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Kurz nach dem neuen Jahre 1662, während noch Ferdinand III. über das deutsche Reich gebot, insoweit ihm nach dem Frieden von Westfalen etwas im Reiche zu gebieten über geblieben, war Graf Adrian Oudenweerde auf seinem böhmischen Schlosse Ripan im 65. Jahre seines Lebens gestorben. Ein Anfall seines jähen Zornes hatte den edlen Herrn ganz unerwartet dahingerafft. Denn noch am Abend war er heil und rüstig heimgekommen. Zu Morgen fanden sie ihn, der, wenn er nicht etwa an der Gicht gelitten, niemalen krank gewesen, tot, Schaum vor dem Munde und die Fäuste geballt in seinem Bette. Daß er sich aber vorher heftig mit der Gräfin erzürnt, wußte das ganze Haus. Denn er war nicht Zwang noch Verstellung gewohnt und seine Stimme 104 dröhnte mächtig, wie die eines alten Obristen, der in Schlachten und ihrem Lärmen seine reisigen Geschwader befehligt und befeuert.
Durch zehn Jahre hatte seine Ehe mit Frau Adriana gewährt. Ohne Frieden und ohne Kinder war sie geblieben. Einer ganz armen, aber stolzen Familie Burgunds war Gräfin Adriana, oder, wie sie sich lieber in der Zunge ihrer Heimat nennen hörte, Adrienne Oudenweerde entsprossen, und da ihr Gatte um sie freite, that er's unter dem Beding, daß sie fortab niemanden ihres Blutes mehr kennen dürfe. Sie nahm's an, fand sich aber so schwer darein, wie in das öde, weitläuftige Schloß, das dem Grafen für seine Thaten im Kriege aus der Erbschaft nach dem ob mannigfacher Vergehungen und Verrätereien justificierten Albert Waldstein zugefallen war, konnte um den grauen und traurigen Himmel Böhmens die helle und freudige Sonne nicht vergessen, die über ihrer Heimat und ihren Rebgeländen glänzte. Sie blieb die Fremde.
Dazu eiferte der Graf ohne alles Maß mit ihr. Er hatte keinen Anlaß, eine Ursache zum Argwohn, denn sie war schön. Man konnte sie in ihren guten Jahren nicht anschauen, ohne mit Wohlgefallen einer schlanken Haselstaude zu 105 gedenken. Sie war bräunlich von Angesicht, schmiegsam und zierlich und doch wiederum voll freudiger Kraft, und eine Fröhlichkeit, wie vom Anblick grüner und heller Blätter, ging von ihr aus. Das blieb ihr lange, lange, nur daß es über eine Zeit Fremden allein zugute kam. In ihres Herrn Gegenwart schwieg ihr Mund und sein sonniges Lachen, das niemand vernehmen konnte ohne den Wunsch, an dem teilzuhaben, was sie also vergnügt werden ließ. Scheu, finster und gedrückt saß sie in ihrer Ecke, starrte in die spielenden Flammen des Kamins, darinnen auch im höchsten Sommer das Feuer nicht erlöschen durfte, weil es sie ewig fröstelte, rieb die schmalen, feuchten Hände ineinander und ließ, in sich versunken, sein Schelten vorbeigewittern. Bis er seinen Nachttrunk von ihr forderte. Darnach schellte sie, brachte ihm den heißen und gewürzten Wein und ging zu ihrer Ruhe. Sie schliefen nämlich ganz gesondert und er konnte sie nicht mehr zu sich zwingen, so manches Schelten und so vielen Schlag er daran gewendet haben soll.
So lebte die unselige Frau denn ein Leben, das nicht um vieles besser war denn der Tod. Alles hatte ein Mitleiden mit ihr. Und als ein Vetter gleichen Stammes und Namens mit dem 106 Grafen Zutritt in's Schloß gewann und darnach öfter und öfter zuritt, mit Adriana allein war oder stumm im Garten des Schlosses mit ihr sich erging, da schwiegen alle darüber, ob sie gleich sämtlich in Eid und Pflicht des Grafen standen und unter ihm im Kriege gedient. Niemand munkelte auch nur darüber. Niemand mißgönnte dem armen Weibe die kurze Lust einer Zwiesprache mit einem Manne, der es nicht quälte. Man fand es sogar klug von ihr, daß sie sich mit dem künftigen Herrn zeitig verhielt; man wußte nämlich selbst dort, wo man's nicht wissen hätte dürfen, daß ihr Gatte nicht ein Hellerlein von all seiner unermeßlichen Habe ihr zugedacht. Sie sollte immerhin Ursache haben, um ihn zu trauern, ob ihr nun darnach war oder nicht. Sie aber nahm auch das mit jener stumpfen Ergebenheit hin, die ihr allmählich, eine traurige Schutzwehr, gekommen war. Nicht mit einem Winke rührte sie an seinem Entschluß, den er ihr Abend um Abend mit allem Behagen und mit sorglichster wie liebevoller Ausschmückung jeglichen Umstandes, wie das wohl sein werde, wenn sie heimlos und durch die Schuld ihrer eigenen Herzlosigkeit eine Bettlerin zu den bettelnden Geschwistern heimkehren würde, mitteilte. Denn 107 kein Wittum bestünde auf Ripan und er werde sich's wohl überlegen, eines zu stiften, werde schon dafür vorsorgen, daß der neue Gebieter sie ausfertige und behandle, wie's einer solchen gebühre, die ihren Gatten betrogen und nur klug genug gewesen sei, sich nicht ertappen zu lassen, wenn sie sündigte. Denn wie sollte ein alter, ehrlicher Soldat hinter alle Weiberschliche kommen? Zu gut sei er für sie gewesen, zu gut. »Oder nicht, Bettelgräfin? He?«
Er war fast immer nach leidiger Feldlagergewohnheit schwer trunken, wann er heim kam. Und auch das steigerte ihren Ekel vor ihm, daß er, wie Sinnlose und Tobende, mit geiferndem Munde sprach, immer wieder das Gleiche wiederholend, und zwischendurch in zorniger Bekräftigung mit der Faust auf die Tischplatte schlug. Roh und gewaltthätig war alles, was er that, und sie mußte nur zu oft eines Anderen denken, der in der Sprache ihrer Mutter ohne breiten, flämischen Tonfall mit ihr sprechen konnte und sich immer schmuck und adelig erwiesen.
