Otto Ernst
Flachsmann als Erzieher
Otto Ernst

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Otto Ernst

Flachsmann als Erzieher

Personen:

1. Johann Hinrich Flachsmann, Oberlehrer an der Knabenvolksschule

Lehrer und Lehrerinnen:

2. Jan Flemming

3. Bernhard Vogelsang

4. Carsten Diercks

5. Emil Weidenbaum

6. Claus Riemann

7. Franz Römer

8. Betty Stuhrhahn

9. Gisa Holm

10. Negendank, Schuldiener bei Flachsmann

11. Kluth, Schuldiener der benachbarten Mädchenschule

12. Schulinspektor Brösecke

14. Prof. Dr. Prell, Regierungsschulrat

Schüler und Eltern

15. Frau Dörmann

16. Max, ihr Sohn (6 Jahre)

17. Brockmann

18. Frau Viesendahl

19. Alfred, ihr Sohn (14 Jahre) und Flemmings Schüler

20. Robert Pfeiffer (14 Jahre) und Flemmings Schüler

21. Carl Jensen, Schüler Vogelsangs

Ort der Handlung: eine kleinere Provinzialstadt

geschrieben: 1906

Zwischen den 3 Aufzügen liegen Zeiträume von je 14 Tagen

Erster Aufzug

Das Amtszimmer des Oberlehrers Flachsmann. In der ganzen Ausstattung des Raumes ist die übliche Nüchternheit. Im Vordergrund, etwas nach rechts, der Schreibtisch. Auf dem Tisch liegen einige Zettel oder Hefte. Hinter dem Tisch steht ein Stuhl zum Drehen. Genau im rechten Winkel dazu rechts ein gewöhnlicher Stuhl für geringe Leute; links ein Armstuhl für vornehmere Besucher. An den Wänden Schränke mit Büchern, Karten, Anschauungsbilder, physikalischen Apparaten usw., die zum Teil durch Glastüren sichtbar sind. Auf einem Tisch hinten links ein großer Globus, der mit einer Art von Kaffeewärmer bedeckt ist; an den Wänden Stundenpläne und andere Tabellen, u.a. eine enormes, engbedrucktes Plakat mit der Überschrift „Schulordnung”. Türen (Flügeltüren) in der Mitte und links. Rechts und links von der Mitteltür ein paar möglichst billige Bilder von Wilhelm I. und der Kaiserin Augusta. Links neben der Mitteltür ein Schlüsselbrett für die Schlüssel der Klassenzimmer. Einige Schlüssel hängen noch. Durch die offene Mitteltür sieht man auf den Korridor, wo mehrere wartende Besucher auf- und abgehen. Jenseits des Korridors sieht man eine Tür, an welcher mit deutlicher Antiquarschrift „Klasse III” steht. Wenn die Tür sich öffnet, sieht man Lehrerpult, Wandtafel usw. In der rechten Wand ein Fenster. An der Tür links steht mit ebenfalls deutlichen Antiqualettern „Lehrmittelzimmer”. Das Ganze Schulhaus ist ein alter, ursprünglich nicht zu Schulzwecken bestimmter Bau.

1. Szene

Negendank (Schuldiener, Mitte der 50er, Veteran, Vollbart mit ausrasiertem Kinn. Gutmütig barscher Sprechton und äußerste Ruhe in den Bewegungen. Er legt die letzte ordnende Hand an Flachsmanns Schreibtisch). Frau Dörmann (ärmlich, aber sauber gekleidete sehr hübsche Frau von 32 Jahren, sitzt wartend auf dem Korridor); ihr Söhnchen Max (ein hübscher Junge von sechs Jahren) steht bei ihr.

Fr. Dörmann: Herr Negendank! Herr Negendank!

Negendank: Mm?

Fr. Dörmann: Kommt der Herr Oberlehrer noch nicht bald?

Negendank: Man immer Geduld! Wird schon kommen!

Fr. Dörmann: Ja, ich hab´ aber keine Zeit mehr, ich hab´ noch vier kleine Kinder zu Haus; die hab ich eingeschlossen!

Negendank: Jaaa! Wir haben 400 Kinder, die wollen auch alle besorgt sein! Wir müssen morgens erst inspizieren, bis alles in Ordnung ist.

Fr. Dörmann: Ja, ihre Kinder passen auf sich selbst auf.

Negendank: Liebe Frau Dörmann, da haben sie doch von unserem Beruf eine sehr leichtfertige Auffassung. Sehen sie – (man hört hinter der Szene Sprechen.) einen Augenblick! (bedeutet Frau Dörmann, sich wieder zurück zu ziehen).

2. Szene

Weidenbaum (hagerer Mensch mit stark gekrümmten Rücken, graublondem Haar und ebensolchem kurzgeschnittenen Bart, faltigen, verkniffenen Zügen, langsame näselnde Sprechweise. Goldene Brille). Riemann (Typus des verbauerten Schulmeisters, breites, rotes Gesicht, kurze, flachsblonde Haare, kurzer Schnurrbart von gleicher Farbe. Er trägt ein Jackett, eine wenig ausgeschnittene Weste und Beinkleider, die so kurz sind, dass sie die grauen Strümpfe und den Rand der niedrigen Schnürschuhe sehen lassen. Dialektisch gefärbte, saloppe Sprache) Negendank

Riemann: Also, er reizt mich auf zwölf und ich bleib´ damit sitzen. Ich tournier´: Treff Sieben! Hab´ aber außerdem bloß Treff Acht und Neun, spiel also ohne acht!

Weidenbaum: Ja... Negendank, sind auch alle Fenster in meiner Klasse dicht verschlossen? Sie wissen, ich kann keinen Zug vertragen.

Negendank: Jawoll, Herr Weidenbaum, alles in Ordnung. (Tritt bald darauf auf den Korridor.)

Riemann: Nu hör´ mal zu: also, ich drücke Pik-König un Pik-Zehn, un mein Vordermann spielt ´n kleinen Herz. Ich schneide mit ´m König, un die Hinterhand wirft Herz-Dame rein. Nu spiel´ ich natürlich Herz –As nach, fallen zehn und acht...

Weidenbaum: Ja mein lieber Riemann, ich glaube, die Pflicht ruft...

Riemann: Nein, nu hör doch mal, ich spiel´ nu also Pik-As...

3. Szene

Wiedenbaum. Riemann. Negendank. Betty Stuhrmann (vierschrötige Person mit eckigem Kopf und Bulldoggengesicht. Sie hat einen Schritt, als ob sie Herrenstiefel trüge und berührt in Auftreten und Sprechen wie ein weiblicher Unteroffizier; geschmacklos und einfach gekleidet). Später Vogelsang (jovialer Fünfziger, mit vollem, meliertem Haupthaar, starkem, dunklen Schnurr- und Knebelbart und markiger Stimme. Gewandtes Auftreten. Liebenswürdig). Noch später Frau Dörmann und Max.

Betty: Morg´n! (Nimmt einen Schlüssel vom Brett.)

Riemann und Weidenbaum: Morg´n.

Betty (an Riemann dicht herantretend): Sie haben gestern in meiner Klasse eine Unordnung aufgehoben, die ich getroffen habe. Wenn sie das noch ein einziges Mal riskieren, dann blas ich ihnen einen Marsch, dass ihnen die Augen übergehen, verstanden?

Riemann: Aber wieso... ich weiß gar nicht... ich hab doch nur...

Betty: Merken sie sich das!

Riemann: (als sie außer Hörweite ist, für sich.) Alter Drachen!

Betty: (geht strammen Schrittes hinaus und rennt dem eintretenden Vogelsang auf den Leib.) Na... können sie nicht sehen?

Vogelsang: (Fasst Betty bei den Ellbogen und zieht sie ein wenig ins Zimmer zurück.) Ihr Anblick blendete mich, mein Fräulein.

Betty: Sie sind ein Hanswurst!

Vogelsang: Mein Gott, das weiß ich ja; aber das muss man einem Menschen doch nicht immer vorhalten!

Betty: Lassen sie mich los!

Vogelsang: (mit einem Seufzer). Ja wenn es denn sein muss?! (Sie macht sich los und geht wütend ab.) Morgen, meine Herren. (Händedruck und Begrüßung.) An, meine Herren, was sagen sie denn zu dem neuesten Ukas unseres Flachsmann?

Riemann: Och, der ´s ja verrückt!

Weidenbaum: Ich spreche grundsätzlich nicht über Unordnungen meiner Vorgesetzten, dabei kommt nicht´s raus. Ich tu meine Pflicht und um all das Andere kümmer´ ich mich nicht.

Vogelsang: Das ist das Sicherste, Weidenbaum.

(Beide gehen nach hinten um ihre Schlüssel zu nehmen.)

Riemann: (macht sich an die rechte Seite Weidenbaums). Na, ich wollte dir ja noch erzählen: also: ich spiel´ Herz-As, fallen Acht und Zehn, un nu Pik-As hinterher (da Vogelsang und Weidenbaum ohne auf ihn zu hören, im Gespräch hinauf gehen, erzählt er dem inzwischen wieder eingetretenen Negendank weiter) da fallen Dame un Sieben. Na, nu ich natürlich mit Pik-Neun hinterher un da...

Negendank: Ja, Herr Riemann, ich versteh' nichts vom Skat.

Riemann: (mit grenzenlosem Erstaunen). Sie verstehen nichts vom Skat? Was spielen Sie denn?

Negendank: Solo.

Riemann: (mit sehr überlegenem Lachen). Hahahaha! Solo? (nimmt seinen Schlüssel.) Der Mensch spielt Solo! Na, hören sie mal! Sie sind aber auch – Solo! (Ab.)

Fr. Dörmann: (Erscheint wieder an der Tür). Herr Negendank –

Negendank: Ja ja, jetzt muss er gleich kommen. Was wollen sie denn eigentlich, Frau Dörmann?

Fr. Dörmann: Ach, hauptsächlich wollt´ ich bitten, ob mir nicht das Schulgeld erlassen werden könnte; ich –

Negendank: Ja, liebe Frau Dörmann, das wird sich wohl schwerlich machen lassen. Wir haben im letzten Jahr quasi eine halbe Million für Schulzwecke ausgegeben. Un dabei is´ für uns (auf den Raum deutend) noch nicht mal ´n neues Schulhaus abgefallen. Unser Ausgaben-Eclat ist zu groß und – an, ich werde 'n Wort für Sie einlegen!

Fr. Dörmann: Ach, das ist nett von Ihnen –

Negendank: Ja, und dann – (Lärm von links). Nanu?! Das ist wieder Herr Flemming, passen Sie auf. Richtig!

4. Szene

Weidenbaum. Riemann. Betty. Negendank. Fr. Dörmann. Max. Vogelsang. Alfred Viesendahl und Robert Pfeiffer, (zwei Schüler) kommen gesprungen, hinter ihnen Flemming (einfach, aber sehr gut und sorgfältig gekleidet; schwarze Weste und Rock, helles Beinkleid; blonder Schnurrbart; sicheres, weltmännisches Auftreten). Später Diercks (großer Mensch mit vollem, brutalem, bartlosen Gesicht, das einen Ausdruck von Bauernschlauheit zeigt. Redet immer in großsprecherischem Tone. Gut gekleidet: Joppe, mit sportlichen Allüren.)

Flemming: Ihr sollt nicht solchen Radau machen, Kerls.

Die Schüler drängeln sich an ihn und bestürmen ihn.

Alfred und Robert: Herr Flemming, darf ich den Globus tragen – bitte, Herr Flemming, ich! – bitte ich, Herr Flemming!

Flemming: (mit komischer Barschheit) Rrruhe!! (Nimmt den Globus). Wie hieß der Mann, der den Erdball trug?

Alfred: Ajax!

Flemming: Ah!! (Stülpt ihm die Globusmütze über den Kopf).

Robert: Herr Flemming, ich weiß, ich weiß!

Flemming: Na, denn man los!

Robert: (vor Aufregung stotternd) A– A– A– Atlas!

Flemming: Da, Atlas, trag´ den Erdball; schmeiß ihn aber nicht hin, sonst mach ´ ich ein Frikassee aus dir.

Alfred lacht überlaut.

Flemming: Mensch, brüll´ nicht so! (Geht an einen Schrank links.) Und hier... (nimmt ein aufgerolltes Tableau heraus und gibt es Alfred) ...da!

Alfred: Was ist das, Herr Flemming?

Flemming: (geheimnisvoll) Das ist das Bild von Till Eulenspiegels Großmutter!

Beide Schüler lachen.

Flemming: Kinders, lacht doch gebildet! Das Pferd wiehert. Der Mensch lacht. Wenn wir wieder auf der Weide spielen: dann wiehern wir. Verstanden?

Alfred und Robert: Ja, Herr Flemming.

Flemming: Gott segne euch. Rechts um marsch.

Schüler gehen ab.

Flemming: Die sind glücklich, Frau Dörmann, was? Die lachen über Glück und Unglück.

Fr. Dörmann: Ja, Herr Flemming. Sag´ guten Tag , Max!

Max: (Schlägt kräftig in Flemmings Hand) Tag!

Flemming: (bückt sich zu dem Knaben nieder) Ist das der Jüngste?

Fr. Dörmann: Ach, Herr Flemming, was sie wohl glauben! Da kommen noch drei hinterher!

Flemming: Sag mal, Junge, woll´n wir mal Karussell fahren?

Max: O ja! Man zu!

Flemming: (Hockt nieder, setzt den Knaben auf sein rechtes Knie und dreht sich sehr schnell im Kreise.) Magst das?

Max: O ja! Noch mehr!

Flemming: Wenn du wieder kommst. Jetzt muss ich zu den anderen Kinder. Die wollen auch alle Karussell fahren.

Fr. Dörmann: (Glücklich und berührt) Herr Flemming, ich wollt sie schon immer mal sprechen.

Flemming: Ja? Bitte?

Fr. Dörmann: Ja, ich wollt´ mich mal bedanken bei ihnen wegen meinem Peter. Seit der Junge bei ihnen ist, ist er wie umgewandelt. Der Bengel war ja sonst nicht in die Schule zu kriegen! (heimlich, aber nachdrücklich). Besonders mit dem Herrn Diercks konnte sich der Junge absolut nicht vertragen. Himmel, was war das für´n Elend. Alle Woche schulenlaufen und alle Woche schulenlaufen!

Negendank: Ja, das weiß der Deubel! Der Kerl hat uns warm gemacht. Das ist nun ja wohl bald´n Jahr her, da steht er hier bei Herrn Flachsmann und soll Prügel haben. Und wie Herr Flachsmann eben den Rücken wendet, (in der Erinnerung an die Begebenheit sich vor innerlichem Lachen schüttelnd) da springt ihnen der Bengel da zum Fenster raus. Quasi zum Fenster raus, so war ich hier stehe. Als Schulmann hat mich die Sache natürlich sehr betrübt; aber sie hat mir doch höllischen Spaß gemacht!

Diercks kommt von links aus dem Lehrmittelzimmer und macht sich an einem Schrank zu schaffen. Man sieht, dass er zuhört und das Gesprochene mit neidisch höhnischen Grimassen begleitet.

Fr. Dörmann: Ja... und jetzt? Ich kann den Jungen ja nicht mehr entbehren bei den vielen kleinen Kindern; ich hab´ doch keinen Mann mehr und muss doch immer zu fremden Leuten nähen gehen, und das wissen sie auch wohl, Herr Flemming, wenn man sechs Kinder gehabt hat, dann ist man auch nicht mehr so stark wie früher, und da muss mir der große Junge mitunter helfen. Das ist nun mal so bei so vielen Kindern; und wenn sie mal da sind, dann will man da auch keins von missen, das wissen sie wohl. Aber ich brauch´ nur zu sagen: Peter, du musst heut´ ´ne Stunde später zur Schule gehen... dann weint ihnen der Bengel seine bitterlichsten Tränen.

Flemming: Ist ein ziemlich frühreifes Kind; er fängt schon an, vernünftig zu werden.

Fr. Dörmann: (entschieden) Nein, er mag ihre Stunden so gern. Und dann sind sie ihm gleich mit Vertrauen entgegen gekommen, und dann kann man alles von ihm haben. So war sein Vater auch.

Flemming: (Nach der Uhr greifend.) Ja, Frau Dörmann, ich muss jetzt...

Fr. Dörmann: Ja, nun wollt ich ihnen bloß fragen, Herr Flemming – sehen sie: Geld hab´ ich ja selbst nicht; aber wenn sie mal was zu nähen und zu stopfen und zu sticken haben – bei Junggesellen ist ja doch immer was entzwei –

Flemming: (belustigt an sich herunter sehend) Soo?!!!

Fr. Dörmann: Dann geben sie´s man immer mir; das soll ihnen keinen Pfennig kosten...

Flemming: (mit berührtem Lachen) Liebe Frau Dörmann! Wir arbeiten hier ganz unentgeltlich! – – beinahe unentgeltlich und wenn sie mir so was erzählen, wie das von ihrem Peter, dann bin ich überreichlich bezahlt, sowas macht einen Schulmeister stolz und reich.

Fr. Dörmann: (Ihn nachdenklich ansehend) Ja, das muss ja wohl so sein – denn sonst? – Ich begreif nicht, wo sie die Geduld herkriegen! Ich könnte kein Lehrer sein – !

Flemming: Ja, sehen sie, Frau Dörmann, und ich könnte nichts anderes sein. Wenn ich mal kein Lehrer mehr sein dürfte – dann wär´s aus mit mir. Aber jetzt muss ich fort. (Will gehen.)

Diercks: Du, Flemming.

Flemming: Ja?

Frau Dörmann zieht sich mit Negendank wieder auf den Korridor zurück. Diercks nimmt Flemming etwas auf die Seite.

Diercks: Kennst du schon die allerneuste Leistung unseres verehrungswürdigen Herrn Chefs.

Flemming: Hm?

Diercks: Von jetzt ab soll jede Antwort, die ein Schüler gibt, sofort zensiert werden, also: Wieviel ist 3 + 4? 3+4=7 – Zeugnis! Wieviel Beine hat der Hund? Der Hund hat vier Beine! – Zeugnis! Und diese Zensuren sollen dann in wöchentlichen und monatlichen Listen zusammen getragen werden.

Flemming: Er ist ein Fuchs.

Diercks: Ein Fuchs?

Flemming: Ja. Er erwirbt sein Brot mit tausend Listen.

Diercks: Haha, sehr gut. Ferner sollen in Zukunft sämtliche Bücher in aschgraues Papier eingeschlagen werden, und keine andere Farbe soll gestattet sein.

Flemming: Naja: höchstes Glück der Erdenkinder ist die Uniformität. An dieser genial geleiteten Schule darf man den größten Blödsinn machen, man muss nur ängstlich darauf bedacht sein, dass ihn alle machen.

Diercks: Ja, aber ich meine: das können wir uns doch nicht gefallen lassen! Da solltest du mal ´n Wort sprechen, du bist die gegebene Persönlichkeit...

Flemming: Ich? Nein, mein lieber, so dumm war ich früher. Mich schiebt ihr vor, und hinter meinem Rücken fallt ihr um, und dann bin ich... die gelieferte Persönlichkeit. Ich mach´ mir ja nichts aus einigen Schikanen und Zurücksetzungen; aber schließlich möchte ich doch auch nicht meinen Beruf aufgeben müssen, um mit Lotterielosen zu handeln. Wollt ihr etwas gemeinsames unternehmen, so werde ich mich gewiss nicht ausschließen: im übrigen trage ich auf eigene Faust das Joch (mit einer Geste nach außen) dieses ... Mannes, solange wie ich kann... nicht länger!

5. Szene

Weidenbaum. Riemann. Betty. Negendank. Vogelsang. Flemming. Diercks. Gisa Holm (schönes, graziles Geschöpf von kaum mittlerer Größe, mit großen, sehr lebhaften Augen, braunem, auf der Stirn und an den Schläfen sich zierlich kräuselnden Haar und höchst munteren Bewegungen. In Kleidung und Auftreten bezeichnet sie einen vollkommenen Gegensatz zu dem Typus des weiblichen Schulpedanten; sie ist „modern” und sehr chic gekleidet, wenn auch keineswegs auffallend oder übertrieben elegant. Kokettes Sonnenschirmchen; auf der Brust trägt sie eine sehr schöne Rose).

Gisa: Guten Morgen, meine Herren! (Sie nimmt einen Schlüssel vom Brett.)

Diercks: (in scheinbar scherzendem Tone, aber doch hämisch) Fräulein Holm? Es ist bereits fünf Minuten vor acht.

Gisa: (lustig abfertigend) Dann wird´s aber höchste Zeit, dass sie in ihre Klasse gehen!

Flemming: Und wieder so schön mit Rosen geschmückt. Wozu eigentlich dieser Pleonasmus?

Gisa: Um unsern geliebten Chef zu ärgern. Ich weiß, er kann´s nicht ausstehen, wenn ich Blumen trage... (Flemming will etwas sagen, man hört Flachsmanns Stimme) Psst, meine Herren, die Nebelkrähe!

6. Szene

Weidenbaum. Riemann. Riemann. Betty. Negendank. Vogelsang. Flemming. Diercks. Gisa Holm. Flachsmann (magerer Herr, in den Fünfzigern, dünner Vollbart, der noch einige dunkle Stelen zeigt; goldene Brille. Sein Ton wechselt zwischen gleisnerischer Freundlichkeit und gelassener, bürokratisch-hochmütiger Härte. Sein Kopf ist stark nach vorn geneigt, und seine Blicke scheinen immer in allen Ecken herum zu suchen . Wenn er jemandem ins Gesicht sieht – was nur selten und bei allem Hochmut mit einer gewissen Scheu geschieht – so tut er es mit einem von unten heraufsteigenden Seitenblick. Er trägt einen sauberen, aber abgeschabten, grauen Rockanzug).

Flachsmann: (hinter der Szene). Da hängt schon wieder eine Mütze auf dem oberen Haken! Ich habe bestimmt, dass die Mützen auf den oberen Haken hängen sollen. (Tritt auf.) Herr Flemming?! Ihre Klasse war ohne Aufsicht!

Flemming: Ich weiß es, Herr Flachsmann; war sie laut?

Flachsmann: (ausweichend mit hämischer Betonung) Sie war ohne Aufsicht.

Flemming: Sie war also nicht laut. Das freut mich. – (Draußen.) Adieu, Frau Dörmann, adieu Maxi. (Ab).

Diercks hat den letzten Auftritt mit entsprechenden Mienen begleitend, wechselt mit Flachsmann einen Blick des Einverständnisses und geht langsam in die jenseits des Korridors liegende Klasse III ab.

Flachsmann: Äh – Fräulein Holm!

Gisa: Herr Flachsmann?

Flachsmann: Sie haben gestern während der Schulzeit in der Schule laut gesungen und sind dabei den ganzen Korridor entlang getanzt. Sie lieben wohl überhaupt den Tanz?

Gisa: Leidenschaftlich! Kennen sie Gottfried Keller? Der –

Flachsmann: (ihr in die Rede fallend) Nein. Es ist mir auch ganz einerlei, mit wem Sie tanzen. Ich möchte ihnen aber ein paar Verse vom Tanzen sagen –

Gisa: Ach, die von Goethe! (Ihn schmachtend ansehend)

"Lass sie sich drehen und lass du und wandeln;
Wandeln der Liebe ist himmlischer Tanz!"

