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Das Entscheidende bei der Geschichte ist, daß Paris der Aphrodite den Preis zuerkannte, nicht, weil sie ihn bestach, sondern weil sie schön war. Um die Schönheit handelte es sich in diesem Wettstreit, und wenn Athene und Hera geistreich zu disputieren begannen über Weisheit und Macht, so waren sie es, die ihn zu bestechen versuchten. Was sie auch ins Spiel zu bringen hatten, Aphrodite war die Sache selbst, um die es ging.
Ihre unwahrscheinliche Behauptung, daß er eines Tages die schöne Helena heiraten würde, interessierte ihn daher nur als prophetisches Experiment einer Göttin. Vielleicht traf es ein, vielleicht auch nicht. Höchst wahrscheinlich hatte sie es irgendwie anders gemeint; ein weiser Mann verhält sich abwartend, selbst wenn er auch an das Orakel glaubt.
Inzwischen war er doch neugierig, wie Helena wohl aussehen mochte. Er fühlte das Bedürfnis zu reisen. Warum sollte er nicht einmal Sparta aufsuchen? Kassandra warnte ihn, aber das tat sie immer. Oenone riet ab, aber sie war seine Frau.
Als er zum Hause des Menelaos kam, ließ der Torwächter ihn ein, und da er ein Fremder war, so fragte man ihn nicht, wie er hieß und was ihn herführte, bis er gegessen und sich ausgeruht hatte. Menelaos schob eine Reise, die er vorgehabt, auf, und übte die heilige Pflicht der Gastfreundschaft. Aber als er herausbekommen hatte, wer sein Gast war, sagte er zu Paris, er solle ganz so tun, als ob er zu Hause wäre, entschuldigte sich dann höflich und reiste seinem ursprünglichen Plan gemäß nach Kreta ab.
So hatte niemand Arges im Sinne. Aber Paris sah Helena von Angesicht zu Angesicht.
Als der trojanische Krieg mit der Einnahme der Stadt endete, ging Menelaos mit dem Schwert in der Hand auf die Suche nach Helena. Er schwankte, ob er ihr das Schwert in den verführerischen Busen stoßen oder ihr damit den schneeweißen Hals durchhauen sollte. Er hatte sie lange nicht gesehen. Sie erwartete ihn, wie auf Verabredung. Mit einer schlichten Gebärde entblößte sie ihr Herz für seine Rache und sah ihn an. Er sah sie an. Das Schwert machte ihn verlegen.
»Helena,« sagte er, »es ist Zeit, daß wir nach Hause reisen.«
Die Geschichte wird auch anders erzählt. Menelaos, sagt man, war nicht allein, als er Helena in ihrem Gemach fand, Agamemnon war da und noch andere, um dem Akt der Gerechtigkeit, der unter den langen Krieg den Schlußpunkt setzen sollte, beizuwohnen. Einige, die Helena nie vorher gesehen, drängten sich hinein, um einen ersten und letzten Blick auf die Schönheit zu werfen, um die sie gekämpft hatten. Als Menelaos Helena vor sich sah, dachte er an sein Gefolge. Zorn und Kraft schwanden ihm dahin, aber die teilnehmenden Freunde warteten, daß er als Ehemann seine Pflicht tue. Er erhob das Schwert – langsam – es ging immer noch zu schnell. Da hörte er Agamemnons Stimme.
»Du tätest besser, mit deinem Zorn hier halt zu machen, Menelaos. Du hast deine Frau wieder – wozu willst du sie töten? Priams Stadt ist gefallen, Paris ist tot, du bist gerächt. Wenn du Helena tötest, so würdest du die Frage nach dem Anlaß des Krieges total verwirren. Sparta hatte keinen Teil an der Schuld; Paris, der das Gastrecht verletzte, war der einzig Schuldige.«
Menelaos fühlte in diesem Augenblick, daß man seinen Bruder mit Recht den Fürsten der Männer nannte. Später am Abend hörte man ihn jedoch sagen, wenn Agamemnon nicht dazwischengetreten wäre, hätte er Helena getötet.
Er mußte sie für die Nacht mit den andern Gefangenen aufs Schiff bringen, aber er konnte sich nicht entschließen, in welcher Reihenfolge er mit ihr gehen wollte. Natürlich nicht nebeneinander. Vielleicht er voran. Diesen Gedanken gab er auf, bevor sie noch die Straße erreichten. Es schien nicht angebracht, die Feierlichkeit der Prozession besonders zu betonen. Er ließ sie vorangehen, mochte sie seinetwegen schutzlos den etwaigen Beleidigungen des neugierigen Heeres ausgesetzt sein. Allein die Männer starrten sie stumm an, oder fast stumm. Ihn beachteten sie nicht. Er hörte einen sagen, sie sähe aus wie Aphrodite, als Hephaistos, ihr lächerlicher Gatte, sie nackt in Ares Armen überrascht und ein Netz über das Liebespaar geworfen hatte, um den andern Göttern ihre Schmach zu zeigen. Ein anderer meinte dazu, er empfände wie die andern Götter bei jener Gelegenheit, die sich bereit erklärten, jeden Augenblick mit Ares zu tauschen, und das Netz und alles in den Kauf zu nehmen.
Andere Männer, die weniger Grund zu Gewalttaten hatten als Menelaos, zeigten in der Nacht, als Troja zerstört wurde, weniger Zurückhaltung. Ajax fand Kassandra im Tempel der Athene, wo sie als Priesterin diente – lieblich genug, um Apoll zu reizen, doch nicht mit der Schönheit ausgestattet, die Helena schützte. Dort, gleichsam in Gegenwart der Göttin, büßte er an ihr seine Lust und ging dann zu andern Eroberungstaten über. Als darauf Athenes Zorn sich deutlich kundgab, gab er zwar zu, das Mädchen beleidigt zu haben, behauptete jedoch, daß er den Tempel nicht entweiht hätte, denn Odysseus hätte das heilige Bildnis bereits geraubt gehabt, und der Ort sei daher, wenn überhaupt ein Heiligtum, so doch ein verlassenes gewesen. Aber es war nicht wahrscheinlich, daß die Göttin diese Unterscheidung gelten lassen würde, und Agamemnon gab sofort Befehl, die Heimkehr der Flotte zu verschieben, bis ausgiebige Opfer dargebracht seien, als pflichtschuldige Beweise ihrer Reue und Selbsteinkehr, damit die Göttin sich nicht veranlaßt sähe, ihnen ihre Sünden in kaltem Wasser abzuwaschen. Agamemnon ließ sich die Sache sehr angelegen sein, sobald es an die Verteilung der Beute ging. Kassandra fiel ihm zu.
Den ganzen Tag stand er neben dem Priester, während die Altarflammen gespeist wurden, inmitten des respektvoll harrenden Heeres, und Menelaos stand neben ihm – zwei Könige, die nicht ihresgleichen hatten, nun Achill nicht mehr da war. Als es zu dämmern begann, ließen sie die Opferfeuer niederbrennen, die Soldaten zündeten die Kochfeuer an, und der Priester sagte, die Zeichen seien soweit günstig.
»Ein guter Anfang der Opfer«, sagte Agamemnon.
»Und Ende,« sagte Menelaos, »wenigstens was mich betrifft. Nicht unsre eigenen Sünden führten uns nach Troja, sondern, wie du gestern abend sehr richtig bemerktest, die Sünden anderer. Was wir seitdem hier an Verstößen begangen haben, haben wir bereits gebüßt, und wenn Stolz oder Unwissenheit uns noch etwas übersehen ließ, so muß dieser Opfertag es reichlich gutgemacht haben. Ich segle morgen nach Sparta ab.«
»Wenn ich an Absegeln denke,« sagte Agamemnon, »so kommt mir Aulis in den Sinn. Unsre Abfahrt aus jenem Hafen kostete mich das Leben meines Kindes, das ich opfern mußte, um die Götter zu versöhnen. Damals hattest du gegen übermäßige Opfer nichts einzuwenden. Für dich geschah das alles, mein Bruder. Meinen Streit mit Achill habe ich längst gebüßt, da ich im Unrecht war. Aber da ich vielleicht auch bei andern Gelegenheiten Unrecht hatte, wo ich glaubte recht zu haben, muß ich jetzt den etwaigen Zorn des Zeus und der Athene besänftigen, bevor ich mein Heer Wind und Wogen und allen Gefahren, die zwischen uns und unsrer Heimat liegen, aussetze.«
»Was du in Wirklichkeit fürchtest,« sagte Menelaos, »ist deine Frau.«
»Du hast deine Frau bei dir,« erwiderte Agamemnon, »und deine Tochter sitzt wohlbehalten in Sparta und kümmert sich zweifellos um deine Angelegenheiten. Das haben wir bisher alle getan. Nun muß ich mich um mein eigenes Volk kümmern. Was ich in Wirklichkeit fürchte, ist, daß Athene den Diebstahl ihres Bildes und die Vergewaltigung ihrer Priesterin an jedem einzelnen, an dir und mir bis hinab zum geringsten Schiffsruderer rächt.«
»Odysseus hat das Götterbild gestohlen,« sagte Menelaos, »aber doch nur, weil die Stadt sonst nicht einzunehmen war. Wegen dieser und anderer Maßnahmen, durch die er sich nützlich erwies, sollte er vielleicht viele Opfer bringen. Was Kassandra widerfuhr, finde ich nur gerecht, wenn auch ein bißchen roh. Paris war ihr Bruder. Ajax beging nur den Fehler, zu hastig vorzugehen. Er hätte sie sonst bei der Beuteverteilung haben und nach Hause nehmen und mit ihr tun können, was ihm beliebte, sicher vor der Kritik der Götter oder dem Grimm von Menschen, denn er hat kein Weib, das zu Hause auf ihn wartet.«
»Mein Weib«, sagte Agamemnon, »hat bis jetzt noch keinen Anlaß zu Skandal in der Familie gegeben. Darin unterscheidet sie sich von ihrer Schwester. Wieviel Männer haben Helena schon umgarnt oder sich von ihr umgarnen lassen? Theseus vor deiner Zeit, und du natürlich, und Paris und Deiphobos – und war da nicht auch etwas zwischen Achill und ihr? War Hektor eigentlich ihr Anbeter, oder war es nur sie, die es auf ihn abgesehen hatte? Wir machen uns jeder seine eigene Philosophie zurecht, mein Bruder, um uns mit unsrer Vergangenheit friedlich abzufinden. Du hast, soviel ich sehe, gar keine Veranlassung, Ajax' Tat zu verdammen. Halte dich an deine Philosophie, du wirst sie nötig haben.«
»Es bleibt dabei,« sagte Menelaos, »ich segle morgen heimwärts. Es tut mir leid, daß wir uns in dieser Verstimmung trennen. Wenn mein Bleiben dir irgendwie von Nutzen sein könnte, so würde ich es aus Dankbarkeit tun. Doch ich denke, die Götter wollen das, was vernünftig ist, – im großen ganzen wenigstens; und wenn deine Laune, die Opfer noch länger ausdehnen zu wollen, wirklich etwas mit Religion zu tun hätte, so würde ich dir entgegenhalten, daß die Götter, die uns in den Stand setzten, Troja zu verbrennen, nicht die Absicht hatten, daß wir hier wohnen sollten.«
»Du gehst in dein Verderben,« sagte Agamemnon, »ich werde dich nicht wiedersehen.«
»Das,« sagte Menelaos, »möchte ich wiederum für einen Irrtum deinerseits halten, den du hoffentlich nicht auch noch durch Opfer abzubüßen hast.«
Helena saß im Zelt, regungslos, beim flackernden Licht der Lampe. Die Weihrauchdämpfe stiegen vom Dreifuß vor ihrem Antlitz auf; er mußte an Göttinnen und an Altarfeuer denken. Warum war sie dort? War sie den ganzen Tag dort gewesen? Während er beim Opfer war, hatte er sie unter den andern Gefangenen geglaubt, gedemütigt und endlich die Schärfe der Vergeltung fühlend. Sie hätte eigentlich aufstehen können, als er eintrat.
»Morgen segeln wir nach Sparta ab.«
»So schnell schon?«
»Ist es zu schnell? Du hängst wohl noch an Troja?«
»Jetzt nicht mehr,« sagte Helena, »und überdies habe ich, wie du weißt, nie große Anhänglichkeit an Orte gehabt. Aber wie sollen alle die Schiffe und Mannschaften an einem Tage fertig werden! Bei deiner Herfahrt brauchtest du mehr Zeit zum Aufbruch – obwohl du damals meiner Meinung nach mehr Grund zur Eile hattest. Es müssen doch erst Opfer gebracht werden, Götter sind zu bedenken, der weite, dunkle Ozean, die Geister so vieler Toten, die beschwichtigt werden müssen, bevor wir reisen.«
»Die Toten sind in Frieden und die Götter haben ihr Teil bekommen«, erwiderte Menelaos; »wir haben den ganzen Tag mit Opfern zugebracht. Der Ozean bleibt weit und dunkel. Agamemnon will die Opfer dennoch fortsetzen, als ob er dies und andre Dinge damit ändern könnte. Wir haben deswegen eine Auseinandersetzung gehabt und uns getrennt. Er wird mit dem Heere noch eine Zeitlang hierbleiben, ich fahre morgen mit meinen Mannen und meinen Gefangenen heimwärts.«
Er meinte, mit ihr. Er wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte. Er wollte nicht sagen: »mit meinem Weib und mit meinen Gefangenen«. Er hatte nicht den Mut zu sagen: »mit dir und den andern Gefangenen«.
