Für Sherlock Holmes ist sie immer nur DIE Frau. Ich habe kaum je gehört, daß er sie anders genannt hätte. In seinen Augen übertrifft und beherrscht sie ihr ganzes Geschlecht. Nicht daß er irgendein Gefühl wie Liebe für Irene Adler empfände. Alle Gefühle, und dieses im besonderen, waren seinem kalten, präzisen, doch bewundernswert ausgeglichenen Verstand verhaßt. Er war meines Wissens nach die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat, doch als Liebhaber wäre er fehl am Platze gewesen. Von den zarteren Leidenschaften sprach er immer nur mit Hohn und Spott. Sie waren eine wunderbare Sache für den Beobachter – ausgezeichnet geeignet, den Schleier von den Motiven und Handlungen der Menschen zu lüften. Doch für einen geübten Denker waren derlei Einmischungen in sein empfindliches und fein justiertes Temperament ein Ablenkungsfaktor, der sämtliche Ergebnisse seiner Überlegungen in Zweifel ziehen konnte. Eine Verschmutzung in einem empfindlichen Instrument oder ein Sprung in einem seiner starken Vergrößerungsgläser wären für eine Natur wie seine nicht störender gewesen als ein starkes Gefühl. Und doch gab es für ihn diese einzige Frau, und diese Frau war die verstorbene Irene Adler von zweifelhaftem und fragwürdigem Andenken.
Ich hatte Holmes in letzter Zeit selten gesehen. Meine Heirat hatte unsere Wege getrennt. Mein vollkommenes Glück und die häuslichen Angelegenheiten, die einen Mann, der sich zum ersten Mal als Oberhaupt eines eigenen Haushalts wiederfindet, gänzlich in Anspruch nehmen, erforderten meine volle Aufmerksamkeit, während Holmes, der jegliche Art von Gesellschaft mit seiner ganzen Bohemien-Seele verabscheute, in unserer Unterkunft in der Baker Street zurückblieb, vergraben in seinen alten Büchern und von Woche zu Woche wechselnd zwischen Kokain und Ehrgeiz, der Betäubung durch die Droge und der feurigen Energie seiner leidenschaftlichen Natur. Er war nach wie vor ganz dem Studium des Verbrechens hingegeben und nutzte seine immensen Fähigkeiten und seine außergewöhnliche Beobachtungsgabe dazu, jene Spuren zu verfolgen und jene Rätsel zu lösen, die die Polizei als hoffnungslos aufgegeben hatte. Von Zeit zu Zeit bekam ich am Rande etwas von seiner Tätigkeit zu hören: Von seinem Ruf nach Odessa im Mordfall Trepoff, von seiner Aufklärung der schrecklichen Tragödie der Atkinson-Brüder in Trincomalee und schließlich von dem Auftrag, den er so diskret und erfolgreich für die holländische Königsfamilie ausgeführt hatte. Von diesen Lebenszeichen abgesehen, die ich jedoch wie jeder andere auch nur der Tagespresse entnahm, hörte ich wenig von meinem früheren Freund und Gefährten.
Eines Abends – es war der zwanzigste März 1888 – führte mich mein Heimweg von einem Hausbesuch (ich hatte inzwischen eine eigene Praxis) durch die Baker Street. Als ich an der vertrauten Tür vorbeikam, die in meiner Erinnerung für immer so eng mit meiner Brautwerbung verbunden ist und auch mit den düsteren Ereignissen der STUDIE IN SCHARLACHROT, ergriff mich der brennende Wunsch, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, womit er gerade seine außerordentlichen Fähigkeiten beschäftigte. Sein Zimmer war hell erleuchtet, und als ich hinaufschaute, sah ich seine große, hagere Gestalt zweimal als dunkle Silhouette hinter der Jalousie vorbeigehen. Er ging schnell und ungeduldig im Zimmer auf und ab, den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mir, der ich jede seiner Stimmungen und Gewohnheiten kannte, verrieten seine Haltung und sein Benehmen alles. Er war wieder bei der Arbeit. Er war aus seinen Drogenträumen aufgetaucht und auf einer heißen Spur in irgendeinem neuen Rätsel. Ich klingelte und wurde in das Zimmer hinaufgeführt, das früher zur Hälfte auch meines gewesen war.
Sein Benehmen war nicht überschwenglich. Das war es selten; doch ich denke, er freute sich, mich zu sehen. Ohne viele Worte, doch mit einem freundlichen Blick bot er mir einen Sessel an, warf seine Zigarrenkiste herüber und wies auf ein Spirituosen-Regal und einen Sodaspender in der Ecke. Dann stand er vor dem Kamin und musterte mich auf seine eigentümliche zurückhaltende Art.
»Die Ehe tut Ihnen gut«, bemerkte er. »Ich würde sagen, Watson, daß Sie siebeneinhalb Pfund zugelegt haben, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe.«
»Sieben!« antwortete ich.
»Ach wirklich, ich hätte gedacht, es wäre ein bißchen mehr. Aber nur ein ganz kleines bißchen, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich sehe. Sie hatten mir gar nicht erzählt, daß Sie vorhaben, das Zaumzeug wieder anzulegen.«
»Woher wissen Sie es dann?«
»Ich sehe es, ich folgere es. Woher weiß ich wohl, daß Sie vor kurzem sehr naß geworden sind, und daß Sie ein äußerst ungeschicktes und achtloses Dienstmädchen haben?«
»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »das ist zu viel. Wenn Sie ein paar Jahrhunderte früher gelebt hätten, wären Sie mit Sicherheit auf den Scheiterhaufen gekommen. Es stimmt, daß ich am Donnerstag einen Spaziergang auf dem Land gemacht habe und fürchterlich durchweicht nach Hause gekommen bin, aber da ich mich inzwischen umgezogen habe, kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie das folgern. Was Mary Jane angeht, sie ist einfach unverbesserlich, und meine Frau hat ihr mittlerweile gekündigt; aber auch hier verstehe ich nicht, wie Sie darauf kommen.«
Er kicherte vor sich hin und rieb sich seine schmalen, nervösen Hände.
»Nichts einfacher als das«, sagte er; »meine Augen verraten mir, daß das Leder an der Innenseite Ihres linken Schuhs – genau dort, wo das Kaminfeuer darauf scheint – sechs beinahe parallele Kratzer aufweist. Offensichtlich wurden sie von jemandem verursacht, der mit sehr wenig Sorgfalt verkrusteten Schmutz von den Kanten der Sohlen gekratzt hat. Daher meine doppelte Folgerung, daß Sie bei scheußlichem Wetter unterwegs gewesen sind, und daß Sie mit einer besonders üblen stiefelzerkratzenden Vertreterin des Londoner Domestikenstandes geschlagen sind. Was Ihre Praxis betrifft: Wenn ein Gentleman meine Räumlichkeiten betritt, der nach Jodoform riecht, einen schwarzen Silbernitratfleck an seinem rechten Zeigefinger hat und eine Beule auf der rechten Seite seines Zylinders, wo er sein Stethoskop verstaut hat, dann müßte ich schon wirklich geistesschwach sein, wenn ich ihn nicht zu einem tätigen Mitglied des medizinischen Berufsstandes erklärte.«
Ich mußte einfach lachen über die Leichtigkeit, mit der er seine Schlußfolgerungen erklärte. »Wenn ich höre, wie Sie alles begründen«, bemerkte ich, »kommt mir das Ganze immer so lächerlich simpel vor, als hätte ich es leicht selbst tun können, aber bei jeder neuen Kombination von Ihnen bin ich aufs Neue verblüfft, bis Sie Ihren Gedankengang erläutern. Und doch glaube ich, daß meine Augen genauso gut wie Ihre sind.«
»Da haben Sie auch recht«, antwortete er, zündete sich eine Zigarette an und ließ sich in einen Sessel fallen. »Nur, Sie sehen, aber Sie beobachten nicht. Das ist der große Unterschied. Zum Beispiel haben Sie doch häufig die Treppe gesehen, die vom Hausflur zu diesem Zimmer hier heraufführt.«
»Häufig.«
»Wie oft?«
»Nun, einige hundert Mal.«
»Wie viele Stufen hat sie denn?«
»Wie viele? Das weiß ich nicht.«
»Allerdings! Sie haben nicht beobachtet. Und doch haben Sie gesehen. Genau das ist der Punkt. Ich dagegen weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sowohl gesehen als auch beobachtet habe. Übrigens, da Sie sich für diese kleinen Probleme interessieren, und da Sie so freundlich waren, eines oder zwei meiner unbedeutenden Erlebnisse aufzuzeichnen, interessiert Sie das hier vielleicht auch.« Er warf einen Bogen dickes, rosa gefärbtes Briefpapier herüber, der offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Es ist mit der letzten Post gekommen«, sagte er. »Lesen Sie vor.«
Die Nachricht war undatiert und trug weder Unterschrift noch Adresse.