Flachsmann: Goethe lese ich nicht, Fräulein Holm! Die Verse, die ich meine lauten so:

"Tanz, Jagd, Spiel, Schauspiel und derlei,
Das nennt die Welt zwar "Sündenfrei".
Doch willst du hören guten Rat:
Es ist ein Eis, das Waken hat."

Gisa: (mit unterdrücktem Mutwillen, scheinbar ernst.) Hm, hm! Von Heinrich Heine, nicht wahr?

Flachsmann: Fräulein Holm?! Ich scherze nicht! Wenn sie als Privatperson tanzen, so kann ich es ihnen ja wohl nicht wehren...

Gisa: (trocken) Nein.

Flachsmann: Sie haben aber in der Schule getanzt.

Gisa: Ja, ich war wieder mal riesig fidel.

Flachsmann: Das geht aber nicht!

Gisa: Nicht?

Flachsmann: Nein! Das ist durchaus unpassend. Eine Lehrerin sollte... ich wollte ihnen das früher schon sagen... (mit Beziehung) in ihrer Kleidung... in ihrer Haartracht.. und in ihren ganzen Betragen den Kindern stets ein Muster ruhigen Ernstes und gemessener Würde geben.

Gisa: (mit absichtlicher Naivität) Tu ich das denn nicht?

Flachsmann: Leider nein! Sind sind nun einmal Lehrerin...

Gisa: Leider Ja!

Flachsmann: ...und werden es voraussichtlich auch bleiben müssen, es sei denn, dass sie sich verheiraten...

Gisa: Ach, das möcht´ ich ja zu gern! Aber ich kann mich doch keinem anbieten!

Flachsmann: (vorsichtig) Fasst sollte man glauben, dass sich auch das mit ihren Anschauungen vereinigen ließe.

Gisa: Meinen sie? Nun vielleicht tu ich´s auch.

Flachsmann: Ich würde auch in der Schule keine Blumen tragen, Fräulein Holm.

Gisa: Und es müsste ihnen doch so reizend stehen!

Flachsmann: (verwirrt) Davon ist hier nicht die Rede. Blumen gehören nicht in die Schule.

Gisa: (drastisch) Da bin ich nun ganz anderer Ansicht!

Flachsmann: (sehr unangenehm) Fräulein Holm?! Hier entscheiden nicht Ihre Ansichten, sondern die meinigen.

Gisa macht mit ernstem Gesicht eine tiefe Verbeugung und geht. Hinter seinem Rücken dreht sie sich ein paarmal lautlos im Kreis, indem sie sich neckisch in den Hüften wiegt und dem Flachsmann Grimassen schneidet. Dann geht sie gemessenen Schrittes ab.

7. Szene

Flachsman. Dann Negendank.

Flachsmann hat sich am Schreibtisch niedergelassen und nimmt mit langsamer Bewegung eine Feder. Er klingelt.

Negendank: (tritt ein, immer mit militärischer Haltung und unerschütterlicher Ruhe) Herr Oberlehrer?

Flachsmann: Ich habe bestimmt, dass die schwarze Tinte rechts steht und die rote Tinte links.

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Die rote steht aber rechts und die schwarze steht links.

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Wenn ich es nun nicht bemerke, dann notiere ich etwas mit roter Tinte in ein amtliches Schriftstück.

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer. (Stellt die Tintenfässer um.)

Man hört die Schulglocke läuten.

Flachsmann: (sieht aufgeregt nach der Uhr) Das läutet ja beinahe zwei Minuten zu spät! Wer hat den heute das Läuten?

Negendank: Herr Diercks, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: (sofort aufschnappend) So... lassen sie die Leute herein!

8. Szene

Flachsmann. Negendank. Frau Dörmann und Max.

Fr. Dörmann tritt mit ihrem Söhnchen ein.

Flachsmann: (aufblickend, obenhin). Frau Dörmann? Sie wünschen?

Fr. Dörmann: Ich wollt´ gern meinen Maxi anmelden.

Flachsmann: Setzen sie sich. (Feierliche Pause, während welcher Flachsmann schreibt.)

Max: (plötzlich und sehr laut, indem er nach einem an der Wand hängenden Aunschauungsbild zeigt.) Ooh, Mama, guck mal, was´n großer Storch!

Fr. Dörmann: (ängstlich) Sch...t!

Flachsmann: (unfreundlich) Sst! (Nach einer abermaligen Pause, während der er weitergeschrieben hat, wendet er sich mit offizieller Kinderfreundlichkeit zu dem Knaben, indem er ihm die Hand hinhält.) An, mein kleiner Junge, wie heißt du denn?

Max zieht sich scheu zurück.

Fr. Dörmann: Maxi, gib doch schnell die Hand.

Maxi tut es wiederstrebend.

Fr. Dörmann: Wie heißt du?

Max: Maxi Dörmann. (Entreißt Flachsmann schnell die Hand und drückt sich wieder an seine Mutter.)

Flachsman: (geschäftlich) Haben sie die Papiere?

Fr. Dörmann: Ja. (Gibt sie)

Flachsmann: Es ist gut, sie bekommen Bescheid.

Fr. Dörmann: (Schüchtern) Herr Flachsmann?

Flachsmann: Hm?

Fr. Dörmann: Wäre es vielleicht möglich, dass mir für meine beiden ältesten das Schulgeld erlassen wird?

Flachsmann: (aufmerksam werdend) Warum?

Fr. Dörmann: Ich kann es eben nicht mehr aufbringen. Ich verdien´ 15 Mark die Woche, davon soll ich 6 Kinder ernähren und dann noch Schulgeld bezahlen... ich weiß nicht, wie ich das machen soll.

Flachsmann: Ja, sehen sie mal, Frau Dörmann (indem er ihre Schulter nahe der Brust berührt), sie könnten.... Negendank, gehen sie mal mit dieser Liste durch sämtliche Klassen...

Negendank: Gern, Herr Oberlehrer! (Ab)

Flachsmann rückt mit seinem Stuhl näher an Frau Dörmann heran und legt ihr wieder die Hand auf die Schulter. Während des Gespräches lässt er wiederholt die Hand an dem Arm der Frau Dörmann heruntergleiten; er legt die Hand auf ihren Oberschenkel. Er spricht mit lüstern-süßlicher Freundlichkeit. Frau Dörmann begegnet seinem Betragen mit einem durch Ängstlichkeit gehemmten Widerwillen.

Flachsmann: Sehen sie, Frau Dörmann, können sie nicht vielleicht mehr verdienen.?

Fr. Dörmann: Nein, wie soll ich das?

Flachsmann: An, da ließe sich ja vielleicht Rat schaffen.

Fr. Dörmann: Ja, wenn sie das könnten...?

Flachsmann: Vielleicht könnte ich ihnen da behilflich sein...

Fr. Dörmann: Ja?

Flachsmann: O ja, ich habe eine Menge Beziehungen zu den besten Kreisen... Wenn ich sie empfehle, dann sind sie empfohlen... und da würden sie jedenfalls sehr gut bezahlt werden... wenn ich´n Wort für sie einlege...

Fr. Dörmann: Ach, das wäre ja sehr nett von ihnen.

Flachsmann: Hm... Will gleich mal nachsehen... (Geht an einen Schrank rechts, nimmt ein Heft heraus, nähert sich dann von hinten Frau Dörmann und legt den Arm wie in väterlicher Vertraulichkeit um sie, während er in seiner Stimme die lüsternd zitternde Erregung nicht zu unterdrücken vermag.) Sehen sie, meine liebe Frau Dörmann, man muss nur nicht gleich verzagen

Fr. Dörmann: (steht in einer jähen Bewegung auf und reißt ihr Söhnchen an sich) Entschuldigen sie Herr Flachsmann... ich... ich hab´ keine Zeit mehr... ich muss nach Hause... die kleinen Kinder... und um die Stellen bemühen sie sich man nicht... ich... ich kann doch keine mehr annehmen... ich helf´ mir wohl... lassen sie bitte nur... (verstummt).

Flachsmann: (vollkommen kühl) Wie sie wollen, Frau Dörmann, aber auf Erlass des Schulgeldes machen sie sich keine Hoffnung... das geht nicht.

Fr. Dörmann: Aber erst müssen doch wohl meine Kinder Brot haben, ehe ich Schulgeld bezahle.

Flachsmann: (schnöde) Das ist ihre Meinung.

Fr. Dörmann: Ja, soll ich vielleicht meine Kinder hungern lassen... ?

Flachsmann: (Ist an die Tür gegangen und öffnet sie) Der Nächste, bitte!

Frau Dörmann und Max gehen ab, während Brockmann eintritt.

9. Szene

Flachsmann. Brockmann (kleines, verhunzeltes Männchen, den Hut in der Hand drehend, bleibt hinten stehen.)

Flachsmann: Treten sie näher.

Brockmann: Danke sehr, Herr Oberlehrer, danke sehr.

Flachsmann: Setzen sie sich.

Brockmann: Danke sehr, Herr Oberlehrer, danke sehr. (Will sich in den Stuhl links setzen.)

Flachsmann: (Auf den Stuhl rechts deutend) Hier! ... Sie wünschen?

Brockmann: Ich komme wegen meinem Rudolf, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: M?

Brockmann: Er hat nämlich von Herrn Flemming Schläge gekriegt.

Flachsmann: (sehr interessiert) Aha! (Freundlich) Und der Knabe hat Schaden davon genommen?

Brockmann: (eifrig) Äh, äh... nein!

Flachsmann: Oder ist er unschuldig bestraft worden?

Brockmann: (eifrig) Äh, äh... nein!

Flachsmann: Sie kommen doch, um sich über Herrn Flemming zu beschweren.

Brockmann: Nein! Nein! ...Bedanken... bedanken wollt´ ich mich bei ihm.

Flachsmann: (Kalt) So.

Brockmann: Ja, recht herzlich bedanken. Wir können nämlich mit dem Jungen nicht mehr fertig werden. Der Junge ist ja stärker, als meine Frau und ich zusammen. Er geht seinen eigenen Eltern zu Kopf. Er wollte seine eigene Mutter schlagen! Das muss nu ja wohl einer Herr Flemming erzählt haben, un der is furchtbar böse geworden un hat sich den Jung´ hergekriegt un hat ihn gehörig durchgewalkt. Un das hat geholfen! Wir brauchen jetzt bloß zu sagen: „Herr Flemming soll das zu wissen kriegen.” ... denn kuscht er. Der Mann hat wie´n Wohltäter an uns gehandelt. Das ist der Einzige, vor dem er Respekt hat...

Flachsmann: (der sehr ungern und mit einem gelegentlichen ironischen "M" zugehört hat, bricht das Gespräch mit einer unhöflichen Bewegung ab.) Es ist gut. Ich werd´s bestellen, Adieu.

Brockmann: (betroffen) A... Adieu, Herr Oberlehrer

Flachsmann: (An der Tür) Weiter, bitte!

10. Szene

Flachsmann. Frau Viesendahl. Später Negendank und Alfred Viesendahl.

Fr. Visendahl: (Vierzigerin von verblühtem Äußern, die in Kleidung, Sprache und Gehaben die Vornehme zu spielen sucht. Sie erscheint sehr indigniert.) Guten Morgen, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Guten Morgen, Frau Viesendahl, nehmen sie Platz. Womit kann ich dien?

Fr. Visendahl: Herr Oberlehrer, ich muss mich leider ernstlich beschweren über Fredis Lehrer.

Flachsmann: Also wieder Herr Flemming?

Fr. Visendahl: Jawohl.

Flachsmann: Solche Beschwerden sind mir leider nicht neues, Frau Viesendahl. Was ist es denn?

Fr. Visendahl: Herr Oberlehrer, sie wissen, das wir auf eine sehr gute Erziehung halten und dass wir jede Rohheit von unseren Kindern fernzuhalten versuchen. Mein Mann ist Beamter und ich bin die Tochter eines Zollassistenten, da brauch´ ich gar nicht erst zu sagen, dass die Kinder bei uns im Hause nicht Schlechtes hören. Herr Flemming erlaubt sich aber Ausdrücke gegen die Kinder, die einfach empörend sind.

Flachsmann: Aha, also wieder Schimpfworte. Was hat er gesagt?

Fr. Visendahl: Herr Oberlehrer, sie können sich denken, dass es einer gebildeten Frau schwer fällt, solche Ausdrücke in den Mund zu nehmen; aber schließlich muss man doch seine Kinder schützen. "Schafskopf" hat er zu meinem Kinde gesagt.

Flachsmann: So. (drückt auf den Knopf am Tisch.)

Negendank: (Tritt ein) Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Holen sie mal Alfred Viesendahl aus der ersten Klasse.

Negendank: Sofort Herr Oberlehrer (Ab.)

Flachsmann: Hat er sonst noch Schimpfworte gebraucht?

Fr. Viesendahl: (sich besinnend) Augenblicklich wüsste ich keine. Und auch das Wort "Schafskopf" hab´ ich erst von andern Kindern erfahren; mein Knabe hatte zu Hause nichts gesagt. Aber so was will man doch nicht sitzen lassen. Unsere Kinder hören zu Hause kein grobes und unfeines Wort; da will man doch auch nicht, dass sie in der Schule so etwas hören. Mein Mann war furchtbar böse; ich hatte man Mühe ihn zu besänftigen.

Alfred Visendahl tritt ein.

Flachsmann: (mit der offiziellen Kinderfreundlichkeit) An, mein Sohn? Sage mal, bist du hier in der Schule wohl mal geschimpft worden?

Alfred: (verwundert) Geschimpft...? Nöö!

Flachsmann: Besinne dich nur. Hat zum Beispiel Herr Flemming nicht mal "Schafskopf" zu dir gesagt?

Alfred: (sich besinnend) Och ja.

Flachsmann: Hat vielleicht Herr Flemming auch sonst noch Schimpfworte gebraucht?

Alfred: Schimpfworte? Nöö.

Flachsmann: (immer freundlich ermunternd) Besinne dich nur ruhig... Nun?

Alfred: Och, Herr Flemming macht immer so´n Spaß mit uns, denn kriegt er uns bei den Ohren und sagt: Passt auf ihr Halunken, ich häng´ euch bei den Beinen auf, un denn lachen wir fix.

Fr. Viesendahl: (schüttelt entrüstet den Kopf und wechselt einen Blick mit Flachsmann.)

Flachsmann: Ja, aber wir reden jetzt nicht vom Spaßmachen; ich meine, ob Herr Flemming dich im Ernst geschimpft hat, zum Beispiel... "Dummkopf"... oder "Esel"... oder gar "Rindvieh"...?

Alfred: Nein, "Rindvieh" sagt mein Papa immer.

Fr. Viesendahl: Aber Fredi!!

Flachsmann: Es ist gut, mein Sohn, du kannst jetzt wieder gehen. (Alfred geht ab.)

Fr. Viesendahl: Ich begreife nicht, wie der Knabe dazu kommt... mein Mann sagt nie so etwas...

Flachsmann: Sie können sich darauf verlassen, Frau Viesendahl, dass ich Herrn Flemming eine ernstliche Rüge erteilen werde; ich verlange von meinen Leuten, dass sie mit den Kindern in liebevoller Weise verkehren und jede Beschimpfung oder Verhöhnung durchaus unterlassen. (Mit Beziehung) Freilich, wer einmal die rechte Liebe nicht hat...

Fr. Viesendahl: Ja, Herr Oberlehrer, das mögen sie wohl sagen! Dieser Herr Flemming scheint überhaupt ein merkwürdiger Jugendbildner zu sein. Ich hab´ mir man erzählen lassen, dass er sogar ein Bild von einem nackten Menschen der Klasse aufgehängt hat und die Kinder davon unterrichtet hat. Ich meine: Sowas gehört doch nicht in die Schule, und´n Lehrer, der die Jugend bilden soll, sollte sich doch´n bischen genieren. (Mit Prätension) Wenn ein Mensch kein Genie hat, dann taugt er auch sonst nicht viel.

Flachsmann: Mmm... ja, liebe Frau Viesendahl, mir ist dieser Unterricht auch nicht nach dem Herzen; aber wir müssen das unterrichten. Na... die Sache wird erledigt. (Oberflächliche Verbeugung.)... Adieu.

Fr. Viesendahl: Adieu, Herr Oberlehrer.

11. Szene

Flachsmann. Negendank. Dann Diercks.

Flachsmann: (hinausrufend) Negendank!

Negendank: Herr Oberlehrer!

Flachsmann: Haben sie die Versäumnisliste?

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer!

Flachsmann: Und die Entschuldigungszettel?

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer!

Flachsmann nimmt die Liste und setzt sich.

Negendank tritt mit einigen Zetteln in der Hand ebenfalls an die Tür.

Flachsmann: Karl Dieckmann fehlt schon wieder? Was ist denn mit dem wieder los?

Negendank: Hier ist der Zettel. (Will Lesen)

Diercks: (kommt hastig durch die Tür) Herr Flachsmann! Kann ich sie einen Augenblick sprechen?

Flachsmann: Ja?... Ist es etwas...?

Diercks: Ja. (nickt)

Flachsmann: Negendank, lassen sie uns allein!

Negendank: Gern, Herr Oberlehrer. (Ab)

Diercks: Eine große Neuigkeit!

Flachsmann: Na?

Diercks: Eben kommt Weidenbaum zu mir in die Klasse und erzählt mir, dass Kleinmüller diese Nacht gestorben ist. Damit wird eine Stelle in der ersten Gehaltsklasse frei. Die dafür in erster Linie in Betracht kommen, sind Flemming und ich. Wir haben beide das gleiche Dienstalter

Flachsmann: An, du kannst doch ganz unbesorgt sein, verlass dich auf mich: ich habe so über dich und so über ihn berichtet, dass du befördert wirst und er nicht.

Diercks: Soo? Nee, mein Lieber, so sicher scheint mir die Sache noch lange nicht!

Flachsmann: (mit einem Blick auf die Tür) Pst! (Er geht an die Tür links und überzeugt sich, dass keiner dahinter steht.)

Diercks: (leiser) Wer weiß, ob der Kerl nicht in der Behörde seine Freunde hat! Der Schuft versteht es ja großartig, sich ´n weißen Fuß zu machen! Das war ja schon auf´m Seminar so! Jan Flemming war immer lieb Kind. Weil er in seinen Aufsätzen und Präparationen immer "Gedanken" hatte, wo nichts dahinter steckte! Und weil er keine Kollegen beim Direktor verpetzte!

Flachsmann: (eifrig und misstrauisch) Ist das war?

Diercks: (sofort zurück ziehend) Beweisen kann ich´s natürlich nicht... du brauchst es nicht weiter zu sagen! ...aber schwören möcht´ ich darauf! Er wusst´ es natürlich so zu machen, dass keiner was merkte. Um sonst ging es nicht immer "Flemming vorn" und "Flemming hinten". Uns siehst du, wenn ich diesen Halunken mal den Rang ablaufen könnte, wenn ich ihm so ins Gesicht sagen könnte: du, der überkluge, der "geniale" Flemming, der "alles kann", du bist nicht befördert; aber ich bin befördert... das wäre mir eine Wollust, das wäre der größte Triumph, den ich mir denken könnte!

Die Klasse des Diercks ist inzwischen immer lauter geworden; das leise Geplauder der Kinder hat sich allmählich zum lauten Stimmengewirr gesteigert.

Flachsmann: (fast schüchtern) Du musst wohl mal nach deiner Klasse sehen.

Diercks: (öffnet die Tür, stellt sich in die offene Klassentür und schreit hinein.) Wollt ihr ruhig sein?! (Sofort tritt Totenstille ein) Wenn ich noch einen einzigen Laut höre, hol´ ich mir den ersten besten heraus und versohl´ ihn, dass er an mich denkt! (Schließt die vordere Tür) Und sieh´ mal: Freitag morgen ist schon Sitzung der Behörde! Jedenfalls werden sie bis dahin noch Bericht von dir einfordern. Der Inspektor wird ja jedenfalls auch noch dieser Tage bei dir nachfragen, und da wollt´ ich dich noch mit einigem Material versorgen.

Flachsmann: (mit schadenfroher Begierde) Ja, hast du noch was? Was ist es denn?

Diercks: Ich hab ihn doch neulich in seiner Klasse vertreten, als er krank was.

Flachsmann: Ja, ja! Und?...

Diercks: (selbstsicher) Nimm nur dein Notizbuch!

Flachsmann setzt sich schnell an seinen Schreibtisch.

Diercks: (vorn am Schreibtisch stehend, vorlesend) Also: Die Schüler des Herrn Flemming konnten die Propheten des alten Testaments wohl vorwärts, aber nicht rückwärts aufsagen.

Flachsmann: Dabei habe ich diese Übung noch extra vorgeschrieben.

Diercks: 83% der Schüler schrieben nicht im Winkel von 45°, sondern einige schräger, die meisten viel steiler. Herr Flemming hatte den Knaben erklärt: Das könnten sie machen, wie sie wollen.

Flachsmann: Das ist... Das ist doch... dieser freche Kerl stößt alles um, was ich aufgebaut habe!

Diercks: Am 27. Mai erteilte Herr Flemming einem Knaben eigenmächtig die Erlaubnis, zwei Schulstunden zu versäumen.

Flachsmann: Das ist unglaublich! Ohne mich zu fragen!

Diercks: Herr Flemming erzählte ferner in seiner Klasse die Irrfahrten des Odysseus, obwohl sie nicht im Lehrplan stehen.

Flachsmann: Der Mensch wird immer dreister statt zahmer.

Diercks: Am 15. Juni... also heute... bezeichnete Herr Flemming seinen vorgesetzten Oberlehrer als einen alten Fuchs.

Flachsmann: (im Stillen geschmeichelt) So?! Also scheint er mich doch nicht mehr für so ganz dumm zu halten wie früher!

Diercks: O doch! Jawohl! Er sagte gleich darauf, unter deiner Leitung würde nichts als Blödsinn gemacht. Sich selbst nimmt der große Mann natürlich aus!

Flachsmann: Na ja, wir wollen ihm Blödsinn!

Diercks: Nu pass´ mal auf: Am 8. Juni besuchte Fräulein Gisa Holm Herrn Flemming in seinem Klassenzimmer, am 13 Juni Herr Flemming Fräulein Holm in ihrem Klassenzimmer und am 14. Juni Fräulein Holm wiederum Herrn Flemming in seinem Klassenzimmer, und jedesmal verweilten die selben längere Zeit, bis zu 13 Minuten, allein in dem betreffenden Zimmer... Was sagst du zu meinen Beobachtungen?

Flachsmann: Das ist ja sehr interessant! Das ist ja...

Diercks: Das gehört nicht in deinen Bericht, ist aber wohl sonst mal zu gebrauchen!

Flachsmann: Das ist ja wirklich köstlich! Und gegen mich ist sie... (sich schnell besinnend) ich meine... überhaupt gegen uns andere Kollegen ist sie immer die unnahbare Dame!

Diercks: Sie wird schon nahbarer werden!

