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Thou canst not speak of that thou dost not feel.
Shakespeare, Romeo und Julia, III. Akt.
Sie hatte ihn schon zweimal, glaube ich, zu Gesicht bekommen: das erstemal auf einem Ball beim Minister, das zweitemal im »Français« – und obwohl er weder ein überragender Mensch noch ein schöner Mann war, kam er ihr doch immer wieder in den Sinn, wenn sie abends, nachdem sie ihre Lampe ausgelöscht hatte, noch einige Minuten in Gedanken versunken blieb und vor sich hin träumend dalag, ihr dichtes Haar gelöst auf ihren nackten Brüsten, den Kopf zum Fenster hingewendet, durch das die Nacht eine fahle Helle hereinwarf, die Arme frei herabhängend, und ihre Seele hin und her trieb zwischen schauernden, aus dem Dunklen und Ungewissen kommenden Erregungen, die, wie verwirrende Laute und Rufe, aus den Weiten der herbstlichen Dämmerungen sich erheben ...
Alles andere war er als ein Ausnahmemensch, wie sie in den Büchern und Dramen leben. Er hatte ein ziemlich trockenes Innere, war ein rechter Durchschnittsgeist und zu alledem – ein Chemiker. Aber er beherrschte von Grund aus jene Theorie der Verführungskunst in allen Regeln, kurzum den Chic – um das treffende Wort des Volksmundes zu gebrauchen –, womit ein gewandter Mann noch immer zu seinen Zielen gelangt.
Das war längst nicht mehr jene wohlgeübte Spielart der Schäferliebe im Stil Ludwigs des Fünfzehnten, deren erste Lehrstunde anhebt mit Seufzern, übergleitet in die zweite mit zärtlichen Briefchen und es so weitertreibt bis zur Lösung des geschürzten Knotens – eine kunstvolle Wissenschaft, die uns so ausgezeichnet vorgestellt wird im »Faublas«, in den leichtbeschwingten Komödien »zweiten Ranges« jener Zeit, in den »Moralischen Geschichten« eines Marmontel. Heutzutage geht der Mann geradeswegs los auf eine Frau, faßt sie ins Auge, findet sie »verführerisch«, macht die Wette mit seinen Freunden: Ist sie die Frau eines anderen, wird die ganze Farce nur noch um so reizvoller! So führt er sich ein bei ihr, bringt ihr Romane mit, geleitet sie an seinem Arm ins Theater, legt dabei immer den höchsten Wert darauf, sich irgend so etwas Erstaunliches, lächerlich Unerhörtes, noch nie Dagewesenes zu leisten; und dann geht er von Tag zu Tag mit immer größerer Freiheit bei ihr ein und aus, macht sich zum Freund des Hauses, des Ehemannes dieser Frau, der Kinder, ja, der gesamten Dienerschaft. Zuletzt merkt die Arme die Falle und will ihn fortjagen wie einen Lakaien, aber da spielt er seinerseits den Entrüsteten, droht ihr, die erstbesten harmlosesten paar Zeilen zu veröffentlichen, denen er selbstverständlich den infamsten Sinn zu unterschieben weiß, ganz gleich, wem das Briefchen zugedacht war. Ja, Wort um Wort wird er ihrem Manne das hinterbringen, was ihr da entschlüpft sein mag in irgendeinem Moment der Koketterie, der Selbstsicherheit, des bloßen Wunschtraums .... Die grausamste Herzlosigkeit eines Anatomen ist das – aber man hat eben Fortschritte in den Wissenschaften gemacht, und es gibt Leute, die ein Herz kunstvoll zerschneiden können wie ein lebloses Stück Fleisch.
Und da weint sie, diese arme verlorene Frau, und fleht und bettelt. – Kein Verschonen für sie noch für ihre Kinder, noch auch für ihren Mann, ihre Mutter! Unbeugsam bleibt man, ein Mann, der Gewalt, ja Gewaltsamkeit anwenden kann: Überall kann er sich damit brüsten, daß sie seine Geliebte ist! In allen Journalen kann er es publik machen, in seinem Tagebuch kann er sich darüber auslassen, lang und breit, und – im Bedarfsfalle kann er es sogar unter Beweis stellen!
Halbtot, wie sie ist, liefert sie sich ihm denn aus. Er kann sie sogar Spießruten laufen lassen vor seinen Bediensteten, die lächelnd hinter ihren Livreeaufschlägen einander zuzwinkern und flüstern, wie sie – zum frühen Morgen schon – sie so kommen sehn zu ihrem Herrn und Gebieter. Und dann, wenn er sie, zerknickt und niedergesunken, sich selbst überläßt mit ihren Gewissensbissen, ihren Gedanken über das Einst, den Enttäuschungen, die ihr die Liebe brachte, dann wendet er sich ganz von ihr, will sie nicht mehr wiederkennen, gibt sie kalt ihrem Unglück preis. Ja, manchmal haßt er sie geradezu; aber er hat seine Wette gewonnen: Er ist eben einer, der überall sein Glück macht!
Nicht nur ein Lovelace also ist er, wie man vor sechzig Jahren gesagt hätte, sondern vielmehr: ein Don Juan, was noch großartiger ist.
Der Mann, der bis ins letzte diese Kunst und Wissenschaft beherrscht, der sich in ihren Schlichen und geheimsten Kniffen, die alles in Bewegung setzen, auskennt, ist heutzutage gar nicht selten. Es ist ja wirklich so leicht,eine Frau, und zumal eine, die einen liebt, zu verführen und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen wie all die andern, erbarmungslos, wie so einer ist. Es gibt doch so viele Mittel, Liebe für sich zu erregen, durch was es immer sei: durch Eifersucht, Eitelkeit, durch irgendwelche Vorzüge oder Talente, herrischen Stolz, Schrecken und Fürchtenmachen – oder ganz einfach durch geckenhafte Manieren, eine lässig geschlungene Krawatte, Weltüberdruß, den man zur Schau trägt, durch den eleganten Schnitt seiner Kleidung, durch sein feines, gut sitzendes Schuhwerk! Denn wie viele solcher Gents verdanken ihre Eroberungen nicht einzig und allein der Geschicklichkeit ihres Modeschneiders oder ihres Maßschuhmachers!?
Ernest hatte bemerkt, wie Mazza auf seine Blicke lächelte. Überall verfolgte er sie damit. Auf dem Ball, zum Beispiel, langweilte sie sich, wenn er nicht da war. Nur sollte man nicht meinen, er machte darin den Anfänger und betätigte sich damit, die »Reine und Weiße« ihrer Hand mit Lobesworten zu erheben oder die Schönheit ihrer Ringe zu bewundern, wie es ein Primaner hätte fertigbringen können, nein, er riß vor ihr ganz einfach alle anderen Frauen, die vorübertanzten, herunter, hatte von jeder die unglaublichsten und unerhörtesten Abenteuer zu berichten, und all das ließ sie auflachen und schmeichelte ihr insgeheim, denn sie meinte, über sie hätte keiner so etwas zu sagen. Dann wieder schwindelte ihr wie am Rand eines Abgrundes; und sie faßte die schönsten Vorsätze, ihn von sich zu halten, ihn nie wieder sehen zu wollen, aber der Wille und die Tugend verflüchtigen sich wie ein Hauch beim ersten Lächeln eines Mundes, den man liebt ....
Bald hatte er auch heraus, daß sie schwärmte – für alles, was poesievoll war, das Meer, das Theater, Byron; und so zog er seine Bilanz aus allen Einzelbeobachtungen: »Eine wirklich Naive! Die habe ich sicher ...!« Und sie hatte ebensooft bei sich gesagt, jedesmal wenn sie ihn von sich gehen sah und die Tür ihres Salons sich so rasch wieder hinter seinen Schritten schloß: »Oh, wie ich dich liebe ...!«
Setzen wir dem noch hinzu, daß Ernest es bald dahin brachte, sie auch an die Phrenologie und an den Magnetismus glauben zu machen, sie, Mazza, die Frau von dreißig Jahren. Stets hatte sie bis jetzt rein und treu sich ihrem Manne verbunden gefühlt und alle Wünsche von sich gewiesen, die der Alltag in ihrer Seele aufkeimen lassen wollte und die am andern Morgen wieder erstorben waren. Sie war an einen Bankier verheiratet; und die Hingabe in den Armen dieses Mannes war ihr zu einer Pflicht geworden, nichts anderes als eben dies: für ihre Hausangestellten eine wachsame Herrin und für ihre Kinder eine gute, auf ihr leibliches Wohl bedachte Mutter zu sein.
Lange fand sie ihr Gefallen und ihr Genüge an diesem Zustand verliebter und halb im Dunkel des Gefühls bleibender Willfährigkeit; der Reiz des Neuen gefiel ihr; und sie spielte lange mit dieser Liebe, länger als mit jeder andern. Und zu guter Letzt kam es denn dahin, daß sie sich stärker und stärker davon einnehmen ließ, zuerst aus Gewohnheit, dann aus Bedürfnis. Es ist gefährlich, mit dem Herzen Spaß zu treiben und zu spielen, denn die Leidenschaft ist eine Feuerwaffe, die losbrennt und tötet, gerade wenn man meint, sie könne gar kein Unheil anrichten.
Eines schönen Tages stellte sich Ernest schon ziemlich zeitig bei Madame Willer ein. Ihr Mann war auf der Börse, ihre Kinder waren auf einem Spaziergang. Sie befand sich mit ihm allein. Den ganzen Tag blieb er bei ihr; und am Abend, als er gegen fünf von ihr ging, wurde Mazza traurig, versank in ihre Träume und konnte die ganze Nacht keine rechte Ruhe finden.
Lange, wohl viele Stunden, waren sie zusammengeblieben, im Geplauder. Sie hatten einander ihre Liebe gestanden, poetisch geschwärmt, ihre Gedanken ausgetauscht von starker, mächtig bindender Liebe, wie man sie bei Byron erlebt, und schließlich gemeinsam den gesellschaftlichen Zwang beklagt, der sie, die innerlich miteinander so ganz Verbundenen, doch für das Leben trennte; und dann hatten sie einander ihr Herz ausgeschüttet über alle Nöte und Qualen, sprachen von Tod und Leben, waren von der Natur auf den Ozean gekommen, der durch die Nächte schäumte und tobte .... Und so waren sie, verständnisinnig, sich endlich klargeworden, was die Welt sei und was ihre Leidenschaft zueinander bedeute; und ihre Blicke hatten sich mehr noch sagen können als ihre Lippen, die sich immer wieder berührten ....
Es war an einem Märztag, einem jener langen, düsteren, grämlichen Tage, die in die Seele eine vage Bitternis träufeln. Ihre Worte hatten etwas Trauriges: Die von Mazza vor allem hatten eine melancholische Gleichmut in sich. Jedesmal wenn Ernest ihr sagte, daß er sie für sein ganzes Leben liebe, und er sich dabei ein Lächeln, einen Blick, einen Liebesruf entschlüpfen ließ, antwortete Mazza ihm nichts darauf. Schweigend blickte sie ihn an, mit ihren beiden großen dunklen Augen, ihrer blassen Stirn, ihren halbgeöffneten Lippen.