»Heute Abend um viertel vor acht Uhr (stand dort) wird Sie ein Herr aufsuchen, der Sie in einer Angelegenheit von größter Bedeutung zu konsultieren wünscht. Ihre kürzlichen Dienste für eines der europäischen Königshäuser haben gezeigt, daß Sie jemand sind, den man unbesorgt mit Angelegenheiten betrauen kann, deren Wichtigkeit kaum überzubewerten ist. Dies haben wir von allen Seiten gehört über Sie. Seien Sie also zu besagter Zeit in Ihren Räumlichkeiten und nehmen Sie keinen Anstoß daran, wenn Ihr Besucher eine Maske trägt.«
»Das ist in der Tat geheimnisvoll«, bemerkte ich. »Was, glauben Sie, hat das zu bedeuten?«
»Ich habe noch keine Daten. Es ist ein kapitaler Fehler zu theoretisieren, ehe man Daten hat. Unvernünftigerweise verdreht man dann die Fakten, damit sie zu den Theorien passen, anstatt seine Theorien den Fakten anzupassen. Aber der Brief selbst. Was folgern Sie daraus?«
Ich untersuchte die Handschrift und das Schreibpapier genau.
»Der Mann, der das geschrieben hat, ist anscheinend wohlhabend«, bemerkte ich und gab mir Mühe, die Vorgehensweise meines Freundes nachzuahmen. »Solches Papier bekommt man nicht für weniger als eine halbe Krone das Paket zu kaufen. Es ist ungewöhnlich stark und steif.«
»Ungewöhnlich – das ist genau das richtige Wort«, sagte Holmes. »Es ist überhaupt kein englisches Papier. Halten Sie es gegens Licht.«
Ich tat es und sah ein großes »E« mit einem kleinen »g«, ein »P« sowie ein großes »G« mit einem kleinen »t«, die in das Papier eingewebt waren.
»Was meinen Sie dazu?« fragte Holmes.
»Der Name des Schreibers, ohne Zweifel; oder besser, sein Monogramm.«
»Mitnichten. Das ›G‹ mit dem kleinen ›t‹ steht für das deutsche Wort ›Gesellschaft‹. Das ist eine gebräuchliche Abkürzung wie unser ›Co.‹ für ›Company‹. ›P‹ steht natürlich für ›Papier‹. Nun zu dem ›Eg‹. Werfen wir mal einen Blick in unser Kontinentales Geographielexikon.« Er nahm einen schweren braunen Band vom Regal. »Eglow, Eglonitz – hier haben wir's, Egria, auch Eger genannt. Es liegt in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, nicht weit von Karlsbad. ›Bekannt als der Ort von Wallensteins Tod, außerdem für seine zahlreichen Glasfabriken und Papiermühlen.‹ Ha, ha, mein Junge, was halten Sie davon?« Seine Augen funkelten, und er ließ eine große, blaue, triumphale Wolke von seiner Zigarette aufsteigen.
»Das Papier wurde in Böhmen hergestellt«, sagte ich.
»Haargenau. Und der Mann, der den Brief geschrieben hat, ist ein Deutscher. Fällt Ihnen die ungewöhnliche Konstruktion des Satzes auf: ›Dies haben wir von allen Seiten gehört über Sie.‹ Ein Franzose oder Russe könnte das nicht geschrieben haben. Nur der Deutsche ist so unhöflich zu seinen Verben. Es bleibt also nur noch herauszufinden, was dieser Deutsche will, der auf böhmischem Papier schreibt und es vorzieht, eine Maske zu tragen, anstatt sein Gesicht zu zeigen. Und hier kommt er auch schon, wenn ich mich nicht irre, um all unsere Zweifel auszuräumen.«
Während er sprach, waren das laute Klappern von Pferdehufen und das Schleifen von Rädern gegen den Bordstein zu hören, gefolgt von einem heftigen Zug an der Klingel. Holmes pfiff.
»Ein Zweispänner, dem Geräusch nach«, sagte er. »Ja«, fuhr er fort, indem er aus dem Fenster schaute. »Ein hübscher kleiner Brougham und ein Paar Schönheiten. Hundertfünfzig Guineas das Tier. Dieser Fall verspricht zumindest Geld, Watson, auch wenn sonst nichts dran sein sollte.«
»Ich denke, ich sollte wohl besser gehen, Holmes.«
»Auf keinen Fall, Doktor. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich bin doch verloren ohne meinen Boswell. Und das hier verspricht, interessant zu werden. Wäre doch schade, es zu verpassen.«
»Aber Ihr Klient…«
»Machen Sie sich seinetwegen keine Sorgen. Ich werde vielleicht Ihre Hilfe brauchen und er genauso. Hier kommt er. Setzen Sie sich in diesen Sessel, Doktor, und schenken Sie uns Ihre größte Aufmerksamkeit.«
Die langsamen und schweren Schritte, die auf der Treppe und im Flur zu hören gewesen waren, verstummten direkt vor der Tür. Dann ertönte ein lautes und autoritäres Klopfen.
»Herein!« sagte Holmes.
Ein Mann trat ein, der kaum kleiner als zwei Meter gewesen sein konnte und den Brustkorb und die Gliedmaßen eines Herkules besaß. Seine Kleidung war auf eine Art und Weise prunkvoll, die in England fast schon als schlechter Geschmack betrachtet werden würde. Dicke Streifen aus Astrachan liefen quer über die Ärmel und die Revers seines zweireihigen Rockes, während der dunkelblaue Umhang, der über seine Schultern geworfen war, mit feuerroter Seide gefüttert war und am Hals von einer Brosche aus einem einzelnen leuchtenden Beryll zusammengehalten wurde. Stiefel, die bis zur Mitte der Waden hinaufreichten und oben am Schaft mit dichtem braunem Pelz besetzt waren, vollendeten den Eindruck von barbarischer Opulenz, den seine ganze Erscheinung vermittelte. Er hielt einen breitkrempigen Hut in der Hand, und im Gesicht trug er eine schwarze Augenmaske, die bis über die Wangenknochen reichte, und die er offenbar eben erst angelegt hatte, denn als er eintrat, war seine Hand noch zu ihr erhoben. Dem unteren Teil seines Gesichts nach schien er ein Mann von starkem Charakter zu sein mit einer vollen, hängenden Unterlippe und einem langen, geraden Kinn, das Entschlossenheit bis hin zur Sturheit vermuten ließ.