»Menelaos«, sagte sie, »ich reise natürlich mit dir, wie unklug dieser Aufbruch auch ist. Denn dein Bruder hat recht und du hast unrecht. Die sich irgendeiner Schuld bewußt sind, brauchen Zeit zu Reue und Buße, und wir, die wir uns rein von Schuld fühlen, wir erst recht sollten Opfer bringen, um uns vor Stolz zu bewahren. Du hast zwar noch deinen alten gesunden Menschenverstand, Menelaos, aber es fehlt dir immer noch die tiefere Einsicht. Wenn du die hättest, so würdest du das Herkömmliche respektieren«.
»Wenn ich dich recht verstehe,« sagte Menelaos, »so gibst du mir den Rat, bei dem, was ich tue, nicht von den Gesetzen des Herkommens abzuweichen?«
»Ja, das ist mein Rat«, sagte Helena.
»Ich bin übermüdet, mein Gehirn versagt den Dienst«, sagte Menelaos. »Willst du wieder – dahin, wo du eben herkamst, oder soll ich dir dies Zelt überlassen? Wir brechen morgen in aller Frühe auf.«
Sie hatten den Wind gegen sich, und die Leute mußten an die Ruder. Menelaos saß dicht am Steuer und Helena vor ihm, das Gesicht dem Winde zugewandt. Die Ruderer sahen zu ihr auf, nicht zornig, wie zu einer, die Krieg und Beschwerde über sie gebracht, sondern zuerst neugierig, dann voll Teilnahme und Ehrfurcht, als ob sie dem Schiffe Segen brächte. Menelaos beobachtete die Veränderung in ihrem Blick und fragte sich, warum er überhaupt nach Troja gekommen war – und dann erinnerte er sich.
Nun regte Helena sich, zum erstenmal seit Stunden. Sie wandte sich um und sah ihm in die Augen. Auch die Ruderer blickten zu ihm auf; sie vergaßen zu rudern.
»Menelaos,« sagte sie, »du hättest Opfer darbringen sollen. Irgend etwas ist mit diesem Schiff nicht in Ordnung.«
»Im Gegenteil,« erwiderte er, »das Schiff ist vielleicht das einzige hier, was in Ordnung ist. Der Wind ist ungünstig, aber die Leute rudern gut, – wenn du sie nicht ablenkst.«
»In Troja,« sagte sie, »oder irgendwo an der Küste verrichtet Agamemnon in diesem Augenblick Bittgebete, die ihre Wirkung tun werden; ich zweifle nicht, daß er die Heimat erreicht. Unsre eigenen Aussichten scheinen mir sehr unsicher. Du kennst meinen Standpunkt – ich habe keine Vorliebe für Abenteuer, wenn ich nicht weiß, wohin es geht.«
»Wir fahren nach Sparta«, sagte er.
»Ich fürchte, das tun wir nicht«, sagte Helena.
»Wir werden die Richtung innehalten,« sagte ihr Gatte, »und wenn die Sterne nicht durcheinandergeraten sind in dieser arg verwirrten Welt, werden wir in einer Woche in Sparta ankommen. – Das ist reichlich Zeit genug, meinst du nicht auch?« fragte er den Steuermann.
»Für die Hinfahrt haben wir länger gebraucht«, sagte der Steuermann.
»Als ich nach Troja fuhr,« sagte Helena, »brauchten wir nur drei Tage, aber das war eine außergewöhnliche Reise.«
Worauf die Ruderer sich über die Ruder beugten und der Steuermann den Stand der Sonne fixierte.
In den ersten Tagen sah Helena Menelaos von Zeit zu Zeit an, durchaus ruhig und gelassen, aber als ob sie etwas sagen könnte, wenn es der Mühe wert wäre. Nachdem viele Tage vergangen, saß sie nur regungslos da, den Blick unverwandt übers Meer hinaus in die Weite gerichtet, und die Ruderer ließen den Blick nicht von ihr, als ob beide treu an etwas festhielten, was Menelaos nicht verstehen konnte. Er fühlte sich die ganze Zeit einsam und fragte sich, ob Wasser und Speisevorrat reichen würden.
»Ah, da ist endlich Sparta!« sagte er.
»Das bezweifle ich«, sagte Helena.
Tatsächlich war es Ägypten. Helena ging über die schmale Brücke, die die Männer für sie hielten, an Land, als ob eine Landung in Ägypten etwas Selbstverständliches wäre. Der Wind legte sich vollständig. Die ermüdeten Männer schlugen ein Zelt auf für den König und Schutzdächer für sich und legten sich schlafen. Menelaos konnte sich nicht erinnern, Befehl zum Landen gegeben zu haben, aber er war nicht sicher und mochte nicht fragen.
»Dies berühmte Land ist interessanter als ich gedacht hatte«, sagte Helena nach einigen Wochen. »Auf meinen Nachmittagsspaziergängen traf ich mehrfach Eingeborene; sie scheinen hier eine durchschnittliche Höhe der Kultur erreicht zu haben, die über das Maximum bei uns hinausgeht, meinst du nicht auch?«
»Helena, du treibst mich zum äußersten«, sagte Menelaos. »Ich bin nicht hier, um das Land zu durchstreifen oder Kulturvergleiche anzustellen.«
»Natürlich bist du das nicht, und ich auch nicht,« sagte Helena, »und wenn du bereit bist abzufahren, so brauchst du es mir nur zu sagen. Inzwischen bringt Polydamna, die Frau jenes umfangreichen Mannes, der dir den Proviant für unsre Weiterreise verkaufte, mir ihre Kräuter- und Arzneikunde bei – eine Wissenschaft, die man in jedem Hause gut brauchen kann und die hier jeder zu besitzen scheint. Wenn du in den nächsten Tagen noch keine Opfer bringst, werde ich eine Menge von ihr lernen.«
»Ich will keine weiteren Opferungen,« sagte Menelaos. »Der Wind wird schon von selbst kommen.«
»Dann werde ich alles lernen, bevor wir abfahren«, sagte Helena.
Etwa vierzehn Tage darauf sah sie ihn eines Tages mit einem jungen Lamm unterm Mantel aus dem Hause von Thonis, Polydamnas Gatten, treten. Während er die Männer auf einem stillen Platz versammelte und das Tier opferte, blieb sie diskret im Zelt. Dort suchte Menelaos sie auf.
»Halt dich morgen zur Abfahrt bereit,« sagte er, »für den Fall, daß der Wind sich aufmacht.«
Sie war bereit und der Wind machte sich auf, aber es war nur eine schwache und kurzlebige Brise. Als sie die Insel Pharos erreichten, war es mit ihr zu Ende.
»Das macht nichts,« sagte Menelaos, »wir haben hier einen guten Hafen und eine Quelle mit süßem Wasser. Wir laufen einstweilen ein, bis der Wind auffrischt, und füllen inzwischen unsre Fässer.«
Helena ging über die schmale Brücke, die die Männer für sie hielten, an Land, als ob eine Landung in Pharos etwas Selbstverständliches wäre. Es war kein lebendes Wesen auf der Insel zu sehen, außer ein paar Krebsen, die sich ans Ufer gewagt hatten. Nach zwanzig Tagen ging der Proviant aus, und die Männer krochen am steinigen Ufer hin und versuchten, mit einer kleinen Angelschnur und leeren Haken Fische zu fangen. Helena schritt die ganze Zeit gelassen und huldvoll auf den bequemsten Pfaden, die sie zwischen den Felsen finden konnte, dahin oder setzte sich auf den Vorsprung einer kleinen Klippe und sah dem Spiel der violetten Wellen und der Möwen zu oder blickte sinnend nach dem Horizont. Menelaos wich seinen Leuten aus und wanderte allein umher, am entgegengesetzten Ende der Insel. Als er aber endlich doch zu ihrem Klippensitz hinaufgeschlendert kam, schien sie nicht überrascht.
»Ich denke daran, nach Ägypten zurückzukehren«, begann er. »Die Leute brauchen kräftigere Nahrung, als sie hier finden können, und wir könnten in einem Tage nach Kanopus rudern.«
»Wenn du mich um Rat fragst,« sagte Helena, »so kann ich nur deinem eigenen vernünftigen Urteil zustimmen. Du hast recht, es scheint uns an Nahrung zu fehlen.«
»Bisweilen irritierst du mich, Helena«, sagte Menelaos; »jeder Narr muß einsehen, daß wir nach Ägypten zurück müssen. Ich habe dich nicht um Rat gefragt. Ich hätte längst zurückfahren sollen.«
Er hatte ihr sagen wollen, warum er nicht früher zurückgekehrt war, aber es verdroß ihn, daß sie nicht fragte. Er wandte sich um und sah drei seiner Leute, bleich und hungrig, und mit ihnen den Steuermann. Sie sahen aus, als ob sie ihm etwas Unangenehmes sagen wollten.
»Menelaos,« begann der Steuermann, »wir sind dir so lange gefolgt, daß du unsre Treue erkannt haben mußt, aber nun kommen wir und fragen dich, ob du den Verstand verloren hast. Macht es dir Vergnügen selbst zu leiden, oder magst du uns gern leiden sehen? Du zwingst uns, hier auf dieser Insel zu verhungern, während in Ägypten, wohin wir in einem Tage rudern könnten, wenn wir noch die Kraft hätten, Speise genug ist. Noch ein paar Stunden, und wir sind zu schwach, um das Schiff in die See zu stoßen. Du sagst, wir warten auf Wind. Aber wenn er jetzt auch käme, wir haben nicht Proviant genug bis Sparta; beim Segeln können wir nicht fischen.«
»Ich will euch euer ungehöriges Benehmen nachsehen, weil ihr Hunger habt,« sagte Menelaos, »aber, wie es gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten der Fall ist, euer Rat kommt zu spät und ist daher überflüssig. Ich hatte bereits beschlossen, nach Ägypten zurückzukehren, um Vorräte einzunehmen, und wir werden sofort aufbrechen. Macht das Schiff fertig! … Habt ihr mich verstanden? Ihr sollt das Schiff flottmachen … Ach so, ihr wolltet noch etwas sagen?«
»Ja, Menelaos«, erwiderte der Steuermann. »Wenn wir Ägypten erreichen, wollen wir den Göttern die gebührenden Opfer bringen, damit wir wohlbehalten heimkehren. Wir hätten gern in Troja geopfert wie unsre Gefährten, aber du hießest uns abfahren. Nun wir deine Strafe mit dir erlitten haben, wollen wir dir in dieser Sache nicht länger gehorchen, sondern nur den Göttern. Sicher ist es keinem einzigen von uns beschieden, die Seinen wiederzusehen, wenn wir den Unsterblichen, die Himmel und Meer beherrschen, nicht Hekatomben zum Opfer bringen. Wir wären zweifellos schon längst umgekommen, hätten wir nicht unsre Herrin dort, dein Weib, bei uns gehabt, um den Zorn der Götter zu beschwichtigen – sie, die in unsern Augen selbst eine Unsterbliche ist und doch ehrerbietig und gewissenhaft gegen die, in deren Händen Tod und Leben ist.«
»Es ist vielleicht ratsam,« sagte Menelaos, »jetzt weitere Opfer zu bringen. Ich hatte auch schon daran gedacht, allein hier ist nichts, was wertvoll genug zum Opfer wäre. In Ägypten können wir uns, wie ihr vorgeschlagen habt, reiche Opfergaben verschaffen, und ich hatte bereits beschlossen, dies bei der ersten Gelegenheit zu tun. Ihr könnt jetzt das Schiff flottmachen – oder habt ihr noch etwas zu sagen?«
Sie eilten zu ihren Gefährten, und Menelaos wandte sich zu Helena: »Ich hoffe, du läßt uns nicht warten. Diese Unterredung hat die Ausführung meiner Pläne etwas verzögert.«
Thonis versah sie mit Proviant für das Schiff, und mit Tieren und Kannen mit dunklem Wein zum Opfer. Vor ihrer aller Augen fuhr Menelaos mit dem unbarmherzigen Messer, das er in seiner Erregung schwenkte, über die Kehlen der Opfer hin, die röchelnd zu Boden fielen. Dann goß er den Wein aus den Kannen in die Becher, schüttete ihn aus und betete in eindringlichem Tone zu den Göttern, die ewig leben:
»O glorreicher, erhabener Zeus, o weise und furchtbare Athene, o ihr Unsterblichen alle! Laßt euer Tun offenbar werden, auf daß die Menschen eure Gerechtigkeit schauen! Bestraft die Schuldigen und belohnt die Guten! Wer von uns gegen euch gesündigt hat, laßt sie auf den Felsen des Meeres verhungern oder in den Fluten ertrinken! Aber uns, die mit reinem Herzen euren Willen erfüllt haben, uns führt bald in unsre Heimat zurück!«
Und der Wind trieb sie alle wohlbehalten nach Sparta.