An diesem Tage fühlte sie sich bedrängt, als wenn eine unsichtbare Hand ihr auf der Brust lastete. Sie verspürte in sich eine Bängnis, aber sie konnte sich nicht klarwerden, was sie so ängstigte; und sie überließ sich diesem Gefühl, das sich mischte mit einer seltsamen Empfindung der Liebe, des Träumens und dunklen Hindämmerns. Einmal wich sie, erschreckt von dem Lächeln Ernests, in ihrem Lehnstuhl zurück; dies Lächeln war fast tierhaft und furchterregend wild; doch er beugte sich sofort zu ihr, zog ihre Hände an sich und hob sie zu seinen Lippen empor; sie errötete und sagte mit einem Ton erkünstelter Ruhe:
»Sollte Sie irgendwelche Lust anwandeln, mir den Hof zu machen?«
»Ihnen den Hof machen – Mazza, Ihnen?«
Diese Antwort wollte alles sagen.
»Sollten Sie für mich etwa – Liebe empfinden?«
Er betrachtete sie lächelnd.
»Ernest, Sie tun unrecht ....«
»Wieso?«
»Mein Mann! Denken Sie auch daran?«
»Na schön doch, Ihr Mann! Was will das besagen?«
»Ich muß ihn lieben!«
»Das ist leichter gesagt als getan .... Das heißt doch: Wenn das Gesetz befiehlt ›Du sollst ihn lieben!‹, so kommt Ihr Herz dem nach, gefügig wie ein Regiment, das man eine Übung ausführen läßt, oder wie ein Stück Eisen, das man mit beiden Händen biegt – und wenn ich Sie liebe ...«
»Schweigen Sie, Ernest, halten Sie sich vor Augen, was Sie einer Frau schuldig sind, die Sie bei sich einläßt wie ich, schon am Morgen, ohne daß ihr Mann dabei ist, ganz allein wie sie ist, Ihrem Anstandsgefühl sich anheimgebend ...«
»Ja, und wenn ich Sie nach meiner Art liebe, dann darf es wohl nun nicht mehr sein, daß ich Sie liebe, nur weil es eben so und nicht anders sein darf – aber wäre das sinnvoll und gerecht?«
»Ah, Sie haben ja ganz wunderschöne Vernunftgründe dafür, mein lieber Freund!« sagte Mazza, neigte ihren Kopf auf ihre linke Schulter und ließ dabei in ihren Fingern ein Elfenbeinetui spielen.
Eine Locke ihres Haares löste sich und glitt auf ihre Wange; sie warf sie mit einer anmutig brüsken Bewegung ihres Kopfes nach rückwärts. Mehrere Male hatte sich Ernest erhoben, nach seinem Hut gegriffen, als wollte er gehen. Dann setzte er sich wieder und nahm sein Geplauder von neuem auf.
Oft brachen alle beide plötzlich ab und schauten einander lange schweigend in die Augen, atmeten kaum, wie beseligt in sich und trunken, eines von des anderen Blicken; und dann lächelten sie sich an.
Als Mazza sah, wie Ernest ihr zu Füßen auf den Teppich des Zimmers niedergesunken war, als sie sah, wie sein Kopf auf ihren Knien lag, mit dem zurückgelegten Haar, wie seine Augen dicht an ihrer Brust waren, seine weiße faltenlose Stirn da an ihrem Mund sich bog, war ihr für einen Moment, als verginge sie vor Glück und Liebe, als müsse sie gleich seinen Kopf in ihre Hände nehmen, ihn an ihr Herz pressen und mit ihren Küssen bedecken.
»Morgen – ich schreibe dir....!« flüsterte Ernest.
»Adieu!«
So ging er.
Mazza blieb, Unentschlossenheit in der Seele, hin und her treibend zwischen seltsam fremden, beklemmenden Gefühlen, dunklen Vorahnungen, unausdrückbaren Traumbildern. In der Nacht wachte sie auf, die Lampe brannte noch und warf einen leuchtend runden Lichtfleck an die Zimmerdecke; er schwankte zitternd in sich selbst, wie das Auge eines Verdammten, der einen mit seinem Blick anstarrt. Lange lag sie so, bis es Tag wurde, hörte, Stunde um Stunde, alle Glocken schlagen. Alle Laute der Nacht drangen an ihr Ohr: das Fallen des Regens, der gegen die Mauern klopft, die Windstöße, die durch die Nacht fauchen und wirbeln, das Erzittern der Fensterscheiben, das Ächzen der Bettstatt unter jeder ihrer Bewegungen, wenn sie sich auf der Matratze von einer Seite auf die andere wälzte und keine Ruhe fand vor all den bedrängenden Gedanken, den alpschweren, schreckenden Bildern und Gespinsten des Wach-Traums, die sie dichter und dichter umwallten.
Wer hat nicht in den Stunden fiebernden Wahns sie verspürt, diese innersten Bewegungen des Herzens? Diese Zuckungen einer Seele, die unaufhörlich sich windet unter den unaussprechlichsten Gedanken, die so voll sind von Drangsal und Wollust zugleich – so ungreifbar zunächst und so vage wie ein Phantom? Doch nur zu bald nimmt solch ein Schemen immer festere Formen an, verleiblicht und verkörpert sich sozusagen, wird zum Bilde, zu einem Gebilde, das dich weinen und aufstöhnen läßt. Wer wohl hat es noch nie erlebt: in heißen, glühenden Nächten, wenn die Haut ein einziger Feuersbrand ist und die Schlaflosigkeit in dir wühlt, dieses Etwas zu Füßen deines Lagers, diese fahle Traumgestalt, die dich tieftraurig, unablässig anblickt? Oder aber sie erscheint dir in festlichen Gewändern, so wie du sie auf einem Ball hast tanzen sehn; oder umweht von schwarzen Schleiern und weinend: Und du erinnerst dich wieder ihrer Worte, des Tones ihrer Stimme, des sehnenden Ausdrucks ihrer Augen.... Arme Mazza! Zum ersten Male fühlte sie, daß sie liebte, daß all das ihr zum Bedürfnis ihres Herzens werden wollte – und bald zu einer Wonne, ja, zu einer wahren Gier. Aber in ihrer Einfalt und Unwissenheit spann sie sich nur allzu rasch in eine glückselige Zukunft hinein, in ein von Frieden erfülltes Dasein, wo die Leidenschaft ihr zugleich mit der edelsten Wollust die höchste Lebensfreude geben würde.
Und wahrhaftig – wird sie nicht wunschlos glücklich leben können in den Armen dessen, den sie liebt, und wenn sie dabei ihren Mann hintergeht? ›Was bedeutet all das‹, dachte sie, ›neben der Liebe –?‹ Und doch bereitete ihr diese Wonne des Herzens zugleich Pein und Qual, je mehr sie hineinversank – wie sie die spüren, die mit Lust sich berauschen und die der Trunk innerlich verbrennt. Oh, wahrhaftig, wie würgend und bitter sie sind, diese wilden Verzückungen des Herzens, dieses Hangen und Bangen der Seele zwischen der Welt der Tugend, die ihr entschwinden will, und der Zukunft der Liebe, die immer drängender naht....
Am darauffolgenden Morgen bekam Mazza einen Brief: Er war aus seidig glänzendem Papier, durchduftet von Rosen- und Moschushauch, und er war gezeichnet mit einem ›E‹, das sich ganz in Geschnörkel einspann. Ich weiß nicht, was er enthielt, aber Mazza las den Brief wieder und wieder, immer noch einmal wendete sie die beiden Seiten um, ließ ihren Blick ruhen auf den Stellen, wo er gefaltet war, sog ganz berauscht den balsamischen Wohlgeruch in sich ein, der ihm entströmte.... und dann drückte sie ihn zu einer kleinen Kugel zusammen und warf ihn ins Feuer. Das veraschende Papier flog auf, schwebte höher und höher, hielt sich unbeweglich eine Weile in der Luft, flockte sacht dann wieder in die Tiefe und breitete sich schließlich auf den Feuerböcken nieder wie ein weißer, fein gekräuselter Gazeschleier.
Ernest liebt sie! Er hat es ihr gesagt! Oh, wie glücklich sie ist, der erste Schritt ist getan, die andern werden nicht viel Mühe und Überwindung kosten. Sie kann ihn jetzt ansehen, ohne zu erröten; sie braucht nicht mehr ihre Zuflucht zu nehmen zu so viel Vorsichtsmaßnahmen, zu solch halb lockendem, halb fernhaltendem, kaum merklichem Mienenspiel der Frau, um sich lieben zu lassen. Er kommt ganz von sich aus, von selbst gibt er sich ihr ganz – ihre Scham ist geschont! Und diese Scham ist es, die immer den Frauen bleibt, die sie hüten, zutiefst in sich, selbst noch in der brennendsten Liebe, der glühendsten Wollust, wie ein letztes Heiligtum der Liebe und der Leidenschaft, in dem sie wie unter einem Schleier alles das verstecken und verbergen, was hemmungslos Entfesseltes in ihnen und weibisch Schwaches ist.
Einige Tage darauf überquerte fast im Eilschritt eine verschleierte Frau den Pont-des-Arts. Es war in der siebenten Morgenstunde.
Nachdem sie lange gelaufen war, blieb sie vor dem Portal eines Hauses stehen und fragte nach Monsieur Ernest.... Er war nicht ausgegangen. Sie stieg hinauf. Die Treppe kam ihr unendlich lang vor; als sie in den zweiten Stock gelangt war, hielt sie sich am Geländer fest und spürte, wie ihr die Sinne schwinden wollten. Ihr war, als drehe sich alles da rings um sie im Kreise und als flüsterten leise Stimmen zischelnd ihr in die Ohren.... Mit zitternder Hand riß sie an der Klingel. Als sie das stoßartige, durchdringende Geschepper hörte, war es wie ein Echo, das in ihrem Innern widerhallte: als durchzuckte plötzlich ihr Herz ein elektrischer Schlag.
Endlich tat sich die Tür auf; Ernest war es selbst. »Ah! Sie sind es, Mazza?«
Sie gab keinen Laut von sich; totenblaß stand sie da, ganz von Schweiß bedeckt. Ernest betrachtete sie kalt und ließ dabei die Seidenkordel seines Morgenrocks durch die Luft kreiseln. Es war ihm höchst unangenehm, sich irgendeine Blöße zu geben.
»Bitte...!« sagte er endlich.
Er nahm sie beim Arm und drängte sie fast mit Gewalt auf einen Sessel. Nach einem Augenblick des Schweigens raffte sie sich zu einer Erklärung auf:
»Ernest, ich bin gekommen, um Ihnen das eine zu sagen: Dies ist das letztemal, daß ich mit Ihnen spreche, es muß sein, daß Sie sich von mir fernhalten, daß wir uns nie wiedersehen....«
»Weshalb?«
»Weil Sie mir eine schwere Last bedeuten, weil Sie mich innerlich erdrücken, weil Sie mir damit das Leben nehmen....!«
»Ich? Wieso denn das, Mazza?«
Er erhob sich, zog die Fenstervorhänge zu und schloß die Tür.
»Was tun Sie?« rief sie mit Entsetzen.
»Was ich da tu'?«
»Ja!«
»Nun, Sie sind bei mir hier. Mazza, Sie sind doch zu mir gekommen. Oh, kein Leugnen, ich kenne die Frauen!« sagte er lächelnd.
»Sprechen Sie sich nur ganz aus!« versetzte sie voll Abweisung.