»Sie haben meinen Brief erhalten?« fragte er mit tiefer, rauher Stimme und einem starken deutschen Akzent. »Ich hatte Ihnen geschrieben, daß ich kommen würde.« Er blickte von einem zum anderen, als sei er nicht sicher, an wen er sich wenden sollte.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Holmes. »Dies ist mein Freund und Kollege Dr. Watson, der gelegentlich so freundlich ist, mir bei meinen Fällen zu helfen. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Sie dürfen mich als den Grafen von Kramm ansprechen, einen böhmischen Edelmann. Ich nehme doch an, daß dieser Gentleman, Ihr Freund, ein Mann von Ehre und Diskretion ist, dem ich eine Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit anvertrauen kann. Falls nicht, würde ich es sehr vorziehen, mit Ihnen alleine zu sprechen.«
Ich erhob mich, um zu gehen, doch Holmes hielt mich am Handgelenk fest und zog mich in meinen Sessel zurück. »Entweder beide oder keiner«, sagte er. »Sie können vor diesem Gentleman alles sagen, was Sie auch mir sagen können.«
Der Graf zuckte seine breiten Schultern. »Dann muß ich als erstes«, sagte er, »Sie beide für zwei Jahre zu absoluter Geheimhaltung verpflichten; am Ende dieser Zeit wird die Angelegenheit keine Bedeutung mehr haben. In diesem Moment jedoch ist es nicht übertrieben zu sagen, daß sie von solchem Gewicht ist, daß sie Einfluß auf die europäische Geschichte nehmen könnte.«
»Ich verspreche es«, sagte Holmes.
»Ich ebenso.«
»Sie müssen diese Maske verzeihen«, fuhr unser merkwürdiger Besucher fort. »Die erlauchte Person, die meine Dienste in Anspruch nimmt, wünscht, daß ihr Beauftragter Ihnen unbekannt bleibt, und ich darf gestehen, daß der Titel, mit dem ich mich vorhin benannt habe, genau genommen nicht der meine ist.«
»Das war mir bewußt«, sagte Holmes trocken.
»Die Umstände sind äußerst delikat, und es muß jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen werden, um einen drohenden ungeheueren Skandal zu vermeiden, der eines der Herrscherhäuser von Europa ernstlich kompromittieren könnte. Um ganz offen zu sein, die Angelegenheit betrifft das Hohe Haus von Ormstein, Erbkönige von Böhmen.«
»Auch das war mir bewußt«, murmelte Holmes, als er sich in seinem Sessel niederließ und die Augen schloß.
Unser Besucher blickte mit einiger Überraschung auf den in Gedanken versunkenen, in seinem Sessel lümmelnden Mann, der ihm ohne Zweifel als der schärfste Denker und energischste Agent in Europa beschrieben worden war. Holmes schlug langsam die Augen wieder auf und sah seinen gigantischen Klienten ungeduldig an.
»Wenn Eure Majestät so gnädig wären, Ihren Fall darzulegen«, bemerkte er, »wäre es einfacher für mich, Sie zu beraten.«
Der Mann sprang von seinem Stuhl auf und schritt in unkontrollierbarer Erregung im Zimmer auf und ab. Dann riß er mit einer Geste der Verzweiflung die Maske von seinem Gesicht und schleuderte sie auf den Boden. »Sie haben recht«, rief er; »ich bin der König. Weshalb sollte ich versuchen, es zu verheimlichen?«
»In der Tat, weshalb?« murmelte Holmes. »Eure Majestät hatten noch kein Wort gesprochen, als mir schon klar war, daß ich die Ehre habe mit Wilhelm Gottsreich Sigismond von Ormstein, Großherzog von Kassel-Felstein und Erbkönig von Böhmen.«
»Aber Sie können verstehen«, sagte unser fremder Besucher, als er sich wieder hinsetzte und mit der Hand über seine hohe weiße Stirn fuhr, »Sie können verstehen, daß ich es nicht gewohnt bin, solche Geschäfte in eigener Person zu erledigen. Aber diese Angelegenheit ist so delikat, daß ich sie keinem Beauftragten anvertrauen konnte, ohne mich ihm auszuliefern. Ich bin inkognito aus Prag hergekommen, nur um Sie zu konsultieren.«
»Dann bitte, konsultieren Sie«, sagte Holmes, und schloß erneut die Augen.
»Die Fakten sind kurz gesagt folgende: Vor etwa fünf Jahren, während eines längeren Aufenthalts in Warschau, machte ich die Bekanntschaft der berühmten Abenteurerin Irene Adler. Der Name ist Ihnen zweifellos bekannt.«
»Würden Sie sie freundlicherweise in meinem Index nachschlagen, Doktor«, murmelte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Seit vielen Jahren schon sammelte er systematisch Zeitungsartikel über alles mögliche und jedermann, so daß es schwierig war, ein Thema oder eine Person zu nennen, über die er nicht augenblicklich Informationen zur Hand gehabt hätte. In diesem Fall fand ich ihre Biographie zwischen der eines hebräischen Rabbis und der eines Stabskommandanten, der ein Buch über Tiefseefische geschrieben hatte.
»Dann wollen wir mal sehen!« sagte Holmes. »Hm! Geboren in New Jersey im Jahre 1858. Contralto – hm! La Scala, hm! Primadonna an der Kaiserlichen Oper von Warschau – ja! Von der Opernbühne zurückgezogen – ha! Lebt zur Zeit in London – genau! Eure Majestät hatten also, wenn ich recht verstehe, ein Techtelmechtel mit dieser jungen Person, haben ihr ein paar kompromittierende Briefe geschrieben, und wünschen nun, diese Briefe wiederzubekommen.«
»Genau so ist es. Aber wie…«
»Gab es eine heimliche Hochzeit?«
»Keine.»«
»Irgend welche rechtsgültigen Papiere oder Bescheinigungen?«
»Keine.«
»Dann kann ich Eurer Majestät leider nicht ganz folgen. Wenn diese junge Person ihre Briefe für eine Erpressung oder andere Zwecke vorlegen sollte, wie will sie dann deren Echtheit beweisen?«
»Da ist die Handschrift.«
»Ach, papperlapapp! Fälschung.«
»Mein privates Briefpapier.«
»Gestohlen.«
»Mein persönliches Siegel.«
»Nachgemacht.«
»Meine Photographie.«
»Gekauft.«
»Wir sind beide auf dem Photo.«
»Oh je! Das ist allerdings schlecht! Da haben Eure Majestät in der Tat eine Indiskretion begangen.«
»Ich war verrückt – wahnsinnig.«
»Sie haben sich ernsthaft kompromittiert.«
»Ich war damals erst Kronprinz. Ich war noch jung. Ich bin jetzt gerade dreißig.«
»Das Photo muß zurückgeholt werden.«
»Das haben wir schon versucht und sind gescheitert.«
»Eure Majestät werden bezahlen müssen. Es muß gekauft werden.«
»Sie will nicht verkaufen.«
»Dann eben gestohlen.«
»Fünf Versuche sind schon unternommen worden. Zweimal haben Einbrecher in meinem Auftrag ihr Haus durchsucht. Einmal haben wir ihr Gepäck umgeleitet, als sie auf Reisen war. Zweimal ist sie auf der Straße überfallen worden. Alles ohne Erfolg.«
»Keine Spur davon?«
»Nicht die geringste.«
Holmes lachte. »Das ist wirklich ein hübsches kleines Problem«, sagte er.
»Aber für mich ein sehr ernstes«, erwiderte der König tadelnd.