Flachsmann: Da müssen wir doch mal aufpassen! (Ist in der Erregung über das zuletzt Mitgeteilte aufgestanden und hin und her gegangen. Das Geplauder der Klasse hat sich wieder zum beträchtlichen Lärm gesteigert. Flachsmann geht hin und stellt sich in die Klassentür.)

Flachsmann: (mit amtlicher Güte) Aber liebe Kinder! Was ist denn das für ein Betragen? Ich denke doch, ihr seid alle meine lieben, gesitteten Kinder! Wollt ihr nun einmal ganz ruhig und brav sein und eure Arbeit machen?

Chorus der Kinder: (hinter der Szene) Jaaa!

Flachsmann kommt zurück und schließt wieder die Tür.

Diercks: Du musst in deinem Bericht besonders durchblicken lassen, dass er beständig deine Autorität untergräbt, dass er in den Konferenzen immer opponiert und dass er mit seinen ewigen Anträgen und Neuerungen das ganze Kollegium unruhig macht: das können sie oben am wenigsten ertragen.

Flachsmann: Sei nur ruhig. Lass mich nur machen. Ich hab´ ja selbst noch einen Haufen Material gegen ihn. Den befördern sie nicht, da kannst du Gift drauf nehmen. (Schüchtern) Aber du musst wohl jetzt in deine Klasse gehn...

Diercks: Hm.

Flachsmann: Und... du... Diercks...

Diercks: Ja?

Flachsmann: Du schriebst neulich während der Unterrichtsstunde Geschäftsbriefe... für deine Versicherungsagentur... lass das nur nicht mal jemand sehen!

Diercks: Wenn du die Augen zudrückst, sieht es kein Mensch.

Flachsmann: Ja, es ist auch sonst verschiedenes bei dir nicht in Ordnung. Wenn mal der Inspektor kommt...

Diercks: Lieber Freund, du weißt doch selbst am besten, dass der Inspektor nur sieht, was du ihm zeigst.

Flachsmann: Es kann aber auch mal einer von der Regierung kommen.

Diercks: Hast du schon mal einen gesehen? Und wenn einer kommt, dann wird er eingewickelt, dass ihm die Augen übergehen. Du verstehst dich doch auf ´n Parademarsch!

Flachsmann: So! Und wenn Flemming dahinter kommt?

Diercks: Flemming? Der große Mann trägt die Nase viel zu hoch; der sieht nicht. Und wenn er was sieht, sagt er nicht.

Flachsmann: Und eben sagtest du selbst, dass er euch beim Seminardirektor verpetzt hätte?

Diercks: (in augenblicklicher Verlegenheit) Jaaa... wenn auch... das ist was anderes...

Flachsmann: Jedenfalls, das muss ich dir sagen: so darfst du´s nicht weiter treiben... ich leg´ die ja gewiss nichts in ´n Weg! ...aber das darf ich nicht dulden. Der Inspektor hat schon so´n Wort fallen lassen...

Diercks: Das ist nicht wahr! Oder du hast ihm was gesteckt! Sonst fällt ihm so was gar nicht ein!... Ich denke, wir bleiben bei unserer alten Verabredung: du tust mir nichts, dann tu ich dir nichts. Durch mich kommst du nicht in´n Druck, da sei nur unbesorgt. (Großer Lärm und Wehgeschrei aus der Klasse, wie von einer Prügelei) Verdammte Bande! (Wütend ab in seine Klasse)

Flachsmann: (ihm nachsehend, vor sich hin) Filou! Wenn ich dich mal auf gute Art loswerden könnte! (setzt sich an den Tisch und drückt nach einiger Zeit auf die Klingel.)

12. Szene

Flachsmann. Negendank.

Negendank: Herr Oberlehrer!

Flachsmann: Negendank! (Vertraulich) Können sie mir etwas über den Flemming berichten?

Negendank: Über Herrn Flemming? Nein, Herr Oberlehrer!

Flachsmann: Ich sagte ihnen doch, sie möchten einmal zusehen... und hinhorchen... was Herr Flemming so tut und treibt... in der Klasse... und überhaupt... wissen sie das nicht mehr?

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Nun? Was haben sie denn beobachtet?

Negendank: Ich, Herr Oberlehrer?

Flachsmann: Ja, ja!

Negendank: Nichts, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Nichts (Heimlich) Ich sagte ihnen doch, sie sollten, ohne dass es jemand sieht, in das Zimmer neben Herrn Flemmings Klasse gehen, wo man jedes Wort deutlich hören und durch die Spalte in der Füllung alles übersehen kann!

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: An, haben sie das getan?

Negendank: Nein, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: (gereizt) Warum nicht?

Negendank schweigt.

Flachsmann: (scharf, aber mit unterdrückter Stimme) Was ich ihnen sage, das haben sie zu tun, ein für allemal!

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Ich kann doch nicht alles tun.

Negendank: Nein, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Ein Schaf sind sie.

Negendank: (fest und immer mit militärischer Ruhe). Nein, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Was?

Negendank: (wie oben) Ich bin quasi kein Schaf.

Flachsmann: Ach was!... Lesen sie die Zettel!

Negendank setzt einen Kneifer mit Litze auf die Nase und nimmt die Entschuldigungszettel.

Flachsmann: Was ist mit dem Karl Dieckmann?

Negendank (liest unerschütterlich, ernst und geschäftsmäßig):

Der Unterzeichnete bescheinigt hiermit, dass wir wegen Verlobung die Zeit verschlafen haben. Heute Morgen natürlich Katzen-Jammer, dass wissen sie wohl, denn als wir nach die Uhr sehen und meinen sie is´ sieben, da is´ sie natürlich acht, weil sie still gestanden hat. Folglich bitte ich meinen Sohn Karl mich zu straffen, denn eigentlich habe ich ja die Prügel ferdient, was sie höflichs entschuldigen müssen.

Fritz Dieckmann
 

Flachsmann: Ja, Prügel wären den guten Leuten auch sehr gesund... leider darf man´s nicht

Negendank: Ja, Herr Oberlehrer, ich glaube, wir müssen da doch auch noch die sozialpolitischen Verhältnisse etwas berücksichtigen; der Mann muss täglich schwere arbeiten–

Flachsmann: Weiter, weiter! Gustav Waldau.

Negendank (liest):

Hochgeborener Herr Direktor!

Bedauerlicher Weise ergreife ich die Feder, um Hochgeboren darin zu informieren, dass ich meinen Guschi wegen Krankheit seiner Person drei Tage der Schule enthalten habe. Der Arzt hält es für eine heftige Darmguitarre, wohingegen ich für innerliche Drüsen inkliniere.

Mit untertänigster Hochachtung
Ilse Waldau.
 

Flachsmann: Das soll sie eher melden, die gute Frau.

Negendank: Ja, aber ich glaube, wir können da Nachsicht üben, Herr Oberlehrer; es ist ´ne sehr feine und gebildete Frau...

Flachsmann: (wie beiläufig) Was schreibt sie? "Hochgeboren...?" (Nimmt den Zettel und liest.) Hm.. nun... ich will es diesmal entschuldigen; aber sagen sie ihr, dass sie ihren Sohn rechtzeitig krank zu melden hat. Weiter: Hermann Stoppenbrink.

Negendank (liest):

Geehrter Herr Lehrer,

meine zarte Ehehälfte ist mir ausgerissen, Nu steh´ ich allein dazwischen und bin Weib, Knecht, Magd, Vieh und alles, was sein muss. Darum kommt Hermann heute zu spät. Seien sie man nicht böse, Herr Lehrer, das Weib hat nie was getaugt.

Dies bescheinigt mit Hochachtung
Hans Stoppenbrink
vorläufiger Witwer von 4 Kindern.
 

Flachsmann: Eine rechte Hundewirtschaft.

Negendank: Ich hab´ mir sowas immer gedacht. Die Frau war mir quasi ein philosophisches Rätsel...

Flachsmann: So, weiter: Gerhard Maatz.

Negendank (liest):

Sehr geehrter Herr,

mein Sohn Gerhard kann die Schule nicht besuchen, weil er sich den Fuß verletzt hat.

Hochachtungsvoll
Friedrich Maatz.

Komischer Stil!

(Es klopft.)

Flachsmann: Herein!

13. Szene

Flachsmann. Negendank. Der Schuldiener Brösecke tritt auf (Großer, breiter und sehr wohlgenährter Herr mit rötlichem, vollem Gesicht, schneeweißem Haupthaar und ebensolchem Pastorenbart. Keine Brille. Langer, zugeknöpfter Gehrock. Seine ganze Erscheinung atmet Wohlleben, Behaglichkeit und ungeheure Bonhommie. Breite, sehr joviale Sprechweise eines alten Mannes. Er knüpft sehr an das an, was er sagt, ein vergnügtes Gelächter, ohne das ein rechter Grund dazu vorläge).

Brösecke: Guten Morgen, mein lieber Herr Flachsmann!

Flachsmann: (ihn mit großer Devotion, aber ohne alle Befangenheit behandelnd) Ah, guten Morgen, Herr Inspektor. Große Ehre, Herr Inspektor! Bitte gütigst Platz zu nehmen.

Brösecke: Danke, danke. (Will sich auf den einfachen Stuhl rechts setzen)

Flachsmann: Bitte hier, Herr Inspektor, bitte!

Brösecke: (setzt sich in den Armstuhl links) Danke, danke seht, danke.

Flachsmann: Negendank: legen sie die Zettel hier ins Heft; ich werde selbst nachsehen. Und nehmen sie diese Verfügung und lassen sie sie von sämtlichen Mitgliedern des Kollegiums unterzeichnen.

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer! (Ab.)

Brösecke: Immer im Dienst! Immer Organisator! Hahahaha...

Flachsmann: Ordnung regiert die Welt, Herr Inspektor.

Brösecke: Hahahaha.... ja, ja. Es ist mir immer eine Freude, mir ihre Schule anzusehen, hahaha... da geht alles wie geschmiert, wie... wie am Schnürchen... hahahahaha. Alles militärisch: ruff, ruff, ruff, ruff... wie auf dem Exerzierplatz... haahahahaha. Bravo, bravo. Sie machen mir mein Amt leicht, lieber Herr Flachsmann.

Flachsmann: Das freud mich unendlich, Herr Inspektor. Wollen sie sich nicht mal den Unterricht anhören?

Brösecke: (sehr energisch und mit Lachen abwehrend). Nönönönönöh. Wozu denn? Ich weiß ja, dass alles famos geht! Hahahaha... würde nur störend in das Uhrwerk eingreifen, hahaha... ja.

Flachsmann: Wie steht´s denn mit dem Befinden, Herr Inspektor?

Brösecke: Ääääääh... das könnte besser sein. Ich habe des Nachts immer so einen Druck im Magen, hahaha... ja. (Eifrig) Dabei fällt mir ein, ich wollte sie um die Adresse bitten, von der sie ihren Schinken beziehen.

Flachsmann: Ich werde sie ihnen aufschreiben, Herr Direktor.

Brösecke: Der Schinken ist nämlich... oooooh...das ist etwas ganz Wunderbares. Das Magere so... so fest... und dabei so zart... wie, wie Mürbeteig, hahahahaha... und das Fett! So rosig wie Apfelblüten. Und süß! (Wund und Finger spitzend) Süß wie Nusskern. Ganz... ganz köstlich.

Flachsmann: (der wiederholt zugestimmt hat, reicht ihm ein Zettelchen) Hier, Herr Inspektor.

Brösecke: (liest) Jochen Immensack... (Das Übrige unverständlich) Danke, danke, lieber Herr Flachmann, danke schön. (Die Schulglocke wird geläutet.) Was ist... es ist doch nicht schon neun?

Flachsmann: Ja, Herr Inspektor.

Brösecke: O, da muss ich ja machen, dass ich weiterkomme. Ich muss ja noch nebenan bei der Mädchenschule... I, es ist mir doch, als wollte ich noch etwas bei ihnen... (legt die Finger an die Stirn) hmmm... Nein, es fällt mir nicht ein. Hahahahaa... fällt mir nicht wieder ein! An, Adieu, Herr Flachsmann, Adieu, bleiben sie da.

Flachsmann: O bitte, Herr Inspektor... (ihn an die Tür geleitend)

Brösecke: (dreht sich in der Tür plötzlich wieder um) Halt, jetzt hab ich´s. Hahahaha. Richtig. Also Freitag morgen haben wir Sitzung und da soll ein Lehrer in die erste Gehaltsklasse befördert werden an Stelle des verstorbenen... äh...

Flachsmann: Kleinmüller.

Brösecke: Richtig: Kleinmüller. Da handelt es sich, soviel ich weiß, um zwei Herren von ihrer Schule... Herr Diercks, mein ich, und Herr...

Flachsmann: Flemming.

Brösecke: Flemming, jawohl. Wen empfehlen sie denn, hä...

Flachsmann: Ohne Zweifel Herrn Diercks.

Brösecke: Soso. Herrn Diercks. Das ist doch der Sohn von dem Verstorbenen Kanzlisten Diercks, den wir an der Schulbehörde hatten, nicht wahr?

Flachsmann: Ganz recht, Herr Inspektor.

Brösecke: Soso... Also Herrn Flemming empfehlen sie nicht!

Flachsmann: Nein, durchaus nicht. Herr Flemming ist ein widerwärtiger und widersetzlicher Mensch voll geistigen Hochmuts, obwohl ihm zu einem rechten Lehrer noch fast alles fehlt. Er ist leider ein sehr störendes Element in unserer Schulorganismus, das sich der strikten Ordnung durchaus nicht fügen will...

Brösecke: (macht zum erstenmal ein ernstes, bekümmertes Gesicht) Ooooh... was sie sagen, Herr Flachsmann. Und dabei hieß es doch von diesem Flemming, dass er ein ungemein begabter Mensch sei! Ja, ja, ich habe das nun schon öfter erfahren: eine große Begabung ist ebenso oft ein Fluch, als sie ein Segen ist. Und das hat mich immer getröstet. Ja. Na, sie schicken mir ja noch Bericht über die beiden, wohl?

Flachsmann: Natürlich, Herr Inspektor, und sie werden aus diesen detaillierten Berichten ersehen, dass nach Recht und Billigkeit nur Herr Diercks befördert werden kann.

Brösecke: Jajajajajaja, Herr Flachsmann, ich verlasse mich ganz auf sie. "Detaillierten Bericht" ... das ist recht! Damit ich genau informiert bin nicht wahr? Schön, schön. Na, auf Wiedersehen!

Flachsmann: Auf Wiedersehen, Herr Inspektor! (Geht mit ihm hinaus.)

14. Szene

Flachsmann. Negendank. Gleich darauf Flemming.

Flachsmann: (vor der Tür auf dem Gange stehend die Hand über den Augen) Steht da nicht der... Herr Flemming?

Negendank: Jawoll, Herr Oberlehrer!

Flachsmann: Er möchte zu mir kommen.

Negendank: Sofort Herr Oberlehrer (indem er nach rechts geht.) Herr Flemming... (Das Übrige unverständlich)

Herr Flachsmann setzt sich an seinem Tisch und nimmt ein schwarzes Heft her.

Flemming: (Tritt auf und tritt an den Tisch) Herr Flachsmann?

Flachsmann: (amtlich gewichtig) Nehmen sie Platz.

Flemming setzt sich.

Flachsmann: Sie haben ja doch jetzt eine Freistunde, nicht wahr?

Flemming: Jawohl.

Flachsmann: (nach einer gewichtigen Pause) Es ist Bericht über sie eingefordert worden. Um ihnen zu beweisen, dass ich durchaus offen und wohlwollend gegen sie verfahre, werde ich ihnen die Außenstellungen die ich zu machen habe, auch mündlich machen.

Flemming: (während der ersten Hälfte der Szene einen ruhigen Humor zeigend) Wäre es nicht noch offener und noch wohlwollender, wenn sie mich den ganzen Bericht lesen ließen?

Flachsmann: Die Berichte sind geheim.

Flemming: Nun, dass sie mir persönlich ihre Ausstellungen machen, ist ja ihre Pflicht.

Flachsmann: Es steht ganz bei mir, wieweit ich diese Pflicht erfüllen will.

Flemming: Seine Pflicht tut man ganz, Herr Flachsmann.

Flachsmann: Es freut mich, dass Sie zu dieser Einsicht gekommen sind.

Flemming: Das ist keine Einsicht, Herr Flachsmann; das war mir von jeher sicheres Gefühl.

Flachsmann: (geärgert) kommen wir zur Sache... Ich will vorausnehmen, was ihr außerdienstliches Verhalten betrifft. Sie sind vorgestern mit mehreren Freunden nachts um drei Uhr von einem Gelage heimgekommen, haben sich dann aus reinem Übermut mit ihrer vollen Kleidung in den Mühlenteich gestürzt und sind längere Zeit darin umher geschwommen.

Flemming: (vernünftig) Ja, das war famos.

Flachsmann: Sie sind dann von einem Schutzmann wegen unbefugten Badens notiert worden.

Flemming: Stimmt.

Flachsmann: Ich mache sie darauf aufmerksam, dass sie sich durch solche Handlungen der für eine erfolgreiche Führung Ihres Amtes erforderlichen Achtung beim Elternpublikum verlustig machen. Ein Lehrer soll sich ganz besonderer Vorsicht befleißigen.

Flemming: (trocken) Wenn er nicht schwimmen kann... freilich

Flachsmann: Ich spreche hier nicht vom Schwimmen, sondern ganz allgemein. Sie sind auch in der öffentlichen Versammlung gewesen, wo über die Wohnungsfrage verhandelt wurde.

Flemming: Stimmt. Als Lehrer interessiere ich mich für die Wohnungen meiner Schüler.

Flachsmann: Das ist überflüssig. Ein Lehrer soll sich ganz auf die Arbeit in der Klasse beschränken und all dergleichen Dinge getrost der Obrigkeit überlassen.

Flemming: (immer stillvergnügt) Sie wissen ja aber gar nicht, ob ich nicht mit den prachtvollsten Besinnungen bei der Versammlung war.

Flachsmann: Das ist einerlei. Ein Lehrer sollte dem öffentlichen leben überhaupt fern bleiben. Das erhält ihm die Achtung der Bürger und ist auch für ihn sicherer.

Flemming: Herr Flachsmann, ich lege auf mein Recht viel mehr Wert als auf meine Sicherheit.

Flachsmann: (hämisch) Nun ja, wenn sie die Folgen tragen wollen...

Flemming: Das will ich.

Flachsmann: Was ihr Verhalten im Dienste anbetrifft, so gibt es leider zu noch größerem Tadel Anlass.

Flemming: (bedauernd) Ach...!

Flachsmann: Sie haben an den heißen Tagen die Kinder auf den Hof geführt, ihnen gestattet, die Jacken auszuziehen und haben selbst in Hemdärmeln unterrichtet.

Flemming: Ist ihnen bekannt, dass Pestalozzi das öfter tat?

Flachsmann: Pestalozzi konnte tun, was er wollte. Sie können nicht tun, was sie wollen. Abgesehen davon, dass es höchst unwürdig und schamverletzend war, haben sie mich nicht um Erlaubnis gefragt, das ist das Schlimmste. Der Lehrer soll sich der vorgesetzten Autorität fügen.

Flemming: (ruhig) Der Lehrer soll kein Knecht sein, sagt Rousseau, sonst macht er aus dem Kinde einen zweiten Knecht.

Flachsmann: Rousseau gibt es für mich überhaupt nicht. Für meine Schule gilt, was ich sage. Die Schule soll die Kinder zwar nicht zu Knechten, aber zu Untertanen machen.

Flemming: Aha!

Flachsmann: Sie haben ferner in den schriftlichen Arbeiten der Schüler wiederholt Fehler übersehen.

Flemming: Herr Flachsmann! Beim Korrigieren von 50 Heften wird man schließlich stumpfsinnig. Nur der wird stumpfsinnig, der es nicht mehr nötig hat.

Flachsmann: Oooooh... ich habe in meinem Leben so viele Hefte korrigiert und bin auch nicht stumpfsinnig geworden.

Flemming: (trocken) Nein?

Flachsmann: (starrt ihn misstrauisch an) Nein. Sie erlauben sich ferner willkürliche Abweichungen vom Lehrplan. So haben sie beispielsweise in England nur 15 Städte lernen lassen, während der Lehrplan 33 vorschreibt.

Flemming: Dafür habe ich den Kindern lieber recht viel von Steinkohle und Baumwolle erzählt, das sind Dinge, die sie täglich brauchen und vor Augen haben und die für England und für Deutschland mehr bedeuten als 197 Städte. Das macht den Kindern Freude und ist wichtiger, als dass ich ihnen die Köpfe voll toter Namen pfropfe, für die ihnen später kein Hund was gibt.

Flachsmann: (mit gemächlicher Bosheit) Herr Flemming?! Alle diese Ansichten können sie ja haben, sie dürfen sie nur nicht in der Schule zur Geltung bringen. Sie haben auch in der 3. Klasse die Irrfahrten des Odysseus erzählt.

Flemming: Jawohl. Wegen ihres unermesslichen poetischen Gehalts...

Flachsmann: Herr Flemming?! Poesie ist Nebensache. Poesie hat in der Schule nicht verloren... soweit sie nicht von der Behörde vorgeschrieben ist natürlich. Das bringt mich auf etwas anderes. Zu den... "Reformen", die sie anstreben, gehört es auch, dass sie die Kunst in die Schule bringen wollen. Sie haben die Wände ihrer Klasse mit Bildern behängt; sie züchten Blumen in der Klasse; sie haben sogar die Kinder abends versammelt, ihnen Sachen von Goethe und Schiller vorgelesen und ihnen Musik vorgemacht. Sie machen damit die Kinder nur begehrlich und lenken sie von dem ab, was Not tut. Ich muss ihnen das verbieten.

Flemming: (noch an sich haltend) Herr Flachsmann! ... Seit dem ersten Tage, dass ich an ihrer Schule bin, können sie mich nicht ausstehen. Das ist gegenseitig: ich sie auch nicht. Warum wollen wir das nicht ehrlich aussprechen. Ich habe, wie sie wissen, schon vor einem Jahr meine Versetzung beantragt. Der grüne Tisch hatte kein Verständnis für keine Individualgefühle. Der grüne Tisch "beschied" mich "abschlägig" und befahl mir, mich den Anordnungen meiner Vorgesetzten zu fügen.

Flachsmann: (hämisch triumphierend) Also?

Flemming: Wir sind aber zwei unvereinbare Gegensätze. Wir wollen das "Alterprobte" Millionen Mal wiederholen, ich will Neues erproben. Das ist ja das Greuliche an unserer Schulmeisterei, dass kein Ikarusflug darin ist, kein Wagemut, kein Sturm, kein Drang! Wer Großes leisten will, muss Unmögliches wollen. Sie wollen in der Spur ihrer hunderttausend Vorgänger fahren... ich suche neue Wege, ich...

Flachsmann: (immer mit hämischer Gelassenheit) Herr Flemming? Die Schule braucht ihre neuen Wege nicht. Es bedarf nur der treuen Pflichterfüllung, besonders der Treue im Kleinen. Die Pädagogik ist heutzutage so vollkommen, dass sie keine Reformen braucht.

