütten vor der Nasen.«
Ich spähte mit meinen brennenden Augen in die Tiefe. Steingeröll, über dem die Hitze flimmerte und wogte! Dann Wälder und Wälder. Und in der Ferne ein graublauer Dunst.
»Wo denn, Gidi?«
»Ja san S' denn blind? Da liegen s' ja glei, dö Hütten, glei da draußt, wo d'Sunn a so nebelet.«
Ich schwieg. Und wischte mit dem nassen Taschentuch über Gesicht und Hals. Und atmete auf – nur weil es bergab ging. Nach einer halben Stunde erreichten wir den ersten Fichtenstreif, Waldschatten! Du wundersame Köstlichkeit! Wie ein Berauschter taumelte ich durch das kühle Grün. Eine Quelle! Und ein Trunk, so gierig, daß es klunkerte im leeren Magen! Und jetzt ein Bach. Sich waschen können! Ein Fußbad nehmen! Wie viel herrliche Reize, wie viel namenlose Süßigkeiten doch das Leben hat!
Aber der Gidi fluchte: »Sakrament no amal! So vertragen mer die beste Zeit. Bal mer uns net tummeln, derwischen mer koane nimmer. Dö müassen auf'n Abend ihr Vieh eintreiben.«
Was ich mir bei dieser Mahnung dachte, verschwieg ich vor dem Gidi. Und schnürte ohne Übereilung meine Schuhe wieder zu, die ich zu Abkühlung in den Bach gestellt hatte.
Gegen vier Uhr nachmittags erreichten wir die Alm mit den sieben Hütten. Und als ich mich in der Landschaft orientierte, machte ich die Entdeckung, daß wir durch drei Oberförstereien durchgewandert waren. Seit zwei Uhr morgens auf den Beinen! An einem solchen Tag! Bei dieser sengenden Glut! Vierzehn Stunden hatte der »Katzensprung« des Egidius Trumpf gedauert. In welcher Gemütsverfassung ich war, das könnt ihr euch denken.
Doch der Urmensch beutelte sich in schmunzelndem Vergnügen. »Jetzt passen S' aber auf!« Er gab mir schäkernd mit der Faust einen Puff in die Seite und spazierte auf die erste von den sieben Hütten zu.
»Da drin, da habn mer glei die säuberste von alle! Ja! Und Röserl hoaßt s'. Dö hat Schmalz an der Latten. Bei der, da bleiben S'! I schaug mer nacher scho um ebbes.«
Wir traten in die Hütte.
»Grüaß Gott, ös Zwoa!« sagte das Röserl, das beim Herd stand und die blaue Schürze herunternahm – ein dickes, schwarzhaariges Weibsbild mit knallroten Wangen, deren Haut von Frost und Hitze aufgesprungen und bläulich geädert war wie die Nase eines Weinbeißers. Das Gewicht dieser holden Weiblichkeit durfte man gut auf zwei Zentner schätzen. Wenn das Röserl sich in Bewegung setzte, gingen die mächtigen Hüften auf und nieder gleich einer schweren Schaukel. Und beim Anblick des Urmenschen lachte diese vollerblühte Rose, wie ein Knecht meines Vaters immer zu lachen pflegte, wenn die Leberknödel aufgetragen wurden.
Der Gidi begann auch gleich seine lustigen Redensarten zu machen, die das Röserl nicht ungerne zu hören schien.
Ich legte inzwischen mein Jagdzeug ab. Dann steckte ich den Kopf in einen Wasserkübel, rieb das Haar mit der Joppe trocken, ließ mich auf den Herdrand nieder und streckte langsam die Beine – sehr langsam.
Während ich mir eine Zigarette anzündete, ging das Röserl zum Brunnen, um frisches Wasser zu holen. Gidi tappte lachend hinter diesen zwei schaukelnden Zentnern her und zwinkerte mir von der Tür nüt wohlwollender Gönnermiene zu.
Draußen hörte ich die beiden wispern.
Und als das Röserl den Kübel mit dem frischen Wasser in die Sennstube brachte, sah mich das gute Ding halb verlegen und halb prüfend an und sagte: »jetzt muaß i auffi auf d' Leiten und 's Vieh eintreiben. Gehts ebba mit?« Sie sah nur mich an, fügte aber zögernd bei: »Ös zwoa?«
Auch der Gidi sah mich an. »No also?« Und machte dazu eine Handbewegung wie eine Köchin, wenn sie den Schaum schlägt.
»Ich danke! Nein! Geht nur ... ös zwoa! Ich lege mich schlafen.«
Das Gesicht, das der Urmensch machte, kann ich nicht schildern. Ganz sprachlos war er. Und schüttelte immer den Kopf, während er hinter dem Röserl zur Tür hinausging – um das Vieh einzutreiben.