»Sehr ernst, in der Tat. Und was hat sie mit der Photographie vor?«
»Mich zu ruinieren.«
»Und wie?«
»In Kürze findet meine Hochzeit statt.«
»Davon habe ich gehört.«
»Mit Clotilde Lothman von Sachsen-Meiningen, der zweiten Tochter des Königs von Skandinavien. Vielleicht wissen Sie von den strengen Prinzipien ihrer Familie. Sie selbst ist die Wohlanständigkeit in Person. Der Schatten eines Zweifels an meiner Ehrbarkeit würde die Sache zunichte machen.«
»Und Irene Adler?«
»Droht damit, ihnen das Photo zu schicken. Und sie wird es tun. Ich weiß, daß sie es tun wird. Sie kennen Sie nicht, aber sie hat ein Herz aus Stahl. Sie hat das Gesicht der schönsten aller Frauen und den Verstand des entschlossensten aller Männer. Es gibt nichts, was sie nicht tun würde, nur damit ich keine andere Frau heirate – nichts.«
»Sie sind sicher, daß sie es nicht schon geschickt hat?«
»Ich bin sicher.«
»Und weshalb?«
»Weil sie gesagt hat, daß sie es an dem Tag schicken würde, an dem die bevorstehende Vermählung bekanntgegeben wird. Das wird nächsten Montag sein.«
»Ach, dann haben wir ja noch drei Tage«, sagte Holmes mit einem Gähnen. »Das ist günstig, da ich momentan mit ein, zwei wichtigen Sachen beschäftigt bin. Eure Majestät werden doch bestimmt bis auf weiteres in London bleiben?«
»Sicher. Sie finden mich im Langham unter dem Namen Graf von Kramm.«
»Dann werde ich Ihnen ein paar Zeilen schreiben, um Sie wissen zu lassen, wie wir vorankommen.«
»Bitte tun Sie das. Ich werde mit größter Ungeduld darauf warten.«
»Dann wäre da noch die Frage des Geldes.«
»Sie haben freie Hand.«
»Absolut?«
»Ich sage Ihnen, ich würde eine der Provinzen meines Königreiches dafür geben, dieses Photo zu bekommen.«
»Und für Spesen?«
Der König holte einen schweren Beutel aus Chamoisleder unter seinem Umhang hervor und legte ihn auf den Tisch.
»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Banknoten«, sagte er.
Holmes schrieb eine Quittung auf ein Blatt seines Notizbuchs und gab sie ihm.
»Und Mademoiselles Adresse?« fragte er.
»Ist Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John's Wood.«
Holmes notierte sich das. »Eine Frage noch«, sagte er. »Ist es ein Photo im Kabinett-Format?«
»Das ist es.«
»Dann gute Nacht, Eure Majestät, und ich hoffe, daß wir bald gute Nachrichten für Sie haben werden. Und gute Nacht, Watson«, fügte er hinzu, als die Räder des königlichen Brougham die Straße hinunterrollten. »Wenn Sie morgen Nachmittag um drei vorbeikommen wollen, würde ich diese kleine Sache gern mit Ihnen besprechen.«
Um Punkt drei Uhr war ich in der Baker Street, doch Holmes war noch nicht zurück. Die Hauswirtin informierte mich, daß er das Haus kurz nach acht Uhr morgens verlassen hatte. Ich setzte mich dennoch neben den Kamin, in der Absicht, auf ihn zu warten, wie lange es auch dauern würde. Mein Interesse an seiner gegenwärtigen Ermittlung war schon aufs höchste geweckt, denn obwohl sie keine solch grausigen und seltsamen Merkmale aufwies wie die beiden Verbrechen, über die ich schon berichtet habe, gaben ihr die Art des Falles und die erlauchte Stellung seines Klienten doch einen ganz eigenen Charakter. Und vom Wesen der Ermittlung, mit der mein Freund gerade beschäftigt war, einmal ganz abgesehen, war da etwas an seinem souveränen Erfassen einer Situation und seinem scharfsinnigen und alles durchdringenden Denken, das es mir zu einer Freude machte, seine Arbeitsweise zu studieren und die flinken, subtilen Methoden zu verfolgen, mit denen er selbst die undurchschaubarsten Rätsel entwirrte. Ich war derart an seinen unweigerlichen Erfolg gewöhnt, daß mir die bloße Möglichkeit seines Versagens schon gar nicht mehr in den Sinn kam.
Es war schon kurz vor vier, als die Tür aufging und ein betrunken wirkender Stallknecht mit ungepflegten Koteletten, gerötetem Gesicht und schäbiger Kleidung ins Zimmer kam. So sehr ich an die erstaunlichen Fähigkeiten meines Freundes im Gebrauch von Verkleidungen gewöhnt war, mußte ich doch dreimal hinschauen, um mich zu überzeugen, daß es wirklich er war. Mit einem Nicken verschwand er im Schlafzimmer, aus dem er fünf Minuten später im Tweedanzug und respektabel wie eh und je wieder erschien. Die Hände in den Taschen, streckte er die Beine vor dem Feuer aus und lachte ein paar Minuten lang herzlich.
»Also, so was!« rief er, dann keuchte und lachte er aufs neue, bis er sich schließlich schlaff und hilflos im Sessel zurücklegen mußte.
»Was ist denn los?«
»Es ist einfach zu komisch. Ich bin sicher, Sie würden nie erraten, womit ich meinen Vormittag zugebracht habe, oder was ich schließlich getan habe.«
»Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, Sie haben die Gewohnheiten und vielleicht auch das Haus von Miß Irene Adler ausgekundschaftet.«
»Genau das; aber was danach kam, war ziemlich ungewöhnlich. Ich will es Ihnen erzählen. Ich bin heute morgen kurz nach acht aus dem Haus, in der Rolle eines arbeitslosen Stallburschen. Es gibt eine wunderbare Kameradschaft und Freimaurerei unter den Pferdeleuten. Seien Sie einer von ihnen, und Sie werden alles wissen, was es zu wissen gibt. Die Briony Lodge habe ich schnell gefunden. Es ist ein Schmuckstück von einer Villa mit einem Garten dahinter, aber vorne reicht sie bis ganz an die Straße, zwei Stockwerke. Sicherheitsschloß an der Tür. Großes Wohnzimmer auf der rechten Seite, gut eingerichtet, mit langen Fenstern fast bis zum Boden und diesen lächerlichen englischen Fensterriegeln, die ein Kind aufbekommen würde. Drinnen war nichts Bemerkenswertes, abgesehen davon, daß man vom Dach des Kutschenhauses aus das Flurfenster erreichen könnte. Ich bin herumgegangen und habe mir das Haus von allen Seiten genau angesehen, aber ohne sonst noch etwas Interessantes zu bemerken.
Dann bin ich die Straße entlanggeschlendert und habe entdeckt, daß sich wie erwartet in einer Gasse, die an einer der Gartenmauern entlangläuft, ein Stall befindet. Ich habe den Stallknechten beim Striegeln ihrer Pferde geholfen und dafür zwei Pence, ein Glas Halb und Halb, zwei Füllungen Shag-Tabak und so viele Informationen über Miß Adler, wie ich mir nur wünschen konnte, erhalten, ganz zu schweigen von einem halben Dutzend anderer Leute aus der Nachbarschaft, die mich nicht im geringsten interessieren, aber deren Lebensgeschichten ich mir gezwungenermaßen trotzdem anhören mußte.«
»Und was gibt es über Irene Adler?« fragte ich.
»Oh, sie hat sämtlichen Männern dort drüben den Kopf verdreht. Sie ist das niedlichste Ding mit einer Haube auf diesem Planeten. Sagen jedenfalls die Männer in den Serpentine-Ställen. Sie führt ein ruhiges Leben, singt auf Konzerten, fährt jeden Tag um fünf spazieren und kommt um punkt sieben zum Abendessen zurück. Geht selten zu anderen Zeiten weg, außer wenn sie singt. Hat nur einen einzigen männlichen Besucher, aber der kommt ziemlich oft. Er ist dunkelhaarig, gutaussehend und fesch, besucht sie jeden Tag und oft auch zweimal. Es ist ein Mr. Godfrey Norton aus dem Inner Temple. Da sehen Sie, was für ein Vorteil es ist, einen Kutscher als Vertrauten zu haben. Sie haben ihn schon ein Dutzend mal von den Serpentine-Ställen nach Hause gefahren und wußten alles über ihn. Als ich mir alles angehört hatte, was sie zu erzählen hatten, bin ich wieder in der Nähe der Briony Lodge auf und ab gegangen und habe mir meinen Schlachtplan überlegt.