»Was denn noch, Mazza, das sagt doch alles!«
»Und Sie haben auch noch die.... die Stirn, mir das alles so ins Gesicht zu sagen, einer Frau, die Sie zu lieben vorgeben....?«
»Verzeih, o verzeih!«
Er kniete vor ihr nieder und sah ihr lange in die Augen. »Aber ja doch, ja, du, mein Du, ich liebe dich ja auch und mehr als mein Leben! Sieh, mit Leib und Seele ganz der Deine –!«
Und dann gab es, zwischen den vier Wänden da, hinter den Seidenvorhängen, auf dem Lehnsessel, mehr Liebesbeteuerungen, Küsse, berauschende Liebkosungen, brennende Wollust, als es braucht, um toll zu machen und hinsterben zu lassen. Und dann, als er sie, mit seinem festen Griff, sich zu eigen genommen und sie in seinen Armen hatte, die Atemlose, Schlaffe, Zerbrochene, immer wieder ihre Brust gegen seine gepreßt hatte und sie so in seinen Umarmungen hatte ganz vergehen sehn, ließ er sie allein und ging seiner Wege.
Am Abend hielt er unter Freunden, bei Véfour, ein ausgezeichnetes Souper, auf dem die Propfen knallten und der Champagner in Strömen floß; beim Dessert hörte man ihn ganz laut sagen: »Herrschaften, da habe ich mal wieder eine....!«
Sie war nach Hause gegangen, Trauer in der Seele, die Augen voll Tränen, nicht über ihre verlorene Ehre – dieser Gedanke peinigte sie nicht einmal; sie hatte sich gleich gefragt, was Ehre überhaupt sei, und im Grunde nur ein Wort darin gesehen... sie hatte bald darüber hinweggefunden. Aber sie dachte an all die aufwühlenden Erregungen, die sie da gehabt hatte, und spürte nun, wie sie so darüber nachsann, nichts anderes mehr als Enttäuschung und Bitternis. ›Oh, das ist das nicht, was ich mir erträumt hatte!‹ sagte sie vor sich hin.
Denn sie hatte das Empfinden, nun, wo sie sich aus den Armen ihres Geliebten wieder gelöst hatte, daß in ihr etwas zurückgeblieben war von der Berührung mit seinen zerknitterten Kleidern, etwas Stumpfes, Mattes, wie es der Blick bekommen hatte – daß sie aus schwindelnden Höhen herabgefallen war, daß hier die Liebe noch nicht zu Ende sein könne. So fragte sie sich weiter, ob es hinter der Wollust nicht doch etwas noch viel Größeres zu erleben gäbe, über das Fleischliche hinaus viel edlere, herrlichere Freuden, denn sie hatte einen unstillbaren Durst nach unendlicher Liebe in ihrer Leidenschaft ohne Maßen. Aber als sie nun sah, daß Liebe nicht viel mehr war als ein Kuß, eine Zärtlichkeit, ein Augenblick des Wonnetaumels, in dem sich, unter Schreien der Lust, wie in eins verschlungen, der Liebende und die Geliebte miteinander wälzen, und daß dann alles wieder aus war, der Mann sich erhebt, das Weib davongeht und daß die Leidenschaft kaum etwas anderen bedürfe als zweier Leiber und ihrer Verzückungen, um zwischen Rausch und Befriedigung aufzuleben und zu vergehn, da wollte Überdruß und schmerzliche Qual ihre Seele erfassen, wie sie Verhungernde überkommt, die nichts mehr finden, womit sie sich sättigen können.
Aber sie ließ bald ab von all solchem Rückschweifen ins Vergangene und richtete ihr Sinnen auf nichts als das lächelnde Jetzt. Sie schloß die Augen über dem, was nicht mehr war, schüttelte wie ein Nachtgespinst die alten, nie enden wollenden Träume von sich, die vagen, ungreifbaren Bedrängnisse, und überließ sich ganz dem Strudel, der sie fortriß.... Und so fühlte sie sich bald fortgetragen, hinüber in jenen Schwebezustand des unbeschwerteren Vorsichhindämmerns, in diesen Halbschlummer, in dem man spürt, daß man einschläft, trunken – und süß gewiegt, daß die Welt immer weiter von einem entweicht, während man allein wie in einem Nachen ruht, den die Welle sacht dahinschaukelt und den der Ozean mit sich entführt... Sie dachte nicht mehr an ihren Mann noch an ihre Kinder, noch weniger an ihren Ruf, den nun ihre Geschlechtsgenossinnen mit lachenden Zähnen in den Salons zerrissen und die jungen Männer, die Freunde von Ernest, in ihren Kaffeehäusern und Kaschemmen mit ihren Zoten besudelten. Ihr aber erfüllte mit einem Male das Innere mehr und mehr eine Melodie, die ihr in der Welt und in ihrer Seele bis dahin unbekannt war; und sie sah neue Welten aufsteigen, unermeßliche Räume, Horizonte ohne Grenzen: Ihr war, als wäre das alles geschaffen für die Liebe, als würden die Menschen zu Geschöpfen einer höheren Ordnung, ihren Gefühlen, ihren Leidenschaften nun erst ganz erschlossen, als wären sie gut nur um dessentwillen und als sollten sie nur leben, um dem Herzen Genüge zu tun.... Ihren Mann liebte sie noch immer, ja sie schätzte ihn nur noch mehr; ihre Kinder erschienen ihr anmutig, doch sie empfand für sie nur eine Zuneigung, wie man sie für die von einem anderen übrig hat.
Von Tag zu Tag spürte sie, wie das Gefühl ihrer Liebe wuchs, stärker war als noch am Abend zuvor, daß es für sie zum nicht wegzudenkenden Bedürfnisse wurde, daß sie nicht hätte leben können ohne dies alles. Aber die Leidenschaft, mit der sie anfangs nur lachend gespielt hatte, wurde ernst, schauerlich ernst in dem Maße, wie sie von ihrem Herzen Besitz ergriff. Bald wurde sie zu einer gewalttätigen Liebe, einer wilden Entschlossenheit, ja, zu einer rasenden Gier. In ihr war so viel Feuer und Glut, so viel ungeheuerliches Verlangen, ein solches Brennen nach Wonnen, nach Wollüsten, die sich regten in ihrem Blut, in ihren Adern, in den Fibern unter ihrer Haut, bis in ihre Fingerspitzen, daß es sie trunken und toll, ja wie von Sinnen machte, so, als wollte ihre Liebe alle Grenzen der Natur sprengen. Ihr war, wenn sie sich verschwendete in all den Liebkosungen und Wollüsten, in den Liebesbränden fiebererfüllter, glühender Nächte sich wälzte, in der lodernden Leidenschaft sich verlor, als tue sich ihr eine Welt voll unermeßlicher Freuden und Wonnen auf.
Oft im Taumel der Verzückungen schrie sie laut, das Leben sei Leidenschaft, nur Leidenschaft, und die Liebe sei ein und alles für sie! Und dann bestürmte sie, aufgelösten Haares, brennenden Glanz im Blick, mit wogender Brust, von Schluchzern durchschüttelt, ihren Geliebten mit Fragen: ob er sich nicht mit ihr wünschte, daß sie Jahrhunderte durch, so innig vereint, eins beim andern leben, ganz für sich, zu zweit, auf dem höchsten Bergesgipfel, auf ragendem Fels, unter dem tief unten die Wogen heranrauschten und wieder zerschellten –? Ob sie beide nicht so eins werden wollten wie der Himmel und die Natur und mit dem starken Gestöhn des Sturms ihre Seufzer der Lust ewig mischen –?! Und dann blickte sie lange ihn an und verlangte nach neuen Küssen, neuen Umarmungen und sank in seine Arme, stumm und vergehend.
Und wenn hernach an solchem Abend ihr Ehegatte seelenruhig, mit heiterer Stirn in ihr Zimmer trat und ihr erzählte, was er heut' alles für gute Geschäfte gemacht, für Gewinne für sich eingestrichen, wie günstig er eine Ferme erhandelt und eine Rente an den Mann gebracht hatte und daß er sich nun einen Leibdiener mehr halten, noch zwei Luxuspferde für seine Equipagen leisten könne – wenn er ihr unter derartigen Worten und Gedanken nahte, sie an sich ziehen wollte und sie seine Liebe und sein Leben nannte, ah, dann packte eine rasende Wut ihre Seele! Sie verwünschte ihn und stieß ihn voll Ekel von sich mit seinen Zärtlichkeiten und Küssen, die kalt und schauerlich waren wie die eines Affen.
So war in ihrer Liebe immer ein schmerzlicher Nachgeschmack und eine Bitterkeit wie Hefe im Wein, die ihn herber und brennender macht.
Und wenn sie aus ihrem Haus, ihrem ehelichen Alltag, dem Kreis ihrer Bediensteten geflüchtet war und sich allein mit Ernest wiedergefunden hatte, ihn an ihrer Seite fühlte, erzählte sie ihm, wie sie sich wünschte, unter seinen Händen zu sterben, sich sehnte, in seinen Umarmungen zu vergehen – und dann setzte sie hinzu, daß sie nichts mehr liebe und Abscheu empfinde vor allem: Nur er allein, er fülle ihr Herz aus! Gott sogar sei ihr nichts vor ihm, vor solchem Hochgefühl! Für ihn, den Geliebten, verließe sie ihren Mann und gäbe ihn der Lächerlichkeit preis; für ihn, den Einzigen, ließe sie ihre Kinder im Stich! Speien könnte sie, mit wahrer Lust, auf alles; Religion, Tugend, alles könnte sie mit Füßen treten... Für seine Liebkosungen hatte sie ihren Ruf hingegeben. Und so riß sie im irren Wahn des Glücks nun alles, nur um seinetwillen, in den Schmutz und zerstörte in sich ihren Glauben, ihre Illusionen, die Tugendsamkeit, die in ihr gelebt hatte, alles das, mit einem Wort, was ihr lieb und wert gewesen war – nur, um dafür von ihm einen Blick, einen flüchtigen Kuß zu erlangen! Und ihr war, sie blühe schöner auf, wenn er sie aus seinen Armen entließ, wenn ihre Lippen an seinen Lippen geruht hatten – wie Veilchen, die im Dahinwelken noch süßeren Duft verhauchen.
Oh, wer kann wohl ahnen, was manchmal an Inbrünsten, an Wahn und verwegener Liebestollheit lebt unter den bebenden, zuckenden Brüsten eines Weibes!
Und, wahrhaftig, Ernest fing ein wenig Feuer daran und empfand bei ihr etwas mehr als die gewöhnlichen amourösen Gefühle, die man sonst so hat für ein Grisettchen oder für eine vom Theater. Er ging sogar so weit, daß er Verse für sie machte, die er ihr verehrte. Übrigens sah ich ihn eines Tages, und mir fielen seine geröteten Augen auf, woraus man hätte schließen können, er habe geweint.... oder schlecht geschlafen.
Eines schönen Morgens, als er, im Nachdenken über Mazza, in seinem bequemen, federnd unter seinem Körpergewicht nachgebenden Lehnsessel lag, die Füße lässig auf den Stützen am Kamin, die Nase in seinen Schlafrock versenkt, und in die Flammen starrte, die immer wieder, auflodernd, ihre Feuerzungen über die Schutzplatte hervorstreckten, fuhr ihm etwas durch sein Hirn, das ihn auf befremdliche Weise fast erschreckte – er bekam Angst!