Menelaos,« sagte der alte Torhüter Eteoneus, »ich warte nun schon die ganze Zeit, seit du heimgekehrt bist, daß du ein paar Minuten für mich übrig hast, du bist so lange fort gewesen und willst doch gewiß, daß ich dir über alles Bericht erstatte.«
»Es ist doch nichts passiert?«
»Orest war hier.«
»Oh – mein Brudersohn«, sagte Menelaos.
»Ja,« sagte Eteoneus, »und deines Weibes Schwestersohn dazu.«
»Was willst du damit sagen?« fragte Menelaos.
»Ich will damit sagen,« erwiderte Eteoneus, »daß ich nicht wußte, ob ich ihn einlassen sollte.«
»Mir scheint, du hast die Absicht, damit etwas Ungebührliches über die Verwandten meiner Frau anzudeuten«, sagte Menelaos.
»Offen gestanden,« erwiderte Eteoneus, »ich ahnte bis zu deiner Rückkehr nicht, daß du deine Frau noch zu deinen Verwandten zähltest.«
»Du vergißt dich«, sagte Menelaos.
»Nein, Menelaos,« sagte Eteoneus, »es ist eine peinliche Sache, aber wir müssen ihr ins Gesicht sehen. Ich jedenfalls, denn ich bin zum Teil verantwortlich. Als Paris kam, ließ ich ihn ein. Was darauf geschah, wissen wir alle – wenigstens wissen wir die Tatsachen, wenn mancher von uns auch nicht weiß, wie er sie sich erklären soll. Du nahmst Paris natürlich gastlich auf, ohne nach dem Zweck seines Kommens zu fragen, und er raubte dein Weib und was sich sonst noch an beweglicher Habe in deinem Hause fand. Natürlich zogst du auf Rache aus, und ich kann wohl sagen, daß niemand von uns zu Hause erwartete, Helena wiederzusehen, jedenfalls nicht als dein rechtmäßiges Weib. Wenn du uns die neue Situation erklären – uns wenigstens einen Wink geben möchtest, wie wir uns ihr gegenüber zu verhalten haben, so würdest du deinen Dienern über ihre gegenwärtige Verlegenheit hinweghelfen.«
»Du wolltest etwas von Orest sagen«, sagte Menelaos.
»Das will ich auch«, sagte Eteoneus. »Als du abreistest, gebotst du mir, mit besonderer Umsicht über das Haus zu wachen, da die Stärksten deiner Leute mit dir gingen, während deine Tochter Hermione hierblieb und sich in den Gewölben immerhin noch ein beträchtlicher Schatz befand. Dann erschien Orest. Vielleicht hätte ich ihn wie jeden andern Fremden einlassen und mich erst später nach seinem Begehren erkundigen sollen; allein in deiner Abwesenheit konnte ich dies nicht wagen. Ich wehrte ihm den Eintritt, bis er mir sagen würde, wer er sei. Er wird sich vielleicht darüber bei dir beklagen.«
»Mir ist nichts so sehr zuwider wie Familienzwistigkeiten,« sagte Menelaos. »Ich hoffe, es kam nicht zwischen euch zum Wortwechsel?«
»Leider doch«, sagte Eteoneus. »Er fragte, was denn über dies Haus gekommen, daß es so ganz von aller Tugend, selbst der elementarsten, verlassen sei. Er äußerte, soweit ich mich erinnere, unser Betragen stinke zum Himmel, so daß den Göttern übel davon werden müsse. Ich will die Einzelheiten nicht wiederholen; sie liefen etwa darauf hinaus, daß wir von einem verhältnismäßig verzeihlichen Fehltritt, wie der Untreue deines Weibes, nun schon bis zur Nichtachtung der Gastfreundschaft heruntergekommen wären. Ich versicherte ihm, daß bei uns das Gastrecht ebenso heilig gehalten würde wie bei andern zivilisierten Völkern, allein daß wir uns neuerdings auch für die Rechte des Wirtes interessierten und, seit diese einmal in unserm Hause mißachtet worden seien, hübschen und unbekannten jungen Männern nicht recht trauten. Man dürfe uns unsrer Ansicht nach eine ungewöhnliche Vorsicht in diesen unruhigen Zeiten nicht verargen.«
»Ich finde nichts Beleidigendes in diesen Worten«, sagte Menelaos.
»Das ist nun allerdings nicht alles, was ich sagte«, erwiderte der Torhüter. »Als er die Bemerkung über deine Frau machte, fühlte ich mich als dein getreuer Untertan gedrungen, etwas zu sagen. Ich fragte ihn, wie es seiner Mutter ginge.«
»Das geschieht auch bisweilen unter höflichen Leuten«, sagte Menelaos.
»Ich fragte ihn nämlich,« sagte der Torhüter, »ob es nicht rücksichtsvoller sei, das Haus des Gatten zu verlassen, bevor man ihn verrät, als ihm an seinem eigenen Herde untreu zu werden, während er abwesend ist. Orest verstand den Hieb – darum wurde er zornig.«
»Wenn Orest dich verstand,« sagte Menelaos, »so konnte er mehr als ich.«
»Du hast vermutlich noch nichts davon gehört«, sagte Eteoneus, »aber ganz Sparta weiß um den Skandal. Klytemnestra, deine Schwägerin – oder sozusagen deine Doppelschwägerin, als Schwester deiner Frau und Frau deines Bruders – hat schon seit Agamemnons Aufbruch nach Troja mit Ägisth zusammen gelebt. Es lohnt sich kaum für ihn, zurückzukommen.«
»Da haben wir es!« rief Menelaos. »Ich konnte sie nie leiden. Es empört mich, aber es überrascht mich nicht, wenigstens nicht von ihrer Seite. Ägisth wird seine Verwegenheit zu bereuen haben. Mein Bruder wird zurückkehren. Man wünscht vielleicht seine Heimkehr nicht, aber um so sicherer wird er heimkehren. Er hat in letzter Zeit ziemlich viel Übung darin gehabt, mit Frauenräubern fertigzuwerden.«
»Was Sparta wissen möchte,« sagte der Torhüter, »ist, ob er auch genug Übung gehabt hat, mit Klytemnestra fertigzuwerden. Sie ist ein furchtbares Weib, selbst in ihren harmlosen Augenblicken, und sie macht aus ihrer gegenwärtigen Lebensführung kein Geheimnis. Sie glaubt sich durch etwas, was Agamemnon tat, gerechtfertigt. Natürlich zweifelt sie ebensowenig wie du daran, daß er zurückkehrt. Man glaubt, daß sie einen Willkommen für ihn bereit hat.«
»Wie entsetzlich!« stöhnte Menelaos. »Aber vielleicht ist doch alles leeres Gerücht. Frauen, die so schön sind wie diese beiden Schwestern, müssen dem böswilligen Klatsch des Neides für ihre Vorzüge bezahlen. Ich wundere mich wirklich nicht, Eteoneus, daß Orest erzürnt war.«
»Darüber wundere ich mich auch nicht,« sagte Eteoneus, »aber ob er nun erzürnt war oder nicht, er leugnete jedenfalls nichts. Wie konnte er auch? Solche Gerüchte über schöne Frauen sind oft boshaft und neidisch, aber sie sind selten übertrieben.«
»Das brauchen wir hier nicht zu erörtern«, sagte Menelaos. »So kehrte Orest also wieder heim? Ich muß sagen, Eteoneus, ich hätte die Geschichte gern von seiner Seite gehört.«
»Das kannst du leicht,« sagte der Torhüter, »denn er ist von Zeit zu Zeit immer wieder hier gewesen, und wenn er seine Gewohnheit nicht ändert, muß er in ein paar Tagen wiederkommen.«
»Ich denke, du hast ihn nicht eingelassen?«
»Das tat ich auch nicht, aber danach hat er nicht mehr um Erlaubnis gefragt – er kam einfach herein. Ich muß noch hinzufügen, daß er immer Hermione besuchte, und sie machte es immer irgendwie möglich, wie, weiß ich nicht. Sie kann mich ebensowenig leiden wie er.«
»Ich kann nichts Schlechtes von meiner Tochter glauben,« sagte Menelaos, »und es ist sehr unrecht von dir, dergleichen anzudeuten. Ich bin geneigt, deine Urteilsfähigkeit in bezug auf die andern Dinge auch in Zweifel zu ziehen. Ich bin zwar lange fortgewesen, und sie ist inzwischen herangewachsen, allein ihr Charakter scheint mir im wesentlichen unverändert. Ich habe sie stets für die Ehrbarkeit selbst gehalten.«
»Das tue auch ich, ganz gewiß!« sagte Eteoneus, »und mit den Gesetzen des Herkommens nimmt auch Orest es sehr genau. Das hat man übrigens häufig, nach meiner Erfahrung, – daß die Kinder sich dann äußerst korrekt halten, zumal, wenn sie nicht besonders schön sind.«
»Man sagt, daß meine Tochter mir gleicht,« sagte Menelaos, »und ich glaube, daß wir einander gut verstehen. Aber wenn du zugibst, daß ihre Zusammenkünfte durchaus schicklich waren, wozu in aller Welt machst du denn solch Gerede? Warum ließest du ihn nicht gleich ein? Sie waren für einander bestimmt, bevor unser Familienleben gestört wurde; nun wir heimgekehrt sind, werden sie wahrscheinlich bald heiraten, wenn sie den Wunsch haben.«
»Menelaos,« sagte Eteoneus, »es ist schwer, diese Sache jemandem begreiflich zu machen, der nicht meinen Beruf ausgeübt hat. Ich bin Torhüter des Hauses, und das Gefühl der Verantwortung macht mich vorsichtig, wen ich einlasse. Als ich Paris das Tor öffnete, hatte ich eine dunkle Ahnung, daß die Liebe ins Haus kam, und ich fühlte instinktiv, daß der Eintritt einer großen Leidenschaft Störung in dein Heim bringen würde. Du selbst fühltest die Gefahr nicht. Nun bin ich sicher, daß Orest gewisse neue Ideen mitbringt. Wenn du eine Vorstellung hättest, was die Einführung neuer Ideen für dein Haus bedeutete, würdest du auf deiner Hut sein.«
»Eteoneus,« sagte Menelaos, »ich habe, seit ich von Hause fort war, allerlei Beredsamkeit gehört, und obwohl ich in solchen Dingen kein Kenner bin, so habe ich doch allmählich gelernt, Andeutungen aus dem, was gesagt wird, herauszuhören. Vieles von dem, was du sagst, klingt mir nach versteckter Beleidigung.«
»Ich bin vielleicht zu weit gegangen,« sagte der Torhüter, »doch ich wollte dich auf ein Problem aufmerksam machen, das nur du lösen kannst. Wir sind dir alle treu ergeben, aber wir wissen nicht, woran wir sind. Es pflegte sonst so zu sein, daß eine Frau, die ihren Gatten und ihre Kinder verließ, in Ungnade fiel und womöglich bestraft wurde. Das war auch deine Auffassung, als du nach Troja fuhrst. Wie sind hier zu Hause die ganze Zeit darauf bedacht gewesen, wie wir dich in deinem einsamen Kummer trösten könnten, wenn du je in deine –«
»Hast du das nicht schon einmal gesagt?« fragte Menelaos. »Du wiederholst dich und schweifst ab. Ich dachte, du wolltest mir Bericht erstatten über das, was sich während meiner Abwesenheit im Hause ereignet hat.«
»Dabei bin ich ja eben, Menelaos,« sagte der alte Torhüter, »und wenn ich dabei Umschweife mache, so tue ich dies nur aus Taktgefühl. Ich versuche, dir auf respektvolle und harmlose Weise begreiflich zu machen, daß sich in deinem Hause gefährliche neue Ideen verbreiten, und ich möchte ausfindig machen, ob du davon weißt und sie verurteilst, oder ob du sie teilst. Ich habe große Angst, daß du sie teilst, und wenn dies der Fall ist, müßte ich dich, so alt ich bin, verlassen, denn in meinem Alter kann man nicht mehr umlernen. Weshalb ich auf den Verdacht gekommen bin, daß du solche neuen Ideen aufgelesen hast, ist – nun, als das Schiff in Sicht kam, sahen wir, daß es mit deiner Einsamkeit nichts sein würde; Helena kam mit dir zurück. Das war eine neue Idee, Menelaos. Allein wir gewöhnten uns an den Gedanken und bereiteten uns auf eine Haltung vor, wie sie uns einer reuevollen Gefangenen gegenüber, die entehrt heimkehrt, angemessen schien. Allein sie scheint sich keiner Entehrung bewußt zu sein und ist nicht reuig. Sie benimmt sich nicht – und auch du nicht – als ob sie eine …«