An jenem letzten Abend also saßen sie wiederum in der Halle. Er schalt und sie schwieg und starrte in die Lohe, dann wieder, wenn sich Funken erhoben und, ein kreiselnder 108 Sternentanz, in die Höhe stiegen, denen nach. Er aber geriet vor ihrer Ruhe und Schweigsamkeit in immer unbändigeren Eifer und plötzlich kam ihm ein Gedanken. Aus scheelen, bösen Augen spähte er zu ihr hinüber und ganz unerwartet fuhr er sie an: »Oder hast Du Dich schon sichergestellt? Hältst Du's schon jetzt mit dem Buben?«
Sie schrak zusammen. Darnach griff sie nach dem Schüreisen, störte im Feuer und zuckte lässig mit der Achsel.
»Sie hat sich verraten,« jubelte er. »Es ist so! Noch heute schreibe ich den Herren nach Wien. Nicht eine Scholle darf sein werden, nicht eine. Mag der Kaiser wieder nehmen, was mir seine Gnade verliehen. Was schiert's mich, was nach meinem Tode wird? Du aber – warte! Noch lebe ich!« Er ballte die Faust und schüttelte sie nach ihr; musterte sie mit einem breiten, frechen Blick, der immer wieder ihr tiefstes Gefühl aufstörte und verletzte und davor sie immer von neuem erschaudern mußte.
Adriana kauerte sich in sich. »Du bist thöricht, Adrian. Wer müßte nicht erschrecken, wenn er so aus Gedanken aufgerufen wird?«
»Verraten hat sie sich! Gefangen hat man sie, wie eine unbedachte Maus. Oh, man kennt 109 seine Finten immer noch und sei man tausendfach zu edel, sie zu gebrauchen!«
»So glaub', was Du willst, mir ist's durchaus gleich. Hältst Du mich aber für schlecht, so laß mich gehn. Nach Frankreich, zu den Meinen. Ich begehre nichts von Dir, nur laß mich gehn. Ich bitt' Dich, Adrian, laß mich!«
Er hob wieder die Hand. »Schamlose! In die Bettelei willst Du, der ich Dich kaum entzogen habe? Mich willst Du verlassen? Hast Du vergessen, was ich für Dich gethan?«
»Nein,« und sie lächelte eigen dabei, »das habe ich nicht. Du hast schon dafür gesorgt, daß ich's nicht vergessen konnte. Dort hab' ich kein Heim mehr und hier hatte ich nie eines. Zum letztenmale bitt' ich Dich: laß mich gehen, Adrian!«
»Zu Deinem Buhlen, Dirne?«
Sie ward ganz bleich und von starrer Ruhe: »Ich habe keinen Buhlen. Und man kann, scheint mir, in einer Ehe leben, die eingesegnet ward nach allen Bräuchen, und es ist sündig, was immer sich darin begiebt, und kann sie wieder brechen, und es ist dabei keine Sünde vor Gott.« So ruhig sprach sie das – man sah, wie oft, wie unabweislich ihr dieser 110 Gedanken mahnend und rastlos in der Seele gesprochen haben müßte.
»Sie beschönigt ihr Thun! Nicht einmal leugnen kann sie's mehr!« und er sprang auf und schlug nach ihr. Sie aber wich dem Streiche nicht aus. Fast als wollte sie ihn empfangen. Nur daß sie dann doch zusammenzuckte und ihr Auge ein Weilchen unheimlich aufglomm. Atemlos lehnte sie am Tische und kämpfte; unbewußt fuhr ihr Handrücken über Augen und Wange. Und dann, mit einer befremdenden Gelassenheit, schellte sie: »Es ist spät, Adrian. Dein Schlaftrunk.«
Er war wieder in seinen Lehnstuhl zurückgesunken und stierte ihr fast blöde nach. Dabei aber verfolgten seine Blicke unablässig und mißtrauisch sie samt allem, was sie that. Nichts, was auch nur im geringsten vom Gewohnten abgewichen wäre. Mit ihrer ganzen Anmut nahm sie den Becher, wie ihn der Diener brachte. Sie neigte sich dabei, wie immer, also darüber, daß ihr der duftende Dampf um Gesichtchen und Schläfe spielte. Nur etwas länger als sonst schien sie ihm dabei zu verweilen. Wie immer in diesen gramvollen zehn Jahren brachte sie ihm den Becher, – einst hatte sie damit begonnen, weil sie sich ihm 111 in Dankesschuld glaubte, um ihn vielleicht durch Demut sich und milderen Sitten zu gewinnen. Nun war's ihr Gewöhnung und dabei eine Pflicht.
Er stieß mit unsicherer Hand nach ihr und sie wich so gewandt und geübt aus, daß nicht ein Tropfen verschüttet ward und man erkennen mußte, wie ihr kaum zum erstenmale solches widerfuhr. »Trink, Adrian!« Die buschigen Brauen hoben sich, er griff nach dem Würzewein, stürzte ihn hastig hinunter und sie sah ihm mit Spannung und ängstlicher Neugierde zu. Dann auf widerspenstigen Beinen erhob er sich und torkelte nach seinem Gemache. Noch in der Thüre aber kehrte er sich: »Wart, morgen!« Sie neigte das Haupt halb listig, halb demütig; darnach ließ sie sich nieder und sah noch manche Stunde in unruhigem Sinnen und in Erwartung eines Dinges, das ihr selber nicht klar werden wollte, dem Züngeln und Spielen der Flammen im Kamine zu, bis die mächtigen Blöcke ganz niedergebrannt waren. Längst war der Diener des Herren durch das dunkelnde Gemach geschritten, ehe auch sie sich erhob und nach ihrer Ruhe ging. Den folgenden Morgen sah aber Adrian Graf Oudenweerde, ihrer Kaiserlichen Majestäten Obrister im großen 112 Krieg und Mitwisser um die That von Eger, nicht mehr. Den Brief an die Herren von Wien hatte er nicht geschrieben.