Als er sich vergegenwärtigte, daß er geliebt wurde, von einer Frau, wie es Mazza war, die ihm aus überströmendem Herzen so verschwenderisch ihre Schönheit, ihre Liebe zum Opfer brachte, da packte ihn die Angst, und er zitterte vor der Leidenschaft dieser Frau, wie Kinder es überfällt, die weit wegflüchten vom Meer und sagen, es sei zu graulich und zu groß. Und er verlegte sich plötzlich auf sein Moralisieren. Diese Gewohnheit hatte er angenommen, seit er sich als Mitarbeiter betätigte am Journal zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse und am Familien-Museum. Ihm war der Gedanke aufgestiegen, sage ich, es sei denn doch wohl wenig moralisch, so eine verheiratete Frau zu verführen, sie auf die Weise abzuziehen von ihren Pflichten als Ehefrau und liebender Mutter ihrer Kinder, und es wäre eigentlich nicht ganz recht von ihm, sich beschenken zu lassen mit all diesen Opfergaben, die sie ihm zu Füßen darbrachte wie ein Brandopfer. Und schließlich und nicht zuletzt war er gelangweilt von diesem Weibe, war ihrer müde, die das Vergnügen so tierisch ernst nahm, die ganz nur und ungeteilt die Liebe haben wollte und mit der man weder über Romane noch Modeprobleme, noch über Opernsensationen reden konnte.
Erst wollte er sich von ihr losmachen, indem er sie einfach sitzenließ, sie vor aller Gesellschaft schnitt gleich den andern Frauen, die er gepflückt und weggeworfen hatte. Mazza merkte seine Gleichgültigkeit und Lauheit, maß das seiner Rücksichtnahme zu und liebte ihn nur um so mehr. Oft mied Ernest sie, wich ihr aus, aber sie wußte ihn überall zu treffen, beim Ball, in den Promenadenalleen, auf den öffentlichen Parkwegen, in den Museen. Sie ging so weit, auf ihn in aller Öffentlichkeit zu warten, ihn anzuredcn und ihm die Blutröte auf die Stirn zu treiben, vor all den Leuten, die sie angafften.
Andere Male wieder war er es selber, der zu ihr kam, mit strengem Gesicht, gemessener Miene. Die junge Frau, naiv und verliebt, wie sie war, flog ihm an den Hals und überhäufte ihn mit Küssen. Aber er schob sie kalt zurück; und dann sagte er, daß man Schluß machen solle mit der Liebe. Mit dem Tändeln und Tollen sei es endgültig aus zwischen ihnen beiden. Sie müsse ihrem Mann alle pflichtschuldige Achtung entgegenbringen, ihren Kindern eine liebevolle Mutter sein, sich um ihr Familienleben mehr kümmern. Er habe, setzte er hinzu, viel beobachtet und darüber nachgedacht; und im übrigen mache es die Vorsehung recht und gut; die Natur wäre ein vollendetes Meisterwerk und die Gesellschaft eine bewundernswürdige Einrichtung; und, alles in allem, die Philanthropie sei eine schöne Sache und man müsse mit Liebe die ganze Menschheit umfassen.
Und ihr, ihr stiegen darüber die Tränen in die Augen, aus Zorn, aus Stolz und aus Liebe. Sie fragte ihn, mit Lachen auf den Lippen, aber einer Bitternis im Herzen, ob sie nicht mehr schön sei und was sie tun solle, um ihm wieder zu gefallen. Und dann lächelte sie ihn an, bot seinem Blick ihre blasse Stirne dar, ihre schwarzen Augen, ihre Kehle, ihre Schultern, ihre nackten Brüste. Ernests Sinne blieben kühl vor so viel verführerischen Reizen, denn er liebte sie nicht mehr; und wenn er von ihr ging mit irgendwelcher Erregung in seinem Innern, so war sie von der Art, wie sie Leute haben, die soeben unheilbar Tolle sahen. Und wenn sich doch noch einmal irgendwelche Spur von Leidenschaft, ein Funke von Liebe in ihm entzünden wollte, erstickte er ihn rasch wieder mit irgendeinem Vernunftargument. Glücklich können sich die eben preisen, die gegen ihr Herz mit Worten angehen und die Leidenschaft, die in ihrer Seele Wurzeln treibt, mit der Moralität vernichten, die an den Büchern klebt wie glatter Überzugs- und Gebrauchslack und wie das Titelbild des Kupferstechers –!
Eines Tages geschah es, daß Mazza, in einem Anfall von Wut und Verzückung, ihn in die Brust biß, ihre Fingernägel tief in seinen Hals grub. Als er das Blut sah, das in ihr Liebesspiel floß, wurde es Ernest klar, daß die Leidenschaft dieses Weibes drohend wild war, daß um sie eine Atmosphäre der Vergiftung sich ausbreitete, die ihn zum Schluß noch umbringen und zugrunde richten würde, daß diese Liebe ein brodelnder Vulkan war, in den man unaufhörlich etwas werfen müsse, um ihm in seinen Zuckungen Sättigung zu geben, und daß all diese Inbrünste am Ende nichts als glühende Lava wären, die das Herz verbrennen. Fort also davon, sie verlassen für immer oder sich mit ihr in diesen kochenden Strudel stürzen, der einen wie ein Schwindel fortreißt auf dieser unübersehbar strömenden Flut der Leidenschaft, die anfängt mit einem Lächeln und ihr Ende erst im Grabe findet.
Er zog die Flucht vor.
Eines Abends spät, gegen zehn, bekam Mazza einen Brief; sie las folgende Worte:
»Adieu, Mazza! Ich werde Sie nie mehr wiedersehen. Der Minister des Inneren hat mich abgeordnet zu einer wissenschaftlichen Kommission, die in Mexiko die Bodenverhältnisse und Produktionskräfte an Ort und Stelle untersuchen soll. Leben Sie wohl! Ich gehe in Le Havre an Bord. Wenn Sie glücklich leben wollen, dann suchen Sie nicht mehr mich zu lieben, wenden Sie im Gegenteil Ihre Liebe der Tugend zu – und Ihren Pflichten! Dies ist mein letzter Rat. Noch einmal: Leben Sie wohl! Ich umarme Sie.
Ernest«
Sie mußte mehrere Male lesen – das Wort »Adieu!« traf sie wie ein niederschmetternder Schlag. So blieb sie, den Blick starr, unbeweglich auf diesen Brief gerichtet, der ihr ganzes Unglück, ihre ganze Verzweiflung enthielt. Sie sah es entfliehen, zerrinnen – all ihr Glück und ihr Leben.... Keine Träne floß aus ihren Augen, kein Schrei entrang sich ihren Lippen. Sie griff nach der Klingel nur, läutete dem Diener, befahl ihm, Schnellpostpferde zu holen und ihren Wagen vorfahren zu lassen. Ihr Gatte war auf Reisen in Deutschland, niemand konnte sie in ihrem Willen aufhalten.
Um Mitternacht fuhr sie los, in fliegender Eile, so schnell die Pferde nur laufen konnten. In einem Dorf ließ sie anhalten, sich ein Glas Wasser reichen und jagte gleich weiter. Hinter jedem Hang, jedem Hügel, jeder Biegung der Fahrstraße sah sie, näher und näher, das Meer aufleuchten, das Ziel ihrer Wünsche, ihrer eifernden Sehnsucht, dem sie zueilte, ihm den zu entreißen, der ihrem Herzen teuer war. Endlich, am Nachmittag, gegen drei Uhr, langte sie in Le Havre an.
Aus dem Wagen springend, lief sie auch schon stracks bis zum äußersten Rand der Mole und starrte hinaus aufs Meer.... ein weißes Segel entschwand, tiefer und tiefer, unter den Horizont....
Er war fort, fort für immer, und als sie ihr von Tränen bedecktes Gesicht wieder hob, sah sie nichts mehr als die unendliche Leere des Ozeans.
Es war einer jener brennenden Sonnentage, wo die Erde Gluten aushaucht wie flammendheiße Luft aus einem Hochofen. Als Mazza auf der Mole stand, belebte die salzige Frische des Wassers sie wieder etwas. Eine Brise aus Süd blähte die Wellen, die weich auf dem Strande verebbten und röchelnd auf dem Kieselgrunde hinstarben. Dunkle, dichte Wolken türmten sich zur Linken auf, vor der untergehenden Sonne, die rot und leuchtend über dem Meere glühte. Es war ein Bild, als wollte der ganze Wolkenhimmel in Schluchzen ausbrechen. Das Meer wogte, zwar ohne Zorn, auf und ab, aber es grollte unheimlich in sich; und jedesmal wenn es heranschwoll und an den großen Quadern des Hafendammes sich brach, stürzten seine Wellen hoch durch die Luft nach rückwärts und zersprühten zu silbrigem Dunst.
In all dem war eine wilde Harmonie. Mazza lauschte lange hinaus in sie, gebannt von ihrer Macht. Dieses Rauschen und Gischen hatte eine Sprache, eine Stimme für sie. Wie sie war das Meer voll Trauer, erfüllt von lauter Bängnissen. Wie sie kamen die Wogen, um niederstürzend da auf den Steinen zu sterben und nichts als die flüchtige Spur ihres Vergehens auf dem feuchten Sande zurückzulassen. Ein Grashalm, der aus einem Spalt im Gestein hervorsproß, hängte den Kopf, der schwer von Tauperlen war; jeder Wellenstoß, der über ihn kam, riß heftiger und heftiger an seiner Wurzel, und mit jedem Schlag und Sog löste er sich mehr von seinem Haltegrund los; schließlich verschwand er unter der Flut, man sah ihn nicht mehr. Und war er nicht ganz frisch und jung noch und trug eben erst Blüten? Mazza lächelte bitter, die Blüte da war ihr gleich, von der Woge fortgerissen, in der Frische des Frühlings....
Schiffer waren da auf der Heimkehr, sie lagen in ihren Barken. Hinter sich her zerrten sie das Tau ihrer Netze. Ihre Stimmen schwangen weithin, mit den Schreien der schwarzen Nachtvögel, die flügelschlagend über Mazzas Kopf hinzogen, in Schwärmen alle zugleich auf dem sandigen Strande niedergingen und herfielen über die Überreste, die, herangeschwemmt von den Flutwellen, umherlagen. Da – aus der Tiefe des Wasserschlundes hörte sie eine Stimme heraufschallen, ihr zurufen.... Sie neigte den Kopf dem Abgrund zu und maß ab, wieviel Minuten und Sekunden es wohl brauchte, dort unten so zu verröcheln und hinzusterben. Alles war trostlos wie sie in der Natur, und ihr war, die Wogen stöhnten auf und das Meer weinte.
Und doch – ich weiß nicht, welch klägliches Gefühl ihr einflüsterte, weiterzuleben, und ihr zuraunte, es gäbe auf Erden doch noch Glück und Liebe, es bedürfe nur des Wartens und Hoffens und sie würde ihn wiedersehen.... Als dann die Nacht gekommen war und der Mond erschien mitten unter seinen Sternen, gleich einem Sultan im Glanz seines Harems, und als man nichts mehr sah als das schneeige, helle Gekräusel der Wellen, das glitzerte wie der Schaum auf den Lefzen eines Renners, als, aus der Stadt herüber, das Gewaber leiser und stiller wurde und die Lichter, eines nach dem andern, ausloschen im Nebel, da wendete sich Mazza wieder zur Rückkehr.
Tief in der Nacht – es war vielleicht zwei Uhr – ließ sie die Scheiben am Kutschenschlag herunter und schaute hinaus. Man rollte durch eine Ebene; die Fahrstraße war mit Bäumen bestanden. Die nächtliche Helle, die durch das Laubwerk geisterte, machte sie zu Gespenstern von ungeheuerlichen, gigantischen Ausmaßen, die alle vor Mazza hinliefen und sich regten und bewegten im Spiele des Windes, der um ihre Laubarme pfiff und in ihren Wipfelschöpfen wühlte. Einmal mußte der Wagen anhalten, mitten in der Landschaft; ein Zugseil war entzweigerissen. Es war Nacht; nichts war zu vernehmen als das Flüstern und Raunen der Bäume, der Atem der Pferde, die vor Schweiß schnoben und dampften,und die Schluchzer einer einsamen Frau, die in sich hineinweinte.