»Höre einmal, Eteoneus,« sagte Menelaos, »ich habe mir nun genug von dir bieten lassen. Erst behauptest du, von Hausangelegenheiten mit mir sprechen zu wollen, dann willst du mir nachteilige Dinge von Orest erzählen, die schließlich mehr gegen dich als gegen ihn sprechen, und die ganze Zeit bist du nur darauf bedacht, den Ruf meiner Frau anzutasten. Jetzt bin ich wieder da und werde mein Haus selbst verwalten. Du gehst dahin, wo du hin gehörst, und bewachst das Tor … halt, wart' einen Augenblick! Wenn es dir wieder einfallen sollte, über Helena zu sprechen, so hüte dich, daß es mir nicht zu Ohren kommt! Du wunderst dich, daß ich sie nicht tötete. Das geschah, weil sie zu schön war. Du aber gleichst ihr nicht im mindesten. Darum nimm du dich in acht!«
»Die Götter seien gelobt, Menelaos«, sagte der Torhüter. »Nun bist du doch wieder der Alte! Darf ich nun fortfahren mit dem, was ich sagen wollte?«
»Erzähl' von Orest zu Ende und dann mach', daß du fortkommst!«
»Ich muß etwas zurückgreifen, um den Faden wieder aufzunehmen«, sagte Eteoneus. »Wo war ich doch? Ach ja. Wir fragten natürlich die Leute auf dem Schiff aus, und sie antworteten uns so, als hätten wir den Verstand verloren; selbst sie, die das ganze Elend des Krieges durchgemacht haben, sind voll Bewunderung für Helena. Wir versuchen, von dir Aufschluß zu bekommen; aber obgleich man dir, wenn ich so sagen darf, zuweilen eine gewisse Verlegenheit anmerkt, und du nun, da ich wage, die Frage anzuschneiden, augenscheinlich gereizt bist, so scheinst du doch Helena immer noch als unerschütterliche Autorität und den guten Geist deines Hauses anzusehen. Und damit komme ich auf Orest. Ich glaubte immer, Hermione huldige den alten Anschauungen. Es war rührend, wie sie Geschichten über ihre abwesende Mutter in Umlauf setzte, nach denen, wenn man sich hätte täuschen lassen, Helena ganz unschuldig gewesen wäre, mehr ein Opfer als eine … nun, wir wollen das auf sich beruhen lassen. Ich bewunderte die Treue der Tochter, wenn sie auch eine phantastische Form annahm; ich war natürlich sicher, daß sie selbst an ihre Räubergeschichten nicht glaubte. Aber jetzt hat Orest ihr Ideen in den Kopf gesetzt, die dich früher beunruhigt hätten. Ich sprach eines Tages mit ihr über ihn – erzählte ihr, was zwischen Klytemnestra und Ägisth vorging, und warnte sie, sich mit dieser Linie der Familie einzulassen. Willst du es glauben, sie nahm tatsächlich Klytemnestras Partei! Ich konnte mir wohl denken, daß sie von Orest beeinflußt war. Wenn ihre Tante auch nicht recht handelte, sagte sie, so hätte Agamemnon ebenfalls unrecht gehandelt; er hätte ihr geboten, ihm die jüngste Tochter zu schicken, da er eine Heirat mit Achill in die Wege geleitet hätte, und als die Mutter hocherfreut ihre Tochter bereit gemacht und wohlbehalten nach Aulis hatte schaffen lassen, hätte er das Kind getötet, um es den Winden zu opfern, damit die Flotte absegeln konnte. Welche Treue, fragte Hermione, schuldete Klytemnestra danach noch dem Agamemnon? Und ich konnte keine rechte Antwort darauf finden. Ich sagte zwar, Klytemnestras Betragen sei nicht, wie das Opfer, durch Religion geheiligt. Doch sie lachte mich aus. Siehst du, Menelaos! da liegt die Gefahr. Wenn du dich nicht verändert hättest, würdest du mir für meine Warnung danken.«
»Nun du endlich zur Sache gekommen bist,« sagte Menelaos, »will ich dir auch gerade heraus sagen, daß ich mich in der Tat verändert habe. Ich fürchte mich nicht vor neuen Ideen, wie es früher der Fall war und wie es bei dir noch heute der Fall ist. Wir sind lange fort gewesen, wir haben viele Länder und fremde Völker gesehen, und unser Horizont hat sich infolgedessen geweitet. Bevor ich fortreiste, hatte ich z. B. kein Interesse für Ägypten, aber es ist ein bemerkenswertes Land, und seine Bewohner wissen ein gut Teil mehr als wir. Und du mußt bedenken, wir haben den Krieg durchgemacht. Nach diesem hat alles ein anderes Gesicht. Wenn man sich lange Zeit in einer ganz neuen Gefühlsrichtung bewegt hat, so merkt man, daß die Ideen andere geworden sind, und nicht notwendig schlechter. Draußen im Krieg bekommt man mehr neue Ideen, als wenn man zu Hause bleibt. Ich will nicht sagen, daß ich diese Ideen Orests teile, aber sie erschrecken mich nicht. Wenn man mir früher gesagt hätte, daß Achill Hektors Leichnam ausliefern würde, damit die Seinen ihn bestatteten, und daß er einen zwölftägigen Waffenstillstand anordnen würde, damit die Bestattungsfeierlichkeiten ungestört vor sich gehen könnten, so hätte ich es nicht geglaubt. Aber das geschah tatsächlich. Als Helena mit Paris davonging, verfolgte ich sie in der Absicht, beide zu töten. Nun ist sie wieder hier mit mir zu Hause. Du kannst dich nicht damit abfinden. Es ist die eine neue Idee, die dir seit zwanzig Jahren entgegengetreten ist – diese erstaunliche Tatsache, daß meine Frau zu Hause ist, und nicht auf dem Friedhof. Ich selbst bin etwas erstaunt darüber, aber nicht so sehr wie du. Ich habe keine Erklärung dafür, – ich kann nur mit dir sagen, unsre Ideen ändern sich.«
»Der Vergleich zwischen Hektors Leichnam und deiner Frau leuchtet mir nicht ein,« sagte der Torhüter, »aber mir scheint, Menelaos, du bist der Ansicht, der Krieg habe allerlei Gutes im Gefolge – nicht für die Trojaner, selbstverständlich, auch nicht für Hektor, noch für Patroklos, noch für Achill, sondern für dich. Im Grunde hast du, wie mir scheint, die Vorstellung, daß deine Frau dir einen guten Dienst erwies, als sie mit einem andern durchging.«
»Und mir scheint, Eteoneus, daß deine Gegenwart am Tor jetzt dringender nötig ist als hier und daß du dich besser dahin verfügst. Hast du vielleicht meiner Frau auch eine deiner Erörterungen zugute kommen lassen, bevor sie nach Troja entfloh? Ich habe mich schon oft gefragt, was sie wohl aus dem Hause trieb; Paris allein war nicht Grund genug.«
Das ist nett von dir, Helena, daß du meinen Besuch so schnell erwiderst. Ich war ganz trostlos, als ich dich nicht zu Hause traf. Sobald ich von deiner unerwarteten Rückkehr hörte, ging ich unverzüglich zu dir hinüber. Das schien mir von einer Jugendfreundin ganz selbstverständlich. Ich möchte so vieles von dir hören. Auf der andern Seite des Gartens ist es schattig – laß uns dort hinübergehen.«
»Ihr habt den Garten anders angelegt, ich hätte ihn nicht wiedererkannt«, sagte Helena. »Er war schon vorher sehr hübsch, aber er hat noch sehr gewonnen, seit ich ihn zuletzt sah.«
»Die Zeit verändert manches«, sagte Charitas. »Helena, dein Mädchen kann mit dem Sonnenschirm draußen warten – du brauchst ihn hier nicht.«
»Sie kann gern hier bleiben«, sagte Helena. »Adraste und ich verstehen einander gut. Komm einmal her, Adraste, daß meine alte Freundin dich sieht – eine Jugendfreundin.«
»O Helena, wie schön sie ist! Ich bewundere dich, daß du ein so schönes Mädchen bei dir im Hause duldest.«
»Ich habe nichts gegen Schönheit,« sagte Helena, »warum sollte ich Adraste nicht bei mir haben?«
»Nun, vielleicht ist dein Mann nicht so leicht entflammt, und du hast keinen Sohn zu hüten. Mein Sohn Damastor – erinnerst du dich an ihn? Ach nein, natürlich nicht, er sollte ja erst geboren werden, als du nach Ägypten fuhrst. Damastor ist schön wie Apoll und liebt alles, was schön ist. Es ist schrecklich! Ich habe versucht, ihn gut zu erziehen. Er ist künstlerisch veranlagt, fürchte ich – ein entfernter Vetter meines Vaters war es auch. Ich habe versucht, seine Gedanken auf andere Dinge zu lenken, und er hat auch nicht viel Gelegenheit hier in Sparta. Da ist natürlich Hermione, und ich würde so froh sein, wenn er sich in sie verliebte. Ich habe ihn für Gartenbau interessiert – dies hier ist zum größten Teil sein Werk. Aber ich glaube nicht, daß das ihn lange fesseln wird.«
»Du fürchtest,« sagte Helena, »daß er, sobald er ein schönes Mädchen sieht, sich in sie verliebt?«
»Nun, du weißt, was ich meine«, sagte Charitas.
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Helena.
»Ich möchte, daß er seiner Erziehung Ehre macht und sich zur richtigen Zeit in das richtige Mädchen verliebt«, sagte Charitas. »Wir beide wissen, daß Schönheit den Unerfahrenen oft zu Liebschaften verlockt.«
»Ich glaube, sie verlockt oft zur Liebe,« sagte Helena, »und einer großen Schönheit gegenüber sind wohl alle Männer unerfahren. Es gibt vermutlich nicht genug von der Art, um sich daran zu gewöhnen. Du möchtest, daß dein Sohn ehrbar wäre – sich in eine unansehnliche Frau verliebte? Oder dem Herkommen getreu eine heiratete, die er überhaupt nicht liebt?«
»Wie zynisch du dadurch geworden bist – ich meine, bevor du Sparta verließest, redetest du nicht so.«
»Bevor ich Sparta verließ,« sagte Helena, »redeten wir überhaupt nicht über diesen Punkt, da dein Sohn noch nicht geboren war, aber ich glaube, ich hätte damals genau so geredet. Ich hoffe es wenigstens. Es ist nicht zynisch, es ist nur ehrlich. Du weißt so gut wie ich, daß es für ganz in der Ordnung gilt, wenn man jemand heiratet, den man achtet, aber nicht liebt. Die Gesellschaft wird keinen darum in den Bann tun. Und du weißt, es kommt fast nur noch in Romanen vor, daß jemand sein Herz an seinen Gatten verliert, obgleich er oder sie nicht schön ist. Das ist mehr als ehrenwert, daß ist bewundernswert. Etwas Ähnliches, scheint mir, erträumst du für deinen Sohn.«
»Das entspricht nicht ganz meinem Standpunkt«, sagte Charitas.
»Meinem auch nicht«, sagte Helena. »Übrigens sind diese beiden Formeln: Liebe ohne Schönheit und Heirat ohne Liebe, wenn auch althergebracht und allgemein anerkannt, doch sehr gefährlich. So selten die Schönheit auch ist, so kann man doch nicht immer hindern, daß sie einem in den Weg kommt, und wenn man sie sieht, muß man sie lieben.«
»Ich weiß nicht, daß man das müßte,« sagte Charitas; »man hat doch bisweilen ältere Verpflichtungen.«
»Wenn man sich noch nie der Schönheit hingegeben hat,« sagte Helena, »so gibt es keine älteren Verpflichtungen.«
»So würdest du also nichts dagegen haben, wenn ein Junge sich in die erste beste Schönheit, die er sieht, verliebt?«
»Ich würde etwas dagegen haben, wenn er sich in irgend jemand anders verliebt«, sagte Helena; »und wenn diese Schönheit ihm in den Weg kommt, so ist es seine Pflicht, sie zu lieben. Das wird er auch wahrscheinlich tun, ob er nun Verpflichtungen gegen eine ehrbare Unansehnlichkeit hat oder nicht; und ich möchte vor allem, daß er offen und aufrichtig bleibt. So wie du die Sache anfängst, Charitas, wirst du deinen Jungen dahin bringen, daß er sich schämt, die Schönheit zu lieben, und er wird sie auf hinterlistige und feige Weise suchen. In deinem Bestreben, ihn ehrbar zu halten, hinderst du ihn vielleicht daran, sittlich zu sein.«
»Sprichst du in dieser Art zu Hermione?« fragte Charitas.