Er ward bestattet mit allen Ehren, die einem Mann von solchem Rang und Adel gebühren. Sein Erbe kam zum Trauerfeste; er und Frau Adriana allein schritten vor der Dienerschaft hinter dem Sarge. Angehörige hatte der Tote sonst nirgend in der Welt und seine Gefährten aus tollen und kriegerischen Tagen waren ihm alle vorangegangen, zu seinem Gerichte ein jeder. In der Kirche ward ihm ein Grabmal mit Wappen und mancher Zierat erhöht. Messen wurden für die Seele, die ohne alle Buße und im Grimm dahingefahren war, in so überreicher Zahl gestiftet, daß ihr das Himmelreich wohl sicher sein mußte, wenn des Grafen Thaten nicht zu sehr dawider stritten. Alles auf Geheiß der Gräfin und man wunderte sich darüber, denn sie kannten Frau Adrianen als eine Zweiflerin, die vordem kaum und lässig die Pflichten ihres Glaubens geübt. Auch das ein Ärgernis dem Toten.
Noch mehr verwunderte man sich aber darüber, wie sie und der junge Graf von Oudenweerde es fortab miteinander hielten. Vordem hatten sie sich gesucht und heimlich 113 getroffen; man dachte, das werde wieder so sein, denn die Trauer gebot Ernst und Stille. Aber sie mieden sich vom ersten Begegnen ab, da sie ihm gemessen und würdig gegenüber getreten war. Brachte sie das Ohngefähr doch einmal zusammen, wie das bei den Mahlzeiten und auch sonst bei Genossen eines noch so großen Hauses nicht wohl zu vermeiden ist, so waren sie fremd und frostig. Er griff thätig in das Leben eines Gutsherrn ein, das ihm, der von seinem Ohm wenig Liebes genossen, neu und reizvoll war. Sie las viel in französischen Büchern und sprach, wenn sich ihr Mund überhaupt erschloß, gerne davon, wie sie nach Ende ihrer Trauerzeit heimkehren wolle für immerdar, um ganz vergessen zu können, was ihr in der Fremde zubereitet und verhängt gewesen. Immer stiller ward sie dabei. Täglich ging sie zur Kirche, bekränzte das Grabmal und betete lange und innig davor, bis dann der Frost der Fliesen aufkroch durch die Glieder der Knieenden und ihr ans Herz griff, wie sie das liebte. Auch dies war den Menschen ein Anlaß des Verwunderns, denn so heftiger Trauer schien der Geschiedene niemandem wert, der ihn oder den Bund gekannt, der die beiden vereinigt. Und man raunte: wäre der Lebende nur anders, so 114 weinte sie dem Verlorenen wohl kaum so viel nach . . .
In also fried- und freudloser Weise ging der endlose böhmische Winter. Der kurze und ihr allzu farbenarme Frühling zog vorüber, der Sommer schied und der frühe und traurige Frost jenes Landes brach wieder herein. Frau Adrianas Schritt ward müde und lässig. Sie schlief übel und träumte dann von eitel grauenvollen Dingen, deren jemals gedacht zu haben sie sich erwacht durchaus nicht erinnern konnte. Sie mied alle Menschen. Brach aber einmal eine freundliche Sonne durch die Wolken, so nickte sie ein vor der späten und unverhofften Wärme, die ihr wohl that. Dann, war das braune Licht ihrer Augen erst erloschen, glich sie einer Toten und man sah, wie kein Fünkchen von farbigem Leben mehr in ihren Wangen glomm. Jählings schrak sie dann wieder auf und sah sich verstört und verängstigt um. Wer sie in jenen Tagen erschaute, dem ward herzweh davor, wie einmal ihr Anblick jeden herzfroh gemacht, dem er vergönnt war. Aber Gutes übte sie nach Kräften; und man segnete sie im ganzen Gebiete von Schloß Ripan und in einer fremden Zunge, die ihr zu hart, zu rauh und zu schwer schien, als daß sie eines ihrer Laute 115 hätte Meisterin werden können, haben sie für die stille, stolze Frau gebetet, die so kläglich an einem rätselvollen Leiden dahinsiechte, eine Blume, die ohne alle Sonne duften und gedeihen soll. Und man sah ihr gerne nach, wenn sie ganz allein, nur ein Hündlein hinter sich, durch das arme, kaum gebaute und schon verwahrlosende Dorf schritt, Blumen und Gewinde, wie sie eben das Land und die Zeit boten, in der Hand, immer nur den einen Pfad zur Kirche, mühsam und nur zu leicht erschöpft vom Wege, daß sie immer auf einem der Hügel rasten mußte, die auf dem Gottesacker aufgeworfen waren, ehe sie das schmucklose Haus Gottes betrat, allda ihr tägliches Thun zu vollbringen.