Dieser Godfrey Norton war mit Sicherheit ein wichtiger Faktor in der Sache. Er war Rechtsanwalt. Das klang ominös. Was für eine Beziehung bestand zwischen den beiden, und was war der Zweck seiner häufigen Besuche? War sie seine Klientin, seine Bekannte oder seine Geliebte? Falls ersteres, dann hatte sie wahrscheinlich das Photo bei ihm hinterlegt. Im letzteren Fall war das weniger wahrscheinlich. Von dieser Frage hing es ab, ob ich meine Arbeit bei der Briony Lodge fortsetzen oder meine Aufmerksamkeit den Räumlichkeiten des Gentleman im Temple zuwenden sollte. Das war ein kniffliger Punkt, und er erweiterte das Feld für meine Ermittlungen. Ich fürchte, ich langweile Sie mit diesen Einzelheiten, aber ich muß Ihnen meine kleinen Schwierigkeiten darlegen, damit Sie die Situation verstehen.«
»Ich verstehe sie vollkommen«, antwortete ich.
»Ich war immer noch dabei, die Sache abzuwägen, als eine Hansom-Kutsche vor der Briony Lodge vorfuhr und ein Gentleman heraussprang. Er war bemerkenswert gutaussehend, dunkelhaarig, mit schmalem Gesicht und Schnurrbart – eindeutig der Mann, von dem ich gehört hatte. Er schien in großer Eile zu sein, rief dem Kutscher zu, er solle warten, und stürmte an dem Hausmädchen, das die Tür öffnete, vorbei, als sei er dort zu Hause.
Er war etwa eine halbe Stunde im Haus, und ich konnte ihn ein paarmal kurz durch die Fenster im Wohnzimmer sehen, wie er auf und ab ging, aufgeregt redete und mit den Armen wedelte. Von ihr konnte ich nichts sehen. Schließlich kam er wieder heraus und sah sogar noch beunruhigter aus als zuvor. Als er zur Kutsche kam, zog er eine goldene Uhr aus der Tasche und schaute mit ernstem Gesicht darauf. ›Fahren Sie wie der Teufel‹, rief er, ›zuerst zu Gross & Hankey in der Regent Street und dann zur Kirche St. Monika in der Edgeware Road. Eine halbe Guinea, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen!‹
Und weg waren sie, und ich war gerade am Überlegen, ob es nicht besser wäre, ihnen zu folgen, als ein hübscher kleiner Landauer die Straße entlang kam, der Kutscher im halb zugeknöpften Rock, die Fliege unter dem Ohr, und am Pferdegeschirr schauten alle Riemen aus den Schnallen heraus. Er hatte noch nicht ganz angehalten, als Miß Adler schon aus der Haustür geschossen kam und hinein in die Kutsche. Ich konnte sie nur ganz kurz sehen, aber sie war eine bildhübsche Frau mit einem Gesicht, für das ein Mann sterben würde.
›Zur Kirche St. Monika, John‹, rief sie, ›und einen halben Sovereign, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen.‹
Das war nun wirklich zu gut, um es sich entgehen zu lassen, Watson. Ich war gerade am Überlegen, ob ich losrennen oder mich an ihren Landauer hängen sollte, als eine Mietkutsche durch die Straße kam. Der Kutscher hat seinen schäbigen Fahrgast zwar schief angesehen, aber ich bin hineingesprungen, ehe er sich beschweren konnte. ›Zur Kirche St. Monika‹, rief ich, ›und einen halben Sovereign, wenn Sie in zwanzig Minuten dort sind.‹ Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf, und es war natürlich klar, was in der Luft lag.
Mein Kutscher fuhr wirklich schnell. Ich glaube, so schnell bin ich noch nie gefahren, aber die anderen waren vor uns da. Der Hansom und der Landauer mit ihren dampfenden Pferden standen vor der Tür, als ich ankam. Ich bezahlte den Kutscher und eilte in die Kirche. Keine Menschenseele war da außer den beiden, denen ich gefolgt war, und einem Priester im Talar, der ihnen Vorhaltungen zu machen schien. Sie standen alle drei vor dem Altar beieinander. Ich schlenderte das Seitenschiff hinauf wie irgendein Spaziergänger, der einfach mal so in eine Kirche gegangen ist. Zu meiner Überraschung drehten sich die drei am Altar plötzlich zu mir um, und Godfrey Norton kam, so schnell er konnte, auf mich zugerannt.
›Gott sei Dank‹, rief er, ›Sie reichen. Kommen Sie! Kommen Sie!‹
›Was soll denn das?‹ fragte ich.
›Kommen Sie, Mann, kommen Sie schon, nur noch drei Minuten, sonst ist es nicht legal.‹
Ich wurde mehr oder weniger zum Altar gezerrt, und ehe ich mich's versah, murmelte ich Antworten, die mir ins Ohr geflüstert wurden, bürgte für Dinge, von denen ich nichts wußte, und half im großen und ganzen dabei, zwischen Irene Adler, alleinstehend, und Godfrey Norton, Junggeselle, den Bund fürs Leben zu schließen. In Sekundenschnelle war alles vorbei, auf der einen Seite bedankte sich der Bräutigam, auf der anderen die Dame, und von vorne strahlte mich der Priester an. Das war die lächerlichste Situation, in der ich mich je in meinem Leben befunden habe, und es war der Gedanke daran, der mich vorhin so zum Lachen gebracht hat. Anscheinend hatte es in der Heiratserlaubnis der beiden irgendeinen Formfehler gegeben, der Priester hatte sich strikt geweigert, sie ohne irgendeinen Zeugen zu verheiraten, und meine zufällige Anwesenheit hat es dem Bräutigam erspart, sich einen Trauzeugen von der Straße holen zu müssen. Die Braut hat mir einen Sovereign gegeben, und ich habe vor, ihn zur Erinnerung an das Ereignis an meiner Uhrkette zu tragen.«
»Das ist ja wirklich eine unerwartete Wendung«, sagte ich; »und was geschah dann?«
»Nun, meine Pläne wurden dadurch natürlich ziemlich über den Haufen geworfen. Es sah ganz danach aus, als würde das Paar unverzüglich abreisen und so von meiner Seite äußerst schnelles und energisches Handeln nötig machen. An der Kirchentür haben sie sich jedoch getrennt, er ist zum Temple zurückgefahren und sie nach Hause. ›Ich fahre um fünf in den Park, wie immer‹, hat sie noch gesagt, als sie sich verabschiedet hat. Mehr habe ich nicht gehört. Dann sind sie in verschiedene Richtungen weggefahren, und ich bin los, um meine Vorbereitungen zu treffen.«
»Welche wären?«
»Etwas kalter Braten und ein Glas Bier«, antwortete er und läutete. »Ich war zu beschäftigt, um ans Essen zu denken, und heute Abend werde ich wahrscheinlich noch beschäftigter sein. Übrigens werde ich ihre Mitarbeit brauchen, Doktor.«
»Es wird mir eine Freude sein.«
»Es macht Ihnen doch nichts aus, das Gesetz zu brechen?«
»Nicht im geringsten.«
»Oder eine Verhaftung zu riskieren?«
»Nicht für eine gute Sache.«
»Oh, die Sache ist ausgezeichnet!«
»Dann bin ich Ihr Mann.«
»Ich wußte, daß ich auf Sie zählen kann.«
»Aber was soll ich denn eigentlich tun?«
»Sobald Mrs. Turner aufgetragen hat, werde ich es Ihnen erklären. Also«, sagte er, als er sich hungrig über das einfache Mahl hermachte, das unsere Hauswirtin bereitet hatte, »ich muß es beim Essen besprechen, denn ich habe nicht viel Zeit. Es ist schon fast fünf. In zwei Stunden müssen wir am Ort des Geschehens sein. Miß Irene, oder besser Madame, kommt um sieben von ihrer Spazierfahrt zurück. Dann müssen wir bei der Briony Lodge sein und sie empfangen.«