»Ich habe noch wenig Gelegenheit gehabt, über irgend etwas mit ihr zu sprechen,« sagte Helena, »aber ich würde ihr dasselbe sagen. Ich hoffe, sie wird den herrlichsten Mann lieben, den sie kennenlernt, und ich würde mich freuen, wenn sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebte; aber jedenfalls wird sie den lieben, den das Schicksal ihr bestimmt hat, und es hat keinen Sinn, sich da einzumischen. Man nimmt nur Rat an, solange das Herz noch frei ist.«
»Möchtest du nicht Adraste unten im Garten warten lassen?« sagte Charitas. »Ich möchte dir leise etwas sagen.«
»Adraste wird unten im Garten warten«, sagte Helena. »Aber nun sie fort ist, muß ich dir sagen, Charitas, daß ich nicht einsehe, weshalb du es leise sagen mußt. Wenn man nicht offen davon sprechen kann, so laß uns überhaupt nicht darüber sprechen.«
»Helena, es ist alles recht schön und gut, wenn du offen bist, aber vielleicht schadest du andern damit. Du solltest solche Sachen nicht in Gegenwart des Mädchens sagen – und mit Bezug auf meinen Sohn; du bringst sie auf allerlei Gedanken.«
»Liebe Charitas, auf was für Gedanken brauchten wir die Jugend, die auf die Stimme der Natur hört, erst zu bringen? Ich erwähnte deinen Sohn nur, weil du selbst es tatest, und ich wünschte ihm ein glückliches Los. Du stelltest ihm, wie mir scheint, ein schlechtes Zeugnis aus; du äußertest Mißtrauen gegen ihn, und in Gegenwart des Mädchens. Deine Schilderung war ihrem Herzen ganz ungefährlich. Du solltest ihn bald einmal zu uns hinüberschicken, damit er beweist, daß er doch mehr Manns ist als du aus ihm zu machen versucht hast. Ich bin neugierig auf den Jungen.«
»Er ist in letzter Zeit mehrmals dort gewesen, um Hermione zu besuchen«, sagte Charitas. »Ich konnte es in Gegenwart des Mädchens nicht sagen, aber ich würde mich freuen, wenn er Absichten auf Hermione hätte. Niemand könnte auch nur das geringste gegen sie sagen.«
»Das würde unter Umständen doch wohl der oder jener fertigbringen,« sagte Helena, »es sei denn, daß die menschliche Natur sich selber untreu würde. Aber ich gebe zu, daß Hermione es nicht verdient. Interessiert sie sich für Damastor? Ihr Vater wünschte immer, daß sie ihren Vetter Orest heiratet.«
»Sie hat nie von Orest zu mir gesprochen,« sagte Charitas, »allerdings auch von meinem Sohn nicht. Aber das ist ja natürlich, seiner Mutter gegenüber. Sie ist neuerdings häufig hier gewesen. Und da sprach sie eigentlich in der Hauptsache von …«
»Nur weiter,« sagte Helena, »wovon?«
»Nun, von dir. Sie erklärte alles, und ich muß sagen, sie nahm mir eine Last vom Herzen.«
»Du erwartest offenbar, daß ich dich verstehe,« sagte Helena, »aber deine Worte sind mir absolut schleierhaft. Was erklärte sie? Was für eine Last hattest du auf dem Herzen?«
»O Helena, es war wirklich nicht meine Absicht, davon zu sprechen – jetzt gleich zu Anfang. Aber nun kann ich ebensogut fortfahren. Sie erklärte die Sache mit dir und Paris, und ich war so dankbar zu erfahren, daß du der unschuldige Teil warst.«
»Unschuldig woran? Handelt es sich um ein Verbrechen? Das ist ja ein ergötzlicher Gedanke! Vielleicht erklärt Hermione ihrer Mutter die Sache, wenn ich nach Hause komme.«
»Nun, meinetwegen nicht gerade ein Verbrechen,« sagte Charitas, »aber ich dachte – wir alle dachten –, du wärst mit Paris nach Troja entflohen – er wäre dein Liebhaber gewesen, und du – du hättest ihn geliebt. Ich muß gestehen, daß ich es geglaubt habe, Helena –, dein Mann befand sich in demselben begreiflichen Irrtum. Und da Paris ein Prinz war, hielten wir ihn ohne weiteres für einen Gentleman. Sobald Hermione seinen niedrigen Charakter schilderte und mir von der wunderbaren Rettung erzählte, die der Himmel dir beschied, wußte ich, daß du von Anfang bis zu Ende ein widerstrebendes Opfer gewesen bist. Wir sind alle so froh, daß auch Menelaos die Sache eingesehen und dir verziehen hat.«
»Menelaos!« sagte Helena. »Nun also, um auf Paris zurückzukommen, weshalb dachte Hermione, er hätte einen niedrigen Charakter?«
»Er stahl die Sachen«, sagte Charitas.
»Was?« rief Helena.
»Ich hörte es von Hermione,« sagte Charitas, »und er zwang dich, mit ihm zu gehen. Hermione drückte es sehr zart aus, wie es einem jungen Mädchen ziemt, aber ich verstand, daß du ihm die ganze Zeit, bis ihr nach Ägypten kamt, Widerstand leistetest, und dort wurdest du gerettet. Es muß wirklich ein furchtbar aufregendes Abenteuer gewesen sein, Helena.«
»Charitas,« sagte Helena, »diese Fassung meiner Geschichte interessiert mich aufs lebhafteste. Wann erzählte meine Tochter dir dies alles?«
»Das meiste, bevor du zurückkehrtest, einiges später. Neulich kam sie herein, um mir zu sagen, daß sie seit deiner Rückkehr noch Genaueres über deinen Aufenthalt in Ägypten hätte feststellen können.«
»Wieso über Ägypten?« fragte Helena. »Du erwähntest das Land heute schon einmal, und ich verstand die Beziehung nicht.«
»Oh, Hermione sagte mir die Namen des Mannes und seiner Frau, bei denen du gewohnt hast – Thon – Thonis? Hieß er nicht so? und – ach ja, Polydamna.«
»Ich wohnte also in Ägypten bei Thonis und Polydamna?« fragte Helena.
»Tatest du das nicht?« fragte Charitas. »Hermione behauptet es.«
»Erzähle mir lieber erst alles, was sie behauptet,« erwiderte Helena, »dann will ich nachher das, was nicht stimmt, richtigstellen.«
»Es scheint mir so unsinnig, wenn ich dir erzähle, was geschah, Helena – ich wollte lieber, du erzähltest es mir. Also du weißt, wir glaubten, du wärest einfach mit Paris durchgegangen, bis Hermione uns erklärte, daß er dich mit Gewalt geraubt und Menelaos ein paar wertvolle Sachen entwendet und sich überhaupt als der Schurke gezeigt hätte, der er im Grunde war. Dann trieb der Wind euch nach Ägypten statt nach Troja – sicher war dies ein Werk der Götter, die dich beschützten – und dort flehtest du um Schutz, und Thonis würde Paris getötet haben, wenn er nicht gewissermaßen sein Gast gewesen wäre, der auf eine Freistatt Anspruch hatte. Er zwang ihn jedoch, allein nach Troja weiterzufahren, während du und die geraubten Sachen bei Thonis und Polydamna blieben, bis dein Mann dich holte und nach Hause brachte. Das stimmt doch so, nicht wahr?«
»Hat Hermione die Vorstellung,« fragte Helena, »daß es überhaupt keinen trojanischen Krieg gegeben hat?«
»O nein, bewahre –, das heißt – ja,« sagte Charitas, »der Krieg war ein beklagenswertes, aber begreifliches Versehen, sagt sie. Dein Mann und seine Freunde fuhren nach Troja und forderten dich zurück, und die Trojaner sagten, du wärest nicht da. Natürlich glaubten unsere Männer ihnen nicht. Die Trojaner sagten, du wartetest in Ägypten auf Menelaos, daß er dich abholte. Das klang sehr nach einem schlechten Witz, besonders, da sie nicht leugneten, daß Paris zu Hause angekommen sei. So blieb nichts anderes übrig als zu kämpfen. Wenn du dagewesen wärst, so hätten die Trojaner, wie Hermione sagt, dich doch mit Freuden ausgeliefert.«
»So, sagt sie das?« bemerkte Helena.
»Ja – um die Stadt zu retten; das ist ohne weiteres klar. Aber nun sie einmal angegriffen waren, mußten sie sich verteidigen; und als die Stadt fiel und die Wahrheit offenbar wurde, war es zu spät. Soviel Zeit verloren! Nun blieb Menelaos schließlich doch nichts anderes übrig, als nach Ägypten zu fahren und dich heimzuholen. Wie ich deinen Mann kenne, Helena, muß er sehr aufgebracht gewesen sein.«
»Das war er«, sagte Helena. »Die Reise von Ägypten war nichts weniger als angenehm. Was hat Hermione denn sonst noch gesagt?«
»Das ist, glaube ich, alles –«
»Charitas, hast du diese Geschichte irgendeiner deiner Freundinnen erzählt?«
»Einer jeden, soweit ich konnte, Helena; ich wußte, sie würden froh sein, deinen Ruf wiederhergestellt zu sehen, – wir halten alle so viel von dir.«
»Ich sehe, ich werde einstweilen genug damit zu tun haben, all diesen Unsinn richtigzustellen. Ich kann gleich bei dir anfangen, Charitas. Du hast Hermione nicht wirklich geglaubt?«
»Gewiß habe ich ihr geglaubt! Es war durchaus einleuchtend, und um deinetwillen wollte ich es glauben. Ich wäre eine schlechte Freundin gewesen, wenn ich nicht mein Bestes getan hätte.«
»Du hieltest es für wahrscheinlich,« sagte Helena, »daß Hermione alle Umstände meiner Entführung genau wissen sollte, wo sie damals doch noch ein kleines Kind war? Um meinetwillen wolltest du glauben, daß ich zwanzig Jahre in Ägypten wartete, weil ich ohne Menelaos' Begleitung nicht nach Hause kommen konnte? Nun, ich will deinen Irrtum korrigieren. Menelaos und ich wurden auf unsrer Heimfahrt nach Ägypten verschlagen. Ich habe nie bei Thonis und Polydamna gewohnt, obwohl wir mit ihnen zu tun hatten, denn es waren die Leute, die uns Speise und Schiffsvorräte verkauften. Paris und ich fuhren direkt nach Troja; ich genoß die Fahrt sehr, und sie schien mir nicht lang. Ich liebte ihn innig. Er hätte mich nie entführt, wenn ich es nicht gewollt hätte. Und er raubte nichts von den Sachen. Es ist in der Verwirrung einiges verschwunden, wie ich höre, aber das muß sich hier irgendwo in Sparta befinden; Paris nahm nichts mit nach Troja als mich.«
»O Helena, erzähle mir das doch nicht! ich hatte das Beste gehofft!« sagte Charitas. »Ich kann es nicht glauben, wenn ich dich ansehe. Du siehst so – nimm mir's nicht übel – so unschuldig aus! Und daß du selbst die glaubwürdige Geschichte bestreitest und dich darstellst als – als das, wofür wir dich zuerst hielten! Ich kann aus dir nicht klug werden. Und ich verstehe jetzt nicht, warum du mit Menelaos heimkamst.«
»Oder warum er mit mir heimkam. Das ist das Merkwürdige bei der Sache. Alle Verwandten und Freunde zerbrechen sich darüber den Kopf. Ich will nicht versuchen, sein Benehmen zu erklären. Aber er wollte wirklich, daß ich zurückkäme; er hatte anfangs die Absicht mich zu töten, änderte aber dann seinen Entschluß. Wenn du seine Beweggründe kennenlernen willst, mußt du ihn selbst fragen, wenn er einmal hier ist. Aber mein eigenes Benehmen kann ich dir gleich selbst erklären. Ich danke dir für das Wort, liebe Charitas –, ich bin unschuldig. Meine einzige Schuld ist die Liebe. Nach dem, was du heute nachmittag sagtest, hältst du die Liebe vielleicht für ein Verbrechen. Laß uns lieber sagen, sie ist ein großes Unglück – ein Unglück, das man doch nicht hätte missen mögen. Wir haben allen Grund, unser Unglück freimütig zu bekennen, und ebenso unsre Fehler und das Elend, das unsre Fehler und unser Unglück über andre bringen. Wenn ich dich nun diese armselige Geschichte über Ägypten glauben ließe, so würde ich die Schuld an dem ganzen Elend in Troja von mir schieben. Ich war da und war die Ursache von allem; wollte ich es leugnen, so würde ich damit mich selbst verleugnen – würde mein ganzes Dasein zur Lüge machen.«