Der November dieses Jahres war ihr so gekommen. Zu manchenmalen hatte der junge Graf Zwiesprache mit ihr gesucht, mit ihr beeinigen wollen, was wohl am besten geschehen möchte, wann ihr Trauerjahr um sei. Sie wich aus, lenkte ab, und immer unmöglicher, eine immer stärkere Pein war es für beide, zeugenlos und allein auch nur eine Stunde zu verbringen. Das einemal meinte sie, es sei noch nicht an der Zeit, derlei zu erwägen; dann wieder: sie wisse um die Entschlüsse des Toten und 116 niemandem stünde das Recht zu, daran zu rütteln oder zu mäkeln, was nun im Grabe versiegelt sei. Wieder einmal wollte sie sich schleiern lassen und in das Stift für edle Frauen auf dem Hradschin treten. Am liebsten aber sprach sie dennoch von ihrer Heimfahrt; sie wollte sich ausweinen bei der Mutter und darnach lieber dorten entschlafen denn hier, wo die arme Seele erst durch Nebelrauch und Wolken den Weg zum Himmel suchen müsse. Die Einsamkeit hatte ihren Zauberspruch über Adriana Oudenweerde's Herz hingehaucht; verfangen in ihrem Netze war die Frau und wußte nicht, wie daraus entrinnen, versuchte es selbst kaum mehr. Dazu raschelte allenthalben das Fallaub, überdeckte die Wege im Garten, die sie vordem nicht immer einsam gegangen, stieg in falben und krausen Säulen gen Himmel, wenn etwa ein Windstoß darein fuhr; darnach, als es regnete, begann es zu duften und ihr schmerzten die Schläfen davon. Sie war sehr blaß und ganz verschlafen; manchmal klemmte sich's ihr in der Brust, daß sie aufschrie. Denn insgeheim hing sie immer noch an der Erde, die ihr so arg verschuldet war. Und so gingen ihr im Dienste ihres Toten und in einem bleichen und schattenhaften Leben die Tage 117 eintönig – ein Totenreigen, der aus Nacht aufsteigt und ungegrüßt in Nächte versinkt.
Es war ihr aber, wenn sie zum ummauerten und wohl verfestigten Freithofe ging, der vordem in manchem Sturme die letzte Zuflucht und das beste Bollwerk der Gemeinde gewesen war, also daß das Leben bei den Abgeschiedenen seine Rettung suchte, wiederholentlich ein Mann ins Auge gefallen. Denn sonst ist es dorten nicht Brauch, die Gräber zu pflegen oder auch nur heimzusuchen. Auch war er nicht nach Tracht noch Wuchs noch Antlitz aus böhmischen Gauen. Er war nicht gar groß, doch breit in den Schultern; sah blond und ruhig in die Welt; sein Haar war ganz kurz verschoren, so daß man recht sah, wie mächtig und gewölbt die Stirne sich aufbaute. Aus verträumten und dennoch scharfen und listigen Augen schaute er um sich. Kam sie, so war der Fremde schon da und durchschritt scheinbar ohne jedes Ziel das wüste Gefilde. Sie mußte seiner oftmals denken. Selbst in ihre Andacht drängte er sich unabweislich; denn ein neues Menschenantlitz war ihr ein Ereignis. Manchmal erhob sie sich von den Knieen und lugte nach ihm aus. Dann sah sie, wie er die Inschriften der Totenmale las, wo sich eine fand, und sich selbst darüber 118 neigte, konnte er die überwachsene nicht gleich entziffern. Auch das brachte ihr ein Erstaunen, denn der Schrift war in jener Gegend kaum einer kundig. Oder, wenn er übermüdet war, so saß er auf einem der Hügel, schlang den Arm um das Kreuz und brümmelte einiges vor sich hin. Dann knisterten die Grabkränze, die noch vom Feste der armen Seelen da hingen und machten eine klägliche Musik. Sie war manchmal so unsäglich hellhörig, um dann wieder durch Tage fast nichts zu vernehmen vor den rufenden und drängenden Stimmen in sich. Schied sie endlich, so war der wunderliche Geselle immer noch da, wenn die Schatten schon sanken und der der Kirche sich riesenhaft über das Gebreite warf. Wo nächtigte der Unbehauste? Was war sein Gewerbe? Warum weigerte er ihr das Grüßen, das ihr sonst jedermann willig zollte und das ihr immer noch gebührte? Das waren Fragen, die nicht von ihr lassen wollten, die sie in bänglichen Stunden heimsuchten, ihr lieb, weil sie üblere Gedanken ferne hielten oder scheuchten.
Ihn anzusprechen aber konnte sie sich kaum zwingen, so heftig ihre Neugierde nach ihm ging. Sie war dafür des Wortes zu entwöhnt. Er aber schien allgemach mit Stein und Mal 119 im Freien zu Ende. Hinter ihr trat er in die Kirche; wo Wappen und Schilderei die Ruhestatt eines Reichen oder eines Mächtigen im Lande verkündigten, dorten verweilte er sich am liebsten und zögerte und raunte seine Rätselworte heftiger, bis er endlich einmal hinter ihr stand und, während sie die Litanei der Seelen murmelte, über ihr gesenktes Haupt weg sah. Da wendete sie sich heftig: »Wer bist Du? Was störst Du die Ruhe dieses Ortes samt meiner Andacht?«
»Und wer bist Du?« entgegnete der Fremde mit einer Stimme, die tief, voll und singend klang und in der Kirche einen irrend mißtönigen Nachhall weckte.
Sie erschrak vor der Macht seines Tones. Darnach: »Ich bin Adriana Oudenweerde und die Herrin auf Schloß Ripan;« sie deutete darnach, das mit Türmen und Zinnen, mit Mauern, darüber kahle Bäume ragten, durch das offene Thor hereingrüßte.
Er verneigte sich vor ihr wie einer, der in höfischer Sitte nicht ganz unbewandert ist. »Und was thut Ihr hier Tag um Tag? Denn hier muß jeder dem anderen begegnen. Ich wundere mich über Euern Eifer; denn es ist kein gutes Weilen an den Örtern der Toten: 120 Sie hängen sich an ihre Gäste und gehen mit ihnen zurück ins Lichte.«
»Ich betrauere meine Geschiedenen.«
»Euer Vater, gestrenge und edle Frau?«
Den Witwenschleier, der sie umhüllte, hob sie: »Mein Gatte.«
Er wiegte den mächtigen Kopf, legte die Finger ineinander und spielte damit. Ein Hinterhalt klang in seiner Stimme, da er entgegnete: »Dann waret Ihr also Herrin von Ripan und Euer Gatte war um vieles älter denn Ihr, und dennoch solcher Eifer und so heftige Trauer?«
Da überkam sie ein Zorn: »Du hast im Dorfe Umfrage gehalten um mich und Du weißt mein Geschick und daß meine Hand offen ist, und nun willst Du Dich nach fahrender Gaukler Art an mich drängen, Erkundetes nutzen und Gaben heischen. Da hast,« und sie warf ein Goldstück vor ihn. Das sprang, ein Fünkchen im farbigen Lichte der Glasfenster, in die Höhe und fiel dann, musikalisch klirrend, niederwärts.