An der Tür, die von außen zugedrückt wurde, klapperte was. Aber ich achtete nimmer darauf, sondern riß so flink wie möglich meine Kleider herunter, um den Wasserkübel über meinen Nacken auszuleeren. Dann suchte ich eine Ruhestatt für meine mürben Knochen. Zuerst probierte ich's in der Kammer, im Kreister der Sennerin. Aber in diese muffige Seegrasmatratze waren Löcher und Höhlungen eingedrückt, in denen sich meine etwas herberen Formen nicht behaglich fühlten. Und in dem engen Bretterverschlag dunstete eine Hitze, um verrückt zu werden. Ich sprang wieder auf und legte mich in der Sennstube platt auf den Lehmboden. Aber kaum war ich eingeschlafen, da weckten mich die Fliegen und Schnaken wieder, die mich zu Hunderten mit hochsingenden Tönen umsummten und so gierig auf mich einflogen, als hätten sie, beim Röserl an fette Kost gewöhnt, nun plötzlich Geschmack an einem mageren Bissen gefunden.
Aber draußen war ja der Abend nah. Da mußte doch irgendwo ein kühles Plätzchen zu finden sein. Ich fuhr in die Kleider. Und nun kam eine Überraschung. Der Urmensch und das Röserl hatten von außen die Tür versperrt, um meinen süßen Schlummer vor Störungen zu bewahren. Bei dieser Entdeckung befiel mich etwas, das der Tobsucht ähnelte. Aber schließlich gewöhnt sich der Mensch an alles, auch an die schwüle Kammer, die nach dem Röserl duftete, an sumsende Fliegen und Schnaken. Um mir die Zeit zu vertreiben, nahm ich mein Fernrohr, setzte mich an das kleine Fenster und begann den Berghang, der da drüben in der Abendröte vor mir aufstieg, nach Hochwild und Gemsen abzusuchen. Und während ich das Fernrohr so hin und her gleiten lasse, kommt mir plötzlich etwas Merkwürdiges in's Glas – etwas Merkwürdiges, das ich nicht gleich erkannte, weil es von einer Erlenstaude überschattet war. –
Eine Stunde später, als es schon zu schummern anfing, näherte sich der Hütte ein sanftes Geläut. die Glocken der Kühe, die da eingetrieben wurden. Dann nebenan im Stall ein ohrenbetäubendes Gebimmel.
An der Tür rasselte was. Und das Röserl kam mit dem Urmenschen in die Stube. Die beiden sprachen vom Wetter, und der Gidi schwor bei allen Heiligen, daß es morgen wieder den schönsten Tag geben würde, mit »flaumenaperem« Himmel – das sollte heißen: nicht nüt dem kleinsten Wölklein im Blau.
Das Röserl fing zu kochen an. Aber der hungrig gewordene Urmensch wollte vorweg einen Bissen Brot haben. Die Sennerin legte ihm den schwarzen Laib auf die Bank, und Gidi griff nach seiner Messertasche. »Sakrament no amal! Wo hab i denn mein Gnicker?«
Da sagte ich: »Der ist dir droben bei der Erlenstaude aus der Hose gefallen.«
Das Röserl drehte das knallrote Gesicht über die Schulter. Und der Urmensch sah mich an, als hätte er Sorge um meinen Verstand. »ja Sakrament no amal! Woher wissen S' denn dös?«
»Weil ich's mit dem Perspektiv gsehen habe.«
Unter grillendem Schrei und mit einer Flinkheit, die ich diesen zwei Zentnern gar nicht zugetraut hätte, sauste das Röserl zur Tür hinaus. Der Gidi aber stellte sich breitspurig vor mich hin, stemmte die Fäuste in die Hüften und brach in sein brüllendes Lachen aus. »Sakrament no amal! Dö haben S' aber guat derwuschen.«
Er wurde finster. Aber das Röserl ließ sich nimmer blicken. Der Urmensch ging, um das Mädel »zur Vernunft« zu bringen; doch er kam allein zurück. »Dös damische Luader geht nimmer eini. Net um a Schloß!«
Um für das Röserl die Luft wieder rein zu machen, entschloß ich mich, noch die Stunde bis zum Dorf hinunterzuwandern. Der Gidi wollte mich wohl bereden, meine Ruhe in einer der sechs anderen Hütten zu suchen. Aber ich schüttelte energisch den Kopf.
»Sö san aber aa scho so a Hoakliger!« meinte der Urrnensch verdrossen. Und als ich hinauswanderte in die stille, schwüle Nacht, in der die Sterne ruhig funkelten, sagte er: »Marschieren S' nur derweil voraus! I muaß mein Gnicker no suachen. Den laß i net dahint!«
Am anderen Morgen, gegen neun Uhr, kam er drunten irn Wirtshaus angerückt.