Flemming: (seinen Ton parodierend) Herr Flachsmann?! So denken die Chinesen, aber nicht die Deutschen. Ich muss es anders versuchen, mich ihnen klar zu machen. Ihnen ist die Schulmeisterei ein Handwerk, mir ist sie eine Kunst. Sie meinen, sie könnten den rechten Unterricht "verfügen" ... Herr Flachsmann, mit einer Million von "Verfügungen" kommen sie an das Werk eines Lehrers nicht heran! Wenn ich vor meinen 50 Jungen stehe, dann steigen 50 Seelen in 50 Werke vor mir auf. Wenn die 50 Herzen mir entgegen streben und ich ihnen das Beste, Schönste gebe, was ich habe, dann ist jeder Dritte ein Eindringling, dann quillt mir das Gesetz meines Schaffens aus meiner Kraft. Wenn ich vor meinen 50 Jungen stehe, dann sind 51 Essen im Gange, in deren Zukünftiges geschmiedet wird, nicht Vergangenes. (Immer wärmer) Sie haben für mein Werk und seine Früchte nie einen Blick und nie ein Wort gehabt, Seit vier Jahren ringe ich nach Luft in dieser Atmosphäre von geistigem Tod! Seit vier Jahren schrauben sie an mir herum wie an einem toten Rad in dem toten Uhrwerk ihrer Schule. Ich bin ein freier, schaffender Geist und schaffe, was ich will und was ich muss!

Flachsmann: (wie oben) Gleichwohl werden sie sich darein finden müssen, dass ich ihre Arbeit in Zukunft noch etwas genauer beaufsichtige als bisher.

Flemming erhebt sich mit einem jähen Ruck.

Flachsmann: Warum stehen sie auf? Ich habe sie noch nicht entlassen.

Flemming: (sehr kurz und rauh) Ich wünsche zu stehen.

Flachsmann: (lauert ihn von unten auf an) Sie werden mir von jetzt an jeden Tag zu Kontrolle die Arbeiten ihrer Schüler vorlegen.

Flemming sieht ihn fest und schweigend an. Pause.

Flachsmann: (wie oben, allmählich unsicherer werdend) Sie werden sich ferner auf ihre Stunden schriftlich vorbereiten und mir diese Vorbereitungen jedesmal zur Prüfung vorlegen.

Flemming wie oben. Pause.

Flachsmann: (wie oben, immer unsicherer werdend) Sie werden mir ferner über das Ergebnis jeder Stunde schriftlichen Bericht erstatten. (Pause) Auf diese Weise hoffe ich, mit der Zeit doch einen brauchbaren Lehrer aus ihnen zu machen.

Flemming: (sieht ihn noch immer fest an und bricht dann in ein ungeheures Gelächter aus) Hahahahaha... Sie hoffen aus mir einen brauchbaren Lehrer zu machen? Hahahaha... Sind sie denn ein Lehrer?

Flachsmann: (lauernd) Das dachte ich.

Flemming: Sie? Ein Lehrer? Ein Bildungsschufter sind sie. Und noch dazu ein ganz miserabler, der nur einen Leisten hat! (Pause)

Flachsmann: (hat sich langsam erhoben und steht hinter seinem Tisch) Herr Flemming, sie werden ja wissen, dass sie sich wegen dieser Äußerung vor dem Disziplinargericht werden zu verantworten haben. Vor mir haben sie einstweilen noch über einen anderen Fall Rechenschaft zu geben. Sie haben ihren Schüler Peter Dörmann, der sich gegen Herrn Diercks widersetzlich benommen hatte, nicht bestraft, obwohl ich es befohlen hatte.

Flemming: Der Knabe Peter Dörmann war von Herrn Diercks in höchst leichtfertiger und ungerechter Weise beschuldigt worden. Der Knabe verteidigte sich in angemessener Form. Darauf nannte ihn Herr Diercks einen "frechen Lügner" und versuchte ihn zu schlagen. Dagegen sträubte sich der Knabe, und daran tat er recht.

Flachsmann: (überlegen) Das ist ja alles ganz gleichgültig. Ein Schüler hat sich unter allen Umständen zu unterwerfen.

Flemming: Das ist ihr System, das weiß ich. Alles, was Charakter und Eigenart hat, wird geduckt. Ich mache aber nicht mit. Wenn ich ein Unrecht einstecke, ist es meine Sache. Meine Schüler schütze ich.

Flachsmann: Dann wird der Knabe eben von einem andern bestraft werden.

Flemming: Ich glaube das nicht, Herr Flachsmann. Denn wer den Jungen schlägt, der muss erst mich schlagen, und was mich betrifft... ich haue wieder!

Flachsmann: (keifend) Herr Flemming?! Sie werden noch erfahren, dass ich hier Herr bin!

Flemming: (mit großer, vornehmer Überlegenheit) Herr Flachsmann?! Das ist ein Irrtum! Sie sind von uns beiden der Vorgesetzte; aber ich bin der Herr. Ich schließe die Sitzung. (Ab.)

Diercks: (kommt eilig aus der Tür des Lehrmittelzimmers, triumphierend) Das ist ja großartig!

Flachsmann: Das bricht ihm das Genick.

Der Vorhang fällt.

Zweiter Aufzug

Das Lehrerzimmer der Schule. An den Wänden Karten und Anschauungsbildern, ein Stundenplan, ferner ein Schrank mit einer kleinen Handbibliothek; zwei große Portraits von Pestalozzi und Comenius. Tür in der Mitte, Fenster vorn rechts. In der Mitte des Raumes ein Tisch, an welchem acht bis zehn Personen sitzen können. Auf dem Tisch stehen links und rechts je ein großer Tintenfass.

1. Szene

Betty Stuhrhahn. Weidenbaum.

Betty sitzt vor einem hohen Stapel Hefte und korrigiert mit großer Energie, indem sie mit Nachdruck unterstreicht, zensiert, die Hefte zuschlägt und auf den Haufen packt.

Betty: (Einen Fehler mit besonders wuchtigem Ingrimm unterstreichend) Himmeldonnerwetter!

Weidenbaum: (tritt auf) Guten Morgen Fräulein.

Betty: (unwirsch wie immer) Morg´n.

Weidenbaum geht mit großer und bedächtiger Umständlichkeit daran, sein Frühstück vorzubereiten. Er nimmt eine Spritmaschine aus dem Schrank hervor, entzündet sie, setzt einen kleinen Teekessel darauf, holt eine Tasse hervor, tut ein sorgsam abgemessenes Quantum Fleischextrat hinein.

Weidenbaum: Ich koch´ mir jetzt das Wasser für meine Bouillon lieber selbst; die Schuldienersfrau lässt es mir immer nicht genügend kochen. Und ich muss ja mit meinem Magen so vorsichtig sein.

Betty schweigt.

Weidenbaum: (geht hinaus und holt Wasser in seinem Teekessel. Tritt wieder auf) An, das wissen sie doch schon, dass die Geschichte jetzt losgeht? Das Disziplinarverfahren gegen Flemming ist im Gange, Flachsmann hat Anzeige erstattet, und die Anzeige ist schon bei der Regierung.

Betty gibt nur einen Knurrlaut von sich und korrigiert weiter.

Weidenbaum: An, und wenn die Sache erst bei der Regierung ist, dann kann er man einpacken. Dann wird´s ernst. Dann wird er geschasst, ohne Gnade. Der neue Schulrat hat erst neulich ´n Lehrer direkt aus der Klasse nach Hause geschickt und gesagt, er brauche nicht wieder zu kommen. Einfach weggejagt, ohne Federlesen. Er soll gesagt haben: "Wer nicht pariert, den jage ich, dass er die Schuhe verliert.! Der ist schneidig, au weh!

Betty schweigt.

Weidenbaum: Jä, und das muss ich nu sagen: Das find ich nun ganz in der Ordnung. Gehorsam muss auch sein. Wenn der Lehrer nicht gehorsam ist, wo sollen die Schüler denn Gehorsam lernen? Wer sich in Gefahr begibt , der kommt darin um. Jä, ist nicht wahr?

Betty wie oben.

Weidenbaum: Stör ich sie auch?

Betty: (derb) Ja!!

Weidenbaum: Entschuldigen sie! (Nach kurzer Pause) Jä, das hat er nu von seinem ewigen Opponieren und Besserwissen und von seinen Ideen. Ich bin nu schon 18 Jahre bei Herrn Flachsmann; aber haben sie je gehört, dass ich opponiert habe?

Betty: (kräftig) Nee!! Bloß als es sich um die Gehaltsfrage drehte, da waren sie der Giftigste, das heißt: wo´s ungefährlich war.

Weidenbaum: An, ja, das ist ja auch eine ganz andere Sache?... Hä... Wenn ich das will, hab´ ich auch neue Ideen; aber in die Schule bring´ ich sie nicht hinein. Dadurch werden nur Störungen hervorgerufen. Damit setzt man sich bloß Läuse in´n Pelz. Ich tu meine Pflicht und um das andere kümmer ich mich nicht. Denn kann mir kein Mensch in der weiten Welt was anhaben. Und wenn der Kultusminister selbst kommt, denn kann er mir nichts anhaben. Ich hab auch noch nie in meinem Leben Rüffel gekriegt. Warum macht Flemming es nicht ebenso? Ich kann ihn nicht bedauern (Die Schulglocke läutet).

Betty: (packt mit Energie ihre Hefte zusammen und nimmt sie unter den Arm) So! An, ich will ihnen was sagen: Für mich ist der Herr Flemming auch ´n Greuel, wie alle Mannsleute. Weil er vom Hochmutsteufel besessen ist, wie alle Mannsleute. Und weil er so dumm ist sich durch´n hübsches, glattes Lärvchen bestechen zu lassen, wie alle Mannsleute. Aber... wenn´s auch mal nicht viel ist.... er ist doch wenigstens ein Mann.

Weidenbaum: So?... und ich bin wohl kein Mann, hä?

Betty: Sie?... An hören sie mal! Wenn sie´n Mann sind, dann ist ihr Teekessel auch einer. Mahlzeit!

Durch die Mitte ab, wo sie den gerade eingetretenen Vogelsang und Riemann begegnet. Diese machen ihr fast furchtsam Platz, und sie schreitet strammen Schrittes, ohne Wort und Blick an sie zu verwenden, zwischen ihnen hindurch.

2. Szene

Riemann. Vogelsang.

Riemann: (ein unterbrochenes Gespräch fortsetzend, mit triumphierendem Behagen) Na, also er schneidet natürlich meine Treffdame mit ´n König und spielt Treffas nach. Ich mit meinem Karo-Jung´ rein. Nu spiel´ ich Karo-As... fallen König und Sieben, denn Pik-As... fallen Dame und Acht, denn Herz-As... fallen Herz-Neun und Sieben; Treff-Zehn gedrückt, macht 62. Großartig gewonnen! Hähähähä!

Vogelsang: (hat sich eine Zigarre angesteckt) Du spielst ja wohl jeden Tag Skat, was?

Riemann: Was soll man denn sonst tun?

Vogelsang: An! Man kann doch zum Beispiel was lesen.

Riemann: Tu ich doch auch!

Vogelsang: Was denn?

Riemann: Och... die Zeitung!

Vogelsang: Wie lange spielst du denn so täglich?

Riemann: Na... so von 7 bis 12... höchstens!

Vogelsang: Fünf Stunden.. allerhand Achtung! Und was tust du vorher?

Riemann: Vorher schlaf´ ich.

Vogelsang: Was... bis 7 Uhr hältst du Mittagsschlaf.

Riemann: Nööö... ich trink´ ja auch Kaffee... und dann geh´ ich auch mitunter mal auf mein Land und grab´ und hark´ ´n bischen.

Vogelsang: Ein beschauliches Dasein! Strengt dich denn das Leben nicht an?

Riemann: (naiv) Nö.

3. Szene

Riemann. Vogelsang. Flachsmann. Später Diercks und Römer.

Flachsmann: Meine Herren, wollen sie diese Liste ausfüllen, ja?! Und dann... höchst wahrscheinlich kommt Herr Inspektor Brösecke noch heute und sieht mal in die Klassen.

Weidenbaum: Der Herr Inspektor?

Flachsmann: Ja. Sorgen sie ´n bischen dafür, dass alles in Ordnung ist, nicht wahr?

Die Übrigen: (lässig) Ja...ja.

Vogelsang: (hält seine Zigarre hinterm Rücken verborgen) Wie kommen wir denn zu dem hohen Besuch? Das war doch früher nicht!

Flachsmann: Ach... wegen des... Flemming. Es ist nur, damit er mal dagewesen ist und einigermaßen informiert ist, wenn er gefragt wird.

Weidenbaum: (mit lächelnder Untertänigkeit) Na, der Herr Inspektor reißt ja keinem den Kopf ab...

Flachsmann: Das ist einerlei; es muss doch alles in Ordnung sein.

Weidenbaum: Jaaaa!... ich tu meine Pflicht... was mich anbelangt...

Riemann: (neugierig) Ist denn die Verhandlung schon bald?

Flachsmann: Ja. (Kurze Pause. Diercks und Römer treten ein) Herr Flemming hat wohl die Aufsicht auf dem Spielplatz, wie?

Diercks: Ja.

Flachsmann: Hat er nicht auch die nächste Stunde frei? (Geht an den Stundenplan und sucht mit dem Finger.)

Vogelsang: (macht einen Zug aus seiner Zigarre) Jawohl!

Diercks: Er und Fräulein Holm, glaub´ ich.

Flachsmann: Hm... (nachdem er gefunden hat) Jawohl: Herr Flemming und Fräulein Holm... (Wechselt einen Blick mit Diercks) Hm... (Schnüffelnd) Meine Herren?! Hier ist wieder geraucht worden!

Vogelsang: (ebenfalls schnüffelnd) Ja, scheint so.

Flachsmann: Lassen sie das, meine Herren. Ich habe das nun schon wiederholt verboten. Sie geben damit den Schülern ein Beispiel der Verschwendung.

Vogelsang: (immer mit gelassener Miene zustimmend) Ja.

Flachsmannn: Ein Lehrer sollte überhaupt nicht rauchen.

Vogelsang: Mm.

Flachsmann: Gehalt scheint immer noch zu hoch zu sein. (Ab.)

4. Szene

Riemann. Vogelsang. Diercks. Römer (bartloser, temperamentvoller Jüngling von 21 Jahren. Jägersche Normalkleidung, leinener Stehkragen.) Später Flemming. Einige der Herren haben ein Frühstück ausgewickelt und sich aus einem Schrank Bier oder Milch geholt.

Vogelsang: (mit größter Seelenruhe weiterrauchend.) Er möchte nämlich auch gern rauchen. Aber seine Frau hat´s verboten.

Diercks: (ist an das Fenster getreten, vorn rechts.) Nu seht euch blos mal den Trubel da unten an! (Macht das Fenster auf; man hört den entfernten Lärm einer spielenden Kinderschar) Hört euch mal den Skandal an! (Schließt dass Fenster wieder) So gehts jedesmal, wenn der die Aufsicht hat! Und dabei soll man Disziplin halten.

Weidenbaum: (ist ebenfalls herangetreten) Ja, und uns kommen dann die Kinder erhitzt und mit rotem Gesichtern in die Klasse. Er lässt sich die Kinder viel zu nahe kommen; er tobt ja selbst wie´n Junge mit.

Römer: Muss er auch! Muss ´n Schulmeister auch!

Weidenbaum: So! Und wenn nachher ´n Junge ´n Bein bricht, dann haben wir die Unannehmlichkeiten davon.

Römer: (emphatisch) Besser ein gebrochenes Bein als ein gebrochenes Balk!

Vogelsang lächelt.

Die Übrigen: Huhn!

Römer: Darum vergöttern ihn auch die Jungens! Und nicht blos darum! Weil er überhaupt einer der großartigsten Schulmeister ist, die´s gibt!

Die Übrigen ohne Vogelsang lachen.

Riemann: (essend) Flemming? Flemming? Das ist ´n ganz dummer Kerl.

Vogelsang lacht behaglich.

Riemann: Jä, is er auch! Wenn er nich so 'n dummer Kerl wäre, denn machte er doch nich solche Sachen, dass sie ihn absetzen! Un denn: Er ist zum Beispiel nur 'n ganz mäßiger Mathematiker.

Vogelsang: Hast du ihm das nachgewiesen, Riemann?

Riemann: Das tut ja nichts zur Sache, nicht? Ich weiß es von Schwensen, der sagt es auch.

Diercks: Ja, kann er denn vielleicht in andern Fächern was? Das ist ja alles bloß Phrasenkram! 'n Anstrich weiß er sich zu geben, 'n Schwätzer ist er!

Weidenbaum: Ja, und ein schlechter Kollege! Er tut sich immer hervor. Die Art und Weise, wie er sich immer breit macht mit öffentlichen Vorträgen und pädagogischen Abhandlungen... das Allerschlimmste ist... (allgemeine Spannung) ... das Allerschlimmste ist, dass er mehr kann, als wir alle zusammen genommen. (Hohnlachen und Protestrufe)

Riemann, Diercks, Weidenbaum und Römer: (gleichzeitig) Das ist nicht wahr! Lächerlich! Blödsinn! Das wollen wir mal dahingestellt lassen! Kann er auch! Kann er auch!

Vogelsang: An, Kinder, wenn ihr ehrlich seid, müsst ihr das doch selbst sagen! Wenn Flemming in der Konferenz mal ordentlich loslegt, dann sitzen wir doch alle da wie die Nachtlichter, und das Traurigste Talgstümpfchen ist unser Flachsmann. Unser Flachsmann kann nichts als sein armseliges Sic volo sic jubeo... "ich will es aber so haben, und was ich will, das geschieht." Hahaha... Kinder, es war doch ein Fest, als Flemming mal aufstand und ganz gelassen sagte: " Herr Flachsmann?! Die Hauptsache in der Schule sind nicht sie, sondern die Kinder!"

Diercks: (hämisch triumphierend) Ja, dafür fliegt er jetzt auch raus!

Römer: So?? Das woll'n wir erst mal sehen! Das wäre eine Gemeinheit! Dann protestieren wir! (Lachen) Wenn sie oben bei der Regierung wüssten, was für ein Genie er ist – (Großes Hohngelächter der Übrigen ohne Vogelsang)

Riemann: Lieber Römer, sie sind doch etwas zu feucht hinter den Ohren, um unter erfahren Kollegen immer mitzureden. Sammeln sie erst mal Erfahrungen, ja? Werden sie erst mal. Werden sie erstmal zwanzig Jahre älter; der Verstand kommt mit den Jahren.

Römer: An, wenn das ihre einzige Hoffnung ist...!

Riemann: (nicht kapierend) Wieso... Hoffnung...!

Vogelsang: (mit vergnügtem Lachen, väterlich wohlwollend zu Römer) Kollege, ich finde nun freilich auch, dass sie etwas gedämpfter sein könnten... ich will ihnen allerdings gestehen: Als wir in ihrem Alter waren, da waren wir ebensolche Frechdächse, wir haben's nur vergessen. Besinnungen gut... Recht haben sie auch... blos die Temperatur 'n bischen runterdrehen, was?

Römer: (folgsam) Ja.

Riemann: Was wollen sie überhaupt damit sagen? Frech ist das!

Römer will wieder auffahren.

Vogelsang beruhigt ihn und drückt ihn wieder auf den Stuhl.

Weidenbaum: (anzüglich und moralisierend) Das ist der Geist des Hochmus, der leider unter den jungen Kollegen sein Wesen treibt und von dem auch unser Herr Flemming von oben bis unten besessen ist. Ich muss sagen: mir ist das sehr sympathisch, dass der neue Schulrat sich vorgenommen hat, da mal gründlich aufzuräumen. Der jagt die unruhigen Elemente einfach zum Kuckuck. Das ist mein Mann. Der Monsieur Flemming meint immer, er muss die Schule "heben" und immer noch mehr "heben"...

Diercks: Ach was, er denkt ja gar nicht an die Schule?! Sich selbst will er heben! 'n ganz gemeiner Streber ist er!

Vogelsang: Na, na.

Riemann: Is er auch! un denn... was soll all so `n verrückter Kram: "Elternabende!... Elternabende!" Er will "die natürliche Verbindung zwischen Eltern und Lehrern herstellen." "Das ganze Volk soll an der Arbeit der Schule teilnehmen." Was soll so 'n Quatsch! Was versteh'n denn die Eltern von Kindern! Ich bin froh wenn die Eltern mir vom Halse bleiben! Und was kommt dabei raus? Blos mehr Arbeit für uns! "Wenigstens an einem Abend im Monat", meint er, "sollten Eltern und Lehrer zusammen kommen." Fällt mir gar nicht ein! Ich hab' Abends keine Zeit!

Weidenbaum und Diercks: Nee! Nein!

Riemann: (immer wärmer werdend) Und überhaupt: Lieber sollen wir sehen, dass die Arbeit des Lehrers vereinfacht wird! Was soll all so'n Zeugs wie Geometrie un Geschichte un dergleichen! Wenn die Kinder lesen und schreiben lernen, das genügt vollkommen! Wozu brauchen sie mehr?

Vogelsang: Riemann, sei nicht so neidisch!

Riemann: (dämlich) Neidisch... wieso?

Vogelsang: Und dann hast du doch ein notwendiges Fach vergessen: Das Rechnen.

Riemann: An ja, Rechnen.

Vogelsang: Das brauchen sie später zum Skat!

Riemann: (immer eifriger) Un nu ers rech der Blödsinn: "Wir müssen die Kunst in die Schule bringen!" So 'n Blech! Was verstehen denn die Kinder von Kunst! Kunst is überhaupt was für reiche Leute. Un denn "Blumenpflege in der Schule!" Die ganzen Fensterbänke hat er voll Blumen steh'n! (Dumm lachend) Grad als wenn die Kinder alle Gärtner werden sollten!

Weidenbaum: Ich für meinen Teil habe gegen die sogenannte "ästhetische Erziehung" vor allen Dingen moralische Bedenken.

Diercks: Sehr richtig!

Riemann: (gleichzeitig sehr eifrig) Ja! Halt, da muss ich euch etwas erzählen! Ich war neulich mal in seiner Wohnung... dass muss ich euch erzählen! Da hat er also 'n Bild: Da sitzt 'n Soldat mit 'm Federhut auf 'm Kopf, der sitzt vor einem gedeckten Tisch un hält 'n Champagnerglas in die Höhe. Un 'n Frauenzimmer sitzt auf seinem Schoß, und die hat er um die Taille gefasst. Un die Beiden gucken so recht frech aus 'm Bild heraus. Wie heißt es man noch! Jii... er hat mir noch gesagt, wie`s heißt... mmm... Ram... Rem... richtig: "Rembrandt als Erzieher" heißt es.

Vogelsang und Römer lachen laut auf.

Riemann: Was ist denn da zu lachen?

Vogelsang: Nichts, nichts, erzähl nur weiter.

Riemann: Also, da frag' ich ihn: "Würdest du dieses Bild nun auch in der Schulstube aufhängen?" "Meinst du nicht, lieber Riemann", sagt er.

Vogelsang: (lachend) Leber Riemann, er hat dich mal wieder wundervoll geuzt.