Er bückte sich nicht einmal. Nur eine neue und kaum tiefere Verneigung. »Ich danke, und ich will's schon noch verdienen. Aber Ihr seid hier die Erste, gestrenge Frau, die mir, der ich 121 ein Wort gegönnt, denn ich bin ihrer Zunge unkundig, wie sie der meiner Heimat oder der deutschen, die auch ich erst spät und wandernd erlernt.«
»Und woher stammst Du dann?«
»Weither, aus dem Nordland, dem letzten Ende der Erde, wo weiße Schollen, höher wie Berge, andrängen gegen die Veste. Aus dem Lande der Nebel, die Feuer fangen und dann in den endlosen Nächten am Himmel wandern, wallen, zücken und wider einander streiten wie reisige Heere.«
»Und was ist Dein Gewerbe?«
»Ich wandere, forsche und frage.«
»Und warum weilst Du so gerne auf diesem Friedhof? Oder ist's ein Zufall?«
»Es ist kein Zufall. Weil ich so gerne denke. Hier aber schlummern die letzten Fragen. Und so zweifle ich gerne: Wenn diese Toten hier aufstünden und sie könnten lesen, was man ihnen auf ihr Mal gesetzt, was würden sie sagen dazu? Was sprechen zu denen, die ihnen Stein und Schrift gestiftet?«
»Mich fröstelt's.« Hastig zog sie ihre Umhülle eng und enger an sich, ließ den Witwenschleier vors Antlitz fallen. Eiligst trat sie ins Freie, ohne Gruß eilte sie von dannen. Erst 122 an der knarrenden Lattenpforte, die ins Dorf führt, sah sie sich um. Er folgte ihr nicht. Langsam und bedacht setzte er seine Füße und ließ sich, nicht achtend der feuchten Kühle des Erdreichs, auf einem der Grabeshügel nieder. Ein junges Weib schlief darunter, das im ersten Kindbett gestorben war, und zwar wollte man wissen, nicht allein nach dem Willen Gottes. Denn sie war glücklich, sehr glücklich gewesen. Aber man hatte sie besprochen mit Zaubersprüchen. Dort saß er nun und nickte heftig mit dem Kopfe. Es war fast, als beschwöre er die Nebel und rufe ihnen. Die quollen, ein weißlicher Brodem, rings um ihn auf, stiegen höher und höher und umwallten den Mann aus dem Nebellande. Sie aber sputete sich, wie noch nie, lief fort, daß ihr Frauenhündchen kaum nach konnte und ängstig an ihr empor kläffte. In ihrem Mitleiden mit jeder Kreatur bog sie sich zu ihm nieder und nahm's auf den Arm. Zu Hause aber trat sie ans Fenster der Halle. Vor ihr lag das flache Land; aber wie ein feiner und leiser Schleier schimmerte es allenthalben darüber. Nur daß, wenn ein Windhauch ging, sich das Weiße hob und das Braun der umbrochenen Schollen vorleuchtete. Ein braunes, träges Wasser zog sich in 123 mannigfacher Schlangenwindung durch das Gebreit; häßlich umsäumten es graue und mißförmige Weiden und ihre langen Gerten zuckten und schlugen aneinander. Denn es war ein sonderbares Grauen in der Welt, so daß man alles mehr erriet als ausnahm. Ein müder, näselnder Ton, quäkend wie das Gewimmer eines Säuglings, zog mit dem Abendwind zu ihr und durchbebte sie, bis ihr beifiel: das war doch nur der blinde Jindrak, den der Schwede, der Landsmann dessen, der vielleicht noch vor der Kirche den Nebeln sang, als Knaben gemartert und geblendet, weil er starrsinnig wie ein Böhme seines Vaters Hort nicht verraten gewollt, und der jetzt wohl vor seiner Hütte saß und die Sackpfeife übte, mit der er auf Markt und Kirmeß umzog und aufspielte. Und sobald sie diesen Schauder verwunden und erkannt hatte, woher er ihr entsprungen, war sie auch fast heiter und in sich so ruhig, wie seit langem nicht. Sie streichelte ihr winselnd Hündlein und ließ es nieder. Eine Thörin schalt sie sich mit ihrer ewigen Angst. Offenbar: in ihr Mark war der Nebel eingedrungen und sie war erkrankt davor. Saß sie erst zu Hause bei den Ihren, arm bei den Armen, doch Begnügsamen, stand erst wieder die lohe Sonne von Burgund 124 ihr zu Häupten, dann mußte der Spuk verwehen und mit ihm alles, was sie hier gelitten, getragen, gethan. Einen Stuhl zog sie sich ans Fenster, setzte sich daran und sah ins Freie, fest, unverwandt, fast begierig, wie man sich manchmal müht, einen bösen Traum festzuhalten, der noch kurz vor Hahnenkrah die wehrlose Seele bemeistert, auf daß man sich dann doppelt des Wachens und des Tages erfreue, die ihn gescheucht. Was war doch sie, die niemalen gläubig gewesen, hier abergläubig geworden! Sie faßt' es nicht. Und lächelnd erhob sie sich: »Noch drei Monde,« sprach sie zu ihrer Seele und suchte das Lager.
Des anderen Tages sprach sie den Fremden an. Er stand vor dem Kirchenthore und sah um sich, just als hätte sie ihn bestellt und er warte nun auf ihr Kommen.