»So lang hast du suchen müssen?«
»Ah na! Mein Gnicker hab i glei wieder ghabt. Aber in die andern sechs Hütten hab i noa a bißl hoamgarten müassen. I laß hinter meiner net gern a Bileidigung zruck. So Weibsbilder, dö san oft so empfindle. Da hoaßt's nacher glei: es waar oaner zstolz!«
Statt zu lachen, guckte ich in Sorge zum »flaumenaperen« Himmel hinauf, an dem die Sonne brannte, daß herunten über allen Steinen schon die Luft zu flimmern begann.
Und fünfzehn Stunden nach Hause! Auf und nieder, auf und nieder, auf und nieder.
Gegen Mitternacht, mit talergroßen Blasen unter den Sohlen, kam ich heim nach Fall. Und mußte acht Tage lang auf alle Jagd verzichten.
Der Förster fragte: »Was is denn rnit'm Herrn Dokter?«
»Mei«, lachte der Urmensch, »nix aushalten tuat 'r halt! Weil 'r allwei Söckeln tragen muaß, statt daß 'r nacket einischlupft in d'Schuach. So a Stodtgwax, so a zaartles!«
»Habt's a grobe Pirsch gmacht?«
»Net amal! A bißl auf Rekerazion sammer gwesen, und da hat's eahm en Hamur derkeit. Natüarle, und bal der Mensch koan Schwung hat, marschiert 'r schlecht.«
Dieses Zwiegespräch, das ich durch die Tür mit anhörte, gab mir meine gute Laune wieder. Aber seit damals bekomme ich immer einen heiligen Schreck, so oft ich einen Jäger das Wörtlein »Katzensprüngl« sagen höre. –
In der folgenden Woche stiegen wir wieder zur Lärchkogelhütte hinauf. Und während wir auf rauhem Pfad die Schutthalde unter dem »Luderer Gwänd« überschreiten, merke ich, daß mit dem Urmenschen irgendwas los ist. Er blinzelt immer so sonderbar über das Berggehänge hin, schmunzelt so merkwürdig und macht unglaublich vergnügte Schweinsäuglein.
»Gidi? Was ist denn?«
»Was soll denn sein? Nix! Ah na! Gar nix!«
Aber dieses geheimnisvolle Gezwinker in seinem Gesicht wird immer fideler. Noch ein paarmal frage ich und bekomme immer die gleiche Antwort:
»Nix! Gar nix!«
»Gidi! Ich weiß doch, daß du lügst.«
Er aber lachte nur, als hätte ich irgend etwas wahnsinnig Komisches gesagt.
Nach hundert Schritten blieb er aus eigenem Antrieb stehen, sah mich mit seinen kleinen Blitzaugen an, kicherte in Glückseligkeit wie ein sanft Beschwipster und winkte mir mit einer kindlich grotesken Fingerbewegung. »Kummen S'! I zoag Eahna ebbes.« Immer vor sich hinkudernd stieg er über das Geröll hinauf, am Rand eines Steingrabens, der halb mit Felsschutt angefüllt war. jetzt blieb er stehen, spähte schmunzelnd nach allen Seiten, ließ sich auf die Knie nieder, und mit heimlich fidelem Geschäcker, wie man einen lustigen Knabenstreich beginnt, so fing er an, in dem Graben die Felsbrocken beiseite zu räumen.
»Da!« Sein Gekicher erstickte ihm fast die Stimme. »Schaugn S' eini!«
Ich beugte mich nieder. In dem Felsschutt lag eine Höhlung offen, wie ein großer Fuchsbau. Doch als ich hineinspähte, fuhr ich erschrocken zurück – in dem Dunkel da drinnen flimmerte das weiße Skelett einer Menschenhand.
Für meinen Schreck hatte der Gidi keine Augen. Er kicherte vergnügt, während er das dunkle, muffige Felsloch mit Steinbrocken wieder sorglich vermauerte. Und jedes Wort, das er sprach, war begleitet von einem halb unterdrückten Lachen: »Den hab i, hohohoho, da droben abigschossen vom Grat. Hehehehe! Koan Maunkser hat 'r nimmer gmacht, und, hohohoho, wie er dringlegen is im Graben, hehehehe, da hab i a Stoanlawin drüber abilassen. Hohohoho! Den find net amal unser Herrgott am jüngsten Tag. Hihihihi!« Er drückte die Fäuste vor sein Gekicher und schüttelte sich in fideler Wohligkeit.
Mir rann ein kalter Schauer über den Rücken. Aber ich habe späterhin niemals wieder im Gesicht eines Menschen solch einen leuchtenden Ausdruck von Behagen, Verschmitztheit und schattenloser Freude gesehen, wie damals im Gesicht des Egidius Trumpf.