Diercks: An, er hat doch auch auf seinem Klassenschrank 'ne halbnackte Figur stehen! Und das soll Kunst sein! Ich danke für so 'ne Schweinerei. Ein wahres Glück, dass der Kerl zur Schule hinausgejagt wird.

Riemann: Aber Kinder, wenn er also doch ein toter Mann ist, dann versteh ich nicht, warum ihr euch so aufregt über ihn. Ihr beweist damit eigentlich nur euren höllischen Respekt vor ihm.

Römer: Sehr richtig.

Die Übrigen schlagen gleichzeitig ein ärgerliches Hohngelächter auf.

Diercks: "Toter Mann?" Noch ist er nicht tot. Wer weiß, wie der sich noch rausschwindelt. Der versteht es viel zu gut, sich "lieb Kind" zu machen. Der hat so was an sich. (mit plötzlicher Wut) Aber das sag ich euch: Wird der nicht weggejagt, dann beantrage ich bei der Regierung meine Versetzung, mit der Begründung, dass ich mit einem solchen Kerl nicht mehr zusammen arbeiten will.

Vogelsang lacht kurz auf.

Diercks: Ja, du nimmst noch immer seine Partei, Vogelsang. (Die Schulglocke läutet; man erhebt sich, um hinaus zu sehen. Diercks einem plötzlichen Einfall folgend) Da! Frag doch mal Flachsmann, was der Flemming über unser Kollegium gesagt hat! Wir sind alle tot und verfault; er verkommt hier unter uns; er allein ist lebendig. Die ganze Lehrerschaft hat überhaupt kein Streben nach Höherem, kein Idealismus; den hat er bloß! Wir sind faul und beschränkt; aber er ist `n zweiter Pestalozzi! Das hat er wörtlich gesagt. Wenn du mir 's nicht glauben willst, dann geh sofort hinunter zu Flachsmann und frag den; wir haben 's beide gehört. Du wirst ja wohl nicht glauben, dass wir dir was vorlügen.

Vogelsang: (nachdanklich) Das wäre allerdings ein starkes Stück!

Römer: Das ist eine Gemeinheit! Wenn er dann gesagt hat, dann spreche ich kein Wort mehr mit ihm!

Diercks: Er hat doch auch früher schon solche Erden geführt! (Redet auf Römer ein)

Flemming tritt ein, hängt seinen Hut an einen Haken.

Diercks: Ich muss in die Klasse. (drückt sich mit kaum verhehlter Eile als erster hinaus.

Flemming: Ha, hier drinnen ist 's kühler als draußen. Kinders, ist das eine Hitze! Habt ihr mir noch 'ne Flasche Bier übrig gelassen?

Allgemeines Schweigen! Riemann und Weidenbaum drücken sich schnell Römer geht brüsk an Flemming vorüber und schneidet ihn; Flemming sieht ihm nach; Vogelsang geht nachdenklich, mit einem forschenden Blick auf Flemming als Lezter hinaus. Flemming sieht ihnen verblüfft nach und bricht dann in erregtes Lachen aus.

Flemming: Hahaha! Meine Sache muss schlecht stehen... man rückt weg von mir! Die Kollegen weichen schaudernd bei Seite, Die "Kollegen!" Hahaha! (Sieht wieder eine Weile nach der Tür, streckt dann die Arme senkrecht empor mit einer befreienden Bewegung) Nnna! (Setzt sich rechts an den Tisch, nimmt einen Haufen Hefte, der dort lag, vor und beginnt zu korrigieren, stützt aber bald den Kopf in die Hand und starrt vor sich hin.)

5. Szene

Gisa Holm. Flemming.

Gisa tritt ein, von Flemming unbemerkt. Sie trägt Rosen an der Brust und im Haar. Unter dem linken Arm trägt sie einen Stapel Hefte. Sie betrachtet Flemming einen Augenblick und räuspert sich dann. Flemming schreckt auf und nickt ihr dann lächelnd zu.

Gisa: Darf ich hier bei ihnen korrigieren? Droben ist 's so heiß.

Flemming: Aber ich bitte darum, Fräulein Holm.

Gisa: (legt ihre Hefte und setzt sich) Was haben sie? Sie saßen ganz versunken da, als ich hereinkam.

Flemming: Ich dachte nach über meine Scheußlichkeit und über die Lieblichkeit der anderen Menschen.

Gisa: Das klingt nicht gut. Was haben sie?

Flemming: Als ich eben von Spielplatz heraufkam, begegneten mir die Kollegen auf meine Fragen mit eisigem Schweigen. Mann schnitt mich... ich bin Verrruf.

Gisa: Dann müssen sie verleumdet sein. Und das wird kein anderer getan haben als Herr Diercks. Ich habe noch kürzlich Herrn Vogelsang gewarnt; der wollt` es mir nicht glauben; aber der Herr Diercks ist ein Intrigant, das seh ich ihm an.

Flemming: (ruhig) Er ist ein Filou, ja. Einer von den wohlgenährten Filous: fett und feige. Solange sie einem ins Auge sehen müssen, sind sie ziemlich brav; sobald sie weg gehen dürfen, sind sie die größten Schufte.

Gisa: Das wissen sie? Und dann sind sie oft so offenherzig gegen ihn?

Flemming: Ja, ich fürchte mich nie vor Intriganten. (Sich verbeugend) Sehen sie, liebes Fräulein, im ganzen Tierreich gibt es keinen größeren Esel als den Schweinehund. Er erkennt immer zu spät, dass er eigentlich ein Rhinozeros ist.

Gisa lacht.

Flemming: Das ist die Zoologie der Moral.

Gisa: Wollen sie denn die Kollegen nicht zur Rede stellen.

Flemming: (kurz auflachend) Nein, das lohnt sich nicht.

Gisa: Sie sind unheimlich stolz.

Flemming: (immer Hefte korrigierend) Das mag schon sein.

Gisa: Aber schön ist das!...Aber traurig sind sie auch.

Flemming: Weshalb?

Gisa: Weil man sie absetzen will.

Flemming: (bückt sich auf sein Buch) Hm.

Gisa: (mit komischem Ärger auf den Tisch trommelnd) Jetzt lassen sie endlich mal das dumme Korrigieren sein.

Flemming: Ich muss leider.

Gisa: Unsinn, ich muss auch, tu 's aber auch nicht.

Flemming lacht vor sich hin

Gisa: (geht zu ihm hin und nimmt ihm die Feder aus der Hand, klappt das Heft zu und legt es weg) So!... Heute wollen sie doch keine Hausaufgaben aufgeben? Bei der Hitze wird der Unterricht geschlossen! Wir haben doch 30 Grad im Schatten!

Flemming: Das dürfte etwas übertrieben sein.

Gisa: Na? (Eilt ans Thermometer, das neben der Tür hängt) Ach, du lieber Himmel! Blos 19 Grad! Wissen sie was? Wir helfen etwas nach (Nimmt das Thermometer von der Wand) Wieviele Grade müssen es sein, damit der Unterricht geschlossen wird?

Flemming: 22.

Gisa: (nimmt das Thermometer und haucht mit Eifer darauf) Die hab ich!

Flemming: (lachend) Sind sie denn noch immer mit solcher Unlust in der Schule?

Gisa: Unlust? Wozu diese beschönigenden Worte! Ich kenne keine scheußlichere Unterbrechung der Ferien als die Schule.

Flemming: Na aber!

Gisa: Schauen sie: Sie könnten mir einen Rat geben!

Flemming: Ja?

Gisa: Nennen sie mir mal eine Dummheit, die durchaus ehrenhaft und doch ganz kolossal ist.

Flemming: Und was wollen sie mit dieser Dummheit?

Gisa: Die will ich machen. Damit die Schulbehörde mich hinwegjagt.

Flemming: Warum sind sie denn überhaupt Lehrerin geworden?

Gisa: Weil mein Stiefvater hat mich dazu gezwungen hat. Ich wollte Musik studieren. Aber das sollte ich nicht.

Flemming: Und warum sagen sie sich nicht von ihrem Stiefvater los?

Gisa: Weil ich meine Mutter nicht verlassen darf. Weil ich... aber bitte: lachen sie jetzt nicht über mich... (auf den Boden sehend) weil... weil sie sagt, dass ich ihr einziger Trost bin. (Pause) Zuerst war's ja auch ganz schön. Alle Tage lernen, das war ja herrlich schön. Ich möcht' ja immerzu lernen. Aber unterrichten kann ich nunmal nicht! Und nun gar dies entsetzliche Wiederholen! Und das Korrigieren... ich kann es nicht. Und dabei tut's mir so leid, dass ich eine so schlechte Lehrerin bin; die kleinen Jungens sind doch so niedlich! Aber erst bin ich immer so nachsichtig und wenn ich strenge werden will, dann lachen sie mir ins Gesicht! Ich kann mit den grässlich vielen Kindern nicht richtig fertig werden! (Mit drolliger Unschuld) Ja, wenn's doch meine eigenen wären! (Kurze Pause) Wenn ich da an sie denke... O Himmel! Sie zügeln die Kinder mit fester Hand, und doch fliegen ihnen die Herzen zu!

Flemming: Und doch habe ich den selben Kampf gekämpft, wie sie.

Gisa: (erstaunt) Wie?

Flemming: Ich weiß nicht, ob ihnen bekannt ist, dass ich sechs Jahre lang Schlosser war.

Gisa: Schlosser??!

Flemming: (immer ohne Sentimentalität, mit einem stillen Lächeln der Erinnerung erzählend) Mein Vormund erklärte, Schulmeister werden sei nicht für arme Kinder, und steckte mich in die Schlosserlehre. Tagsüber stand ich am Amboss und an der Drehbank; abends ging ich in die Gewerbeschule. Und wenn ich aus der Gewerbeschule heimkam, ging's an die wenigen und mangelhaften Bücher, die ich hatte. In jenen Jahren schläft man aber ebenso gern, wie man isst, und das will was heißen. Mein Gott, wie süß war es, die Arme auf's Buch zu legen und den Kopf auf die Arme und dann einzuschlafen! Am anderen Morgen litt ich dann Gewissensqualen, wie ein Spieler, der in einer Nacht sein Leben verspielt hat. (Mit sinnender Wehmut) Ach nein, solche Schmerzen kennt ein Spieler wohl nicht. Das war dann ein Erwachen ohne Hoffnung, ein trostlos grauer Morgen. Je mehr ich mich körperlich erfrischt fühlte, desto grimmiger wütete ich gegen meine Schwäche.

Gisa: (mit inniger Teilnahme) Und wie wurden sie zuletzt Lehrer?

Flemming: Als ich zwei Jahre Schlossergeselle gewesen war, setzte ich es durch, ins Seminar zu kommen. Der Direktor sah über die Löcher in meiner Gelehrsamkeit hinweg; er fühlte mit mir, dass ich Schulmeister werden müsse. Nun kam eine schöne Zeit voll Arbeit und Hunger. Den Winter brachte ich meistens im Bette zu; denn Kohlen konnte ich mir nicht leisten. Ich hatte täglich dreißig Pfennige für Frühstück und Abendbrot und wöchentlich drei Freitische. Ursprünglich hatte ich fünf Freitische; aber zwei davon sollte ich mit Besinnungen bezahlen: da blieb ich weg. Sonntags zum Beispiel hatte ich kein Mittagessen. Und gerade Sonntags kochte meine Wirtin immer eine wundervolle Fleischsuppe, die bis in meine Stube hinauf duftete... Einmal stand ich nahe vor der Kapitulation. Meine Wirtin hielt ein großes Brot im Arm und schnitt so recht tief hinein. Da hatt' ich's schon auf der Zunge, zu sagen: "Geben sie mir das Stück Brot"; aber ich hielt meine Hände auf dem Rücken und drückte die eine mit der anderen so ganz fest zusammen, so! Wenn ich das tat, dann konnte ich alles. Und so drehte ich mich rasch um und lief die Treppe hinauf. ... Natürlich musste ich trotzdem Schulden machen; aber ich wurde ich Schulmeister und war reich mit all meinen Schulden! (Kurze Pause)

Gisa: (die Hände vor dem Knie gefaltet und ins Weite blickend, mit stiller sinnender Begeisterung) Sie sind so stark, so mutig! (Mit kurzem, leisem Lachen) Haha: als ich noch ein ganz dummes Hänschen war... noch dümmer als jetzt... da konnte ich mir einen starken, mutigen Mann gar nicht anders denken, als mit einem großen Bart und mit sonnenverbrannter Brust! Da meinte ich, mein zukünftiger Mann, das könnte nur ein Seemann sein!

Flemming: (sie fixierend) ... Und jetzt?...

Gisa: (schrickt plötzlich auf, wird über und über rot und stammelt in peinlicher Verwirrung) Jetzt?... Oh... ich... ich... weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe... ich habe gewiss wieder etwas Dummes gesagt... ich... (Greift nach einem Heft und stürzt sich mit vollem Eifer ins Korrigieren)

(Flemming betrachtet sie eine Weile, blickt dann auf den Boden, seufzt tief und nimmt dann ein Heft, um mechanisch darin zu blättern.)

Gisa: (wieder mit unbefangenerem Tone, aber ohne ihn anzusehen) Jetzt versteh' ich auch, warum sie nichts Höheres geworden sind. Ich habe so oft gedacht: ein Mann von solchem Geist und solcher Kraft, warum ist der nichts Höheres geworden als Schulmeister?!

Flemming: (schlicht) Höheres als Schulmeister gibt es für mich nicht.

Gisa: Nun ja... ich dachte: wenigstens Gymnasiallehrer... oder Professor an der Universität...

Flemming: Für mich, liebes Fräulein, ist Volksschullehrer das Höchste. Und zwar je ärmer, je verlassener, je verwahrloster, je schmutziger die Kinder, desto schöner der Kampf! Wollen sie mir glauben, dass ich große Lust hätte, schwachsinnige Kinder zu unterrichten?

Gisa: Ach!

Flemming: (mit glücklicher Heiterkeit) Ja, gibt es denn eine größere Lust, als nach und nach die tausend Stricke zu lösen, die einen gefangenen Geist umwinden? Als Licht hervorlocken, das ganz, ganz fern hinter tausend Nächten glimmt?... So den dicken, feisten Drachen des Stumpfsinns in seinem dunkelsten Schlupfwinkel aufsuchen und abschlachten und die Prinzessin Seele an sicherer Hand herauszuführen: Das ist das ritterlichste Vergnügen, das ich kenne!

Gisa: ... Und gerade sie mussten an diesen Flachsmann geraten!

Flemming: (bitter auflachend) Ja!... (Springt auf) An dieses Gespenst, das den Kopf in der Hand trägt! Sein Notizbuch ist nämlich sein Kopf. Was in diesem Buche steht, das braucht er nicht im Kopfe zu haben: Der Gedanke hält ihn aufrecht. ... Mein Gott, wenn's noch ein Kerl wäre! Meinetwegen ein Despot, aber Einer, der etwas Ehrlicher kann und will. Aber dieser Mensch hat gar nichts dagegen, ein Nichts zu sein, wie die Erdachse, wenn sich nur alles um ihn dreht! Es genügt ihm der Obere zu sein wie die Bremse auf dem Rücken eines Pferdes.

Gisa: Nun, sie werden ihn ja los! Und sie finden gewiss an einer anderen Schule eine Stelle wieder!

Flemming: Als Weggejagter? Als Schiffbrüchiger? Sicherlich keine Stellung, die mir gefällt. In Deutschland nicht. Freilich: Im Auslande gibt es auch deutsche Schulen. Nur leider keine Deutsche Schule. (Mit wehmütigem Scherz.) "Ach wohl sind es andere Mädchen; doch die Eine. ... ist es nicht."

Gisa: Sie lieben die Schule wie ein Mädchen?

Flemming: (nach kurzem Nachdenken, zögernd) Ja. So mag es ungefähr sein. Und das ist leider nicht Liebe genug. Es ist eine selbstsüchtige Liebe. Die geistige Luft ist es, die mich am Schulwerk entzückt. Weil... weil sofort, wenn ich unterrichte, ein Frühlingstreiben in meinem Kopfe losgeht von tausend Ideen, wie man's machen, und von tausend Hoffnungen, wie's noch werden könnte mit dem Menschengeiste. Aber wenn ich mich frage: Liebst du eigentlich die Kinder? ... Du tust an ihnen vielleicht alles, was du kannst, du wünschest jedem von ihnen das Beste... aber ist das Liebe... Liebe??... dann klingt das Wort in meinem Innern wieder mit einem toten Klang. Ich möchte es einmal fühlen, dies unbeschreibliche Glühende, dies unerschöpflich strömende Verschwenden und Verbluten! (Er ist vom Bilde Pestalozzis stehen geblieben und streckt begeistert seine Arme gegen das Bild) Das konnte er, Pestalozzi, der Große, Heilige! Sein Denken war kraus und wunderlich, seine Sprache verworren; aber aus dem Dunkel seiner Gedanken schlägt die Nachtigall der Liebe süß und voll und unermüdlich!... So lange ich Schulmeister bin, ringe ich mit dem furchtbaren Geheimnis: Wo ist der Weg, der zur großen Liebe führt?

Gisa: (nach einer Pause, mit schüchterner Ehrfurcht) Wissen sie, wie ich es mache?... Ich habe einen kleinen Bruder gehabt, der ist mit acht Jahren gestorben. Rudolf hieß er. Und wenn ich mit einem Jungen einmal gar nicht fertig werden kann... wenn ich vor Verzweiflung davonlaufen möchte... dann sag' ich im Stillen zu mir: "Denk`, es wär' Rudi." Und dann geht es ein wenig besser.

Flemming: (ist zu ihr getreten und ergreift mit seiner Linken langsam die ihre) Liebes... liebes Fräulein. ... Das wäre vielleicht der Weg... (Sie immer sinnend betrachtend) Als sie hierher an unsere Schule kamen, da fand ich, dass sie sehr schön aussähen. Aber das ist ein Irrtum: Sie sind schön.

Gisa: (neigt den Kopf, leise und beklommen) O nein!

Flemming: Nein? Nun ich wüsste unter allen Mädchen, die ich kenne, keines, das mir so... das ich... ich meine: das so... (Er gerät in große Verlegenheit) Verzeihen sie, mein Fräulein... mir ist in diesen Tagen so wirr und wild im Kopf... ich glaube, ich begehe noch irgendeine Tollheit... (Beklommene Pause)

Gisa: (steht auf und geht langsam ans Fenster) Es ist so heiß hier. Darf ich das Fenster öffnen? Die Sonne ist ja weg.

Flemming: Bitte, bitte.

Als Gisa das Fenster geöffnet hat klingt ferner Gesang, der schon vorher schwach vernehmlich war, stärker herüber. Mädchen aus der benachbarten Schule singen dreistimmig die erste Strophe des Liedes "Ännchen von Tharau":

Ännchen von Tharau ist's die mir gefällt,
Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.
Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz
Auf mich gerichtet in Freud und in Schmerz.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut."

Gisa: (während des Gesanges) Scht!... in der Mädchenschule wird gesungen... wie schön! (Sie ist etwas vom Fenster zurück getreten)

Flemming steht hinter ihr und lauscht ebenfalls.

Gisa: (Nach dem Gesange) Wie lieb das klingt, nicht wahr? So fröhlich und gut! Ich höre so schrecklich gern Kinder singen! Wenn's auch nur ein ganz schlichter einstimmiger Gesang ist.

Flemming: Das Kinderherz singt noch einstimmig. Und singt dieselbe Stimme wie der Mund. Das passt so gut. ... Das ist Krauses Klasse: der ist ein echter Musiker; ich hab' mich schon oft über–

Gisa: Scht! Sie singen wieder!

Gesang der Mädchen:

"Recht wie ein Palmenbaum über sich steigt,
Hat ihn erst der Regen und Sturmwind gebeugt:
So wird die Lieb' in uns mächtig und groß
Nach manchen Leiden und traurigem Los.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut."

Gisa stand mit dem Gesicht nach dem Fenster und hat, als sie Schweigen gebot, die linke Hand nach hinten ausgestreckt. Sie verharrt, gespannt horchend, in dieser Stellung. Flemming erfasst zaghaft die Hand; Gisa sieht ihn mit einer blitzschnellen Wendung des Kopfes an und blickt dann ebenso schnell wieder zum Fenster hinaus. Er legt seine rechte Hand auf ihre rechte Schulter; sie schließt die Augen und lässt langsam den Kopf hintenüber sinken an seine Brust; er küsst sie auf die Stirn. Nachdem sie einen Augenblick so verharrt haben, wendet sich Gisa, schlingt mit jäher Leidenschaft die Arme um seinen Hals und birgt den Kopf an seiner Brust.

Flemming: (hebt langsam ihren Kopf empor; mit leiser stammelnder Zärtlichkeit) Gisa!

Gisa: (ebenso, gleichsam tastend die vertrauliche Anrede versuchen) Jan!... Wie seltsam... dass ich jetzt "du" sagen soll. Soll ich's mal wagen?

Flemming: (leise) Wag's mal.

Gisa: (leise) ... Du.

Flemming: (ebenso) ... Du. (Presst seinen Mund mit einem langen Kusse auf den ihren. Die Tür tut sich langsam und lautlos auf, und in ihr erscheinen Diercks und Flachsmann. Bei den ersten Worten des Diercks fahren die beiden auseinander.)

6. Szene

Gisa. Flemming. Flachsmann. Diercks.

Diercks: (mit höhnischem Lächeln) Hem, hem. Es tut mir ungeheuer leid, dass ich die Unterhaltung störe. Ich wollte dir nur die freudige Mitteilung machen, lieber Flemming, dass ich soeben die Nachricht von meiner Beförderung erhalten habe. Da du dich wohl jetzt verheiraten willst, tut es mir doppelt leid, dass du nicht befördert bist...

Flemming: (der sofort seine Haltung wieder gewonnen hat, mit gemächlichen Humor) Lieber Diercks! Du meinst gewiss, uns zu überraschen, indem du triumphierend deine wahre Besinnung enthüllst. Du irrst: wir wissen schon lange, dass du ein Schuljack bist.

Diercks: (schäumend) Was? Was? Das... das...

Flemming: (vergnügt) Ja, ja frag' nur Fräulein Holm. Haben wir nicht noch vor einer halben Stunde gesagt, dass Herr Diercks ein Schuljack wäre?

Gisa: Nein.

Flemming: Nein?

Gisa: Ein Filou, haben wir gesagt.

Flemming: (zu Diercks) Ja, richtig, Pardon: Filou!

Flachsmann: Herr Flemming?! Sie haben es hier zunächst mit ihrem Vorgesetzten zu tun und mit keinem anderen. Sie haben die Schamlosigkeit begangen, die geheiligte Stätte der Schule...

Flemming: (mit größter Ruhe) Halt. Sie wollen einige Ungezogenheiten sagen. Gestatten sie, dass ich erst die Dame hinausführe. (Nimmt Gisa bei der Hand)

Gisa: Jan, wenn du angegriffen wirst, will ich dir beistehen!

Flemming: (lächelnd) Gegen solche Leute, mein Kind? Das lohnt sich nicht. (Er küsst ihr die Hand) Auf Wiedersehen!

Gisa: Auf Wiedersehen! (Ab)

Flemming: Herr Flachsmann?! Was haben sie mir zu sagen.