»Und was dann?«
»Das müssen Sie mir überlassen. Ich habe schon alles arrangiert, was geschehen soll. Auf eines muß ich allerdings bestehen. Sie dürfen sich nicht einmischen, komme, was da wolle. Haben Sie verstanden?«
»Ich soll also neutral bleiben?«
»Sie halten sich einfach aus allem heraus. Es wird wahrscheinlich einen kleinen unerfreulichen Zwischenfall geben. Mischen Sie sich da nicht ein. Es wird damit enden, daß ich ins Haus getragen werde. Vier oder fünf Minuten später wird das Wohnzimmerfenster aufgehen. Sie postieren sich dann möglichst nah an diesem Fenster.«
»Jawohl.«
»Sie behalten mich im Auge, denn Sie werden mich sehen können.«
»Jawohl.«
»Und wenn ich meine Hand hebe – so –, werfen Sie das, was ich Ihnen gleich geben werde, ins Zimmer und geben gleichzeitig Feueralarm. Können Sie mir folgen?«
»Voll und ganz.«
»Es ist nichts Besonderes«, sagte er und zog eine lange zigarrenförmige Rolle aus der Tasche. »Nur eine gewöhnliche Klempner-Rauchbombe mit Zündern an beiden Enden, damit sie sich selbst entzündet. Das ist Ihre ganze Aufgabe. Wenn Sie Ihren Feueralarm geben, werden ihn eine ganze Anzahl Leute aufgreifen. Dann können Sie zum Ende der Straße gehen, und ich werde zehn Minuten später bei Ihnen sein. Ich hoffe doch, daß alles klar ist?«
»Ich bleibe neutral, stelle mich vors Fenster, behalte Sie im Auge, und auf Ihr Zeichen werfe ich dieses Ding hinein, dann gebe ich Feueralarm und warte auf Sie an der Ecke.«
»Genau.«
»Sie können sich ganz auf mich verlassen.«
»Ausgezeichnet. Dann wird es jetzt, denke ich, langsam Zeit, daß ich mich auf die neue Rolle vorbereite, die ich spielen muß.«
Er verschwand in seinem Schlafzimmer, und nach ein paar Minuten erschien er in der Gestalt eines liebenswürdigen und einfältigen Freikirchen-Priesters. Mit seinem weiten schwarzen Hut, seinen ausgebeulten Hosen, seiner weißen Fliege, seinem gütigen Lächeln und seinem allgemeinen Ausdruck wohlmeinender Neugier wirkte er so überzeugend, wie es sonst allein Mr. John Hare hätte sein können. Holmes zog nicht einfach bloß ein Kostüm an. Seine Mimik, sein Gehabe, seine ganze Seele schienen sich mit jeder neuen Rolle, die er spielte, zu verändern. Die Bühne hat wahrhaftig einen feinen Schauspieler verloren, ebenso wie die Wissenschaft einen scharfen Denker verloren hat, als er zu einem Spezialisten für das Verbrechen wurde.
Es war Viertel nach sechs, als wir die Baker Street verließen, und es fehlten noch zehn Minuten zur vollen Stunde, als wir in der Serpentine Avenue waren. Es dämmerte schon, und während wir vor der Briony Lodge in Erwartung ihrer Bewohnerin auf und ab gingen, wurden gerade die Laternen entzündet. Das Haus sah genau so aus, wie ich es mir nach Sherlock Holmes' knapper Beschreibung vorgestellt hatte, doch es schien sich in weniger ruhiger Lage zu befinden, als ich erwartet hatte. Im Gegenteil, für eine kleine Straße in einer ruhigen Nachbarschaft war es hier bemerkenswert belebt. Da waren eine Gruppe schäbig gekleideter Männer, die rauchend und lachend in einer Ecke standen, ein Scherenschleifer mit seinem Rad, zwei Gardisten, die mit einem Kindermädchen poussierten, und mehrere gut gekleidete junge Männer, die mit Zigarre im Mund auf und ab schlenderten.
»Wissen Sie«, bemerkte Holmes, während wir vor dem Haus hin und her gingen, »diese Heirat vereinfacht die Sache ziemlich. Das Photo ist jetzt ein zweischneidiges Schwert. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte es Miß Adler ebenso unerwünscht sein, daß Mr. Godfrey Norton es sieht, wie unserem Klienten, daß es seiner Prinzessin unter die Augen kommt. Die Frage ist nur, wo finden wir das Photo?«
»Allerdings, wo?«
»Es ist höchst unwahrscheinlich, daß sie es mit sich herumträgt. Es ist ein Kabinettformat. Zu groß, um es leicht in einem Damenkleid verstecken zu können. Und sie weiß, daß der König dazu fähig ist, sie überfallen und durchsuchen zu lassen. Zwei Versuche dieser Art sind ja schon gemacht worden. Wir können also davon ausgehen, daß sie es nicht bei sich trägt.«
»Wo ist es dann?«
»Bei ihrer Bank oder ihrem Anwalt. Beides wäre eine Möglichkeit. Aber ich neige zu der Vermutung, daß es keins von beiden ist. Frauen sind von Natur aus geheimniskrämerisch, und sie hüten ihre Geheimnisse gern selbst. Weshalb sollte sie das Photo jemand anderem geben? Sich selbst kann sie vertrauen, aber sie könnte nicht voraussehen, welcher indirekte oder politische Einfluß möglicherweise auf einen Geschäftsmann ausgeübt werden mag. Außerdem, bedenken Sie, daß sie sich entschlossen hat, es in ein paar Tagen zu benutzen. Es muß dort sein, wo sie jederzeit Zugang dazu hat. Es muß in ihrem eigenen Haus sein.«
»Aber dort ist doch schon zweimal eingebrochen worden.«
»Und wenn schon! Die wußten doch gar nicht, wo sie suchen sollten.«
»Und wo werden Sie suchen?«
»Ich werde überhaupt nicht suchen.«
»Was dann?«
»Ich werde es mir von ihr zeigen lassen.«
»Aber sie wird sich weigern.«
»Das wird sie nicht können. Aber ich höre Räder klappern. Es ist ihre Kutsche. Also, befolgen Sie jetzt haargenau meine Anweisungen.«
Noch während er sprach, fiel das Licht von Kutschenlaternen um die Ecke der Straße. Es war ein hübscher kleiner Landauer, der ratternd vor die Tür der Briony Lodge rollte. Als er anhielt, rannte einer der Herumtreiber aus der Ecke herbei, um die Tür zu öffnen, in der Hoffnung, sich einen Groschen zu verdienen, doch er wurde von einem der anderen Herumtreiber zur Seite gedrängt, der in der selben Absicht hinzugeeilt war. Ein wilder Streit brach aus, der von den beiden Gardisten noch verstärkt wurde, welche sich auf die Seite des einen Gammlers schlugen, und von dem Scherenschleifer, der ebenso hitzig die Gegenpartei ergriff. Irgend jemand schlug als Erster zu, und im nächsten Moment befand sich die Dame, die aus ihrer Kutsche gestiegen war, inmitten eines kleinen Haufens raufender Männer, die mit Fäusten und Stöcken wild aufeinander einprügelten. Holmes stürzte sich in das Getümmel, um die Dame zu beschützen, doch als er sie erreichte, stieß er einen Schrei aus und fiel zu Boden. Blut strömte ihm übers Gesicht. Nach seinem Sturz machten sich die Gardisten in die eine Richtung und die Gammler in die andere davon, während einige besser gekleidete Leute, die der Rauferei zugesehen hatten, ohne sich zu beteiligen, herbeidrängten, um der Dame zu helfen und sich um den Verletzten zu kümmern. Irene Adler, wie ich sie weiterhin nennen will, war die Stufen hinaufgeeilt; doch oben blieb sie stehen, eine wunderhübsche Silhouette vor dem Licht, das aus der Eingangshalle fiel, und schaute auf die Straße zurück.
»Ist der arme Gentleman schwer verletzt?« fragte sie.
»Er ist tot«, riefen mehrere Stimmen.