»Du hast gestern sonderbare Reden geführt,« sagte sie.
»Sonderbare Reden, gestrenge Frau? Sie sind mir nicht gegenwärtig und ich thue dergleichen doch sonst nicht.«
»Du erzähltest von Nebeln, die sich entzünden . . .«
»Das thun sie auch oftmals, gestrenge Frau. Denn aus unseren Bergen schlagen Flammen.«
125 Sie zuckte ungeberdig die Achseln.
»Von den Toten redetest Du und ihren Gedanken und Worten fast, als könnten sie wiederkommen und mit Menschenstimme sprechen zu den Hinterbliebenen . . .«
»Sie können's auch, Herrin! Wenn einer die Sprüche weiß, so kann er ihnen rufen!«
»Entsetzlich! Unmöglich!« klang's in Adrianas Seele. Aber sie zwang sich und besann sich. Dann flog ein spöttisches Lachen um ihren Mund und leuchtete in ihren Augen. »Du meinst,« sagte sie, »er kann sie rufen. Ob sie aber kommen wollen, dies ist ihre Sache und sie wollen niemals.«
»Immer, Gestrenge und Edle. Wenn der sie aufsingt die rechten Sprüche weiß und der ihn singen heißt den rechten Willen oder doch nur den Wunsch in sich hat, ihrer ansichtig zu werden.«
Frau Adriana ward fast gutlaunig. »Also, eine Ausflucht! Denn wie kann man erweisen, daß man wirklich das Begehren hatte, seine Schatten zu begrüßen? Schlafen sie also ruhig weiter, dann ist's nicht die Schuld des Beschwörenden, nur dessen, der ihn beauftragt hat.«
»Es gelingt aber dennoch oftmals, Gräfin Oudenweerde. Und ein Christ sollte daran 126 nicht einmal zweifeln dürfen. Oder zog nicht König Saul gen Endor und ließ sich allda Samuelis Schatten rufen, damit ihm der die Zukunft künde und was ihm und seinem Volke bereitet sein werde von den Philistern?«
»Was sprichst Du da? Woher weißt Du das und was soll es?«
»Es ist aus der Bibel und es erweist, wie alt meine Kunst ist.«
»Aus der Bibel? Ach, da steht wohl so manches!«
Er wurde sehr ernst. »Manches, doch nicht ein Wort, das nicht wahr wäre und geprägt von Gott und also giltig für nun und alle Zeit.«
»Ich weiß es nicht und ich will nichts davon wissen. Und kennst Du gar einen, der dieser Gabe teilhaftig ist?«
»Die Leute sagen, ich sei es. Und ich habe manchen Toten aufgesungen und in manchem Lande. Immer kamen sie mir, immer.«
Im Grunde war, nach jenem ersten Erschrecken, noch nichts in ihr, nur die unruhige und lüsterne Neugierde eines Weibes, das vor Neuem und Unerhörtem steht. So forschte sie denn: »Und woher ward Dir diese Kunst? Oder zu welchem Ende übst Du sie?«
127 »Ich weiß nicht, woher sie mir kam. Aber, warum hat einer das zweite Gesicht und weiß es vorher, wem der Tod verhängt ist? Und ein anderer kennt den Markgang und die Rute zuckt in seiner Hand nach edlem Gesteine, das in der Tiefe schläft, und nach dem Wasser, das in so geheimen Gründen rauscht, so verborgen, daß es kein feinstes Ohr vernehmen kann? Und mir wieder that sich dieses Geheimnis auf. Die Runen las ich, die Worte begriff ich, die Weise summte um mich in Nächten, die so hell waren, wie hier nur ein Sommermorgen, ehe die Sonne sich zeigt, und in anderen, die so finster und sternenlos dunkelten, wie's niemand ahnt, der ihnen nicht ins schwarze Auge gesehen. Und sie suchten meine Seele, bis die begriff, warum sie an sie drangen. Seither zieh' ich durch die Lande. Ungern üb' ich, was ich vermag; denn es ist mir unerfreulich und gräßlich anderen. Wer aber meiner begehrt, dem muß ich zu Diensten und zu Willen sein, gestrenge Frau!«
»Ich hielt Dich für einen Gaukler, der die Leute ängstigen will, statt sie zu ergötzen. Nun scheinst Du mir ein Thor, der seine eigenen Märlein glaubt,« entgegnete Adriana.
»Versucht mich, hochmögende Frau!«
128 »Du könntest einen toll machen mit Deinem Gefasel. Ich werde Dich von hinnen weisen lassen, wie sich's gehört für Leute Deines Gewerbes.«
»Thut's immer. Nur versucht mich zuvor, Herrin! Euer Angeld empfing ich schon in der Kirche, da ich Euch zum erstenmal sprechen dürfen!«
Er hatte sich wiederum, wie er's liebte, auf einem der Hügel niedergelassen. Dabei streifte sein Arm an einen Flitterkranz, der noch vom Seelenfeste her da hing, und der fiel zu Boden. Das raschelte so laut, daß Adriana erschrak und ihre ganze Fassung verlor. Das Epheugewinde in ihrer Hand ließ sie sich entfallen. Er bückte sich darnach und wollte es der Frau darbieten. Sie aber, mit zorniger Geberde, winkte ab. Und dann, kämpfend und die Seele voll aufrührender Schauder: »Und wenn ich nun wirklich prüfen möchte, ob du kannst, wessen Du Dich berühmst, – wen könntest Du mir aufsingen aus der ewigen Ruhe?«
»Wen immer zu sehen Euch wirklich verlangt. Es sei denn, er sei im Himmelreich. Über den vermag kein Rufer mehr etwas.«
Sie lächelte wieder: »Nein, im Himmelreich hoffe ich den nicht.«
129 »Und wer ist es? Gebietet, und versucht mich immer nach Eurem Gefallen.«
Es war ein finsterer Ernst in ihren Zügen und sie flüsterte nur und stockte oftmals: »Die Eltern leben mir beide. Meine Geschwister sitzen bei ihnen und haben's alle besser denn ich. Die vor mir lebten zu schauen habe ich keinerlei Gelüsten. Einer starb mir, um einen trage ich Trauer. Noch ist's kein Jahr und er wäre im Fegfeuer, selbst wenn er anders gewesen, denn er war. Sing' mir meinen Gatten auf!«
»Wenn Ihr darnach begehrt, so will ich's thun. Nur noch eines beantwortet und erwägt darnach. Wie schied er? Die friedlos Geschiedenen kommen gräßlich, und wer ihres Anblickes nicht gewöhnt oder nicht reinsten Herzens ist, den mag's leicht zu heftig grauen davor. Wollet Ihr den Herrn wirklich sehen?«
»Er starb ohne Frieden. Aber ich will es!« Sie schauderte, kaum daß sie gesprochen.