Flachsmann: (mit kaltem Behagen) Nichts... Ich werde mich auf meinen Bericht beschränken. Das Maß ist ja jetzt gehäuft voll. Wenn noch etwas gefehlt hätte, um sie in Ihrem wahren Lichte erscheinen zu lassen, dann ist es jedenfalls jetzt...

7. Szene

Flemming. Flachsmann. Diercks. Negendank.

Negendank: (tritt ein und bleibt mit gewohnter militärischer Ruhe an der Tür stehen) Herr Oberlehrer! Der Herr Schulrat ist im Hause.

Flachsmann: Was... Schulrat? Sie meinen: der Herr Schulinspektor.

Negendank: Nein, Herr Oberlehrer! Der Herr Regierungsschulrat Professor Doktor Prell ist im Hause.

Flachsmann: (kopflos hin und her) Wo.. wo... wo ist... ist er? ...Führen sie ihn in mein Zimmer... ich komme sofort...

Negendank: Der Herr Schulrat ist schon hier.

Schulrat Prell: (hinter der Szene) Wo ist das Zimmer?

Weidenbaum: (tritt mit ihm auf) Hier, wenn Herr Schulrat belieben.

8. Szene

Flemming. Flachsmann. Diercks. Negendank. Weidenbaum. Prell (kleiner, stämmiger, breitschultriger Herr mit starkem Kopf, aufwärts stehendem, kurzem, glänzendem Grauhaar, etwas gerötetem Gesicht, knolliger Nasenspitze, kurzem, grauem Schnurrbart und kurzem Hals. Er ist ganz schwarz und peinlich adrett gekleidet (Rock mit vorn abgerundeten Schößen), trägt einen niedrigen Zylinder, eine funkelnde Brille mit kreisrunden Bläsern und knarrende, sehr blanke Stiefel. Er ist ein sehr beweglicher und geschäftiger Mensch, geht immer mit ganz kurzem, schnellen Schritten und trägt jedesmal, wenn er auftritt, den Zylinder in der Rechten und diverse Akten in der Linken. Er ähnelt in Haltung und Gebahren einem pensionierten Offizier und spricht fast immer in schnauzendem Tone und mit hoher Stimme. Er artikuliert scharf und spricht meistens in kurz abgebissenen Sätzen und im Tempo seiner Gangart. Zwischen den einzelnen Sätzen macht er gewöhnlich eine kurze Pause.)

Prell geht schnurstracks an das linke Ende des Tisches und legt dort Akten und Zylinder ab.

Prell: Morg'n

Die Übrigen: Guten Morgen, Herr Schulrat.

Prell: (zu Flachsmann, der mit Verbeugungen behutsam näher gekommen ist) Sie sind Herr Flachsmann?

Flachsmann: Zu dienen, Herr Schulrat.

Prell: Ich bin der Regierungsschulrat Prell.

Flachsmann: (verbeugt sich tief mit bebender Stimme) Hohe Ehre... gestatte mir, Herrn Schulrat hoch... hochwillkommen zu heißen.

Prell: (hat sich gesetzt und blättert in den Akten) Danke. Komme aber auch, wenn ich unwillkommen bin. (Notiert etwas mit Tinte in seine Akten) Sie haben in dieser Stunde zu unterrichten.

Flachsmann: Jawohl, Herr Schulrat.

Prell: Wie kommt es, dass ich sie hier und nicht in der Klasse finde.

Diercks und Weidenbaum drücken sich schleunigst hinaus.

Flachsmann: (mit Sicherheit) Ich hatte hier amtlich zu tun, Herr Schulrat. Ich musste (auf Flemming weisend) diesen Herrn einmal in flangranti darüber ertappen, wie er den ehrwürdigen Boden der Schule auf das Schamloseste entweihte.

Flemming der sich, rechts am Tische stehend, mit seinen Büchern zu schaffen machte, tritt mit jäher Bewegung ein paar Schritte näher.

Prell: (zu Flachsmann) Was heißt das?

Flachsmann: Ich fand diesen Herrn soeben in zärtlicher Umarmung mit einer Dame des Kollegiums.

Prell: (ist mit schnellen Schritten an Flemming herangetreten, sehr laut und barsch) Wie heißen sie?

Flemming: (Ebenso laut und barsch) Warum schreien sie so?

Prell: (nach kurzer Pause plötzlich leiser) Warum schreien sie so?

Flemming: (mit trockener Höflichkeit) Ich glaubte, Herr Schulrat, weil sie so laut sprachen: sie wären schwerhörig.

Prell: (ihn messend, dann wieder schnauzend) Unsinn! Höre sehr gut! Aber sie sind ein renitenter Kopf!... Sie sind dich derselbe, gegen den das Disziplinarverfahren schwebt.

Flemming: Zu dienen, Herr Schulrat.

Prell: (ihm mit dem Zeigefinger auf den Rockkragen tippend) Gerade ihretwegen bin ich hier. Ich werde ihre Wirtschaft einer sehr eingehenden Revision unterziehen.

Flemming: Sehr wohl, Herr Schulrat. (Geht rechts dem Ausgange zu)

Prell: (nimmt Akten und Zylinder wieder zur Hand) Sie werden mir jetzt sofort ihre Klasse vorführen.

Flemming: (mit selbstbewusster Heiterkeit) Mit Vergnügen, Herr Schulrat.

Prell: (steht wieder nahe vor ihm und misst ihn von neuem; dann scharf) Das werden wir ja sehen!

Flemming: Jawohl, Herr Schulrat!

Prell: (herrschend) Zeigen sie mir ihre Klasse! (Mit schnellen Schritten ab. Flemming hinterher, zuletzt Flachsmann)

Der Vorhang fällt

Dritter Aufzug

Die Dekoration des ersten Aktes.

1. Szene

Negendank. Kluth (Schuldiener der benachbarten Mädchenschule, ein großer, starker Mensch, der im Kontrast zu seiner Erscheinung eine ungeheure Furchtsamkeit an den Tag legt; trägt Dienstmütze). Zuletzt Flachsmann.

Negendank ist damit beschäftigt Stühle um den Schreibtisch zu stellen.

Kluth: (Nimmt die Mütze beim Eintreten ab. Er hat Papiere in der Hand und lugt vorsichtig herein) Ist die Luft hier rein

Negendank: Vollkommen. Flachsmann unterrichtet und der Schulrat ist bei ihm und hört zu.

Kluth: Hier, diese Listen soll ich abgeben. (Gibt Negendank ein Couvert)

Negendank nimmt es und legt es auf den Schreibtisch.

Kluth: (sich immer von Zeit zu Zeit umsehend) An, hier hat's wohl 'n Krach gegeben, was?

Negendank: Ja. Wir haben einen an die Luft gesetzt.

Kluth: Das ist wohl 'n ganz gefährlicher Kunde, der Prell, was?

Negendank: (macht mit der Hand ein Zeichen der Besänftigung) Der beißt! Und das Schlimmste ist: er versteht was von der Sache.

Kluth: O weh!

Negendank: Der lässt sich nichts vormachen. Der sieht alles.

Kluth: Ja, ja, mit solchen Leuten ist schlecht Kirschen essen.

Negendank: Der? Der ist überhaupt keine Kirschen. (Näher an Kluth heran tretend) Den zweiten Tag, als er hier war, hatte Flachsmann, so 'n recht feines Frühstück machen lassen und als die Uhr zehn ist, sagt er: " Belieben Herr Schulrat vielleicht ein bescheidenes Frühstück zu nehmen?" Da hätten sie mal die Brillengläser sehen sollen! "Danke", schnauzt er "frühstücke überhaupt nicht." Und das können sie sich merken, lieber Kluth: ein Vorgesetzter, der nicht frühstückt, ist sehr gefährlich.

Kluth: Ja, ja. Denn hat er also doch dran glauben müssen.

Negendank: Wer?

Kluth: Der Herr Flemming.

Negendank: Flemming?

Kluth: Ja... von wem sprechen sie denn?

Negendank: Doch nicht von Flemming? Sie sind wohl des Deubels! Diercks hat er 'rausgeschmissen!

Kluth: Dierks?

Negendank: Ja, natürlich!

Kluth: (immer neugierig und ängstlich) Warum das denn?

Negendank: Weil er Schülerarbeiten gefälscht hat... Hat Sachen für Schülerarbeiten ausgegeben, die er selbst gemacht hat. .. Das 's aber noch nicht das Schlimmste! Er hat die Kinder direkt zum Lügen und Betrügen angestiftet.

Kluth: O weh, o weh! Und da hat er ihn weggejagt!

Negendank: Auf der Stelle! "Verlassen sie sofort das Schulhaus und lassen sie sich nie wieder blicken!" Der ist 'rausgeflogen, er wusste selber nicht wie.

Kluth: Jä, das muss ich nu sagen: so was könnte bei uns nicht vorkommen!

Negendank: (schwer gekränkt) So! Na, mein lieber Kluth, denn will ich ihnen mal was sagen: Und wenn wir hier noch drei Diercksen hätten, denn steht unsre alma mater immer noch hundert Meilen höher als ihr sogenanntes Bildungsinstitut! (Man hört Flachsmanns Stimme)

Kluth: (sehr betreten, nähert sich dem Ausgange) Ja wieso denn... ich... was...

Negendank: Warten sie mal ab, bis der Schulrat bei ihnen gewesen ist! Die Schuldiener inspiziert er auch!

Kluth: Ja?... Na, ich muss laufen.

Negendank: Das glaub' ich auch.

Kluth: (trifft in der Tür auf Flachsmann; sinnlose Laute stammelnd) Äh...ä...ä... ich... abab... bebeb... ech... die Quartalslisten heb... hab ich...

Flachsmann: (achtlos) Ist gut, ist gut.

Kluth geht ab.

2. Szene

Flachsmann. Negendank.

Flachsmann: (hat sich in Schwarz geworfen. Er ist im höchsten Grade zerfahren und geistesabwesend und trocknet sich wiederholt den Schweiß von der Stirn) Haben sie die Stühle hingestellt? Sind es auch genug? ( Er fängt wiederholt an, sie zu zählen, kommt aber nicht damit zu Ende, weil er immer wieder in Nachdenken versinkt.) Sitzt mein Schlips auch ordentlich?

Negendank: Erlauben sie? (Zieht ihm den Bindeschlips zurecht.)

Flachsmann: (Läuft ihm davon und geht ein paar Schritte. Dann hastig an Negendank herantretend.) Haben sie noch etwas... was den Flemming... ich meine: können sie mir jetzt etwas mitteilen über Herrn Flemming... was sie beobachtet haben...?

Negendank: Über Herrn Flemming? Nein, Herr Oberlehrer!

Flachsmann: (mit zurückhaltender Erregung) Haben sie ihn nicht beobachtet... wie ich befohlen hatte...?

Negendank: (immer mit größter Ruhe) Nein, Herr Oberlehrer!

Flachsmann: (bebend) Warum nicht?

Negendank: Ein Soldat horcht nicht, Herr Flachsmann.

Flachsmann: (in sinnloser Wut schreiend) Quatsch! Verfluchter Quatsch! Sie sind hier Schuldiener und kein Soldat!

Negendank: Ein Soldat bleibt immer Soldat, Herr Flachsmann.

Flachsmann: (noch lauter schreiend) Ich werde sie rausschmeißen,... ich werde (plötzlich nach außen blickend und sich besinnend, nahe vor Negendank) ... ich werde ihnen das heimzahlen!

Negendank: (unbeweglich) Jawoll, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: (läuft wieder planlos umher, geht an seinen Schreibtisch und rückt an den Gegenständen, die darauf liegen. Tastet an seinem Rock und an seiner Weste hinunter; plötzlich mit Besorgnis.) Hab` ich mich auch weiß gemacht hinten? Bürsten sie mich noch mal ab...

Negendank: Alles in Ordnung, Herr Oberlehrer.

Flachsmann: Bürsten sie mich lieber nochmal ab!

Negendank: (nimmt aus einem Schubfach des Schreibtisches eine Bürste und tut es.)

Flachsmann: (wieder mit plötzlicher Hast) Haben sie Diercks inzwischen gesehen? Hat er was zu ihnen gesagt?

Negendank: Herr Diercks? Nein, Herr Dierks hat nur... (Der Schulrat tritt ein)

Flachsmann: Still!

3. Szene

Flachsmann. Negendank. Prell.

Prell: (ist raschen Schrittes herein gekommen und bleibt bei dem stramm stehenden Negendank stehen. Nach dem er ihn wohlwollend gemustert hat) Guten Morgen.

Negendank: Morg'n Herr Schulrat.

Prell: Sie haben das ganze Kollegium auf elf Uhr hierher bestellt.

Negendank: Zu Befehl, Herr Schulrat.

Prell: Dann sind freilich die Kinder ohne Aufsicht. Was machen "wir" da, Herr Negendank?

Negendank: Wir schicken einfach alle Kinder auf den Spielplatz und ich übernehme die Leitung.

Prell: So, verstehen sie sich darauf?

Negendank: Vollkommen, Herr Schulrat. Ich mache es auch immer so, wenn die Damen und Herren hier zusammen kommen, um quasi Gehalt in Empfang zu nehmen.

Prell: So. Na dann lassen sie uns jetzt allein.

Negendank: Gern, Herr Schulrat.

Prell: Halt, noch eins. Vor der Konferenz soll Herr Flemming allein zu mir kommen.

Negendank: Zu Befehl, Herr Schulrat. (Ab)

4. Szene

Flachsmann. Prell.

Prell: (hat in Flachsmanns Sessel Platz genommen) Herr Flachsmann!

Flachsmann: (eilt an die linke Seite des Schulrats) Herr Schulrat?

Prell: Sie schulden mir noch immer eine Erklärung dafür, dass der Dierks diesen unerhörten Betrug verüben könnte.

Flachsmann: (stotternd) Ja, Herr Schulrat, ich, ich weiß es auch nicht...

Prell: "Ich weiß es auch nicht" ist eine alberne Antwort. Sie wissen doch, sie wissen doch, dass sie hier angestellt sind, um zu wissen, wie?

Flachsmann: Jawohl, Herr Schulrat.

Prell: Es handelt sich hier nicht um ein momentanes Vergehen. Die ganze Klasse des Menschen ist total vernachlässigt. Wie erklären sie das? Wie erklären sie das? Wie erklären sie es, dass sie noch vor wenigen Wochen sehr günstig über den Mann berichteten und ihn zur Beförderung empfahlen.

Flachsmann: Ich habe den Menschen eben blindes Vertrauen geschenkt und...

Prell: (sofort das Weitere scharf abschneidend) Warum?

Flachsmann: Weil... weil er früher sehr Gutes geleistet hat, ja, sehr Gutes.

Prell: So. Das ist ja möglich. Aber wenn ihr Vertrauen noch so blind war: dass der Mann faulenzte, das musste auch ein Blinder merken.

Flachsmann: (sucht der Sache eine heitere Wendung zu geben) Ich, ich bin eben wieder mal zu gutmütig gewesen, Herr Schulrat.

Prell: So. Warum waren sie denn nicht gutmütig gegen andere Mitglieder ihres Kollegiums, die es viel eher verdienten... Wie?

Flachsmann zuckt hilflos mit den Achseln. Es klopft.

Prell: (den Zeigefinger hin und her bewegend) Da ist etwas nicht in Ordnung. ... Herein! ,,, Wir sprechen noch darüber.

5. Szene

Flemming. Prell. Flachsmann. Später Carl Jensen.

Flemming: (tritt ein) Herr Schulrat?

Prell: (schnauzend wie immer, aber mit Wohlwollen) Nehmen sie Platz. (Flemming setzt sich auf den letzten Stuhl links) Herr Flemming, sie haben sich schwer vergangen gegen die Disziplin. Bei ihrer Intelligenz werden sie sich gesagt haben, dass das nicht ohne Folgen bleibt.

Flemming: Allerdings.

Prell: An Intelligenz fehlt es ihnen ja wahrscheinlich nicht. Das beweist ihre Arbeit in der Klasse. – Sie sind mehr als intelligent – sie sind sogar... (abschnappend) na ja. – Ihre Arbeit in der Klasse ist gut. – Ist sehr gut. (Blickt einen Augenblick vor sich hin und springt dann auf)

Flemming steht ruhig auf und lehnt sich an seinen Stuhl.

Prell: (Läuft mehrere Male auf und ab und bleibt dann vor Flemming stehen.) Hervorragend gut. (Nach einigen wenigen Schritten) Aber das ist hier zunächst gleichgültig. Sie haben ihren Vorgesetzten wie einen Esel traktiert. Das geht nicht. Das können wir nicht einreißen lassen. Und wenn ihre Leistungen noch so glänzend sind. – Besonders ihr Geschichtsunterricht hat mir gefallen... Sie unterrichten wohl gern Geschichte.

Flemming: Eigentlich nein.

Prell: Warum nicht.

Flemming: Ich denke über Geschichte genau wie Schopenhauer und Nietzsche.

Prell: So. – Darüber müssen wir uns mal unterhalten. – Aber sie beherrschen den Stoff vollkommen. Sie haben Lamprecht gelesen.

Flemming: Jawohl.

Prell: Und Ranke natürlich.

Flemming: Jawohl.

Prell: Und Droysen.

Flemming: Jawohl.

Prell: Häusser.

Flemming: Auch.

Prell: Janssen sogar.

Flemming: Jawohl.

Prell: (lächelnd) Hab' ich alles wohl gemerkt. Und sie bringen den Stoff mit einer... mit einer künstlerischen Leichtigkeit an die Kinder. Es ist als ob sie den Kindern fortwährend in die Köpfe sehen. Sie haben gesehen, wie Begriffe und Vorstellungen wachsen. (Zu Flachsmann) Das ist etwas Großes. Das macht den Schulmeister.

Flachsmann: (hilflos zustimmend) Jawohl, jawohl.

Prell: (wieder nahe an Flemming) Wie stehen sie zu der Frage Natorp oder Herbart.

Flemming: In der Hauptsache bei Natorp.

Prell: Ich auch. Ganz entschieden. Die "Analyse des Bewusstseinsinhalts"... die verstehen sie meisterlich! Und die Synthese nicht minder. (Zu Flachsmann) Das ist etwas Wunderbares!

Flachsmann: Jawohl, jawohl.

Prell: Ich habe so etwas nie... (Plötzlich wieder abschnappend, ärgerlich über seine Begeisterung, mit einem grimmigen Blick auf Flemming unvermittelt laut und scharf) Na ja! Deshalb bleibt aber Insubordination Insubordination. Und Insubordination gibt 's bei mir nicht. Sie haben ihren Vorgesetzten... was haben sie gesagt?... Schuster...? Bildungsschuster...?

Flemming: Miserabler Bildungsschuster.

Prell: Jajaja, das geht nicht! Das können wir unter keinen Umständen durchlassen! ... Das durften sie nicht sagen! Das gibt 's nicht. ...Ich kann sie vor den Folgen nicht schützen. (Es klopft) Herein!

Carl Jensen, ein zehnjähriger Knabe, tritt ein.

Prell: (legt ihm eine Hand auf die Schulter) Was willst du, Kleiner?

Carl: Ich wollte eine Empfehlung machen von Herrn Vogelsang an Herrn Flachsmann, und der Oberbonze wäre nach der Mädchenschule gegangen.

Prell: (stutzt einen Augenblick) Oberbonze?... Ach so! ...Na, dann sag nur Herrn Vogelsang: Der Schulrat lässt grüßen und das wäre ein Irrtum, der Oberbonze wäre noch hier. Verstanden?

Carl: Jawohl. (ab)

Prell: (Nachdem er wieder einige Schritte gemacht hat) Wie gesagt: abwenden kann ich die Folgen nicht. Aber ich kann sie mildern. Ich werde über ihre guten Leistungen, Ihre... (gnatzig) na ja: über ihre guten Leistungen berichten. Sie werden Herrn Flachsmann um Verzeihung bitten, und dann wird ihnen das Schlimmste erspart bleiben und sie werden mit einem strengen Verweise davonkommen.

Flemming: (ruhig) Herrn Flachsmann um Verzeihung bitten, das wäre das Schlimmste.

Prell: Was... was heißt das?

Flemming: Einen Flachsmann werde ich nie um Verzeihung bitten.

Prell: Was... warum nicht?

Flemming: Weil es widernatürlich wäre.

Prell: (starrt ihn lange an und sagt dann zu Flachsmann) Lassen sie uns allein.

Flachsmann: Jawohl, Herr Schulrat. (Ängstlich und scheinheilig) Herr Schulrat, ich verzichte gern darauf ...ich will einer Versöhnung nicht im Wege sein ...wenn es auf mich ankommt...

Prell: Auf sie kommt es nicht an.

Flachsmann: (zurückfahrend) Jawohl, Herr Schulrat. (ab.)

6. Szene

Flemming. Prell.

Prell: (setzt sich wieder) Setzen sie sich mal hierher.

Flemming setzt sich ebenfalls.

Prell: Ich spreche jetzt nicht als Beamter zu ihnen. Ich spreche als Freund. Was ich von Herrn Flachsmann halte, kann ich ihnen natürlich nicht sagen.

Flemming: Nein. Und ich versichere sie meiner vollsten Diskretion.

Prell: (lacht grunzend in sich hinein) Natürlich sollen sie auch nicht länger unter Flachsmann arbeiten. Ich würde sie auf eine andere Schule versetzen. Danach ist doch die ganze Abbitte nichts weiter als eine Formalität.

Flemming: (Herzlich) Verzeihung, Herr Schulrat, ich bin ihnen gewiss von Herzen dankbar für ihre Güte; aber das ist so, als wenn der Schafrichter sagt: Lassen sie sich ruhig köpfen, es ist eine reine Formalität.

Prell: Das ist Unsinn. Das ist keine Hinrichtung. Für mich bleiben sie deshalb ganz der selbe.

Flemming: (milde) Aber nicht für mich, Herr Schulrat. Ich würde kein Stück Brot mehr von mir nehmen!

Prell: Das ist lächerlich! ...Damit machen siech kaputt! ... Es ist doch Wahnsinn, wenn 'n Mensch wie sie nicht an der Schule bleibt!... Ich möchte sie der Schule erhalten! (Blickt wieder eine Weile starr vor sich hin, springt dann auf und läuft im Zimmer auf und ab)

Flemming erhebt sich ebenfalls wieder und lehnt sich an seinen Stuhl.

Prell: (Bleibt bei ihm stehen ohne ihn anzusehen) Die Literaturstunde gestern war besonders gut. –Ausgezeichnet. – Ganz ausgezeichnet. – Ich glaubte, dass man richtige Lyrik nicht an die Kinder heranbringen könne. Ich sehe, es geht doch. Sie pflückten und zerrten nicht an dem Gedicht heran. Sie bereiteten das Verständnis und die Stimmung behutsam vor; sie bereiteten dem Gedicht einen Boden in den die Kinder und dann hoben sie (mit entsprechender Geste) die ganze lebendige Pflanze mit allen feinen Wurzeln auf und pflanzten sie den Kindern direkt ins Herz! Nicht erst in den Kopf! Das war eine weihevolle Stunde! Darüber war echte Weihe der Kunst. Haben sie die Augen gesehen?

Flemming: (Glücklich zustimmend) Ja ja!