Und da soll nun unsereins, mit Plato, Paulus und Goethe in Herz und Kopf, solch ein eisenknochiges und stahlgemuskeltes Exemplar der Schöpfung kapieren! Der Namenlose, den der Gidi vom Grat der Luderer Wände kalt herunterschoß – vielleicht war's der Holzknecht mit der Zinnkügel und dem »Kreizl«? – war ein Wilddieb, ein Schaden für das Revier, eine schleichende Gefahr für das Leben der Jäger. Gut! Aber er war doch auch ein Mensch! Und das ist dem Gidi niemals eingefallen. Der hatte nur seine »damische Freid«, so oft er unter dem »Luderer Gwänd« über die Schutthalde marschierte und kichernd hinaufblinzelte zu dem Felsgeröll im Steingraben.
Und da fürchte ich wieder, daß ihr den Urmenschen nicht seht, wie er war. Ich hatte ihn lieb. Aber wenn ich ihn schildere, kann ich nur sagen, wie er aussah, nur erzählen, was er tat. Doch es fehlt dabei der tobende Pulsschlag, der in seinem Leben war. Um ganz zu verstehen, daß ich nach einem Vierteljahrhundert noch mit Freude an den Gidi denke, hättet ihr ihn sehen müssen, im Stahlbild seiner Kraft, mit dem zurückgeschobenen Hut und mit dem bläulichen Netz an den Schläfen, in dieser verrückten Schönheit seines Zornes.
Und dann sein wilder, urmenschlicher Tod! Ein Tod, bei dem ich mir sagte: so und nicht anders mußte der Eigidius Trumpf sein Leben enden.
Da war er gegen Ende der achtziger Jahre nach Bartholomä versetzt worden, in jene einsame Wartei am Königssee.
Eines Sonntags, als sich der strenge Winter schon zum Frühjahr wenden wollte, war der Gidi »auf Rekerazion« in Berchtesgaden draußen und schluckte vergnügt sein gewohntes Quantum, so an die zwanzig Maß. Am Abend setzte er sich noch zu Königssee vier Stunden beim Schiffmeister in der Schwemme fest. Um Mitternacht wollte er über den gefrorenen See nach Bartholomä hineinwandern. Das versuchten sie ihm auszureden – seit drei Tagen, bis zum Morgen des Sonntags, hatte der Föhn geblasen, das Eis war von breiten Frageln durchrissen, und überall quoll schon das Wasser heraus. Aber der Gidi in seinem Kraftgefühl meinte lachend: »Bin ich aussi kemma, kumm i eini aa! Und hupfen kon i no allwei.« Dabei machte er, mit den fünfundzwanzig Maß im Magen, einen tischhohen Sprung. Und wanderte los in der stillen Frühlingsnacht.
Am Morgen, als der Urmensch zu Bartholomä nicht eingetroffen war, stellte der Förster am Ufer den Tubus auf und sah im Weitsee draußen auf einer Stelle, so groß wie eine große Wiese, das Eis in Scherben geschlagen.
Weder in Bartholomä noch in den Holzerhütten am Ufer, noch in Königssee hatte man in der stillen Nacht einen Schrei vernommen. Der Urmensch und um Hilfe schreien? Nein!
Stumm hatte Egidius Trumpf seine letzte Arbeit getan. Als er eingebrochen, war er vermutlich nüchtern geworden. Und hatte mit allem Aufgebot seiner eisernen Kraft sich zu retten versucht. Aber jede Scholle, auf die er sich hinaufschwang, brach wieder mit ihm hinunter. Immer wieder tauchte er auf und klammerte sich mit zäher Kraft an das Leben. Sein Hut schwamm wohl im Wasser oder war unters Eis geraten – den konnte er nimmer zurückschieben über die Stirne – doch an den Schläfen wuchsen ihm sicher vor Zorn die bläulichen Netze. »Sakrament no amal!« Er griff und lupfte, sank und hob sich, und zerbrach in weitem Umkreis mit seinen Knien und Ellbogen die morsche Eisdecke. Lange Stunden muß er so gekämpft haben, fast bis zum Morgen. Und als das kalte Wasser seine ringenden Glieder starr machte und der letzte Nerv seiner Kraft erlahmte, sank er lautlos in die Tiefe.
Am Morgen fuhren sie von Bartholomä mit dem Eiskahn hinaus. Beim Anblick dieses weiten Feldes zerschlagener Schollen sagte der Förster: »Jesus Maria! Dös schaugt ja aus, als waar a Bergbruch einigfahren!« Sie fanden nur einen zwiebelgelben Hut. Sonst nichts.