»Nein, nein, er lebt noch!« rief eine andere. »Aber bis ins Krankenhaus schafft er's nicht mehr.«
»Das ist ein tapferer Bursche«, sagte eine Frau. »Die hätten der Dame die Geldbörse und die Uhr gestohlen, wenn er nicht gewesen wäre. Das war eine Bande, und eine von der ganz üblen Sorte. Ach, er atmet ja wieder.«
»Hier auf der Straße kann er nicht liegenbleiben. Dürfen wir ihn reinbringen, gnä' Frau?«
»Sicher. Bringen Sie ihn ins Wohnzimmer. Dort ist ein bequemes Sofa. Hier entlang, bitte.«
Langsam und feierlich wurde er in die Briony Lodge getragen und im Herrenzimmer hingelegt, während ich den ganzen Vorgang von meinem Posten am Fenster aus beobachtete. Die Lampen waren angezündet worden, doch die Läden waren nicht geschlossen, so daß ich Holmes auf der Couch liegen sehen konnte. Ich weiß nicht, ob er in diesem Moment Gewissensbisse hatte wegen der Rolle, die er spielte, doch ich weiß, daß ich selbst mich noch nie zuvor in meinem Leben so zutiefst geschämt hatte wie beim Anblick dieses schönen Wesens, gegen das ich konspirierte, und der Güte und Freundlichkeit, mit der sie sich um den Verletzten kümmerte. Und doch wäre es schwärzester Verrat Holmes gegenüber gewesen, hätte ich mich jetzt der Aufgabe, mit der er mich betraut hatte, verweigert. Ich verschloß also mein Herz und holte die Rauchbombe unter meinem Mantel hervor. Wir fügen ihr ja schließlich keinen Schaden zu, dachte ich mir. Wir halten sie lediglich davon ab, jemand anderem zu schaden.
Holmes hatte sich auf der Couch aufgerichtet, und ich sah ihn gestikulieren, als ob er keine Luft bekäme. Ein Hausmädchen eilte herbei und stieß das Fenster auf. Im selben Moment sah ich ihn die Hand heben, und auf das Zeichen schleuderte ich meine Rauchbombe ins Zimmer. Gleichzeitig rief ich: »Feuer!« Kaum war das Wort aus meinem Mund, da schrie die ganze Ansammlung von Schaulustigen, gut wie schlecht Gekleidete – Herren, Stallburschen und Dienstmädchen – wie im Chor ebenfalls »Feuer!« Dichte Rauchwolken breiteten sich im Zimmer aus und strömten durch das offene Fenster. Ich konnte nur ein paar rennende Gestalten erkennen, und einen Augenblick später hörte ich von drinnen Holmes Stimme, die allen versicherte, daß es falscher Alarm war. Durch die schreiende Menge schlüpfend bahnte ich mir einen Weg zur Straßenecke; zehn Minuten später war ich heilfroh, als mein Freund mich am Arm faßte, und wir den Aufruhr hinter uns lassen konnten. Ein paar Minuten lang ging er schnell und schweigend, bis wir in eine der ruhigen Straßen einbogen, die zur Edgeware Road führen.
»Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, Doktor«, bemerkte er. »«Es hätte gar nicht besser sein können. Alles hat geklappt.«
»Sie haben das Photo?«
»Ich weiß, wo es ist.«
»Und wie haben Sie es gefunden?«
»Sie hat es mir gezeigt, wie ich es Ihnen gesagt hatte.«
»Ich tappe immer noch im Dunkeln.«
»Ich will kein Geheimnis draus machen«, sagte er lachend. »Die Sache war ein Kinderspiel. Sie haben natürlich gemerkt, daß jeder auf der Straße ein Komplize war. Sie waren alle für diesen Abend engagiert.«
»Das hatte ich mir schon gedacht.«
»Dann, als der Rummel losging, hatte ich ein wenig rote Farbe in der Hand. Ich habe mich in die Rauferei gestürzt, bin hingefallen, habe mir die Hand vors Gesicht geschlagen, und schon war ich ein bemitleidenswerter Anblick. Das ist ein alter Trick.«
»So weit war mir das Ganze auch schon klar.«
»Dann haben sie mich reingetragen. Sie mußte das zulassen. Was hätte sie sonst tun können? Und in ihr Wohnzimmer, was genau das Zimmer war, das ich im Verdacht hatte. Entweder das oder ihr Schlafzimmer, und ich wollte unbedingt herausbekommen, welches. Sie haben mich auf eine Couch gelegt, ich tat so, als bekäme ich keine Luft, sie mußten das Fenster öffnen, und Sie hatten Ihre Gelegenheit.«
»Aber wozu war das gut?«
»Es war das alles Entscheidende. Wenn eine Frau glaubt, daß ihr Haus brennt, eilt sie instinktiv sofort zu dem, was ihr am wertvollsten ist. Das ist ein übermächtiger Impuls, den ich schon mehr als einmal ausgenützt habe. Im Fall des Darlington-Verwechslungsskandals hat er mir sehr geholfen und auch in der Arnsworth-Castle-Sache. Eine verheiratete Frau schnappt sich ihr Baby, eine unverheiratete greift nach ihrer Schmuckschatulle. Nun, mir war klar, daß unsere heutige Dame nichts im Haus hatte, was ihr kostbarer war als das, wonach wir suchen. Das würde sie schleunigst in Sicherheit bringen. Der Feueralarm war bewundernswert. Der Qualm und das Geschrei hätten selbst Nerven aus Stahl erschüttert. Und sie hat bestens reagiert. Das Photo ist in einer Nische hinter einem verschiebbaren Paneel gleich über dem rechten Klingelzug. Sie war augenblicklich dort, und ich habe es kurz gesehen, als sie es halb herausgezogen hat. Als ich dann gerufen habe, daß es falscher Alarm sei, hat sie es zurückgelegt, einen Blick auf die Rauchbombe geworfen, ist aus dem Zimmer gerannt, und danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich bin aufgestanden, habe mich entschuldigt und bin aus dem Haus geflüchtet. Fast hätte ich versucht, das Photo gleich zu holen; aber der Kutscher war hereingekommen und hat mich scharf beobachtet, also schien es mir sicherer zu warten. Überstürztes Handeln kann alles ruinieren.«
»Und jetzt?« fragte ich.
»Unser Auftrag ist beinahe erledigt. Morgen werde ich die Dame zusammen mit dem König besuchen. Sie können auch mitkommen, wenn Sie wollen. Man wird uns ins Wohnzimmer führen, um auf die Dame zu warten, aber wahrscheinlich wird sie bei ihrem Erscheinen weder uns noch das Photo dort vorfinden. Es dürfte seiner Majestät Vergnügen bereiten, es eigenhändig zurückzuerobern.«
»Und wann werden Sie hingehen?«
»Um acht Uhr morgens. Da wird sie noch nicht auf sein, so daß wir freie Bahn haben werden. Außerdem dürfen wir keine Zeit verlieren, weil sie nach dieser Heirat ihre Lebensführung und Gewohnheiten völlig ändern könnte. Ich muß dem König unverzüglich telegraphieren.«
Wir hatten die Baker Street erreicht und waren vor der Haustür stehengeblieben. Er suchte gerade in seinen Taschen nach dem Schlüssel, als jemand im Vorbeigehen sagte:
»Gute Nacht, Mr. Sherlock Holmes.«
Es waren in diesem Moment etliche Leute auf dem Bürgersteig, doch der Gruß schien von einem schmächtigen Jugendlichen im Regenmantel gekommen zu sein, der eben vorbeigehuscht war.
»Diese Stimme habe ich doch schon mal gehört«, sagte Holmes, als er die spärlich beleuchtete Straße hinunterstarrte. »Also, ich frage mich, wer zum Teufel das gewesen sein mag.«
Ich übernachtete in der Baker Street, und wir saßen am nächsten Morgen gerade bei Toast und Kaffee, als der König von Böhmen ins Zimmer stürmte.
»Sie haben es also wirklich!« rief er, indem er Holmes bei den Schultern packte und ihm gespannt ins Gesicht sah.