Prell: Man hörte die Kinderherzen klopfen! Ich muss ihnen sagen: Mir hat auch das Herz geklopft. Ich war auch ihr Schüler. Ich war auch 'n kleiner Junge. Ich hab' 'ne Lektion geschunden, ohne das sie 's merkten. Als sie zu Ende waren, da machten alle Kinder... (mit einem kleinen Seufzer der gelösten Spannung) ha!... Hab' ich auch mitgemacht.

Flemming: Herr Schulrat, sie machen mich sehr glücklich!

Prell: Na, ist es nun nicht heller Wahnsinn, wenn sie wegen einer Bagatelle die Schule im Stich lassen und womöglich 'n Zigarrenladen auftun?

Flemming: (gequält) Herr Schulrat... ich möchte mich ihnen so gern verständlich machen. Dieser Flachsmann... ist mir der widerwärtigste Mensch, den ich kenne. Das fühlte ich, als ich ihn zum ersten male sah... Ich komme physisch nicht darüber hinweg! Ich stelle mir so die Gefühle einer Frau vor, die sich einem ekelhaften Manne unterwerfen soll... es ist eine Sache der Scham, Herr Schulrat...

Prell: (sieht ihn eine Weile an, dann in einscheidendem Tone) Na ja... Wenn sie's denn durchaus nicht können... Ich werde eingehend berichten, wie hier die Sachen liegen, und werde mit allen Kräften dahin wirken, dass ihnen die Abbitte erlassen bleibt und es mit einem Verweis sein Bewenden hat. Das sage ich ihnen freilich im voraus: Es wird ein Rüffel werden, wie sie ihn noch nie gesehen haben. Darauf müssen sie sich gefasst machen.

Flemming: Herr Schulrat, Ich würde auch diesen Rüffel ablehnen und der Regierung zurück schicken.

Prell: (einen Augenblick sprachlos, dann sehr laut) Herr, dann holt sie der Deibel! ...Dann werden sie gejagt, dass sie die Schule verlieren!

Flemming: Ich trage Stiefel, Herr Schulrat.

Prell: (noch lauter) Sie sind ein hochmütiger Kerl!

Flemming: Darf ich widersprechen?

Prell: (außer sich fast schreiend) Nein, Herr, nein, das dürfen sie nicht! (Läuft mehrere Male auf und ab, die Hände auf dem Rücken, Flemming ab und zu mit funkelnden Augen anblickend; endlich bleibt er am Schreibtisch stehen. Noch immer laut und zornig) Was haben sie zu sagen?

Flemming: (sehr bescheiden und schlicht) Es gibt allerdings hochmütige Schulmeister, Herr Schulrat und es gibt devote Schulmeister; von beiden mehr als genug; ich bemühe mich, die Zahl der stolzen Schulmeister um einen zu vermehren.

Prell: Dabei werden sie den Hals brechen!

Flemming: Wohl möglich. Denn man sieht in uns nur Handwerker, oft nur Maschinen Arbeiter, zuweilen sogar nur Werkzeuge. Und man sollte doch in uns den Ehrgeiz wecken, Künstler werden zu wollen, Künstler, die dem Vaterlande neue Länder der Seele entdecken und einverleiben. Herr Schulrat, dreißig Jahre lang ist diese Schule von einem Schuster regiert...

Prell: Herr Flemming, ich darf das nicht anhören!

Flemming: Verzeihung! Sagen wir also: ist diese Schule regiert worden von einem Manne, der alle Kinder über den selben Leisten spannte, sie über 's Knie legte und ihnen die vorschriftsmäßige Anzahl von Nägeln in den Kopf hämmerte... das gibt allerdings ein material, worauf andere spazieren gehen können. Dreißig Jahre lang hat dieser Flachsmann hier am Tische gesessen und auf 'n Knopf gedrückt oder die Klingel gezogen. Nun kann man aber ein ganzes Arsenal von Maschinen in Bewegung setzen, indem man auf einen Knopf drückt, aber Kinder und Lehrer und Schulen sind Organismen, und bei Organismen hilft Knopfdrücken gar nichts! Dreißig Jahre lang konnte dieser Mann über Wohl und Wehe von Kindern und Lehrern entscheiden; denn über ihm waltete ein Oberknopfdrücker. Haha, die Menschen haben ein famoses Sprichwort, das heißt: "Des Herrn Auge macht die Pferde fett." Die Menschen verstehen sich immer besser auf den Pferdestall, als auf die Kinderstube, denn Pferde sind Wertobjekte. Seit dreißig Jahren, Herr Schulrat, sind sie wahrscheinlich der erste Mann, der hierher kommt mit der sehenden Hand und mit dem fühlenden Auge eines Gärtners!

Prell: Herr Flemming, wenn mich nicht alles täuscht, so erteilen sie jetzt der Regierung einen Rüffel.

Flemming: Das ist nicht meines Amtes.

Prell: Sie verstehen es trotzdem sehr gut. Sie machen dabei aber einen ungeheuren Fehler. Sie beurteilen alle Lehrer nach sich. Gesetze sind aber für alle gemacht und sind für alle da. Wir können nicht einem Beamten gestatten, was wir nicht allen gestatten können. und wir können nicht allen Beamten gestatten, ihre Vorgesetzten "miserable Bildungsschuster" zu nennen. Vorläufig noch nicht. Wir müssen zu Ende kommen. Ich frage zum letzten male: Wollen sie den Verweis über sich ergehen lassen, einerlei wie er ausfällt!

Flemming: Nein, Herr Schulrat.

Prell: (abschließend und ruhig) Dann müssen sie springen. – (Etwas lauter) Dann springen sie eben über die Klinge! – (Noch etwas lauter) Dann werden sie eliminiert! – Sie können gehen. ...Schicken sie mir den Flachsmann!

Flemming: Jawohl, Herr Schulrat. (Ab)

7. Szene

Prell. Flachsmann.

Prell geht erregt auf und ab, bleibt vor dem Plakat "Schulordnung" stehen, schüttelt den Kopf uns setzt dann seine Wanderung fort. Es klopft. Prell hört es, sagt aber nichts darauf.

Flachsmann: (öffnet vorsichtig die Tür und schiebt sich langsam herein. Pause.) Ich fürchte fast, dass Herr Flemming sich für die Güte des Herrn Schulrates...

Prell: (ohne auf seine Worte zu achten, höchst unangenehm.) Sie werden dem Staate teuer, Verehrtester.!

Flachsman schweigt betreten.

Prell: Sie kosten dem Staate einen seiner besten Lehrer! – Wenn's nicht der beste ist!

Flachsmann: Herr Schulrat, an mir soll es nicht lieben! Ich bin ja stets bereit, die Hand zur Versöhnung zu reichen; ich habe ja nichts gegen Herrn Flemming...

Prell: (wie oben) Warum hassen sie den Mann?

Flachsmann: Ich? Hassen? ...Herr Schulrat, ich hasse niemanden. Im Gegenteil, ich habe...

Prell: (wie oben) Das ist der Hass des Kriechers gegen den Flieger. – Der Hass des Strebers gegen den geborenen Sieger.

Flachsmann: Herr Schulrat, ich gebe ja mit Freuden zu dass Herr Flemming ein hochbegabter Mensch ist, und wenn er...

Prell: (Steht bei dem Plakat "Schulordnung" und schlägt verächtlich mit der Hand darauf) Was ist das für ein lächerlicher Wisch. Eine Schulordnung von 123 Paragraphen! Das ist ein Reglement für eine Strafanstalt! Mit solchen Pimpeleien nehmen sie den Menschen den Blick für die Hauptsachen, den Sinn für das Große.

Flachsmann: (mit dem Versuch eines einschmeichelnden Tones) Herr Schulrat, ich bin immer ein großer Freund der Ordnung gewesen; wenn in einer Schule nicht strengste Ordnung ...

Prell: Sie haben ja keine Ahnung gehabt, wen sie da bei sich hatten! Sie haben den Mann schikaniert! Und sie mussten froh sein, wenn er ihnen nichts tat! Hätten sie den Mann ruhig arbeiten lassen, wären sie mit ihm ausgekommen, weil er der Klügere ist. (Ganz nahe vor Flachsmann, ihn mit dem Zeigefinger an den Rock tippend) Bei solchen Leuten begnügt man sich an ihrer Stelle mit dem Schein der Oberhoheit Solche Leute macht man zu ersten Ministern und lässt ihnen stillschweigend das Zepter; sonst kriegen sie auch noch die Zivilliste!

Flachsmann: (mit zaghafter Bosheit) Es wundert mich, Herrn Schulrat so reden zu hören; Herr Schulrat sind doch sonst für die Monarchie!

Prell: (ihm nahe ins Gesicht) Aber nicht für die beschränkte!

Flachsmann: Herr Flemming hat aber beständig seine Autorität untergraben. Seitdem Herr Flemming hier ist, hat die Disziplin im Kollegium...

Prell: (sehr barsch) Schnickschack! Ich kenne nur eine Disziplin: das des Könners. Wer was kann hat Disziplin. Wer nichts kann, verlegt sich aufs Tyrannisieren. Ist immer so.

Flachsmann: (trotzig) Wenn ich nichts kann, dann hätte mich der Staat nicht anstellen sollen.

Prell: Herr, da sprechen sie das erste vernünftige Wort. Sie eignen sich zum Schulmeister wie das Muflon zum Gedankenleser! (Die Hände zusammenschlagend und verschränkend) Was war das heute wieder für eine Stunde, die sie da gaben! Es war ja unglaublich! Die Antworten der Kinder waren ja oft klüger als ihre Fragen! Ihre Fragen waren ja Kasernenhofblüten! Sie fragten die Kinder: "Was wird bei der Hochzeit zur Familie gelegt?" und als Antwort wollten sie haben: "Der Grund"! Ja, nun frage ich einen Menschen! (Geht wieder auf und ab. Dann wieder bei Flachsmann stehenbleibend.) Wo haben sie eigentlich ihr Examen gemacht?

Flachsmann: In Weitzenfels.

Prell: In Weitzenfels? Wann?

Flachsmann: 1869.

Prell: 1869?... Dann haben sie das Examen als Auswärtiger gemacht.

Flachsmann: (stutzt einen Augenblick) Ja... jawohl.

Prell: Ich habe nämlich das Weitzenfelser Seminar besucht und 69 das Examen gemacht.

Flachsmann: (beklommen) Jaa? So... Herr Schulrat, die Stunde muss gleich aus sein... ich... ich bin gern dabei, wenn die Kinder auf den Hof gehen. ...

Prell: Das ist wohl nicht so wichtig!... Ich erinnere mich nicht, sie damals gesehen oder ihren Namen gehört zu haben.

Flachsmann: Ich war krank gewesen, Herr Schulrat, und ich bin dann später allein geprüft worden.

Prell: So! Dann haben sie überhaupt gar kein Seminar besucht?

Flachsmann: Doch, Herr Schulrat.

Prell: Welches?

Flachsmann: Etzlingen.

Prell: Warum heben sie denn nicht in Etzlingen ihr Examen gemacht?

Flachsmann: Ich habe es gemacht, aber ich habe es leider nicht bestanden.

Prell: Warum nicht.

Flachsmann: Der Lehrer der Methodik wollte mir nicht wohl. Er hätte mich niemals durchgelassen.

Prell: Wenn sie wirklich was konnten, musste er sie ja durchlassen. Es war wohl mehr die Methodik, die ihnen nicht wohlwollte. Und da haben sie in Weitzenfels bestanden? Das begreif' ich nicht. Wie kommen sie denn überhaupt von Etzlingen nach Weitzenfels?

Flachsmann: Ich hatte in der Nähe von Weitzenfels eine Präparandenstelle bekommen, und da habe ich eben auch in Weitzenfels mein Examen gemacht.

Prell: Hm. – Das will mir nicht in den Kopf. Man stellte damals in Weitzenfels recht hohe Anforderungen. Man verlangte ziemlich viel. Christian zum Beispiel verlangte in der Geschichte außerordentlich viel. Und was für einen Geschichtsunterricht geben sie! Was sie den Kindern vortrugen, ist niemals Geschichte gewesen. ...Welchen Charakter haben sie denn bekommen?

Flachsmann: Den zweiten Charakter mit rühmlicher Auszeichnung.

Prell: (sehr drastisch) Das ist nicht möglich!

Flachsmann: Ja, es ist aber doch...

Prell: Das muss 'n Schreibfehler sein! Dann müssten sie sich... nein, das ist nicht möglich. Haben sie eine schwere Krankheit durchgemacht?

Flachsmann: Krankheit?... (Den Gedanken ergreifen) Ja... allerdings. (Es läutet. Flachsmann wie befreit) Es läutet, Herr Schulrat! (Will gehen)

Prell: Das höre ich... Bleiben sie! – (Ihn fest ansehend) Je länger ich hier verweile, desto mehr Rätsel geben sie mir auf, Herr Flachsmann! Was sagten sie da vorhin: Sie hätten immer auf strengste Ordnung gehalten? Taten sie das auch im Falle Diercks?

Flachsmann: Herr Schulrat, im Falle Diercks habe ich mich vergangen, das muss ich ja leider zugeben. Aber ich habe es aus Liebe für einen alten Freund getan. Diercks Vater war nämlich ein alter Freund von mir; wir stammten aus demselben Dorf, ja, und haben schon als kleine Kinder zusammen gespielt...

Prell: So

Flachsmann: Ja... unsere Eltern wohnten Haus an Haus... ja, und... Herr Schulrat! Aus Liebe zu meinem alten Freund... wollt' ich Herrn Schulrat noch einmal bitten, ob Herr Schulrat es nicht noch einmal mit dem Diercks versuchen möchten.. (Mit einem Aufschwung zu Sentimentalität) Wenn man so'n Menschen ganz auf die Straße wirft, dann wird er ja nur noch immer schlechter..

Prell: Herr...

Flachsmann: Er wird so was ja gewiss nicht wieder tun...

Prell: (sehr scharf) Herr Flachsmann! Sie sprechen für einen Menschen, der seine Schüler zum Betrug erzog. – Sie zeigen plötzlich eine unglaublich Persönlichkeit gegen einen Menschen, über den sie uns mit der Kleinlichkeit eines giftigen Hasses berichten. Ich hoffe, dass sie mich nicht zwingen, einen Verdacht auszusprechen. Habe ich einmal einen Verdacht ausgesprochen, so pflege ich ihm nachzugehen!

Flachsmann: Oooh, Herr Schulrat, ich... ich verstehe gar nicht, was Herr Schulrat...

Prell: Um so besser für sie. (Es klopft) Herein!

8. Szene

Flachsmann. Prell. Nacheinander eintretend: Betty Sturhahn, Gisa Holm, Vogelsang, Römer, Weidenbaum, Riemann und Flemming. Später Negendank.

Weidenbaum: (Beim Eintreten noch im Gespräch mit Römer) Nein, ist ganz in Ordnung! Das ist mein Mann: gerecht und schneidig. Wenn einer seine Pflicht tut... (Man bedeutet ihm zu schweigen, indem man ihn auf die Anwesenheit des Schulrats aufmerksam macht)

Prell: (hat sich in Flachsmanns Stuhl gesetzt) Ich bitte Platz zu nehmen.

Das Kollegium nimmt in folgender, halbkreisförmiger Ordnung Platz:

Römer Sturhahn Weidenbaum Prell Flachsmann Riemann Vogelsang
Flemming Gisa

Prell: Meine Damen und Herren. – Ich habe an dieser Schule ein Exempel statuieren müssen. Herr Diercks hat, um seine Pflichtwidrigkeiten zu verbergen, nicht nur selbst betrogen, sondern seine Schüler zu Mitschuldigen gemacht. Das ist das Abscheulichste, was ein Lehrer tun kann. Herr Diercks hat mich in wiederholten Briefen darum gebeten, die Entlassung zurück zu nehmen. Ich denke nicht daran. Bei solchen Verfehlungen kenne ich keine Nachsicht. Ebenso rückhaltlos erkenne ich aber das Gute an und ich danke den meisten von ihnen, dass sie mir vieles Gutes gezeigt haben... Das Meiste von dem, was ich zu sagen hatte, habe ich ihnen bereits einzeln gesagt. Ich habe nur wenig hinzuzufügen (Kurze Pause) Herr Römer...

Römer beugt sich vor.

Prell: Der Kampf gegen die Unwissenheit ist ein langwieriger Belagerungskrieg. Lauter Sturmlaufen geht nicht. Ich freue mich, dass sie Feuer und Sturm habe da drinnen (auf die Brust deutend) aber halten sie's da drinnen fest, dann drängt es um so stärker. Nicht alles zum Schornstein hinaus gehen lassen, sonst sind sie in drei Jahren ein kalter Ofen.

Römer: Jawohl.

Prell: Sie sprechen auch zu laut. In ihren Jahren will man die Dummheit mit der Lunge wegblasen. Ich kann ihnen sagen: das geht nicht. Im übrigen bin ich sehr zufrieden. Ich danke ihnen.

Römer: (glücklich lächelnd) Bitte!

Prell: Auch sie, Fräulein Sturhahn, sprechen zu laut.

Betty: Sonst hört die Bande ja nicht.

Prell: (fein) Die Bande hört um so besser, je leiser die Bandenführerin spricht. Ich konnte aber nebenan jedes Wort verstehen, als sie unterrichteten.

Betty: Ich musste sie überschreien. Sie sprachen nämlich ebenso laut.

Prell: Fräulein Sturhahn: Sie unterstehen meiner Kritik; aber ich unterstehe... zu meinem Glück... nicht ihrer Kritik. Im übrigen habe ich wohl gemerkt, dass sie das Beste der Kinder wollen und mit dem redlichsten Eifer arbeiten. Ich danke ihnen.

Betty: (gnatzig) Bitte.

Prell: (zu den übrigen im schnauzendem Tone) Man soll nicht mit den Kindern herumschnauzen. Unsere Volksschüler haben oft zu Hause keine Sonne: da sollen sie sie in der Schule finden. Es ist so schön wenn ein Lehrer Humor hat. Humor ist Feuchtigkeit, und nichts braucht die Schulluft nötiger! Humor hat (nebenbei unwirsch) außer Herrn Flemming... besonders Herr Vogelsang. Zunächst in seinen Bestellungen an Herrn Flachsmann. Ich würde sie aber schriftlich abfassen, Herr Bonze Vogelsang. Die Kinder brauchen ja nicht zu wissen, wer ich bin.

Vogelsang: (lächelnd) Nein!

Prell: Sie haben aber nicht nur Humor auf Kosten ihrer Vorgesetzten. Es war mir eine Freude, ihnen zuzuhören; sie sind ein munterer Lockvogel der Weisheit, Herr Vogelsang.

Vogelsang verbeugt sich lächelnd.

Prell: Dass aber eine Klasse auch allzu vergnügt sein kann, das haben sie bewiesen, Fräulein Holm. Sagen sie, Fräulein Holm, wer hat eigentlich in ihrer Klasse am meisten zu sagen?

Gisa: (mit schüchterner Schalkhaftigkeit) Ich glaube: ich, Herr Schulrat.

Prell: So. Was ich sah, war eine fidele Anarchie. Man sollte nicht glauben, dass auf ihrer Nase sechzig Knaben spielen können.

Gisa: Ja, was soll ich dabei machen? Schlagen kann ich sie ja nicht!

Prell: Ja... ich fürchte nur, dass dann über kurz oder lang sie Schläge kriegen!

Gisa: (mit glücklicher Gewissheit) Ach nein, dazu hat die Bande mich zu lieb!

Prell: So. Na... jedenfalls... wenn Herr Flemming sie heimführen will.. an der Einwilligung der Schule soll es nicht fehlen.

Gisa: (innig) Danke, Herr Schulrat!

Prell: Herr Riemann, haben sie seit ihrem Abgang vom Seminar mal wieder ein Buch in der Hand gehabt?

Riemann: Ooh jaah!

Prell: Welches denn?

Riemann: Och, das... den Titel weiß ich gerade nicht.

Prell: Man sagt, das sie oft das Buch mit den 32 Blättern in die Hand nehmen.

Riemann: 32 Blätter?

Prell: Sie hätten doch gewiss gern mehr Zeit zum Skatspielen, was?

Riemann: (ahnungslos) Mehr Zeit? Och nein!

Prell: (allmählich immer ungemütlicher werdend) Sagen sie's nur. Dann geben wir ihnen mehr Zeit zum Skatspielen, als ihnen lieb ist. Dann pensionieren wir sie. Rückständige Lehrer können wir nicht brauchen! Ein Lehrer, der nicht fortschreitet, ist wie ein Arzt, der nicht fortschreitet; er wird zuletzt zum Mörder! Mörder honorieren wir nicht!!... Wenn ich wiederkomme, werden sie mir Rechenschaft geben über den neueren Stand der Methodik, verstanden?

Riemann: Jawoll, Herr Schulrat... (Pause)

Prell: (auffallend sanft) In ihrer Klasse Herr Weidenbaum, habe ich die Präzision bewundert, mit der die Schüler die Tische aufklappen. Wie haben sie das erreicht?

Weidenbaum: (steht auf, mit dem Eifer des Geschmeichelten) Durch fortgesetzte Übung. Zuerst hab' ich es nach Zählen machen lassen. Und zwar in sechs Zeiten. (Indem er die Bewegungen nachahmt, langsam) Bei 1! legen die Kinder die Hände flach auf den Tisch; bei 2! fassen sie die Klappe an; bei 3! heben sie sie genau bis zur senkrechten Lage; bei 4! legen sie sie lautlos hin; bei 5! lassen sie sie los und bei 6! falten sie die Hände. Wenn man das 'n paar mal 'ne halbe Stunde lang übt, dann geht es.

Prell: So!

Weidenbaum: Ja. Ich habe es erst in vier Zeiten gemacht; aber auf den erfahrenen Rat von Herrn Flachsmann mache ich es jetzt in sechs Zeiten.

Prell: So. Ja, Herr Flachsmann hat mich auf die Vorzüge ihrer Klasse aufmerksam gemacht! So habe ich auch bewundert, dass ihre Schüler beim Fingerzeigen den Finger nie höher hielten als in Kopfhöhe. Wie haben sie das erzielt?

Weidenbaum: (immer sehr wichtigtuerisch, sich als Mittelpunkt fühlend) Sowie ein Knabe den Finger höher hebt als Kopfhöhe, muss er 100 mal aufschreiben: "Ich darf den Finger nie höher als Kopfhöhe heben." So mach' ich es überhaupt immer: wenn ein Schüler sich umsieht oder lacht oder so, dann muss er 100 mal aufschreiben: "Ich darf mich nicht umsehen", oder "Ich darf in der Stunde nicht lachen", und wenn er es nicht gut macht, muss er es noch mal 100 mal abschreiben.

Prell: So. (Noch immer scheinbar freundlich) Wissen sie, dass sie ein Menschenschinder sind?

Weidenbaum fällt auf seinen Stuhl.