Gegen Morgen sah sie Leute, die auf dem Wege zur nächsten Stadt waren; sie trugen ihre Früchte zum Markt, die sie mit Moos und grünem Laub zugedeckt hatten. Sie sangen dabei; und da die Landstraße anstieg und Schritt gefahren werden mußte, hörte Mazza sie lange noch. ›Oh, was für glückliche Menschen es noch gibt!‹ sann sie vor sich hin ...
Es wurde hellichter Tag: Ein Sonntag war es. In einem Dorfe, wenige Meilen von Paris, war der Platz vor der Kirche, zur Stunde, wo die ganze Gemeinde dort auf den Beinen war, übergossen von Sonnenlicht, das den Hahn auf dem Kirchturm in goldenen Glanz tauchte und die bescheidene Fensterrose in allen Feuern durch und durch aufleuchten machte. Die Portale standen weit offen und ließen Mazza, aus dem Dunkel ihres Wagens heraus, in das Innere des Kirchenschiffes blicken, in seinen Dämmer, aus dem die Kerzen auf dem Altar glänzten. Sie schaute zu dem blaugestrichenen Gewölbe empor. Sie ließ ihre Blicke an den alten Pfeilern aus nacktem, weißgekalktem Stein entlanggleiten und über die Reihen der Bänke hin, in denen, Kopf an Kopf, das ganze Volk in breiter Fülle saß, im Putz seiner buntscheckigen Festtrachten. Sie hörte die Orgel mit allen Stimmen brausen, und dann kam eine große Bewegung in die Menschenmenge, und alles strömte wieder heraus. Mehrere trugen Bukette aus künstlichen Blumen und hatten weiße Modelstrümpfe an. Sie sah, daß es eine Hochzeit war. Über den Platz feuerte man Flintenschüsse in die Luft, und das junge Paar zeigte sich im Kirchenportal auf der Schwelle. Die Braut hatte eine weiße Haube auf und schaute lächelnd nieder auf die breiten Pattenenden ihres Gürtels, die aus gestickten Spitzen waren. Der Bräutigam schritt neben ihr einher; mit glückstrahlendem Gesicht sah er nach allen Seiten in die Menge und schüttelte dem und jenem die Hände. Brautvater war der Bürgermeister der ländlichen Gemeinde, der zugleich hier am Ort den Schankwirt machte und die Tochter gerade seinem Amtsadjunkten, dem Schulmeister, vermählte. Ein Haufen Kinder und Weiber sammelte sich vor Mazza, um die schöne Kalesche zu begaffen und die rote Mantelschleppe, die aus dem Kutschenschlag heraushing; alles lachte und schwatzte laut durcheinander. Nach der kurzen Rastpause, die der Pferdewechsel benötigte, begegnete sie im Weiterfahren, am Dorfiausgang, noch einmal dem Hochzeitszuge, der sich gerade zur Bürgermeisterei bewegte; und ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie sah, wie der Schaum von den Lefzen ihrer Pferde auf die beiden jungen Eheleute niederspritzte und der aufwirbelnde Staub die hellen Festgewänder in schmutziges Grau verwandelte. Sie streckte den Kopf vor und warf ihnen einen aus Mitleid und Neid gemischten Blick zu; unglücklich, wie sie sich fühlte, war sie nun hämisch und boshaft geworden. Da antwortete ihr das Volk aus seinem Haß auf die Reichen mit Flüchen und wüsten Verwünschungen und schleuderte Steine gegen die Wappenschilde auf ihren Kutschenschlägen.
Lange noch träumte sie auf der Weiterfahrt, halb schlafbetäubt durch die Bewegung der Wagenfedern, das Scheppern der Schellen an den Geschirren und den Staubdunst, der auf ihre schwarzen Haare niederwehte, und dachte dämmernd zurück an die Hochzeit im Dorf, an das Geigengefiedel, das dem Brautzug vorausklang, an das Brausen der Orgel, die Kinderstimmen, die rings um sie da geplappert hatten – all das schwirrte in ihren Ohren wie Bienengesumme, wie Schlangengezischel...
Müde war sie und matt geworden, die Hitze erdrückte sie fast unter dem Leder ihrer Kalesche, die Sonne stach ihr glühend ins Gesicht; sie ließ ihren Kopf auf die weißen Linnenkissen sinken und schlummerte ein. Sie erwachte erst an den Toren von Paris.
Wenn man das weite, offene Land und die Feldbreiten hinter sich hat und sich wieder zwischen Häusermauern befindet, scheint einem der Tag nur noch dunkel und das Licht gedämpft wie in den Jahrmarkstheatern, die düster sind und schlecht erhellt. Mazza tauchte mit Wonne ein in die gewundensten Gassen; sie ließ sich wie im Rausch umbranden von dem Lärm und dem Getümmel, das sie von sich fortzog und sie der Welt wieder zuführte. Sie sah in rascher Folge – gleich chinesischen Schattenbildern – immer wieder Köpfe um Köpfe hinter ihrem Kaleschenfenster vorüberziehen: All diese Gesichter schienen ihr kalt, unbeweglich, fahl. Sie wurde mit Erstaunen, zum erstenmal, das Elend gewahr, das nacktfüßig über die Bürgersteige läuft, den Haß im Herzen und mit einem Lächeln um den Mund, als wolle es damit die Löcher in den Lumpen überdecken. Sie schaute hin auf die Menge, die sich hineinstürzte in den Trubel der Cafés und der Vergnügungen, auf die ganze Welt von Grandseigneurs mit ihren Lakaien, die sich breit und selbstgefällig wie ein Prunkmantel am Paradetag blähte.
Alles das kam ihr vor wie ein einzigartiges spielerisches Getriebe riesigsten Ausmaßes, wie ein ungeheures Theater: mit den klotzigen Steinpalästen, den lichterflimmernden Kaufhäusern, pompösen Aufzügen, all diesen Lächerlichkeiten, Pappzeptern und glanzvollen Majestäten für einen Tag. Da, vor der Karosse der berühmten Tänzerin, spritzt die Menge auseinander, und dort stirbt der Mensch vor Hunger im Anblick der Goldschätze hinter den Juwelierscheiben. Allüberall: Lachen und Weinen; rings überall: Reichtum und Elend; an jeder Ecke: das Laster, das die Tugend verhöhnt und ihr ins Gesicht speit, so wie der schmierige Schal des Freudenmädchens im Vorbeistreichen an der schwarzen Priestersoutane sich wetzt. Oh, welch eine Atmosphäre herrscht doch in den großen Städten, voll betäubenden Pesthauchs, voll berauschenden Gifts – etwas von der atembeklemmenden, schweren Stickluft, wie sie die düsteren Abendnebel in sich haben, die über den Dächern lagern. Mazza sog diese Luft der Verderbnis mit vollen Zügen in sich ein; sie verspürte sie wie ein süßes Parfüm; und das erstemal ging ihr die volle Empfindung für all das wirklich ein, was da lebt und webt im Laster an Ungeheurem und Unheimlichem und was da an Wollüstigem sich regt im Verbrechen...
Als sie wieder zu sich zurückgefunden hatte, war es ihr, als müsse es unendlich, unausdenkbar lange gewesen sein, daß sie fort war, so vieles hatte sie in den wenigen Stunden durchlitten und durchlebt. Sie brachte die Nacht in Tränen zu; unablässig rief sie sich alle Einzelheiten in Erinnerung – von ihrem hastigen Aufbruch bis zu ihrer Rückkehr. Da kam ihr alles wieder vor Augen: die Dörfer, die sie durcheilt hatte, die ganze Fahrtstrecke, die hinter ihr lag. Ihr war, als stehe sie noch auf der Mole, den Blick auf das Meer hinaus gerichtet, dem Segel nach, das da eben entschwindet... Und dann sieht sie wieder die Hochzeit vor sich, den ganzen festlichen Aufzug, das Lachen, das Glück ... und dazwischen hört sie immer wieder das Rollen ihres Wagens, weiter und weiter über die Pflastersteine ... und immer wieder von frischem das Schäumen der Wellen, die unter ihr hochschnellen... Mit einem Male fuhr sie auf, voll Entsetzen über die Länge der Zeit: Ihr war, als habe sie Jahrhunderte durchlebt und sei hingealtert und ihr Haar sei weiß darüber geworden – so sehr kann Schmerz einen schwächen und Leid an einem zehren; denn Tage gibt es im Menschenleben, die einen altern lassen wie Jahrzehnte sonst nur, und Gedanken, die einem tiefe Falten einkerben ...
Ihr Sinnen schweifte zurück ins Einst – sie lächelte wehmütig dabei, als sie ihr wieder gegenwärtig wurden: die Tage ihres Glückes, die ruhevollen, ganz ihr gehörenden Ferientage ihrer Mädchenzeit an den Ufern der Loire, die ihr nur so dahinflogen, während sie, im Lauf durch die Waldschneisen, mit den Blumen spielte, und wo sie noch in Tränen ausbrechen konnte, wenn sie das arme Bettelvolk vorüberziehen sah. Ihre ersten Bälle kamen ihr wieder in den Sinn, wo sie so herrlich leicht dahinschweben konnte, wo es nur anmutiges Zulächeln, liebenswürdigste Worte rings gab, die sie so gern hatte ... und dann all jene Stunden des fiebernden Wonnetaumels, in den Armen des Geliebten, die Augenblicke der rasenden Verzückung, des glühenden Hinschmelzens, in denen sie sich wünschte, jeder Blick daure Jahrhunderte und ein Kuß währe eine Ewigkeit. Sie fragte vor sich hin ins Leere, ob das nun alles verrauscht sei und hin für immer, wie der Staub auf der Straße und die Kielspur des Schiffes auf den Wogen des Ozeans.
Da war sie nun wieder, aber allein! Keiner, der sie in seinen Armen hielt, nichts, was sie noch lieben konnte... Was blieb ihr noch? Oh, der Tod, hundertfach, und das Grab – wenn sie, trotz seines Abschieds und trotz ihrer Niedergeschlagenheit, in ihrem Herzen nicht doch noch ein wenig Hoffnung gehabt hätte.
Was erhoffte sie denn noch?
Sie wußte es selber nicht, sie hatte eben immer noch Glauben ans Leben. Sie glaubte immer noch, daß Ernest sie liebte, als sie eines Tages wieder einmal einen Brief von ihm bekam; aber er wurde für sie nur zu einer Enttäuschung mehr.
Der Brief war lang, gut gedrechselt, voller blumiger Wendungen und schöner Worte. Ernest erklärte ihr darin wieder, von Liebe könne und dürfe keine Rede mehr sein; man müsse vielmehr an seine menschlichen Pflichten, auch Gott gegenüber, denken; und dann gab er ihr auserlesene Ratschläge für ihr Familienleben, über mütterliche Liebe und alles andere mit auf den Weg und schloß mit ein paar Gefühlsseligkeiten im Stil des Monsieur Bouilly oder der Madame Cottin.
Arme Mazza! So viel Liebe, so viel Herzensglut – für solch kalte Gleichgültigkeit, solch schönrednerische Gemütsleere! Sie brach in sich zusammen, der Lebensekel überkam sie. »Ich glaubte«, entrang es sich ihr einmal, »man könne am Kummer sterben!« Aus dem Ekel fiel sie in Bitternis und brennenden Neid auf alles.