»Um des Himmels willen, Helena,« sagte Charitas, »du machst mich verrückt mit deinen Argumentationen. Du willst, die Menschen sollen wissen, daß du das Elend in Troja anrichtetest, und zugleich sollen wir glauben, daß du so unschuldig bist, wie du aussiehst. Was für eine Vorstellung hast du von Unschuld?«
»Charitas, ich bin nicht leicht erzürnt,« sagte Helena, »allein jetzt möchte ich wissen, was für eine Vorstellung du von Ehrbarkeit hast. Hier sitzen wir am hellen Tage in deinem Garten; deine Dienstboten und vielleicht die Nachbarn können sehen, in welcher übel berüchtigten Gesellschaft du dich befindest. Soll ich jetzt gehen, oder dir erst den übrigen Teil der Geschichte erzählen?«
»Sei nicht empfindlich, Helena – erzähle die Geschichte zu Ende. Selbstverständlich möchte ich sie hören. Ich hoffe, du gibst mir Licht.«
»Das kann ich dir nicht geben«, sagte Helena; »unsre Erfahrungen sind zu verschiedener Art, und unsre Anschauungen werden es wahrscheinlich auch sein. Aber nun höre den Bericht von meiner Unschuld. Ich bin daran gewöhnt, daß die Männer sich in mich verlieben, aber ich hatte nie Verlangen danach, und ich habe nie in meinem Leben mit einem Mann geliebäugelt. Ich war einfach da, das war genug. Und ich selbst hatte nie den Wunsch zu lieben. Zu heiraten – ja; ich war froh, Menelaos zu heiraten, allein ich lebte auch in eurer klugen Vorstellung, daß die Ehe eine leichtere Sache sei als die Liebe. Gegen meinen Willen verliebte ich mich in Paris. Es widerfuhr mir einfach, ich fühle mich nicht dafür verantwortlich. Aber ich konnte aufrichtig und wahr sein – das wenigstens stand mir frei, was auch sonst mein Schicksal war. Da die Liebe mich gepackt hatte, lebte ich sie bis zu Ende durch. Charitas, Aufrichtigkeit war die eine Tugend, die ich mir aus der Tollheit rettete, und auch ein wenig Klugheit bewahrte ich mir – ich hatte Verstand genug, um einzusehen, daß die Sache ein schlimmes Ende nehmen würde. Ich verließ mein Kind; was würde aus ihrem Charakter werden, wenn sie allein aufwuchs, mit einem solchen Beispiel? Wenn wir in Troja ankämen, würden die Trojaner sicherlich Paris und mich zurückweisen; sonst war ihnen der Krieg gewiß. Aber es erwies sich, daß die Trojaner nichts dergleichen taten. Sie hießen mich willkommen. Als der Krieg eine schlimme Wendung für sie nahm, sagten sie mehr als einmal, meine Anwesenheit allein sei es ihnen wert. Charitas, eine Frau, die ein Unrecht begeht, von dem sie fühlt, daß sie nichts dagegen tun kann, die aber bereit ist, dafür zu leiden und die Strafe auf sich zu nehmen, als ob es einzig und allein ihre Schuld wäre –, eine solche Frau steht meiner Meinung nach sittlich hoch über dem Durchschnitt. Nach eurer Auffassung vielleicht – sicher nach meiner – hatten die Trojaner das Gefühl für sittliche Konsequenzen verloren. Hermiones Geschichte würde ihren Ruf retten, aber meiner Ehre wird sie weniger gerecht. Ich bin stolz auf meine Bereitwilligkeit, für das zu büßen, was andere durch mein Unglück litten. Ohne diese sittliche Klarheit könnte ich keine innere Ruhe haben. Und ich glaube, Menelaos zeigte, ebenso wie die Trojaner, eine gewisse sittliche Unklarheit. Vom Anfang der Belagerung an erwartete ich, daß unser Volk siegen und daß selbstverständlich Menelaos mich töten würde. Statt dessen führte er mich heim, wie du siehst. Selbst die Götter, könnte man sagen, waren pflichtvergessen, daß sie mich nicht vernichteten – aber vielleicht wollen sie mich noch peinlicher strafen durch meine vernachlässigte Tochter, bei der sich äußere Ehrbarkeit und innere Unaufrichtigkeit ausgebildet haben. Wäre ich hier gewesen, so hätte sie von mir gelernt, die Wahrheit zu lieben.«
»Nun, wie die Tatsachen liegen, Helena,« sagte Charitas, »kann ich Menelaos ebensowenig verstehen wie dich. Ich hätte geschworen, daß er ganz wahnsinnig vor Rachsucht gewesen wäre. Er war immer ein so hingebender Gatte.«
»Das war er auch«, sagte Helena; »er kam mit einem Messer oder Schwert oder so etwas. Ich beachtete es kaum; es war mir gleich. Ich erwartete es und machte keinen Versuch zu fliehen. Ich machte es ihm sogar leicht, indem ich meine Brust entblößte – so.«
»Ah, in dem Augenblick beschloß er, dich nicht zu töten? Der Ärmste! … Helena, du bist unglaublich!«
»Wieso unglaublich, Charitas? Offen und ehrlich finde ich«, sagte Helena. »Weit sittlicher als die Welt, in der ich versucht habe, ein tugendhaftes Leben zu führen. Wenn du meine Erfahrung hättest und gesehen hättest, welch einen seltsamen Lauf die Dinge bisweilen nehmen, so würdest du entweder sagen, daß unsre Vorstellungen von Gerechtigkeit keinen Grund in der Erfahrung haben, oder, daß unser Unglück das Werk von Mächten über uns ist, die uns für ihre eigenen Zwecke benutzen. Die Liebe zum Beispiel. Du solltest lieber die Hände zu ihr aufheben, statt sie zu schmähen. Sie ist zugleich schön und furchtbar. Sie ist nicht das, wofür du sie hältst, Charitas – nicht nur eben ein Wort für ein Gefühl, das wir haben.«
»Ich habe mich mit der Sache nicht so gründlich befaßt wie du«, sagte Charitas. »Du hast zweifellos manches Mal mit Paris darüber gesprochen. Du hast mir übrigens noch nichts von Paris erzählt.«
»Ich liebte ihn,« sagte Helena, »und er ist tot. Was sollte ich dir von ihm erzählen?«
»Du nimmst es nicht übel, wenn ich frage, nicht wahr?« sagte Charitas. »Ich weiß nicht recht, wie er zu deiner Philosophie paßte. Du liebtest ihn genug, um mit ihm zu fliehen, aber nun, da er tot ist, scheinst du es ziemlich ruhig zu nehmen. Es macht wirklich den Eindruck, als ob du hartherzig wärest, Helena; du müßtest doch irgendwie Trauer zeigen.«
»Wenn ich dir die Wahrheit sage, wirst du mich nicht verstehen«, sagte Helena; »aber in Wirklichkeit liebte ich nicht Paris, ich liebte eine Vorstellung, die er in mir erweckte. Zuerst glaubte ich, ihn zu lieben – nachher liebte ich das, wofür ich Paris hielt, und das werde ich immer lieben. Zuerst liebte ich ihn, dann tat er mir leid.«
»Das ist es ja, was ich gegen jede Romantik habe,« sagte Charitas, »hinterher kommt die Enttäuschung.«
»Oh, du hast davon gehört?« fragte Helena.
»Ja,« sagte Charitas, »und bei dir muß zu der Enttäuschung das Gefühl gekommen sein, ein ungewöhnlich schlimmes Versehen begangen zu haben. Deshalb kann ich bei deiner Unschuldsphilosophie nicht recht mitgehen.«
»Wenn jene Enttäuschung ein schlimmes Versehen war, Charitas, so sind die meisten Heiraten ein verhängnisvoller Irrtum. Versteh, bitte, recht, weswegen Paris mir leid tat: ich fühlte, daß auch er an einem Wahn gescheitert war, an etwas gescheitert, das nicht ich war, sondern etwas, wovon er träumte, wenn er mich sah, und das er nie finden würde – gescheitert wie ich gescheitert war. Doch das kommt auch in der Ehe vor, wenn man mit der Liebe anfängt. Mancher gute Gatte ist ein gescheiterter Mann. Und ist es mit den Frauen anders, Charitas? Wie ist es, wenn ich dich nun frage, wie dein eigenes Herz den Jahren standgehalten hat?«
»Ich glaube nicht, daß ich über etwas so Intimes sprechen könnte, Helena, nicht einmal zu dir. Ich habe übrigens auch nichts zu erzählen. Mein Mann und ich sind einander immer treu gewesen.«
»Das wäre aber vielleicht nicht der Fall,« sagte Helena, »wenn du ein hübsches Dienstmädchen im Hause hättest. Und was dich betrifft, Charitas, willst du sagen, daß du dich noch im Honigmond verliebter Täuschung befindest, oder fühlst du dich tugendhaft, weil du es immer fertiggebracht hast, dir aus andern Männern noch etwas weniger zu machen als aus deinem eigenen?«
»Sprich nicht so, Helena; es verletzt mich. Ich gebe zu, daß ich altmodisch bin. Ich bin ein Freund der guten alten Zeit.«
»Adraste auch«, sagte Helena. »Es scheint, sie hat da unten im Garten einen Freund getroffen. Er hat sich schon eine Viertelstunde lang mit ihr höchst vertraulich, um nicht zu sagen, liebevoll unterhalten.«
»Gerechte Götter!« rief Charitas, »das ist mein Sohn Damastor! Da haben wir's, Helena, da haben wir's!«
Hermione war Helenas Kind, aber Menelaos war ihr Vater. Sie hatte sein dunkles Haar, seine schwarzen Augen und seine königliche Haltung. Man sah ihr an, daß sie wußte, wer sie war. Helena war königlich von Natur, Hermione durch Vererbung. Sie war selbst nicht schön, aber sie rief die Vorstellung der Schönheit hervor, und sie hatte einen bewundernswürdigen Charakter. Sie war der Ansicht, daß man durch Klugheit und Energie die Welt in Ordnung bringen könnte. Sie war entschlossen, ihr Teil dazu zu tun. Nun stand sie vor Helena, groß und schlank, sicher und selbstbewußt, und fragte sich innerlich, warum ihre Mutter sie hatte rufen lassen.
»Hermione, ich höre, daß allerlei Skandalgeschichten hier in Sparta über mich in Umlauf sind. Vielleicht kannst du mir eine Erklärung dafür geben?«
»Was für Geschichten meinst du, Mutter?«
»Du hast also davon gehört. Ich muß, wenn möglich, ihren Ursprung wissen, um ihnen Einhalt zu tun. Derartige Geschichten sind immer verdrießlich und meistens sehr überflüssig.«
»Zuweilen sind sie unvermeidlich, Mutter.«
»Niemals«, sagte Helena. »Es gibt Menschen, die das meinen, aber ich bin nicht der Ansicht. Jedenfalls geht diese Frage uns kaum etwas an. Ich möchte nur diesen Geschichten auf den Grund kommen, in denen ich eine ziemlich zweifelhafte Rolle spiele. Wann wurdest du zuerst darauf aufmerksam?«
»Ich möchte sie lieber vergessen als davon sprechen, Mutter.«
»Wir wollen sie erst erledigen und dann vergessen«, sagte Helena. »Da mehrere von ihnen im Umlauf sind, sagst du mir vielleicht, welche dir zuerst zu Ohren kam, und wann?«
»Die eine Legende,« sagte Hermione, »erzählt, du habest deinen Gatten verlassen und seist mit Paris nach Troja entflohen. Davon hörte ich gleich, nachdem du fort warst.«
»Aber das ist kein Skandal,« sagte Helena, »das ist die Wahrheit.«
»Wenn das nicht Skandal ist, so weiß ich nicht, was es ist.«
»Das sehe ich«, sagte Helena. »Bei Skandal ist immer etwas Lüge, etwas Bosheit und Verleumdung. Skandal ist, meiner Ansicht nach, solch eine Geschichte, wie ich sie gestern nachmittag von Charitas hörte. Sie sagt, ich sei überhaupt nicht in Troja gewesen. Paris entführte mich gewaltsam und nahm noch einige wertvolle Sachen als Frachtgut mit. Der Wind verschlug uns nach Ägypten – du kennst die abgeschmackte Geschichte? Nun, das nenne ich Skandal. Was sollte ich in Ägypten die ganze Zeit getan haben? Und wäre ich mit Paris gegangen, wenn er ein Dieb gewesen wäre?«
»Die Sachen fehlten,« sagte Hermione, »und du mußt zugeben, Mutter, es war natürlich, daß man Paris die Schuld gab, da er – nun, da er – tat, was er tat.«
»Was tat er denn?« fragte Helena. »Du warst damals ein kleines Kind, ich möchte deinen Bericht von dem Vorfall hören. Vielleicht liefertest du den boshaften Teil der Geschichte. Paris raubte mich nicht, wie du eben sagen wolltest, ich ging durchaus freiwillig. Aber wenn er mich geraubt hätte, so würde ich lieber annehmen, daß er kein Interesse für die Sachen übrig gehabt hätte.«
Hermione sagte nichts.
