Sigmund Freud
Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)
Sigmund Freud

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139 Die analytische Untersuchung der Paranoia bietet uns Ärzten, die nicht an öffentlichen Anstalten tätig sind, Schwierigkeiten besonderer Natur. Wir können solche Kranke nicht annehmen oder nicht lange behalten, weil die Aussicht auf therapeutischen Erfolg die Bedingung unserer Behandlung ist. So trifft es sich also nur ausnahmsweise, daß ich einen tieferen Einblick in die Struktur der Paranoia machen kann, sei es, daß die Unsicherheit der nicht immer leichten Diagnose den Versuch einer Beeinflussung rechtfertigt, sei es, daß ich den Bitten der Angehörigen nachgebe und einen solchen Kranken trotz der gesicherten Diagnose für eine gewisse Zeit in Behandlung nehme. Ich sehe sonst natürlich Paranoiker (und Demente) genug und erfahre von ihnen soviel wie andere Psychiater von ihren Fällen, aber das reicht in der Regel nicht aus, um analytische Entscheidungen zu treffen.

Die psychoanalytische Untersuchung der Paranoia wäre überhaupt unmöglich, wenn die Kranken nicht die Eigentümlichkeit besäßen, allerdings in entstellter Form, gerade das zu verraten, was die anderen Neurotiker als Geheimnis verbergen. Da die Paranoiker nicht zur Überwindung ihrer inneren Widerstände gezwungen werden können und ohnedies nur sagen, was sie sagen wollen, darf gerade bei dieser Affektion der schriftliche Bericht oder die gedruckte Krankengeschichte als Ersatz für die persönliche Bekanntschaft mit dem Kranken eintreten. Ich halte es darum nicht für unstatthaft, analytische Deutungen an die Krankengeschichte eines Paranoikers (Dementia paranoides) zu knüpfen, den ich nie gesehen habe, der aber seine Krankengeschichte selbst beschrieben und zur öffentlichen Kenntnis durch den Druck gebracht hat.

Es ist dies der ehemalige sächsische Senatspräsident Dr. jur. Daniel Paul Schreber, dessen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken im Jahre 1903 als Buch erschienen sind und, wenn ich recht berichtet bin, ein ziemlich großes Interesse bei den Psychiatern erweckt haben. Es ist möglich, daß Dr. Schreber heute noch lebt und sich von seinem 1903 vertretenen Wahnsystem so weit zurückgezogen hat, daß er diese 140 Bemerkungen über sein Buch peinlich empfindet. Soweit er aber die Identität seiner heutigen Persönlichkeit mit der damaligen noch festhält, darf ich mich auf seine eigenen Argumente berufen, die der »geistig hochstehende Mensch von ungewöhnlich scharfem Verstand und scharfer Beobachtungsgabe«Diese gewiß nicht unberechtigte Selbstcharakteristik findet sich auf S. 35 des Schreberschen Buches. den Bemühungen, ihn von der Publikation abzuhalten, entgegensetzte: »Dabei habe ich mir die Bedenken nicht verhehlt, die einer Veröffentlichung entgegenzustehen scheinen: es handelt sich namentlich um die Rücksicht auf einzelne noch lebende Personen. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, daß es für die Wissenschaft und für die Erkenntnis religiöser Wahrheiten von Wert sein könnte, wenn noch bei meinen Lebzeiten irgendwelche Beobachtungen von berufener Seite an meinem Körper und meinen persönlichen Schicksalen zu ermöglichen wären. Dieser Erwägung gegenüber müssen alle persönlichen Rücksichten schweigen.«Vorrede der Denkwürdigkeiten. An einer andern Stelle des Buches spricht er aus, daß er sich entschlossen habe, an dem Vorhaben der Veröffentlichung festzuhalten, auch wenn sein Arzt Geh. Rat Dr. Flechsig in Leipzig deswegen die Anklage gegen ihn erheben würde. Er mutet dabei Flechsig dasselbe zu, was ihm selbst jetzt von meiner Seite zugemutet wird: »Ich hoffe, daß dann auch bei Geh. Rath Prof. Dr. Flechsig das wissenschaftliche Interesse an dem Inhalte meiner Denkwürdigkeiten etwaige persönliche Empfindlichkeiten zurückdrängen würde.«

Wiewohl ich im folgenden alle Stellen der Denkwürdigkeiten, die meine Deutungen stützen, im Wortlaut anführen werde, bitte ich doch die Leser dieser Arbeit, sich vorher mit dem Buche wenigstens durch einmalige Lektüre vertraut zu machen.


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