Nun erst wurde das laute Treiben der Welt ihr ganz zu einer Höllenmusik voll greller Dissonanzen und die Natur zu einer Spottgeburt Gottes. Nichts liebte sie mehr, und sie nährte Haß in sich gegen alles. In dem Maße, wie jedes Gefühl ihr aus dem Herzen wich, schlich der Haß sich so in sie ein, daß sie nichts mehr auf Erden liebte – außer immer noch den einen, einzigen... Sooft sie in den öffentlichen Parks die jungen Mütter sah, wie sie mit ihren Kindern spielten und unter ihren Liebkosungen lächelten, und die Frauen Seite an Seite mit ihren Männern und die Liebhaber Arm in Arm mit ihren Geliebten und zuschauen mußte, wie glücklich all diese Leute da waren, einander zulächelten, das Leben liebten, wallte der Haß in ihr auf, und sie beneidete und verfluchte sie alle zugleich. Sie hätte sie alle zusammen mit den Füßen zertrampeln mögen! Ihr ironisch zuckender Mund warf denen da nur ein halb gemurmeltes Wort der Verachtung, ein Lächeln der Überlegenheit hin und fand so darüber weg.
Andere Male, wenn man ihr sagte, wie glücklich sie doch sein müsse in ihrem Leben, mit ihrem Vermögen, bei ihrem Range, wie gut sie aussehe, wie blühend und frisch, man könne ihr geradezu anmerken, wie glücklich sie sei und daß ihr nichts fehle, dann lächelte sie auch dazu, rasenden Zorn in der Seele, und stöhnte innerlich: ›Oh, diese Stumpfsinnigen alle, die nichts als Glück sehen auf einer ruhigen Stirn und nicht den leisesten Schimmer haben, daß es die Martern sind, die uns das Lachen entreißen!‹
Ihr wurde seither das Leben zu einem einzigen langen Schrei der Qualen. Sah sie Frauen, die sich mit ihrer Tugend, andere, die sich mit ihrer Liebe brüsteten, so hatte sie nur beißenden Spott für ihre Tugenden und ihre Liebschaften. Und traf sie mit Leuten zusammen, die sich auf ihr Glück und ihr Gottvertrauen beriefen, brachte sie die in die schlimmste Verwirrung durch ihr Lachen oder ihre sarkastischen Bemerkungen. Die Priester und Seelsorger? Sie trieb ihnen die Röte ins Gesicht, wenn sie so herausfordernd vorbeistreifte, mit ihrem wegwerfend freien Blick, ihrem Lachen, das ihnen laut in den Ohren nachklang. Die unberührten jungen Mädchen –? Sie machte sie blaß und bleich mit ihren Geschichten von glühender Liebe und Leidenschaft. Und man fragte sich jedesmal, was das wohl für eine Frau wäre, die da so abgemagert und leichenfahl, mit brennenden Blicken und den Gesichtszügen einer Verdammten, wie ein Gespenst umherwandelte. Und wer immer sie näher kennenlernen wollte, fand bei ihr, im Grunde ihres Wesens, nichts als Schmerzlichkeit und in ihrer ganzen Aufführung nur Tränen und Trauer.
Oh, all die Weiber um sie, diese Weiber! Sie haßte sie alle in ihrer Seele, die jungen und schönen zumal, und wurde sie ihrer ansichtig im Theater oder auf einem Balle, im Glanze der Lüster und Kerzen, wie sie ihre Reize zur Schau trugen, ihre wogenden Brüste, mit Spitzen geschmückt, mit Brillanten übersät, und die Männer sich um sie drängten und ihrem Lächeln entgegenlächelten – wie man die da umschmeichelte und in den Himmel hob, dann hätte sie all diese Roben und gestickten Tüllschleier zerknittern und zerknüllen wollen, in diese vielgeliebten Gesichter spucken, diese in ihrer Kälte so unbewegten und hoffärtigen, glatten Stirnen durch die Gosse schleifen können. Sie glaubte an nichts mehr – es sei denn an Glücklosigkeit und an den Tod.
Tugend war für sie nur ein Wort, Religion ein Hirngespinst, Ruf und Ansehen eine heuchlerische Maske, einem Schleier gleich, der die häßlichen Falten den Blicken verhüllt. Sie fand ihre Freude nur mehr in einem hochmütigen Stolz und ihre Lust in der Verachtung; und kam sie an Gotteshäusern vorüber, so hätte sie ausspeien können.
Wenn ihre Gedanken dann immer wieder zu Ernest hingingen und sie sich seine Stimme und seine Worte in Erinnerung rief, seine Umarmungen, die sie, die Zitternde, in die Liebe Verstrickte, so lange hielten, und sie fand sich unter den Küssen ihres Mannes wieder, ah, dann wand sie sich vor Schmerz und Beklemmung und wälzte sich hin und her, wie eine, die röchelnd mit dem Tode ringt, und sie schrie nach dem anderen und weinte über einer Erinnerung. Sie hatte Kinder von dem da, diese Kinder waren das Ebenbild ihres Vaters, ein Mädchen von drei Jahren, ein Junge von fünf, und oft stürmten sie in ihren Spielen bis zu ihr herein; schon am Morgen kamen sie hereingerannt, umarmten sie lachend, wenn sie, ihre Mutter, die ganze Nacht durch wach gelegen hatte, in unerhörten Martern, und ihre Wangen noch feucht von frisch vergossenen Tränen waren.
Oft, wenn sie an ihn, den Geliebten, dachte, wie er weit auf dem Weltmeer dahintrieb, von Stürmen vielleicht hin und her geworfen, vielleicht verloren, allein wie er war, sich an das Leben klammerte, und wenn sie jenes Bild vor sich hatte, wie da, von den Wellen des Meeres geschaukelt, ein Leichnam auf sie zuschwamm, auf den der Geier gerade herabschießt – dann waren es plötzlich Freudenschreie, die sie hörte, kindliche Stimmen, die herantollten, um ihre Blicke auf einen blühenden Baum zu lenken oder auf die Sonne, die den Tau auf den Gräsern flimmernd aufleuchten ließ. Das traf sie wie Schmerz, den einer empfindet, der auf der Straße zusammenbricht und rings die Menschen um sich lachen und in die Hände klatschen sieht.
Was für Gedanken machte sich inzwischen, so fern von ihr, Ernest –? In manchen Stunden, wo er nichts anderes zu tun hatte, in Momenten der Muße und des Unbeschäftigtseins, dachte er wirklich noch an sie: an ihre glühenden Umarmungen, an ihren wunderbar geformten, schwellenden Rücken, ihre blanken Brüste, ihre langen schwarzen Haare .... Und fast kam ihm ein sehnsüchtiges Verlangen. Aber eilig ging er gleich wieder daran, in den Armen einer Sklavin die Feuersgluten zu ersticken, die sich an starker, hingabevoller Liebe von einst noch einmal in ihm entfacht hatten. Und im übrigen tröstete er sich über diesen Verlust hinweg mit einer Leichtigkeit und mit dem Gedanken, er begehe damit eine gute Tat; und das hieß für ihn: als guter Bürger der »Neuen Welt« handeln, wie ein Franklin oder ein Lafayette es nicht besser und anders getan hätten, denn er stand ja auf dem Boden des »Nationalismus« und des »Patriotismus«, der Sklavenhaltung, des Kaffees und der Mäßigkeitsbestrebungen – ich wollte sagen: Amerikas.
Er war einer von denen, in deren Ich Sachlichkeit und gesunder Menschenverstand einen so großen Platz einnehmen, daß sie das Herz damit verdrängt haben wie einen unbequemen Nachbarn. Eine Welt trennte Mazza von ihm: denn sie war, im Gegensatz zu ihm, ganz verloren in ihr innerstes Gefühl des Hangens und Bangens zwischen angstvoll-beklemmendem Leben und befreiendem Traum. Und während ihr Geliebter sich vor Lust in den Armen seiner Negersklavinnen wälzte, verging sie in quälendem Verlangen und glaubte immer noch, daß Ernest nur für sie lebte und sich auch so zu ihr zurücksehne wie sie sich nach ihm. Über solch Leid und Weh setzte er sich hinweg mit seinem bestialisch wilden Gelächter; er gab sich mit anderen zufrieden. Während die Arme verlassen in sich hineinweinte und Gott verfluchte, die Hölle zu Hilfe rief, sich ruhelos hin und her warf und in das Nichts hineinfragte, ob Satan nicht endlich kommen und sich ihrer erbarmen wolle – im selben Moment vielleicht, wo sie ein Medaillon mit seinen Haarlocken an sich preßte, erging Ernest sich in aller Seelenruhe auf dem öffentlichen Platz einer Stadt in den USA und schlenderte gravitätisch, in seiner weißen Weste und luftigen Hose, wie ein Plantagenbesitzer über den Markt, um sich eine neue schwarzhäutige Sklavin, die starke, muskelstramme Arme, hängende üppige Brüste und Wollust in sich haben mußte, für Gold zu kaufen.
Im übrigen beschäftigte er sich mit seinen chemischen Untersuchungen. Er hatte bereits zwei dicke Mappen voll mit Notizen über die Quarzabbaulager und seine mineralogischen Analysen in der Tasche. Und auch ansonsten bekam ihm das Klima ausgezeichnet. Er fühlte sich unsagbar wohl in dieser Atmosphäre, die so balsamisch angenehm durchduftet war vom Lorbeer der gelehrten Akademien, dem Dust der Eisenbahnen, der Dampfschiffe, der Zuckerrohr- und Indigoplantagen.
In welcher Atemluft lebte Mazza –? Der Umkreis ihres Lebens war nicht so weit gezogen. Es war eine abseitige Welt, die sich einschloss in Tränen und Verzweiflung, immer schwindelnder um das eine nur kreiste und sich zum Schluss in den Abgrund eines Verbrechens verlor.
Mit schwarzem Flor war die Torfahrt des Hauses überspannt. In der Mitte war er hochgerafft und bildete eine Art gebrochenen Spitzbogen, der den Blick freigab auf einen Katafalk und zwei Kandelaber, deren Lichtflammen wie die Stimme eines Sterbenden zitterten, im kalten Winterwind, dessen eisiger Hauch über diese schwarze, von silbernen Sterntränen übersäte Draperie hinwehte. Von Zeit zu Zeit stellten sich die beiden Leichendiener, die für die Durchführung der Trauerfeierlichkeiten Sorge zu tragen hatten, rechts und links auf, um Platz zu schaffen für die Trauergäste, die einer nach dem anderen ankamen, alle in Schwarz gekleidet und in weißen Krawatten, steifgeplätteten Hemdbrüsten, sorgsam gekräuselten Frisuren. Entblößten Hauptes defilierten sie an dem Toten vorüber und tauchten ihre schwarzbehandschuhten Finger in das Weihwasser ein.