»Nun?« fragte Helena.
»Mutter, dies ist ein schreckliches Thema – ich möchte es lieber meiden«, sagte Hermione. »Es ist kein Thema für ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter.«
»Was ist kein solches Thema?« fragte Helena.
»Der Charakter des Mannes, der – der dich verführte«, sagte Hermione.
»Niemand verführte mich, und ich habe dich nicht nach deiner Meinung über Paris gefragt. Du warst ein Jahr alt, als er dich zuletzt sah. Was ich wissen möchte, ist etwas, was du mir vielleicht sagen kannst: wie entstanden diese Skandalgeschichten?«
»Wenn du willst, daß wir uns verständigen,« sagte Hermione, »so solltest du meiner Meinung nach nicht das Gespräch von seinem natürlichen Gang ablenken. Ich hätte lieber nichts gesagt, aber wenn wir überhaupt darüber sprechen, so handelt es sich allerdings um Paris. Natürlich hatte ich damals keine Meinung über ihn, aber jetzt habe ich sie. Und keine hohe. Er ist zwar tot, aber sein Betragen scheint mir trotzdem noch ebenso empörend.«
»Ich bin der Ansicht, daß er nicht anders konnte«, sagte Helena. »Und du wirst zugeben, daß ich mehr in der Lage war, ihn zu verstehen. Aber darum handelt es sich nicht. Wie kam die Geschichte auf? Weißt du es?«
»Da du es durchaus wissen willst,« sagte Hermione, »ich erfand alle diese Geschichten selbst.«
»Das entnahm ich aus dem, was Charitas mir erzählte«, sagte Helena. »Ich freue mich, daß du freimütig genug bist, es einzugestehen. O Hermione, wie konntest du solche Lügen erzählen? Du brauchst nicht zu antworten; es ist die Folge davon, daß ich dich verließ – du hattest keine Erziehung.«
»Du tust mir weh,« rief Hermione, »du tust mir weh, wenn du mir so harte Dinge sagst, und noch dazu in dieser kühlen Art! Ich versuche, dir die schuldige Ehrfurcht zu erweisen, ich nenne dich Mutter, aber wir gehören nicht zueinander. Wenn du menschlich empfändest, so würdest du wissen, warum ich alles tat, was ich konnte, um deinen Ruf zu retten, mich an die leiseste Möglichkeit klammerte, daß es ein Irrtum sein könnte, um wenigstens ein klein wenig gute Meinung für deinen Empfang aufrecht zu erhalten – falls du zurückkehren solltest. Sieh mich nicht so an – du hast kein Recht dazu! Wenn ich eine Tochter hätte, die mir solche Wahrheiten ins Gesicht sagte, wie ich dir, so würde ich mich schämen – ich könnte nicht so heiter und gelassen aussehen!«
Helena blieb heiter und gelassen. »Ehrbarkeit vor der Welt, die sich auf eine Lüge gründet«, sagte sie. »Das dachte deine Liebe sich für mich aus. Ich habe dergleichen schon öfter gesehen. Hermione, du gleichst deinem Vater sehr. Meiner Schwester auch, leider. Hast du übrigens Orest während meiner Abwesenheit gesehen?«
»Von Zeit zu Zeit,« sagte Hermione – »das heißt, nicht sehr oft.«
»Was würde das schaden?« fragte Helena. »Es wäre doch kein Verbrechen, nicht wahr?«
Hermione sagte nichts.
»Du brauchst nicht zu erröten,« sagte Helena, »es ist ja noch nicht deine Tochter, die zu dir spricht; es ist nur deine Mutter, die dich mit ihrer Neigung zur Offenheit in Verlegenheit bringt. Ich zweifle nämlich nicht, daß du deinen Vetter häufig gesehen hast.«
Hermione sagte nichts.
»Du brauchst dich dessen nicht zu schämen, wenn es der Fall ist,« fuhr die Mutter fort; »wir hatten einmal den Plan, daß du ihn heiraten solltest, und ich vermute, daß er dich gern hat. Ich brachte dies nur zur Sprache, um deinen Charakter etwas mehr zu prüfen. Es fehlte dir an Mut, da es sich um mich handelte, doch das konnte ich entschuldigen – du bist jung, und mein Fall ist ein außergewöhnlicher. Aber du solltest Mut genug haben, über dein eigenes untadeliges Leben die Wahrheit zu sagen. Du dachtest, du könntest durch jene merkwürdigen Räubergeschichten meinen Ruf verbessern; willst du mir sagen, was dein Ruf durch Mangel an Offenheit gewinnen kann?«
»Orest ist vielleicht oft hier gewesen,« sagte Hermione, »allein es scheint mir nicht oft. Das kommt wohl daher, weil ich ihn liebe; wie auch er mich liebt. Ich hätte es dir schon früher sagen sollen, allein ich dachte, du möchtest ihn nicht.«
»Ich mag ihn nicht,« sagte Helena, »aber ich will ihn ja auch nicht heiraten. Hast du diese Absicht? Du siehst, in welch ein Dilemma du dich gebracht hast. Wenn du den Wunsch hättest, ihn zu heiraten, und ihn dennoch aufgäbest, weil ich nicht einverstanden bin, so wäre mir das ein Beweis, daß du meine Meinung schätzest – aber auch, daß du ihn nicht wirklich liebtest. Wenn du ihn aber auf jeden Fall heiraten willst und meine Meinung nur soweit respektierst, als du mir deine Absicht verheimlichst, so ist dies nicht schmeichelhaft für mich und nicht sehr hoffnungsvoll für deine künftige Ehe. In der Ehe braucht man mehr als irgendwo den Mut der Überzeugung, mindestens im Anfang.«
»Du verletzt mich so sehr,« rief Hermione, »daß ich versucht bin, so frei heraus zu sprechen, daß selbst du zufrieden bist! Ich weiß nicht, ob aus Mut der Überzeugung oder nur eben, weil ich zornig bin, aber ich bewundere deine Art Mut nicht, noch die Art von Mann, mit dem du davongingst, noch deine Ideen über Skandal! Ich fühle noch immer den Trieb – ich weiß eigentlich nicht, warum – dir die Dinge, die dir unangenehm sind, aber die sich nicht umgehen lassen, zu ersparen. Ich bin nicht so alt wie du, aber ich fühle mich nicht sehr jung. Ich bin aufgewachsen, indem ich das, was du deinen außergewöhnlichen Fall nennst, vor Augen hatte, und ich bin mir, ohne mich im geringsten zu schämen, darüber klar, daß ich altmodischer bin als du; ich schätze die Ehrbarkeit vor der Welt, die du zu fürchten scheinst, ich will einen Mann lieben, mit dem ich einen geordneten Hausstand gründen und dem ich treu sein kann. Es tut mir leid, daß ich versuchte, deinen Ruf zu retten, da du es lieber anders willst, aber es hat nicht viel geschadet, – keine deiner Freundinnen hat mir wirklich geglaubt. Was ich tat, tat ich aus Pflichtgefühl. Ich habe keinen Grund, dich zu lieben, ich schulde dir für nichts Dank. Du hast mich nie glücklich gemacht, du hast nie irgend jemanden glücklich gemacht, nicht einmal die, die dich liebten, – nicht meinen Vater noch Paris, noch irgendeinen von ihnen. Paris hätte es sehen müssen – er war ein Narr, daß er dich mitnahm.«
Hermione war selbst etwas erstaunt und eigentlich befriedigt über ihren eigenen Zorn und Mut. Sie fühlte, es war ein großer Augenblick. Auch Helena schien seltsamerweise befriedigt.
»Nun sprichst du die Wahrheit«, sagte sie. »Dem Himmel sei Dank, du machst wenigstens den Anfang, wenn auch von unten her, wie es oft geschieht – mit unangenehmen Dingen über andre. Aber ich will dies lieber hören als jene törichten Erfindungen. Du hast in jedem Punkte recht: du hast keinen Grund, mich zu lieben, und keinen, mir dankbar zu sein. Was Paris betrifft, so habe ich mich oft gefragt, warum er mich liebte. Vermutlich aus demselben Grunde, aus dem dein Vater mich in jener Nacht in Troja nicht tötete. Ich sagte Paris genau das, was du eben sagtest: daß ich niemanden glücklich gemacht hätte. Ich sagte ihm auch, daß kein Mann mich glücklich gemacht hätte, daß das, was unendliche Wonne zu werden verspräche, nur ein kurzer, flüchtiger Augenblick sein würde, daß unsre Leidenschaft Elend im Gefolge haben, daß sie ihm möglicherweise den Tod bringen würde. Mit offenen Augen – und er war sonst kein unbesonnener Tor – wählte er unsre Liebe. Oder vielleicht gab es keine Wahl. Allein dein Vater wußte das Schlimmste, als er mit dem Schwert in der Hand und Mord im Herzen mich suchte. Er hatte ein gutes Recht, mich zu töten – ich glaubte, er würde es tun. Oder vielleicht glaubte ich es nicht.«
Hermione war fassungslos, daß ihre Mutter nicht erzürnt war. Es schien jetzt an ihr, etwas zu sagen, aber sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln; sie fühlte sich plötzlich am Ende ihrer Kraft. Sie hatte die ganze Zeit gestanden; nun setzte sie sich auf das Ruhebett neben ihre Mutter.