»Und wann gebietet Ihr über mich, Herrin?«
»Welche Stunde magst Du?«
»Jede, Herrin, nach Untergang der Sonne bis zu Mitternacht. Und jeder Raum ist mir recht; nur muß er gen Westen schauen und das Fenster gen Westen muß offen stehen. Denn 130 die Seelen nehmen den Abendgang und kehren also auch dorther zurück. Und nichts darf darinnen stehen, nur ein Tisch, eine Rauchpfanne mit glühenden Kohlen. Sonst nichts!«
»Komm' morgen aufs Schloß, wenn Du nicht andere Post vernimmst,« und den Finger auf den Mund legend und rücklings schreitend schied sie. Hinter den Beiden aber stand eine rote und kraftlose Novembersonne, die sich eben zu ihrem Niedergange bereitete. Und wie sich der Totensänger erhob, der edlen Frau seine Ehrfurcht im Gruße zu erweisen, da fiel sein riesenhafter Schatten auf sie. Sie schrie auf; ihr war, als wollte sich ein Schrecknis auf sie stürzen. Und noch einmal schrie sie auf – ihr war, der Mann vor ihr würfe noch einen anderen Schatten. Und atemlos und ein Flirren vor Augen, ein Sausen in den Ohren kam sie aufs Schloß. In die Halle ging sie. Noch glomm im Kamine das Feuer. Sie kauerte sich daran nieder und wärmte sich. In irren Worten sprach sie zu ihrer armen Seele. Manchmal schüttelte sie ein Schlucken, das sie niederzwang. Ihre gänzliche Einsamkeit drückte ihr auf die Brust, darin ein gequältes und zweifelndes Herz schlug. Und nicht einmal schwieg der geheime Wunsch in ihr, der Totensänger möchte nicht 131 gelogen haben und sie dürfte schauen, was er könne, und sei es das Gräßlichste. Denn was verschlug alles, nun sie an eine Wiederkehr und ihre Möglichkeit zu glauben begann, so heftig ihr zweifelnder Verstand sich immer dagegen sperrte? Und was konnte ihr der Grimme zu verkünden haben? O, nur wissen; o, nur schauen, horchen und erstarren. . . .
So fand sie der junge Graf, da er spät wie immer heimkehrte. Vor ihm schritt sein Diener, den Armleuchter mit den flammenden Kerzen in der erhobenen Hand. Ihr Vetter verweilte sich bei ihr: »Was verstört Dich also, Adrienne?« und strich ihr verhohlen und flüchtig über's braune Haar. Sie aber sah ihn mit fast erloschenen Augen an und hielt augenblicks die Hand wieder schirmend vor ihr Angesicht, einem Kinde gleich, das den Anblick von etwas Beklemmendem vermeiden möchte. Denn vor der Glut im Kamine und in der Kerzenhelle warf auch er einen doppelten Schatten, unendlich lang und durch den Raum greifend der eine – ganz wie die jenes Mannes, dessen sie nicht gemahnt sein wollte. Mit der zuckenden Linken winkte sie ihm: »Laß mich!« stöhnte sie dabei. Er, gewohnt ihres wunderlichen Gehabens, ging. Sie aber blieb 132 allein, ganz allein, wie nun schon durch zehn Monate, in denen nicht ein Tag ihr Sonne oder auch nur tröstliches Sternenlicht gebracht, und stierte in die roten Kohlen. Einmal sprang sie auf: »Einen Boten senden, einen Boten!« murmelte sie. Wohin aber oder mit welcher Kundschaft? Das war ihr ganz vergessen. Dann wieder fand sie sich vor der Thüre des jungen Grafen. Was zog sie dorthin? Was hatte sie dort zu suchen, ihn zu fragen, mit ihm zu beraten? Sie wußt' es nicht. Sie wußte nur, daß zwischen ihr und ihm nichts mehr gemein war, niemals mehr etwas gemein sein sollte. Und also trieb sie's umher und schattenhaft tauchte in ihr das Erinnern jener ersten Nacht auf, in der sie gleiche Unrast befallen. Sie litt, bis auch das letzte Fünkchen im Kamin verglommen war. Noch einmal dachte sie des Einzigen, der ihr nahe war und an den sie immerhin einiges Recht hatte. Aber ihn aus dem Schlummer wecken mochte sie nicht. Und was konnte sie ihm beichten, worüber er nicht lachen durfte? Und mit schmerzenden Knieen ging sie nach ihrem Gemach. Im Haupt war's ihr dumpf und ihr Herz hämmerte so sehr, daß sie einmal beschwichtigend die Hand darauf pressen mußte. 133 »Steh still, steh still,« sprach sie fast zornig dabei.