Es war im Winter, der Schnee fiel. Nachdem der ganze Leichenzug hinaus war, stieg eine junge, in einen schwarzen Umhang gehüllte Frau hinunter in den Hof, ging auf Fußspitzen durch den hohen Schnee, der das Pflaster bedeckte. Sie streckte ihr bleiches Gesicht aus den schwarzen Schleiern vor, um dem Leichenwagen nachzublicken, der sich langsam entfernte. Dann löschte sie die beiden Kerzen aus, die noch immer brannten, stieg wieder ins Haus hinauf, streifte ihren Mantel ab, wärmte ihre hellen Sandalen am Kaminfeuer, wandte den Kopf noch einmal zurück und sah nun nichts mehr als den schwarzgewandeten Rücken des letzten im Trauergefolge, der um die Straßenecke verschwand. Als sie nicht mehr jenes monotone Gerassel der Wagenräder auf dem Pflaster hörte, alles aus und vorüber war, das Gemurmel und die Litaneien der Priester, das ganze Gepränge und der feierliche Leichenzug, da warf sie sich auf das Totenbett, wälzte sich wie vor Wonne und schrie aus ihren Freudezuckungen ins Leere: »Komm doch! Dein, dein alles! Ich brenne nach dir, komm doch! Dein, Vielgeliebter, dein allein! Unser – eine Welt der Liebe und ewigen Wollust! Komm zu mir, ich will erliegen deinen Liebkosungen, mich wälzen unter deinen Küssen ...!« Sie erblickte auf ihrer Kommode ein Kästchen aus Palisanderholz, das Ernest ihr geschenkt hatte. Es war an einem Tag wie dieser, einem Wintertag, er stand vor ihr, gehüllt in seinen Mantel, an seinem Hut war noch Schnee; und als er sie in seine Arme schloß, da atmete sie die Frische, die seine Haut hatte, und den Duft der Jugend, der die Küsse so süß macht wie der Hauch einer Rose. Dieses Kästchen trug in seiner Mitte ihrer beider engverschlungene Zeichen M und E, sein Holz strömte einen Wohlgeruch aus, sie sog ihn ein mit geweiteten Nüstern, ganz in sich ein, und blieb lange so, träumend und in Sinnen versunken. Bald wurden ihr die Kinder hereingebracht; sie weinten und verlangten nach ihrem Vater. Sie wollten mit ihren Armen Mazza umschlingen und sich bei ihr trösten; sie schickte sie wieder fort mit dem Zimmermädchen, ohne ein Wort, ohne ein Lächeln.
Sie dachte nur an ihn, der so weit weg war und nicht mehr wiederkam.
So lebte sie mehrere Monate hin, allein mit ihren Träumen von einer Zukunft, die ihr immer näher rückte. Von Tag zu Tag fühlte sie sich glücklicher und freier, in dem Maße, wie all das, was in ihrem Herzen je war, entschwand, um nur noch der Liebe Platz zu machen. Alles das, was man Leidenschaften und Gefühle nennt, all das, was je in einer Seele seinen Platz findet, war dahin mit den Hemmungen ihrer Mädchenjahre, erst die Scham, dann mit ihr der kindliche Glauben und was Tugend genannt wird, und nun noch die letzten Überbleibsel alles dessen, was sie wie Scherben zersprungenen Glases weggeworfen hatte. Sie hatte nichts mehr von einer Frau, wenn nicht die Liebe – doch eine Liebe, die einzig das Ihre suchte und dies ganz und ungeteilt, die in sich wütete und die anderen mitverbrannte, wie der Vesuv, der in seinen Ausbrüchen sich bis ins Innerste selbst zerreißt und seine kochende Lava über das blühende Tal zugleich ausströmt.
Sie hatte Kinder, ihre Kinder starben wie ihr Vater. Tag um Tag verloren sie mehr an blühender Farbe, magerten ab, und in der Nacht wachten sie auf, fiebernd und phantasierend, wanden sich auf ihrem Lager in Todesangst, stöhnten, eine Schlange fräße ihnen in der Brust; denn es war da etwas, was sie innen zerriß, unaufhörlich in ihnen wühlte und sie ausbrannte... Und Mazza sah ihrem Todeskampf zu mit einem Lächeln auf den Lippen, das erfüllt war von fast wahnsinniger Rachlust.
Sie starben alle zwei am selben Tage. Als sie der Aufbahrung zuschaute, kam keine Träne in ihre Augen, kein Seufzer aus ihrem Herzen. Mit trockenem, kaltem Blick hatte sie sie in ihre Särge legen sehn – und als sie jetzt endlich ganz allein war, verbrachte sie die glücklichste und friedsamste Nacht, Ruhe in der Seele und Freude im Herzen. Ohne einen Gewissensbiß, ohne einen Schmerzensschrei. Sie war soweit, anderntags aufzubrechen, diesem Land, das Frankreich hieß, dieser Erde für immer den Rücken zu kehren, nachdem sie sich gerächt hatte dafür, daß man ihre Liebe durch den Schmutz gezerrt und entwürdigt hatte, gerächt für all das, was sie an Widerwärtigstem und Unerträglichstem in ihrem Schicksal erleben mußte, nachdem sie sich lachend über Gott und die Menschen, die Welt und das eigene Geschick hinweggesetzt hatte, das mit ihr – in seiner Augenblickslaune – gespielt und an dem sie sich ihrerseits nun schadlos zu halten gesucht hatte, auf Leben und Tod, trotz Qualen und Tränen. So und mit solchen Taten hatte sie ›dem da droben‹ alles für die über sie verhängten Schmerzen und Peinen, aber auch alles zurückgezahlt!
›Adieu, Erde Europas, voll Nebel, voll Gletschereis, wo die Herzen lau sind wie die Atemluft und die Liebesgefühle so matt und so kraftlos, so gestaltlos wie die grauen Wolken darüber! Mein Sehnen gilt Amerika und seiner Feuererde, seiner glühenden Sonne, seinem klaren Himmel, seinen herrlichen Nächten in Palmenwäldern und Platanenhainen. Adieu, Welt mit deinen Menschen! Meinen Dank habe ich euch reichlichst abgestattet! Auf Nimmerwiedersehen: Ich stürze mich in mein Schiff! Nur fort, mein schönes Schiff, auf, eil dich schnell! Laß deine Segel sich schwellen im Brausen des Windes, deinen Bug die Wogen zerteilen und brechen! Setze über den Sturm hinweg, springe über die Fluten dahin, und müßtest du am Ende zerschellen, wirf mich mit deinen Trümmern an den Strand, wo er atmet...!‹
So ging ihr die Nacht hin im Fiebern des Wach-Traums, aber es war der Fiebertaumel der Freude und der Hoffnung. Wie sie ihm so näher und näher kam, ihm in Gedanken in die Arme eilte, um immer mit ihm zu leben, lächelte und weinte sie vor Glück.
Die Erde des Friedhofs, in dem ihre Kinder lagen, war noch ganz frisch, noch feucht vom Weihwasser...
Am Morgen brachte man ihr einen Brief. Er war vor sieben Monaten geschrieben. Er war von Ernest. Mit zitternden Händen brach sie das Siegel auf und durchflog ihn gierig. Als sie zu Ende war, fing sie immer wieder von vorn an zu lesen, bleich zum Entsetzen. Sie konnte kaum ein Wort fassen. Folgendes hatte er ihr zu sagen:
»Warum, Madame, sind Ihre Briefe immer so wenig auf Ehre bedacht? Der letzte vor allem! Ich habe ihn den Flammen übergeben: Ich hätte rot für Sie werden müssen, wenn jemand auch nur einen Blick darauf geworfen hätte. Kennen Sie denn keine Grenzen mehr in Ihrer Leidenschaft? Warum kommen Sie mir unablässig mit Ihren Erinnerungen, stören mich in meinen Unternehmungen, entreißen mich immer wieder meinen Beschäftigungen? Was habe ich damit zu tun, daß Sie nicht von mir lassen wollen?
Noch einmal, Madame, ich will Vernünftigkeit, auch in der Liebe! Ich habe Frankreich hinter mir, vergessen Sie mich also, wie ich Sie vergessen habe, lieben Sie Ihren Mann! Das Glück findet sich auf den breiten Straßen, die sich die Menge tritt – die Höhenpfade sind dornig, voll spitzer Steine: Sie reißen blutig und machen unsereinen schnell müde.
Nun lebe ich glücklich, ich habe ein reizvolles Heim an den Ufern eines Flusses, und in den grünen Gründen, durch die er strömt, mache ich Jagd auf meine Käfer und Insekten, presse Blüten und Blätter für mein Herbarium – und komme ich abends heim, warten schon meine Schwarzen auf mich, begrüßen mich, den Rücken bis zur Erde gekrümmt, und küssen meine Schuhe, wenn sie irgendeine kleine Gunst für sich erbetteln wollen. Ich habe mir also eine glückliche Existenz hier geschaffen, ruhevoll und friedlich, mitten im Schoße der Natur und am Herzen der Wissenschaften – was machen Sie es dort nicht auch so wie ich? Wer hält Sie davon ab? Man kann, was man will!
Für Sie, ja für Ihr Glück, rate ich Ihnen, nicht mehr an mich zu denken noch zu schreiben! Was versprechen Sie sich von derlei Briefwechsel? Wie kann uns so etwas noch in irgendeiner Weise voranbringen, wenn Sie mir hundertmal nur immer wieder zu sagen haben, daß Sie mich lieben, und wenn Sie soundso oft auch noch die Ränder vollschreiben mit Ihrem unaufhörlichen ›Ich liebe dich!‹
Es heißt vielmehr alles vergessen, Madame, und nicht mehr denken an das, was wir uns beide einst gewesen sind. Haben wir nicht jedes gehabt, was wir uns wünschten?
In gesellschaftlicher Beziehung ist meine Position so gut wie gefestigt: Ich bin in leitender Stellung, Hauptdirektor der Kommission für Minenbohrunternehmungen. Die Tochter meines Chefs ist eine scharmante junge Dame von blühenden siebzehn Lenzen, ihr Herr Papa verfügt über sechzigtausend Livres Renten, sie ist ›einzige Tochter‹, entzückend anschmiegsam und vernünftig im übrigen, hat viel Urteilsvermögen und versteht sich ganz glänzend darauf, einem großen Haushalt vorzustehen, ein vornehmes Haus zu führen.
In einem Monat vermähle ich mich mit ihr. Wenn Sie mich immer noch lieben, wie Sie es mir ja versichern, muß es Ihnen doch das wahrste Vergnügen bereiten, daß ich nun so mein Glück hier mache.
Leben Sie wohl, Madame Willers, und denken Sie nicht mehr an einen Mann, der das Zartgefühl hat, Sie nicht in Liebe an sich zu binden, und wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so lassen Sie mir auf schnellstem Wege ein halbes Liter Blausäure (acidum borussicum) zugehen, die Ihnen – auf Empfehlung von mir – ohne weiteres und sehr gern der Sekretär der Akademie der Wissenschaften aushändigen wird; er ist ein sehr versierter Chemiker und Kollege von mir!
Leben Sie wohl, ich rechne auf Sie, und vergessen Sie nicht meine Blausäure!
Ernest Vaumont«
Als Mazza diesen Brief gelesen hatte, stieß sie einen Schrei aus, als hätte man sie mit glühenden Zangen verbrannt.
Lange blieb sie so, in fassungsloser Bestürzung. »Ah, der feige Mensch –!« brach es endlich aus ihr, »erst hat er mich verführt, und nun hat er mich so elend im Stich gelassen, um der andern willen! Alles hingegeben zu haben für ihn: und nun nichts mehr, nichts mehr! Ach, alles ins Meer werfen und sich an einer Planke halten – und die Planke gleitet einem unter den Händen weg, und man fühlt, wie man sinkt, tiefer und tiefer – unter die Fluten!«
Sie liebte ihn so, die Arme! Sie hatte ihm ihre Tugend hingeopfert, sie hatte ihre ganze Liebe an ihn verschwendet, sie hatte von Gott sich losgesagt und dann sich – oh, viel schlimmer noch! – ihres Mannes entledigt, ihrer Kinder, die sie hatte verröcheln, sterben sehn; und sie hatte all das lächelnd tun können, denn sie dachte dabei nur an ihn. Was noch tun? Was, nach alledem, noch –? Eine andere, eine andere, die ihm nun ins Ohr flüstern wird: ›Ich liebe dich!‹, der er die Augen küssen wird, die Brüste... die er sein Leben nennen wird, seine einzige Leidenschaft – eine andere! Und sie? Hatte sie einen ändern gehabt außer ihm? Hatte sie nicht um seinetwillen ihren eigenen Mann im Ehebett von sich gestoßen, ihn nicht betrogen und belogen mit ihren ehebrecherischen Lippen? Hatte sie ihm nicht Gift eingeträufelt und dabei Freudentränen vergossen? Er, er war ihr Gott, ihr alles im Leben! Nun läßt er sie ganz allein mit sich, überläßt sie ihrem Verderben, nachdem er sie nur selbstsüchtig gebraucht, sie sattsam als sein Spielzeug benützt und sie jetzt überhat. Da, nun stößt er sie weit von sich zurück und treibt sie bis in den Abgrund ungeheuerlichster Verbrechen, in letzte Verzweiflung, aus der es kein Entrinnen mehr gibt ...