»Wenn wir die Tatsachen nehmen, so hast du recht,« fuhr Helena fort, »allein du bist zu jung, sie von allen Seiten zu übersehen. Ich hätte dich glücklich machen sollen – diese Pflicht hat man gegen sein Kind. Aber nicht gegen den Mann, den man liebt; eine solche Pflicht leugne ich. Wenn wir doch nur von vornherein wüßten, daß Glück das letzte ist, was wir von der Liebe fordern können, und die Konsequenzen dieser Tatsache auf uns nehmen wollten! Die Liebe ist ein wundervolles Gefühl des Lebens, ja, ein Wachwerden für die Welt um uns und die Seele in uns – aber nicht Glück. Hermione, ich wollte, ich könnte dir klarmachen, daß ein geliebter Mann oder eine geliebte Frau nur der Anlaß ist, der einen Traum auslöst. Je stärker die Liebe ist, wie wir es ausdrücken, je klarer und lebendiger ist die Vision. Den Geliebten vollständig glücklich machen, wäre ein Widerspruch in sich; wenn er dich wirklich liebt, so wird er in dir weit mehr sehen, als du bist, und wenn du dich dann geringer erweisest als er dich sah, so wird er unglücklich sein.«
»Glaubst du nicht, daß du ein Ausnahmefall bist?« fragte Hermione. »Für dich mag die Liebe diesen schwankenden Zustand bedeuten, aber für andere ist sie, soweit ich hier um mich her beobachtet habe, ein ganz normales, zuverlässiges Glück. Wenigstens reden sie nicht so wie du, sie sehen zufrieden aus und wünschen der Jugend Glück, die heiraten will.«
»Mein liebes Kind,« sagte Helena, »ich bin ein Ausnahmefall – jeder, der die Liebe kennengelernt hat, ist es. Allein es gibt eine allgemeine Weisheit über diesen Gegenstand, die ich gern mit dir teilen würde, wenn ich es könnte. Es ist nutzlos, es zu versuchen. Du mußt aus eigener Erfahrung lernen, wenn du liebst.«
»Ich liebe,« sagte Hermione, – »ich liebe Orest.«
»Ja Kind, du liebst ihn – aber noch nicht sehr. Ich vermute, er hat dich noch nie enttäuscht.«
»Nein, nie!«
»Du bist noch im ersten Stadium«, sagte Helena. »Wir müssen uns eine Illusion machen, bevor wir enttäuscht werden können.«
»Ich habe eine neue Aufklärung bekommen über das, was Skandal ist,« sagte Hermione, »und ich will mein bestes tun, deine Auffassung von Liebe zu begreifen. Darf ich dich etwas Persönliches fragen? Ich vermute, deine Theorie gilt ebenso wohl für dich wie für die Männer, die dich liebten. Ist die Liebe für dich auch immer ein Irrtum gewesen?«
»Niemals ein Irrtum,« sagte Helena, »immer eine Illusion.«
»Als du mit Paris entflohst, da war es also nicht wirklich Paris, den du liebtest – wie du nachher entdecktest?«
»Das kannst du wohl sagen, es war nicht der wirkliche Paris.«
»Aber du wirst zugeben, daß du nicht die Entschuldigung der Unerfahrenheit hattest, die du für mich gelten läßt«, sagte Hermione. »Du hattest schon meinen Vater geliebt und, wie ich vermute, erkannt, daß auch er nicht das war, was du wolltest. Du hättest dich nicht zum zweitenmal täuschen lassen sollen.«
»Ich heiratete deinen Vater,« sagte Helena, »ich habe nie gesagt, daß ich ihn liebte. Aber um dich nicht zu empören und mich nicht falsch hinzustellen, will ich dir sagen, daß ich immer viel von Menelaos gehalten habe und daß er ein musterhafter Gatte ist. Allein deine Schlußfolgerung würde nicht zutreffen, selbst wenn ich ihn leidenschaftlich geliebt hätte. Ich würde dann bekennen müssen, daß ich mich in meiner Liebe zu Menelaos ebenso getäuscht habe, wie in meiner Liebe zu Paris, aber vielleicht hatte die Illusion, die Paris in mir weckte, größere Macht über mich. Die Illusion ist es, in die man sich verliebt. Und wie oft dies auch geschehen mag, und wie klar du auch das Ende voraussiehst, jede Illusion ist willkommen, denn nur solange sie dauert, wird uns eine Vision unsres bessern Selbst zuteil.«
»Nun denn,« sagte Hermione, »wenn nun jemand diese göttliche Vision deines Selbst in dir hervorgerufen hat, so könntest du doch das Glück festhalten, wenn du den betreffenden Menschen nie wiedersähst.«
»Das ist eine tiefsinnige Bemerkung,« sagte Helena, »aber eine solche Weisheit wäre nicht mehr menschlich.«
»Noch eine andre Frage, Mutter – denkt Vater wie du?«
»Ich bezweifle es, aber man kann nie wissen«, sagte Helena. »Dein Vater hat seit langer Zeit nicht eingehend mit mir über seine Auffassung von Liebe gesprochen.«
»Ich bin sicher, er würde dir nicht zustimmen,« sagte Hermione, »und ich tue es auch nicht. Dein Lob der Wahrhaftigkeit gibt mir den Mut, dir zu sagen, daß ich nicht glaube, alle Menschen, die ich außer dir kenne, haben unrecht, und das, was sie für Glück halten, ist eine Täuschung. Ich begehre für mich solch ein Glück, wie sie es meiner Meinung nach wirklich haben. Ich werde nie verstehen, wie du, so schön und klug, wie du bist, mit einem Gatten, den du dir selbst aus einer Reihe von glänzenden Bewerbern gewählt, dich an diesen Menschen aus Asien wegwerfen konntest. Ich habe versucht, mir deinen Gemütszustand vorzustellen, als du mit ihm entflohst, aber ich kann es nicht.«
»Nein, allerdings nicht,« sagte Helena, »in dieser Beziehung hast du merkwürdig versagt. Ich komme noch einmal auf die Skandalgeschichten zurück, die du verbreitet hast. Du erzähltest Charitas, ich sei mit Paris gegangen, weil ich nicht anders konnte, – Paris hätte mich mit Gewalt entführt.«
»Es schien mir die mildeste Auffassung.«
»O – gab es verschiedene Auffassungen? Welches waren denn die andern, mit denen du mich verschontest?«
»Ach, wozu noch darüber reden, Mutter!« sagte Hermione. »Ich habe mich zu den Geschichten bekannt, und da du sie nicht magst, kann ich nur sagen, daß ich sie bereue. Du bringst mich auf durch die Art, wie du mich examinierst. Ich habe versucht, das Rechte zu tun, aber du machst, daß ich mich minderwertig fühle.«
»Wenn du versucht hast, das Rechte zu tun, so hast du keine Ursache, dich minderwertig zu fühlen«, sagte Helena. »Aber ich vermute, du fühltest dich schon damals nicht recht wohl dabei; ich halte dich für zu intelligent, als daß du nicht gewußt haben solltest, was du da redetest.«
»Ich wußte, was ich tat – ich sagte eine Lüge, um deinetwillen und auch um unsertwillen. Ich hätte noch manche andre Lüge sagen können; ich versuchte die beste zu wählen. Die erste, die mir einfiel, paßte nicht – ich hatte sie aus einer alten Dichtung – die Situation, die so oft geschildert wird, wo die Götter den Liebenden durch einen Zauber täuschen: er weiß nicht, wer es ist, den er in seine Arme nimmt, aber nachher werden seine Augen geöffnet, und er weiß, daß er getäuscht wurde. Ich wollte in meiner Verzweiflung zuerst sagen, Aphrodite hätte dich bezaubert, daß du dachtest, es sei Menelaos, und dann war es Paris. Lächle nicht – ich verwarf dies abgedroschene Märchen bald. Dann hätte ich sagen können, du seist Paris freiwillig gefolgt, allein da war das Schimpfliche so augenfällig und hätte sich nicht irgendwie beschönigen oder erklären lassen. Außerdem war es gerade das, was die Leute glaubten. Ich sah, es ließ sich nicht anders machen, als daß Paris dich mit Gewalt geraubt hatte.«
»Seltsam, wenn man bedenkt, was ich dir eben diesen Augenblick über die Liebe gesagt habe«, sagte Helena. »Aber jene erste Idee war kein abgedroschenes Märchen, und wenn du es erzählt hättest, so würde ich es keineswegs Skandal genannt haben, denn es ist die Wahrheit. Paris hätte mich nicht gegen meinen Willen rauben können. In gewissem Sinne ging ich freiwillig. Aber in einem tieferen Sinne wäre die Geschichte wahr gewesen – es war Zauber.«
»Aber wirklich, Mutter, das geht zu weit! – nicht das jetzt – dafür ist es nun zu spät!«
»Und doch ist es die Wahrheit, Hermione, tiefe Wahrheit! Man glaubt die ganze Zeit, daß man Menelaos umarmt, und am Ende ist es Paris.«
»Auf mein Wort, Mutter, ich habe in meinem Leben keine so zynische Bemerkung gehört!«
»Im Gegenteil,« sagte Helena, »es ist eine der optimistischsten Bemerkungen, die du je hören wirst, besonders da sie von mir kommt. Du verstehst es noch nicht, und viele, die es wissen sollten, wollen es nicht eingestehen, aber in der Liebe ist immer ein natürlicher Zauber der Leidenschaft, der uns fortreißt, und wenn der Zauber stirbt, wie er unfehlbar muß, so bleibt entweder eine Enttäuschung zurück oder eine, schöne Wirklichkeit, eine Freundschaft, eine Kameradschaft, eine Harmonie. Dies Wunder hinter dem vorübergehenden Zauber habe ich noch nie gefunden, aber ich habe es immer gesucht, und ich glaube immer noch, daß es da ist.«
»Wenn wir alle nach deinem Plan lebten,« sagte Hermione, »so weiß ich nicht, was aus den Menschen werden sollte. Wir haben nicht das Recht, unser eigenes Leben zu leben –«
»Wenn wir nicht unser eigenes Leben leben,« sagte Helena, »so sind wir in Gefahr, andern in ihr Leben zu pfuschen.«
»Ich meine, wir sind nicht allein in der Welt«, sagte Hermione. »Du kannst mich mit Worten zum Schweigen bringen, aber ich wundere mich, daß du nicht siehst, wie inkonsequent du bist. Mir machst du Vorwürfe, weil ich eine Geschichte von dir in Umlauf setze, die zwar unwahr ist, aber in Anbetracht der Umstände außerordentlich günstig und wohlwollend. Und dabei predigst du mir hier mit deiner ruhigen Stimme und deinen unschuldigen Augen Ideen, die uns alle schlecht machen würden, wenn wir sie befolgten. Es scheint mir nicht so schlimm, für einen guten Zweck eine kleine Unwahrheit zu sagen, wie das Heim zu zerstören und Krieg und Tod heraufzubeschwören.«
»Es scheint nicht so schlimm,« sagte Helena, »wenn du nicht fragst, was die Zerstörung des Heims und Krieg und Tod herbeiführte. Vielleicht war die erste Ursache eine kleine Unwahrheit für einen guten Zweck. Wenn wir alle nach meinem Plan lebten, sagtest du. Ich habe keinen Plan als den, so aufrichtig wie möglich zu sein. Gewiß sind wir nicht allein in der Welt, und die erste Bedingung für ein gutes Zusammenleben mit den andern ist, glaube ich, ihnen gegenüber vollkommen wahr zu sein. Wie kann irgend etwas gut sein, was zum Teil erlogen ist? Und du weißt nicht, was dann aus den Menschen werden würde! Was wird denn jetzt aus ihnen? Seit ich zurückgekehrt bin, habe ich die ganze Zeit beobachtet, wie die Güte unsrer Vorfahren und das, was weise Männer für unser gegenseitiges Glück für gut befanden, zu niedrigen Zwecken mißbraucht werden kann. Charitas kam sofort, um mich zu besuchen. Was konnte gütiger sein, als eine alte Freundin in der Heimat willkommen zu heißen? Führte sie irgendein ehrlicher Zweck in mein Haus, wenn sie nicht als Freundin kam? Ich habe den Besuch erwidert, und ich kenne sie durch und durch. Sie erzählte mir die Märchen, die du in Umlauf zu setzen versucht hast; natürlich hoffte sie, daß sie nicht wahr wären. Sie hoffte das Schlimmste. Was sie wollte, als sie gleich herbeieilte, war, die Sahne vom Skandal für sich abschöpfen, von meinen intimsten Erlebnissen hören, um meine Schlechtigkeiten in allen Einzelheiten mit den Nachbarn durchzusprechen. Die Ärmste hat ja auch nie selbst irgendwelche Abenteuer erlebt. Ich enttäuschte sie. Sie erfuhr nichts und mußte feststellen, daß ich eine vollkommen moralische Frau bin.«
»Mutter! Wie konntest du das?« fragte Hermione.
»Ich will mich jetzt darauf nicht weiter einlassen«, sagte Helena; »ich habe es allmählich satt, Gegenstand der Unterhaltung zu sein, und ich wollte von dir sprechen. Nur das eine möchte ich dir noch sagen, daß von allen denen, die um meinetwillen nach Troja zogen, ich die einzige bin, die mit ungeschwächtem Sittlichkeitsgefühl zurückgekehrt ist. Wenn diese Unterredung dir nur ein klein wenig die Augen geöffnet hat, so beobachte die Menschen um dich her und beobachte dich selbst, und du wirst sehen, was ich meine. Wir haben das Recht, unser eigenes Leben zu leben – du hast sogar das Recht, Orest zu heiraten, wenn ich auch noch hoffe, daß du es nicht tust. Aber jenes Recht schließt eine Pflicht ein – die Folgen auf sich zu nehmen. Wenn ich zu Hause gewesen wäre und dich ordentlich hätte erziehen können, so brauchte ich dir jetzt nicht zu sagen, daß für kluge Menschen die Zeit für Reue vor der Tat liegt. Tu dein Bestes, und wenn es ein Irrtum war, verbirg nichts und sei bereit, dafür zu leiden. Das ist Sittlichkeit. Ich bemerke hier herum davon nicht viel.«
»Es ist nur gerecht,« sagte Hermione, »wenn wir uns erinnern, daß Charitas mir in deiner Abwesenheit eine gute Freundin gewesen ist. Sie würde erstaunt sein, wenn sie wüßte, wie du von ihr denkst.«
»Sie weiß es jetzt, und sie ist erstaunt«, sagte Helena. »Ich halte sie für eine gefährliche Frau. Gib acht, sie wird noch viel Schaden anrichten. Was für eine Art Junge ist ihr Sohn?«
»Damastor? Oh, ganz nett«, sagte Hermione. »Er hat nicht die Charakterfestigkeit seiner Mutter, aber er ist harmlos. Er hängt sehr an Charitas.«
»Was verstehst du unter harmlos?« fragte Helena.
»Oh, er ist wohlerzogen, gut behütet und still, ein bißchen jung, selbst für seine Jahre.«
»Du mußt seine Art sehr schätzen«, sagte Helena.
»Was? Damastor?« rief Hermione.
»Seine Mutter sagt, er schwärmt für dich.«
»Für mich? Ich kenne ihn kaum! Doch ja, ich habe ihn bei seiner Mutter getroffen, aber nicht oft. Er hat mir gegenüber nichts von Schwärmerei gezeigt, dem Himmel sei Dank! Für mich ist er noch ein Kind.«
»So hat er dich nicht kürzlich besucht?«
»Nie! Wer hat dir das erzählt?«
»Charitas. Sie sagt, er habe es ihr erzählt. Ich dachte mir, daß es nicht wahr wäre. Es ist eine sehr ehrbare Familie. Nicht mehr als das normale Quantum von Verlogenheit. Du könntest schlimmer fahren.«