Der folgende Tag war rauh und durchstürmt. Durch die öden Gemächer, über denen kein Frauenauge mehr wachte, und die hohen Säle zog unablässig ein Sausen. Ein feiner Sprühregen ging und nahm alle Ferne. Nicht einmal den Gottesacker und die Kirche darauf, die ihr sonst so nahe standen, konnte sie recht erschauen. Denn Nebel und Wasser rannen in eines zusammen und brauten häßlich ineinander. Der Vormittag ging atemlos; nach dem schweigsamen Mahle saß der Herr auf Schloß Ripan auf, und ritt, wie alle Tage, von dannen, dem Weidwerke zu fröhnen. Ein letztes, geheimes Hoffen war so lange in ihr und ward nun zunichte. »Bleib, o bleib!« meinte sie einmal gerufen zu haben, »siehst Du nicht, was ich leide?« Da keine Antwort kam, erkannte sie erst, daß ihren Lippen kein Wort entflohn sein konnte. So sah sie ihm nach. Er saß schön und stattlich zu Pferde und hinter ihm heulten begierige Rüden. Bald war er ihr entschwunden, der letzte Laut des Lebens in ihr und um sie verhallt. Darnach ließ sie alles aus der Halle schaffen, bis auf den einen Tisch. In einer wunderlichen Laune rief sie der Dienerin und 134 ließ sich von ihr so gut schmücken, wie nur möglich. Die Witwenhaube that sie ab; ihr Haar ward geflochten und gekränzt, wie sie's als Mädchen geliebt. An dem schönsten ihrer alten Gewande ermaß sie traurig, wie siech und überschlank ihr junger Leib in so kurzer Weile worden war. Darnach holte sie ein Pfännlein aus der Küche; mit schwachen Händen schob sie den Tisch in die Mitte des Raumes. Ihr Ehering glitt ihr dabei vom Finger und sie bückte sich nicht einmal darnach. Das Fenster stieß sie auf. Ein leises Rieseln troff ihr über Haar und Wangen und that ihr kühlend fast wohl. Noch war's am Tage und sie schüttete die Kohlen ins Rauchpfännlein und entzündete sie. Sie sah freudig zu, wie sich die Glut verbreiterte, bis endlich alles in heimlichem Glühen stand. Das glomm rötlich durch die hohe Halle.
Was sich dann durch eine Zeit begab, das wußte sie nicht. Nur, mit einem stand der Totensänger vor ihr. Er neigte sich stumm vor der Frau. Strack und ernsthaft schritt er auf sie zu: »Herrin – ist es noch Dein Wollen, zu rufen den Toten, zu hören, was sie verkünden, zu sehen, was ich vermag? Es ist die letzte Frage . . .«
135 Sie neigte nur stumm das Haupt. In eine Fensternische stellte sich Adriana Oudenweerde und bespähte begierig, was der Fremde begann. Der trat vor die Glut hin und streute Beere und Nadeln vom Wachholder und vom unheiligen Säbenbaume darüber. Ein duftender Rauch stieg auf und wölkte sich betäubend. Dann breitete er die Arme aus; das Haupt legte er zurück, aus der tiefsten Brust, fast röchelnd, mit tiefer Stimme hub er seinen Singsang an. Es war aber Adriana dabei, als wäre sie vor der Schwüle eines Augustnachmittages entschlafen, und plötzlich erklängen ihr gelle unerhörte Laute, wie sie einen dann gerne aus dem Schlummer schrecken. Immer wilder schwollen sie an, immer häufiger folgten sie einander. Nun noch einer; wie wenn in schwerster Nacht die überspannte Saite einer Geige plötzlich und heftig springt. Dann schwieg der Totensänger, sehr blaß, erschöpft, sonder Atem.
Totenstille. Nur in den Zweigen war ein mächtiges Ächzen. Und in jähem Zorne trat Adriana auf ihn zu: »Gaukler! Gerufen hast Du nun. Wo bleibt der, dem Dein Schreien galt? Die Staupe für Dich, die Staupe!«
Er atmete tief auf, rieb sich die Augen. Dann, als wär' er kaum selber aus einem 136 schlimmen Traume erwacht und noch halb entrückt, nahm er sein Thun wieder auf, warf wiederum seine Zauberkräuter ins Becken, darin es nur noch gloste, und sprach: »Das war der erste Spruch, Frau Gräfin Adriana. Er galt denen, die Gott nach seinen Schlüssen und in seiner Weisheit zu sich genommen.«
Wieder stand sie in ihrem Winkelchen und wieder hub er seine Weise an. Immer stärker, furchtbarer, jäher kamen die Mißlaute und betäubten ihr Ohr und Seele. In allen seinen Gliedern zuckte leidenschaftliche Erregung: es dröhnte, wetterte, schrillte. Und wieder schwieg er und wieder, aber leise, ganz leise, aus ihrer Ecke heraus, erklang ihm das Rufen Adrianas: »Und nun? Welche neue, frechere Ausflucht hast Du, Mann der Lügen?«
Er kehrte sich nicht einmal um nach ihr. Nur in die Asche hauchte er und blies sie fort, um noch zur wenigen Glut zu gelangen, die etwa im Grunde schlafen konnte. Und vollkommen ohne Ton, während er sich selber nur wie sehr mit Mühe aufrecht erhielt, kam ihr die Antwort: »Dies war der zweite Spruch. Ihn hören nur die, so durch eigene Hand geendigt.« Wie blaß sie aber war und wie sie bebte, dies verbarg ihm die tiefe Finsternis um sie beide. . . .
137 Ein unerhörter Aufschrei. Ein noch grauenvollerer, der ihm folgte. Eine Fensterscheibe klirrte. Ein dumpfer Fall. Das letzte Fünkchen in der Rauchpfanne war erloschen; nur noch der scharfe und herbwürzige Duft verzuckte schwälend im Gemach. Fahl, beklommen und zu voller Höhe aufgerichtet stand der Totensänger. Unten im Hofe aber parierte der junge Graf sein Roß vor der Leiche Adrianas. Er sprang vom Pferde, bog sein Knie und über seine zuckenden Lippen kam die eine kurze, leidenvolle Totenklage: »Arme Adrienne! Arme Adrienne!«