Prell: (in allmählicher Steigerung) Wissen sie, dass sie schlimmer sind, als der ärgste Prügelmeister? Wissen sie, dass ihre Klasse ein Wachsfiguren-Kabinett ist?... Wissen sie, dass ihre Schüler lauter Kadaver sind?!! Wenn ich vor ihre Klasse tretend sage: "Das Sofa ist ein Säugetier; denn es bringt lebendige Junge zur Welt", dann sprechen es mir nacheinander ihre sämtlichen Schüler nach. Nicht einer opponiert! Ich wette, auf ein gegebenes Zeichen machen ihre Schüler sämtlich: Wauwau."

Weidenbaum: Herr Schulrat, ich tue stets meine Pflicht...

Prell: Pflicht! Pflicht! "Pflicht" genügt für 'n Geldbriefträger. Vom Lehrer verlang' ich Begeisterung. Sie werden denken: was ist das für ein dümmer Kerl, der von mir Begeisterung verlangt. Arbeiten, Herr Weidenbaum, dann kommt die Begeisterung. Wenn man die Welt anpackt, gewinnt man sie lieb. Ales, was sie machen, ist Schablone. Schablone ist ein Fremdwort für Faultier.

Weidenbaum: Herr Schulrat, ich habe stets den Stoff erledigt, den...

Prell springt auf und beginnt wieder zu wandern.

Die Übrigen erheben sich.

Prell: Herr, ich verlange Kraft! Leben verlange ich, Herr! Wenn ihre Schüler ins Leben hinaus treten, stehen sie wie die Kuh vor dem neuen Tor. Ich will Menschen, die das Tor aufklinken! Sehen sie sich Herrn Flemming an! Der weckt Kraft, erzeugt Kraft; sie verbrauchen sie! Sehen sie sich 'ne Rechenstunde bei Herrn Flemming an, da lebt und blüht alles! Die Zahlen und die Kinder! Ich alter Mann habe gedacht: Wärst du nochmal vierzehn Jahr und könntest hier sitzen und mittun!... (In verändertem Tone) Leider will sich Herr Flemming der notwendigen Disziplin nicht fügen. Da muss er eben die Folgen tragen. Es tut mir leid, dass ich im Falle Flemming nachdrücklich wiederholen muss... (Es klopft.) Herein!

Robert Pfeiffer: (Tritt ein) Hier wär'n Brief für den Herrn Schulrat. (Gibt den Brief ab und geht)

Prell (Nimmt und liest): Als er gelesen hat starrt er Flachsmann an. Dann mit allen Zeichen unterdrückter Erregung und Verwirrung) Meine Damen und Herren, es ist... ich werde... gehen sie einstweilen in ihre Klassen!

Vogelsang: Herr Schulrat, darf ich ums Wort bitten?

Prell: (zerstreut) Was wünschen sie? (Gelegentlich immer wieder Flachsmann anstarrend)

Flachsmann heftet den Blick mechanisch auf den Brief.

Vogelsang: Ich möchte den Kollegen Flemming in ihrer und des ganzen Kollegiums Gegenwart fragen, ob es wahr ist, dass er unser ganzes Kollegium für faul und tot und sich selbst für den einzig Lebendigen erklärt hat.

Flemming: (ihn fest ansehend, ernsthaft) Vogelsang, altes Kamel! Also so was glaubst du?

Vogelsang: (seinen Blick erwidernd und ihm dann die Hand reichend) Wenn du noch in deinem alten Tone "Kamel" sagen kannst, glaub ich's nicht mehr... Dann, Herr Schulrat werden wir bei der Regierung petitionieren, dass Herr Flemming im Amte bleibt und ich bin überzeugt, dass das ganze Kollegium unterzeichnet.

Römer: Jawohl! Das Kollegium erklärt sich für Herrn Flemming solidarisch!

Prell: (erhebt gegen Römer komisch warnend die Hand) Wir sprechen noch darüber, meine Herren. Gehen sie jetzt in ihre Klassen.

Flemming, Vogelsang, Riemann, Römer, Gisa und Betty gehen.

9. Szene

Prell. Flachsmann.

Prell: Herr Flachsmann, wie heißen Sie mit Vornamen?

Flachsmann: (unsicher) Ich?... Ich heiße Jürgen Hinrich.

Prell: (ihm ins Auge) Das ist ein Irrtum. Sie heißen Johann Hinrich.

Flachsmann: (sinkt auf einen Stuhl, hilflos) Nein... Ich....

Prell: Dieser Brief ist nämlich von ihrem Freunde Diercks!

Flachsmann: (ausbrechend, mit geballten Fäusten) Der Schuft! Der gemeine, der verfluchte Schuft!

Prell: Der junge Mann, der 1869 in Weißenfels wegen Krankheit nachgeprüft wurde und als Externer sein Examen gut bestand, hieß Jürgen Hinrich und war Ihr jüngster Bruder. Er starb kurz nach dem Examen an der Schwindsucht, und Sie setzten sich in den Besitz seiner Papiere.

Flachsmann: Der Schuft, der Lump!

Prell: Das ist die Freundschaft mit dem Bösen, Herr Flachsmann. Sie ist "wie der Schatten früh am Morgen; Stund` um Stunde nimmt sie ab". Der Lateiner ist noch gröber, der sagt: Ein edles Brüderpaar. Woher weiß der Diercks das alles?

Flachsmann: Sein Vater war ja Kanzlist bei der Schulbehörde.

Prell: Aha, und der kannte sie von der Heimat her. Das ist der "alte liebe Freund!"

Flachsmann schweigt.

Prell: Hm... Die Umstände lagen für einen Betrug allerdings sehr günstig, weil die Examinatoren die einzigen Zeugen jener Prüfung waren. Und als das nun lange Jahre so gut ging und immer noch gut ging, da wurde ihnen schließlich zu wohl, und sie gingen aufs Eis tanzen.

Flachsmann schweigt.

Prell: Das ist zum Glück immer so. Wenn Gott solchen Leuten ein Amt gibt, nimmt er ihnen den Verstand. Sie also wollten einem ausgezeichneten Manne den Hals brechen! Ich denke sie rechnen nicht auf Schonung!

Flachsmann: (zerknirscht tuend) Nein. Ich werde sofort um meine Pensionierung einkommen.

Prell: (starrt ihn an) ...Pension wollen sie auch noch?! Sind sie besessen oder...

Flachsmann: Herr Schulrat, der ...Diercks wird ja schweigen, er muss jetzt schweigen; ich will wohl dafür sorgen...

Prell: Aha! Die Regierung soll diesen Ehrenmann zum Mitwisser haben, meinen sie.

Flachsmann: Herr Schulrat... die Regierung... kann die Sache ja auch niederschlagen...

Prell: (sehr grob) Wir werden sie niederschlagen! – Da sie ihr Amt erschwindelten, sind sie niemals Beamter gewesen. – Damit fällt das Verfahren gegen Flemming in sich zusammen Und damit ist ihr Geschäft hier zu Ende. (Nach der Tür zeigend) Verlassen sie sofort das Schulhaus!

Flachsmann: Ich... ich muss aber doch erst meine Sachen packen... meine Sachen... ich habe hier ja meine Sachen...

Prell: Die werden ihnen nachgeschickt. Wir behalten nichts davon.

Flachsmann: Ja, aber ich muss doch...

Prell: Herr, ich will sie nicht mehr sehen!

Flachsmann schlüpft blitzartig hinaus.

Prell drückt auf den Knopf bei der Tür.

10. Szene

Prell. Negendank. Dann Flemming.

Negendank tritt ein.

Prell: Herr Flemming möchte kommen (Geht die Hände auf dem Rücken, auf und ab und bleibt beim Schreibtisch stehen. Nimmt den Brief wieder zur Hand und liest.)

Flemming tritt ein.

Prell: Ich habe soeben den Flachsmann zum Teufel gejagt. Er hatte gar keine Lehrberechtigung. Er hat sein Amt durch die Papiere seines Bruders erschwindelt.

Flemming: ... Ist es möglich! Freilich: bei dem heiligen Bürokrazius ist nichts unmöglich! (Lässt sich auf einen Stuhl fallen)

Prell: (scharf) Das ist Unsinn. Betrüger wird's immer geben.

Flemming: Gewiss! Aber wenn dieser Gentleman zufällig richtige Papiere hatte, dann musste ich daran glauben. Und doch war der Schwindel mit den Papieren vielleicht sein kleinster! Die ganze Tätigkeit des Mannes war Schwindel, auch wo er's gar nicht beabsichtigte. Man verlangte von ihm keinen Führer, keinen Anreger, keinen Schöpfer, keinen Künstler, sondern dreißig Jahre lang nichts als einen korrekten Aufseher und Stundengeber, Das konnte er bieten! Den Mechanismus hielt er in Ordnung! Wenn sie, Herr Schulrat, einmal darauf achten wollten, dann würden sie erstaunlich viele Flachsmänner finden; leider haben sie nicht alle falsche Papiere. Sie würden finden, dass die Flachsmänner und die Weidenbäume in niederträchtiger Üppigkeit gedeihen, dass sie die deutsche Schule zur Drill- und Dressieranstalt erniedrigen und jene junge schöne Regung mit schleichender Bosheit ersticken!!

Prell: Eigentlich dürfen wir also froh sein, dass der gute Flachsmann uns eine so glatte Reinigung ermöglicht hat. So schlank geht's aber nicht immer.

Flemming: Man muss sich nur durch echte Papiere nicht täuschen lassen!

Prell: Ihr Wunsch ist mir Befehl, Herr Oberlehrer!

Flemming: (erhebt sich) "Oberlehrer"?

Prell: (barsch) Protestieren sie dagegen vielleicht auch?

Flemming: (stammelnd) Nein... ich...

Prell: Ich setze voraus, dass sie die nötigen Examina haben.

Flemming: Gewiss... ich...

Prell: Dann übernehmen sie die Leitung dieser Schule. Zunächst provisorisch. Ich denke, dass sie binnen Kurzem ihre Ernennung erhalten.

Flemming: (zitternd) Herr Schulrat... das ist ja nicht möglich!!

Prell: (ihm ins Gesicht, seinen komischen Spott imitierend) "Bei dem heiligen Bürokrazius ist nichts unmöglich."

Flemming: (mit mächtiger Erregung) Ich soll hier... hier... schaffen, wie ich will... ganz wie ich will... all' das Schöne, Neue...

Prell: Wenn sie's nicht gar zu toll machen, ja.

Flemming: ... Herr Schulrat!! Ich möchte sie so gern umarmen!!...

Prell: Ich werde zu diesem Zweck Fräulein Holm rufen. (Drückt auf den Knopf am Schreibtisch.)

Flemming: Ach ja! Gisa!!

Prell: Ssst!

11. Szene

Prell. Flemming. Negendank.

Negendank tritt ein.

Prell: (mit unterdrücktem Vergnügen) Herr Negendank, Herr Flachsmann ist nicht mehr Leiter dieser Schule; an seine Stelle ist jetzt Herr Flemming getreten. Gestatten sie, dass ich ihnen ihren neuen Chef vorstelle.

Negendank: Herr Schulrat, ich kann diesen Schritt nur billigen. Ich bin überzeugt, dass wir gut mit ihm fahren werden. (Die Hand reichend) Ich gratuliere.

Flemming macht eine verbindliche Verbeugung.

Prell wendet sich schnell ab, um seine Heiterkeit zu verbergen.

Negendank: (immer mit unerschütterlichem Ernst) Djö... das ist aber nu so 'ne Sache! Nu haben wir zwei von unsern Leuten weggejagt... nu hat aber eine Klasse keinen Lehrer!

Prell: Ja, was machen "wir" denn da, Herr Negendank?

Negendank: Na... schließlich kann ich ja die Klasse so lange unterrichten.

Prell: Ja können sie denn das, Herr Negendank?

Negendank: (mit großer Überlegenheit) Oooooh jaaa! Ich bin doch Unt'roff'zier gewesen!

Prell: (im gleichen Tone) Soooooo! Ja dann....!

Negendank: Ich werde mal Moltke mit den Kindern behandeln. Ich hab' ihn persönlich gekannt.

Prell: Tun sie das, Herr Negendank. Aber zunächst bitten sie Fräulein Holm, sie möchte sich hierher bemühen.

Negendank: Zu Befehl, Herr Schulrat. (Ab)

12. Szene

Flemming. Prell.

Prell und Flemming brechen, als Negendank fort ist, in ein gedämpftes Gelächter aus.

Flemming: Der arme Moltke!

Prell: Das ist ein Prachtkerl!... Übrigens noch eins: Sie müssen mir versprechen, ihrer Braut jetzt in keiner Weise beizuspringen, weder durch Worte, noch durch Blicke, noch durch Gebärden, sondern im Gegenteil mich zu unterstützen.

Flemming: Was soll denn werden?

Prell: Ich will auch mein Vergnügen haben.

Flemming: Gut, ich verspreche es.

Prell: Still, sie kommt. (Setzt sich an den Schreibtisch und nimmt eine sehr amtliche Haltung ein)

13. Szene

Prell. Flemming. Gisa.

Gisa: (tritt ein und betrachtet die beiden mit fragenden Blicken) Herr Schulrat...?

Prell: (barsch) Nehmen sie Platz!

Gisa setzt sich.

Prell: Über ihren Unterricht haben wir bereits gesprochen, Fräulein Holm. Sie haben aber noch eine andere Sache auf dem Gewissen.

Gisa sieht sich nach Flemming um, der ebenfalls die Pose strengen Ernstes angenommen hat.

Prell: Fräulein Holm, sie haben mich anzusehen!

Gisa wendet sich mit komischer Schnelle wieder dem Schulrat zu.

Prell: Es handelt sich um die Kussangelegenheit. Erinnern sie sich der Sache?

Gisa: O ja!

Prell: Das Schlimmste ist, dass sie sich von ihrem Vorgesetzten haben küssen lassen.

Gisa: (auf Flemming zeigend) Das ist doch kein Vorgesetzter?! Wir sind doch nicht verheiratet! (mit zärtlichem Blick auf Flemming) Und dann ist es auch noch fraglich.

Flemming: Mein Fräulein, sie werden noch empfinden, dass ich auch in andrem Sinne ihr Vorgesetzter bin!

Gisa: Was heißt das, du Schlingel?

Flemming: Das heißt, dass Flachsmann abgesetzt und ich jetzt Leiter dieser Schule bin.

Gisa: (wiederholt einen Anlauf nehmend) Ja... Jan... (sich zu Prell wendend, treuherzig) Ach nein, das ist nicht wahr, nicht?

Prell nickt energisch.

Gisa: (fliegt mit einem jauchzendem Aufschrei in Flemmings Arme) Jan!! (Lange Umarmung und Kuss)

Prell: (springt auf, halb scherzend, halb ernsthaft) Alle Wetter... woll woll woll... wollen sie wohl...! Meine Herrschaften!... Wenn jemand kommt! Sie bringen mich in eine schöne Situation! (Ist an die Tür gelaufen und hält sie zu. Die Schulglocke läutet.) Schluss, Schluss, meine Herrschaften! (Er öffnet die Tür und spricht hinaus) Ah, Herr Weidenbaum, lassen sie bitte das Kollegium zusammenrufen.

Weidenbaum: (hinter der Szene) Jawohl, Herr Schulrat!

Prell: (schließt die Tür) Na, warten sie! Da müssen wir doch ein Einsehen haben! Sie glauben wohl, das geht nun so weiter: alle Tage Spezialkonferenzen! (zu Gisa) Von morgen ab unterrichten sie nebenan an der Mädchenschule und dafür kommt eine Dame von dort hierher.

Gisa: Ach, lieber Himmel, Mädchen? Die sind ja noch schlimmer als Buben!

Prell: Wer sagt ihnen das?

Gisa: Das weiß ich von mir selbst.

Prell: Na... wenn sie es durchaus wollen... ich kann sie auch in eine ganz andere Provinz versetzen...

Gisa: Um Gottes Willen... mein Jan... (will ihm wieder um den Hals fliegen)

Prell: (streckt den Arm dazwischen) Na!? (Man hört Stimmen, zu Gisa) Sie wollen sich jetzt dahin verfügen (nach links zeigend, dann zu Flemming) und sie kommen hierher, zu mir! (Stellt sich rechts vom Tisch)

Flemming steht beim Oberlehrersessel. Es klopft.

Prell: Herein!

14. Szene

Prell. Flemming. Gisa. Das ganze Kollegium.

Prell: (als das Kollegium versammelt ist) Meine Damen und Herren! ... Herr Flachsmann ist von seinem Amte enthoben worden. Warum, das werden sie noch erfahren. Augenblicklich tun die Gründe nichts zur Sache. Herr Flemming übernimmt die Leitung der Schule, zunächst provisorisch. (Reicht Flemming die Hand) Führen sie, Herr Flemming, ihr Amt mit Kraft und Freude und... (mit der Linken einen Kreis in der Luft beschreibend) lüften sie diese muffige Bude mal ordentlich aus!

Flemming: Dank, Herr Schulrat.... Meine Lieben Kollegen! Ich empfinde diesen plötzlichen Umschwung nicht als Beförderung, sondern als Befreiung. Der Befreier steht hier. (Auf den Schulrat weisend) Im Geiste unseres Schulrat will ich mein Amt führen; tät ich es nicht, so wär ich ein Lump. Das heißt: Ich will unterscheiden zwischen dem Werk eines Mannes und seiner Gebärde; ich will sein Werk beurteilen nach seiner Trieb- und Keimkraft für die Zukunft und ich will ihnen wie unseren Schülern begegnen mit frohem Vertrauen zum Individuum und seiner Freiheit.

Vogelsang und Römer: Bravo!

Das Kollegium beglückwünscht Flemming.

Prell: Dann wollen wir für heute die Schule schließen und die Kinder entlassen, damit sie auch eine Freude haben.

Das Kollegium geht lachend und unter Verbeugungen ab

Gisa bleibt bei Flemming stehen. Prell erwidert mit komisch-raschen Bewegungen, die seinen sonstigen Bewegungen entsprechen, und nimmt dann Hut und Akten zur Hand.

Römer: (im Hinausgehen) Der Herr Inspektor kommt!

15. Szene

Prell. Flemming. Gisa. Kollegium. Brösecke.

Brösecke: Guuuuten Tag, meine Verehrtesten, guten Tag, mein verehrtester Schulrat. Ich hab eine kleine Reise gemacht, jaa, zu meinem Schwiegersohn, jaaa; wenn die Sommerbirnen reif sind, muss ich da immer hin...hahahaha.... ja, na, da hörte ich bei meiner Rückkehr, dass sie hier inspizieren: da wollt' ich ihnen doch meine Aufwartung machen.

Prell: Hm.

Brösecke: Na, hier haben sie wohl alles in schönster Ordnung gefunden, was?

Prell: O ja, es war 'ne schöne Ordnung.

Brösecke: Jajajaja, das glaube ich: unser Flachsmann ist `ne Perle! Wo ist er denn?

Prell: Wir haben diese Perle gefasst.

Brösecke: ....Hahahahaha... wieso?

Prell: Wir haben ihn befördert.

Brösecke: Sieh, sieh, zum Inspektor?

Prell: Nein, an die Luft.

Brösecke starrt ihn mit einem unerhört dummen Gesicht an.

Prell: Begleiten sie mich an meinen Wagen, Herr Inspektor. Ich habe noch Verschiedenes klarzumachen... Adieu, Herr Flemming. (Da dieser ihm folgen will) Sie bleiben hier. (Gisa boshaft mit dem Finger winkend) Aber sie kommen mit... die Schule ist kein Taubenhaus.

Gisa: (mit schelmischer Ehrfurcht) Nach ihnen, Herr Schulrat.

Prell: O nein! Die Damen immer voran!... Dann behält man sie nämlich im Auge.

Gisa geht mit anmutig gespieltem Schmollen hinaus und links ab.

Prell winkt Flemming noch einen Gruß zurück, geht mit Brösecke hinaus und ebenfalls links ab.

16. Szene

Flemming. Gisa.

Flemming ist den Fortgehenden bis an die Tür nachgegangen und bleibt einen Augenblick in Gedanken stehen. Es klopft an der Tür links. Flemming wendet überrascht den Kopf dorthin.

Flemming: Herein?!

Gisa: (schlüpft herein, bleibt an der Tür stehen und zeigt nach Kinderart den Finger.) Herr Oberlehrer, ich weiß was!

Flemming: Was denn?

Gisa: Sie haben mich lieb.

Flemming: (lächelnd) Du Schlingel, wenn nun der Schulrat wiederkommt!

Gisa: Hahaha, der ist weg, die Schule ist leer! (Huscht nach dem Ausgang, stellt sich auf den Korridor, legt die hohle Hand an den Mund und grölt) Herr Schuuul...raaat, sind sie noch daaaa?!

Flemming: Mädel, bist du des Teufels?

Gisa: (ihm an den Hals fliegend) Ja, ich bin dein, du Teufel! (Hingegeben, tief ernst) Wenn ich leben will, muss ich zu die kommen: du hast meine Seele. (Sich in seinen Arm zurücklehnend und ihm den Mund bietend) Gib mir meine Seele wieder!

Flemming küsst sie.

Gisa: Nimm mir sie wieder weg!

Flemming küsst sie abermals.

Gisa: (selig zu ihm aufblickend) wie gefällig sie sind, Herr Teufel!

Flemming: Weißt du, was ich so herrlich an dir finde?

Gisa: Nun?

Flemming: Dass du keine Schulmeisterin bist! Sieh mal, wenn ich aus der Schule heimkomme und dann auch noch Schulmeister sein will, dann musst du mich so bei den Schultern packen und schütteln und sagen: "Du! Schulmeister! Sei ein Mensch!"

Gisa: O ja, jeden Tag?

Flemming: Jeden Tag. Daran glaub ich fest: das Höchste in seiner Kunst erreicht man nur, solange man Mensch bleibt. (Sie betrachtend und ihr über das Haar streichend) "Das Höchste in der Kunst"... du lieber Gott! Wenn man solch ein Geschöpf sieht, wie dich, in solcher Heiterkeit und Innigkeit: dann fühlt man, dass man den Menschen das Beste nicht geben kann... nicht mit aller Kunst.

Gisa: Was ist das? Deine Augen sind ja feucht...! Heute sollst du glücklich sein!

Flemming: Liebchen – ein Glück mit trockenen Augen – das müsste ein winziges Glück sein!

Gisa sieht ihn lange an mit vollem, ernstem Blick. Dann neigt sie sich langsam auf seine Hände und küsst sie... Plötzlich wendet sie horchend den Kopf. Freudig)

Gisa: Jan... hörst du 's?

Flemming: Was, Lieb?

Gisa: Hörst du nichts?!... Die Mädel singen wieder! (Sie fliegt ans Fenster und stößt es auf)

Gesang der Mädchen:

"Sonne schwebet,
Lächelt
Überall
Schwebt am licht begrünten Hügel,
Lächelt aus der Fluten Spiegel,
Sonne schwebet,
Lächelt
Überall!"

Gisa: (am Fenster) 6/8 Takt, Jan! (Zitternd vor unterdrücktem Jubel, mit leiser Stimme) Jan... tanzen! (Dann mit laut hervorbrechendem kindlichen Jauchzen) Jan... tanzen!!

Flemming: (die Arme ausbreitend) Komm!!

Gisa tanzt ihm entgegen und reißt ihn mit fort. Während der Gesang der Mädchen fortklingt

 

fällt der Vorhang