»Noch nicht.«
»Aber Sie haben Hoffnung?«
»Ich habe Hoffnung.«
»Dann kommen Sie. Ich kann es kaum erwarten aufzubrechen.«
»Wir brauchen noch eine Kutsche.«
»Nein, mein Brougham steht draußen.«
»Das vereinfacht natürlich die Sache.« Wir gingen hinunter und machten uns ein weiteres Mal auf den Weg zur Briony Lodge.
»Irene Adler hat geheiratet«, bemerkte Holmes.
»Geheiratet! Wann?«
»Gestern.«
»Und wen?«
»Einen englischen Rechtsanwalt namens Norton.«
»Aber sie kann ihn unmöglich lieben.«
»Ich will doch sehr hoffen, daß sie ihn liebt.«
»Und weshalb?«
»Weil das Eure Majestät von jeglicher Furcht vor zukünftiger Belästigung befreien würde. Wenn die Dame ihren Gatten liebt, dann liebt sie Eure Majestät nicht mehr. Und wenn sie Eure Majestät nicht mehr liebt, dann gibt es auch keinen Grund für sie, Euer Majestät Absichten zu sabotieren.«
»Das ist wahr. Aber trotzdem… Ach! Ich wünschte, sie wäre von ebenbürtigem Stand gewesen! Welch eine Königin hätte sie abgegeben!« Er verfiel in trübsinniges Schweigen, das bis zu unserem Eintreffen in der Serpentine Avenue anhielt.
Die Tür der Briony Lodge war offen, und eine ältere Frau stand auf den Stufen. Sie betrachtete uns mit sardonischem Blick, als wir aus dem Brougham stiegen.
»Mr. Sherlock Holmes, nehme ich an?« fragte sie.
»Ich bin Mr. Holmes«, antwortete mein Freund und sah sie fragend und ziemlich erschrocken an.
»Tatsächlich! Meine Herrin hat mir gesagt, daß Sie wahrscheinlich kommen würden. Sie und ihr Gemahl sind heute Morgen mit dem 5:15-Uhr-Zug von Charing Cross Richtung Kontinent abgereist.«
»Was!« Sherlock Holmes taumelte rückwärts, bleich vor Ärger und Überraschung. »Soll das heißen, daß sie England verlassen hat?«
»Und zwar für immer.«
»Und die Papiere?« fragte der König heiser. »Alles ist verloren.«
»Wir werden sehen.« Er drängte sich an der Bediensteten vorbei und eilte in den Salon, gefolgt vom König und mir selbst. Das Mobiliar war kreuz und quer verstreut, Regale waren leergefegt und Schubladen standen offen, als hätte die Dame sie vor ihrer Flucht in größter Eile ausgeräumt. Holmes eilte zum Klingelzug, riß einen kleinen Schiebedeckel ab, steckte die Hand hinein und zog ein Photo sowie einen Brief heraus. Das Photo zeigte Irene Adler höchstpersönlich im Abendkleid, der Brief trug die Aufschrift: »An Mr. Sherlock Holmes. Postlagernd.« Mein Freund riß ihn auf, und wir lasen ihn alle drei gemeinsam. Er war mit 12 Uhr letzte Nacht datiert und lautete folgendermaßen:
MEIN LIEBER MR. SHERLOCK HOLMES,
Sie haben Ihre Sache wirklich sehr gut gemacht. Sie haben mich ganz und gar hereingelegt. Bis nach dem Feueralarm hatte ich keinerlei Verdacht. Doch dann, als ich merkte, daß ich mein Geheimnis offenbart hatte, begann ich nachzudenken. Ich war schon vor Monaten vor Ihnen gewarnt worden. Mir war gesagt worden, wenn der König einen Agenten engagieren würde, dann kämen dafür nur Sie in Frage. Auch Ihre Adresse hatte man mir gegeben. Doch trotz alledem haben Sie mich dazu gebracht zu enthüllen, was Sie wissen wollten. Sogar als ich schon mißtrauisch geworden war, fiel es mir schwer, von so einem lieben, netten alten Priester Böses zu denken. Aber wie Sie ja wissen, bin ich selbst eine ausgebildete Schauspielerin. Männerkostüme sind mir nicht fremd. Ich nutze oft die Freiheiten, die sie mir geben. Ich ließ Sie von John, dem Kutscher, bewachen, lief schnell nach oben, zog meine Ausgehsachen an, wie ich sie nenne, und war wieder unten, als Sie gerade gingen.
Nun, ich folgte Ihnen bis zu Ihrer Tür und konnte mich so davon überzeugen, daß sich in der Tat der berühmte Mr. Sherlock Holmes für mich interessierte. Dann wünschte ich Ihnen eine gute Nacht, was wohl ziemlich unklug war, und machte mich auf den Weg zum Temple, um meinen Gatten aufzusuchen.
Wir waren beide der Ansicht, daß der beste Ausweg die Flucht ist, wenn man von einem so formidablen Gegenspieler verfolgt wird; daher werden Sie das Nest verlassen finden, wenn Sie morgen hinkommen. Was das Photo betrifft, so kann Ihr Klient beruhigt sein. Ich liebe einen besseren Mann als ihn, und er liebt mich ebenfalls. Der König kann tun, was immer er will, ohne von einer, der er grausam unrecht getan hat, Einspruch befürchten zu müssen. Ich behalte es nur als Waffe zu meinem eigenen Schutz und als Versicherung gegen jegliche Schritte, die er möglicherweise in der Zukunft unternehmen wird. Ich lasse ein anderes Photo zurück, das er vielleicht gern behalten würde; und ich verbleibe, mein lieber Mr. Sherlock Holmes,
zutiefst die Ihre,
IRENE NORTON, geb. ADLER
»Was für eine Frau – ach, was für eine Frau!« rief der König von Böhmen, als wir alle drei dieses Schreiben gelesen hatten. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, wie schnell und entschlossen sie ist? Hätte sie nicht eine bewundernswerte Königin abgegeben? Ist es nicht schade, daß sie nicht von meinem Stand ist?«
»Nach allem, was ich von der Dame gesehen habe, scheint sie in der Tat von ganz anderem Stand zu sein als Eure Majestät«, sagte Holmes kühl. »Ich bedaure, daß ich Euer Majestät Sache nicht zu einem erfolgreicheren Abschluß bringen konnte.«
»Aber ganz im Gegenteil, mein lieber Herr«, rief der König; »der Erfolg könnte gar nicht größer sein. Ich weiß, daß sie immer zu ihrem Wort steht. Das Photo ist jetzt genauso sicher, als wenn es im Feuer wäre.«
»Ich bin froh, Eure Majestät das sagen zu hören.«
»Ich stehe unendlich tief in Ihrer Schuld. Bitte sagen Sie mir, auf welche Weise ich Sie belohnen kann. Dieser Ring…« Er zog einen Smaragd-Schlangenring von seinem Finger und hielt ihn auf der Handfläche hin.
»Eure Majestät haben etwas, das ich noch viel höher schätzen würde«, sagte Holmes.
»Sie brauchen es nur zu nennen.«
»Diese Photographie!«
Der König starrte ihn verblüfft an.
»Irenes Photo!« rief er. »Selbstverständlich, wenn Sie es wünschen.«
»Ich danke Eurer Majestät. Dann gibt es in der Angelegenheit nichts weiter zu tun. Ich habe die Ehre, Ihnen einen sehr guten Morgen zu wünschen.« Er verbeugte sich, dann drehte er sich um, ohne die ausgestreckte Hand des Königs zu bemerken, und machte sich in meiner Begleitung auf den Weg nach Hause.
So also hatte ein gewaltiger Skandal das Königreich Böhmen bedroht, und die ausgeklügelten Pläne von Mr. Sherlock Holmes waren von einer gewitzten Frau durchkreuzt worden. Er hatte sich früher oft über die Schlauheit von Frauen lustig gemacht, doch in letzter Zeit habe ich dergleichen nicht mehr von ihm gehört. Und wenn er von Irene Adler spricht oder ihre Photographie erwähnt, dann geschieht dies immer mit dem Ehrentitel: DIE Frau.