Immer noch nicht konnte sie es für wahr halten, immer noch nicht ihren Augen trauen – immer wieder las sie ihn, diesen unheilvollen Brief, und bedeckte ihn mit ihren Tränen.
»Oh, wie nur –!« schluchzte sie, als tiefste Niedergeschlagenheit nach der rasenden Wut sie überwältigt hatte. »Oh, wie nur konntest du mich verlassen?! Mich hier, wie ich nun bin, ganz allein, ohne die mehr, die zu mir gehörten: denn ich habe sie dir alle geopfert, Mann, Kinder, alle, die mir nahestanden – ich, o ich Ehrlose: denn ich habe mich für dich weggeworfen – ich, aller Achtung nun bar: denn ich habe meinen Ruf unter deinen Küssen längst dahingegeben, vor den Augen aller Welt, die mich deine Mätresse nennt. Deine Mätresse, deren du dich jetzt schämst, o du Feigling!
Und die Toten, wo sind sie? Was soll ich noch tun? Was noch? – Ich hatte nur einen Gedanken, in meinem Herzen lebte nur Einer – er ist nicht mehr da! Werde ich dich nun noch finden? Aber du wirst mich davonjagen wie eine Sklavin. Wenn ich mich mitten unter die anderen Frauen stürze, werden sie lachend mich mir selbst überlassen, voll Hochmut mit ihren Fingern auf mich zeigen, denn sie, sie haben nie geliebt, sie wissen nicht, was Tränen bedeuten. Oh, da ich ja immer noch so nach Liebe verlange, leben, leidenschaftlich leben will, werden sie mir wohl zweifellos raten, ich solle mich dahinbegeben, wo man zu fest abgemachten Preisen seine Wollust und seine Umarmungen an den Mann bringen kann ... Und abends solle ich dann mit den Genossinnen der feilen Freude die Daherkommenden durch die Scheiben anlocken; und ich brauche den Besuchern nur, so gut ich könne, für ihr Geld etwas Angenehmes zu bieten, ein paar vergnügliche Stunden, damit sie von dem Beisammensein voll befriedigt weggingen – es wäre da gar kein Anlaß, sich zu beklagen, man befände sich wahrhaft glücklich dabei und hätte für jeden Daherkommenden ein einladendes Lächeln ... oh, man hat ja sein Los voll und ganz verdient! – Und was habe ich getan? Ich habe dich geliebt, mehr als einen andern. Oh, Erbarmen, Ernest! Wenn du meine Schreie hören wolltest, würdest du vielleicht Mitleid haben mit mir – mit mir, die ich für die andern um mich kein Mitgefühl mehr empfunden habe – denn ich verfluche mich jetzt, ich wälze mich in Angst und Verzweiflung, meine Kleider sind naß von Tränen...!«
Wie verloren lief sie hin und her, dann brach sie zusammen, wälzte sich auf der Erde und verfluchte Gott, die Menschen, das Leben selbst: alles, was auf der Welt lebte, atmete, dachte... Mit ihren Fäusten riß sie sich ihr schwarzes Haar aus, und ihre Fingernägel färbten sich rot mit Blut.
»Oh, das Leben nicht mehr ertragen zu können! So weit zu kommen, daß man sich dem Tod in die Arme werfen möchte wie in die Arme einer Mutter! Aber immer dabei, bis zum letzten Moment, das peinvolle Fragen, ob nicht das Grab noch Martern in sich berge und noch das Nichts seine Qualen bereit habe. Oh, von allem so angeekelt sein! An nichts mehr glauben können, selbst nicht an die Liebe mehr, an dies erste, heiligste Gefühl des Herzens – und doch nicht wegzufinden aus diesem unablässigen tiefsten Ekel und Überdruß, wie ein Mensch, der schon voll sich fühlt bis zum Erbrechen und den man zwingen wollte, immer noch mehr zu trinken! Warum bist du gekommen in meine Einsamkeit, mich meinem Glück zu entreißen? Ich war so vertrauensselig und so ohne Arg, und du drangst bei mir ein, kamst und entfachtest in mir die Liebe – und ich habe dich geliebt! – Die Männer – das ist so schön, wenn sie unsereins mit ihren Blicken umfassen! Du hast mir Liebe gegeben, und nun entziehst du mir sie wieder... ich habe sie verbrecherisch in mir genährt, und nun muß ich es sehen, wie sie auch mich tötet! Ich war damals noch schuldlos, als du mich zum erstenmal ansahst, und jetzt bin ich blutgierig und grausam. Ich will etwas haben, was ich in Stücke reißen, zerfetzen, vernichten möchte... und dann wegwerfen wie mich selbst! Oh, ich hasse alles, die Menschen, Gott und dich, dich hasse ich auch, und doch fühle ich, daß ich für dich mein Leben hingeben würde. Je mehr ich dich liebte, desto weniger konnte ich von dir lassen – gleich denen, die ihren Durst stillen wollen mit dem salzigen Wasser des Meeres und die der Durst um so mehr verbrennt... Und nun geht's ans Sterben! Der Tod! Nichts mehr... was?! ... Finsternisse, ein Grab... und dann ... das ungeheure Nichts. Oh, ich fühle, daß ich doch leben wollte und leiden lassen, wie ich gelitten habe. Oh, das Glück, wo ist es? Doch – nur ein Traum... Die Tugend – ein Wort... Die Liebe? – ein enttäuschendes Nichts. Das Grab? – Was weiß ich ... Bald werde ich es wissen.«
Sie erhob sich, wischte ihre Tränen ab, mühte sich, die Schluchzer zu unterdrücken, die ihr die Brust sprengen und sie ersticken wollten. Sie schaute in einen Spiegel, ob ihre Augen noch sehr rot von dem Weinen waren, steckte ihre Haarflechten wieder zurecht und ging, um dem letzten Wunsch Ernests zu willfahren. Mazza trat ein bei dem Chemiker; er gab Bescheid, er käme gleich. Man ließ sie warten in einem kleinen, im ersten Stock gelegenen Empfangssalon; die Möbel darin waren mit rotem und grünem Tuch überzogen. In der Mitte ein runder Tisch aus Mahagoniholz; an den getäfelten Wänden Steindruckbilder, Napoleonische Schlachtenszenen; und auf dem graumarmornen Kaminsims eine vergoldete Pendeluhr, deren Zifferblatt einem Armor als Halt diente – mit seiner andern Hand stützte er sich ausruhend auf sein Pfeilbündel. Als die Uhr zwei schlug, tat sich die Tür auf; der Chemiker erschien auf der Schwelle. Er war ein kleines, schmalbrüstiges Männchen, mit trockenen Zügen, von höflichen Umgangsformen. Er trug Brillengläser auf der Nase, hatte dünne Lippen und kleine zurückfliehende Augen. Als Mazza ihm den Beweggrund ihres Besuches erklärt hatte, erging er sich zunächst einmal in den höchsten Lobestönen über Monsieur Ernest Vaumont, seinen hervorragenden Charakter, sein edles Herz, seine Neigungen; zu guter Letzt händigte er ihr das Fläschchen voll Blausäure aus, führte seine Besucherin an der Hand bis zur letzten Treppenstufe hinab, durchnäßte sich sogar etwas seine Hausschuhe, da er sie eigens noch über den Hof bis zum Tor auf die Straße zurückgeleitete.
Mazza vermochte kaum ihren Weg durch die Straßen zu gehen, so heftig brannte ihr der Kopf. Ihre Wangen glühten purpurn, und mehrere Male war ihr, als sollte das Blut ihr aus allen Poren hervorbrechen. Sie wankte durch Straßen, wo das Elend an allen Häusern, weithin sichtbar, abzulesen war, wie von den grellbunten Fetzen, die von den übertünchten Mauern fielen. Als sie das erbärmliche Leben rings erblickte, sagte sie: »Von all eurem Unglück will ich mich befreien!« Und sie ging an den Herrenpalästen vorüber und flüsterte vor sich hin, indem sie das Gift in ihren beiden Händen fest an sich drückte: »Lebe wohl, Dasein, von all euren Sorgen will ich mich befreien!« Als sie an ihrem Haus wieder angelangt war, warf sie, ehe sie ihre Tür hinter sich schloß, einen Blick auf die Welt, die sie verließ, auf die Stadt da, die von Lärm und Geschäftigkeit und Geschrei erfüllte: »Lebt wohl, ihr alle!« sagte sie...
Sie öffnete ihr Geheimpult, siegelte das Fläschchen Blausäure zu, setzte die Anschrift darauf und schrieb noch einen anderen kurzen Brief. Er war gerichtet an den Zentralkommissar.
Sie läutete und übergab alles dem Diener.
Auf ein drittes Blatt schrieb sie: »Ich habe einen Mann geliebt. Um seinetwillen habe ich meinen Ehegatten getötet, meine Kinder umgebracht. Ich sterbe ohne Gewissensbisse, ohne Hoffnung, aber mit schmerzlichen Gefühlen im Herzen.« Sie legte das Geschriebene auf den Kaminsims.
»Noch eine halbe Stunde«, sagte sie, »bald werden sie hiersein und mich zum Friedhof fortschaffen!«
Sie zog sich ihre Kleider aus und verweilte einige Minuten dabei, ihren schönen Körper zu betrachten, den nichts mehr bedeckte, und noch einmal durchlebte sie in ihrem Innern alle die Wollüste, die sie geschenkt, alle die unermeßlichen Freuden, die sie an ihren Geliebten frei verschwendet hatte.
Welch herrlicher Schatz – die Liebe solch eines Weibes!
Dann weinte sie sich aus und dachte an alle die Tage, die ihr gehört hatten und die nun für immer dahin waren, an ihr Glück, ihre Träume, an ihre Jugend mit ihren launig übermütigen, sorglosen Stunden von einst – und ihre Gedanken gingen immer wieder zu ihm hin, lange, lange... Nachdem sie grübelnd sich die Frage gestellt hatte, was wohl der Tod überhaupt wäre, und sich in diesen schwindelnden Abgrund, in dem alles Denken sich in rasender Ohnmacht selber verzehrt und vernichtet, tiefer und tiefer verlor, riß sie sich plötzlich hoch wie aus einem Traum, griff nach dem Gift, das sie in eine purpurfarbene Tasse gegossen hatte, trank gierig die Tropfen und streckte sich, zum letztenmal, auf dem Ruhebett aus, wo sie sich so oft in den Armen Ernests, in den Verzückungen ihrer Liebe gewälzt hatte...
Als der Kommissar kam, röchelte Mazza noch. Sie zuckte ein paarmal vom Boden auf, wand sich – auf einmal wurden alle ihre Glieder steif, sie stieß einen markdurchdringenden Schrei aus... Als er näher herzutrat, war sie tot.