Theodor Däubler
Der Marmorbruch
Theodor Däubler

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Theodor Däubler

Der Marmorbruch

Was war das für ein seltsamer, dichter Staub, der die Pinienstämme im Wald von Migliarino versilberte, als schiene der Mond? Wie ein metallisch glänzender Strom schlängelte sich die Straße durch die Sommernacht, und wenn ein Auto darauf vorüberglitt, brachen schwere, durchleuchtete Wolken flatternde Brandbänder ins Gebüsch und übersamteten mit ihren winzigen glitzernden Kristallen Pinienwedel und Brombeerhecken.

Mario Marin hielt sein Auto an; der Staub hatte die Scheinwerfer verschleiert und ihnen den klaren Blick genommen. Er stieg aus, putzte das Glas und wollte gerade wieder ans Steuerrad zurückkehren, als er im Licht seines Reflektors eine Gestalt erkannte, die stille zwischen den Stämmen stand. Geblendet schloß der Wanderer die Augen. Sein Gesicht zog sich in hundert Falten zusammen wie eine dicke Schnecke, die sich verscheucht in ihr Gehäuse zwängt; die vielen Runzeln seiner rostbraunen Haut drängten sich um die fleischige Nase, die fuchsigen Augenbrauen schlängelten sich unter dem ebenfalls roten Haarbusch hervor, der ihm tief in die Stirne hing, und die schwere, borstige Oberlippe klemmte sich krampfhaft unter das Nasenbein.

Als der Rotkopf seine kleinen, beweglichen Augen öffnete, erkannte ihn Mario sofort. Es war Lucidus Meccherini aus Marina Bassa.

»Sie wissen wohl nicht mehr, wer ich bin?« rief er dem nächtlichen Wanderer zu. Es fiel ihm auf, daß Lucidus heftig zusammenschrak.

»Erinnern Sie sich an den Obersten Marin?« Er nickte.

»Ich bin Mario, sein Sohn.«

Und Lucidus zeigte sich plötzlich beruhigt, trat näher, schüttelte Mario die Hand und schwätzte mit sichtlichem Wohlbehagen: »Sie sind Mario? Der kleine Mario! Gott, wie groß Sie geworden sind! Mit einem Male ein stattlicher junger Mann. Oder vielleicht doch nicht so rasch? Denn zehn Jahre sind gewiß vergangen, seit ich Sie zum letzten Mal gesehen habe. Denken Sie, zehn Jahre!«

»Und damals mag ich höchstens fünfzehn gewesen sein.«

»Ihr eigener Wagen?« fragte Lucidus, der das Auto neu gierig betrachtet hatte.

»Ja. Seit kurzer Zeit.«

»Also weit gebracht? Nicht wahr? Und was treiben Sie jetzt?«

»Ich wohne in Mailand. Bin Redakteur beim ›Secolo‹. Und wie geht es Ihnen?«

»Wie man's nimmt«, sagte Lucidus. Er schien Sorgen zu haben.

»Aber erzählen Sie mir lieber, was Sie in unsere Gegend treibt.«

»Wenn man seine Jugendsommer in Marina verbracht hat, dann kann einem wohl die Lust ankommen, den alten, lieben Ort einmal wiederzusehen. Ich habe seit gestern Ferien, und da bin ich heute von Mailand heruntergefahren. Denken Sie, nicht eine einzige Panne!«

»Und jetzt?«

»Nur der Staub. Euer dicker weißer Marmorstaub. Er hatte mir die Scheinwerfer vollkommen zugedeckt.«

»Es sind in letzter Zeit besonders viele Marmortransporte von Carrara gegen Pisa zugerollt. Seitdem sind die Straße entsetzlich.«

»Und da wandern Sie so munter durch die Nacht, alter Abenteurer? Wollen Sie mich nicht ein Stück begleiten?

Lucidus stieg ein. So fuhren sie langsam durch den W und Lucidus erzählte. Mario erfuhr nun, daß Marina Bass schon lange nicht mehr der stille, bescheidene Ort aus der Zeit seiner Kindheit war. Neue Hotels und Villen waren baut worden; das eleganteste Publikum von Rom, Mailand und Turin traf sich auf diesem kleinen Stück tyrrhenischen Strandes.

»Sehn Sie«, erklärte Lucidus, »auch unsere Familie hatte ihren Vorteil davon. In den zehn Jahren, in denen Tante Iphigenie krank darniederlag und in Mailand lebte, hab ich ihr alljährlich ein schönes Stück Geld durch das Vermieten ihres Häuschens verdient. Allerdings ist sie in diesem Sommer zurückgekommen.«

»Und hat ihre Schriftstellerei gewiß gleich wieder aufgenommen? « fragte Mario.

»Selbstverständlich.«

»Das wird Sie aber freuen!«

Lucidus schwieg. Nach einer Weile meinte er: »Nun aber müssen wir uns wieder mit dem verfluchten Marmorbruch herumschlagen. Ich hatte in all den Jahren das Gut meine Tante zu verwalten. Und das Häuschen hat mir Freude gemacht. Aber der Marmorbruch! Die Wege ins Gebirge! Der Ärger mit den Bergleuten! Und die schlechen Geschäfte. Überall Kunststein. Nichts wie Kunststein. W ich nicht ein so treuer Verwalter des mir anvertrauten Gut wäre – ich hätte den Bruch längst verkauft. Aber Iphigen hängt an ›ihrem Bergwerk‹. Sie erzählt aller Welt, daß die Dichterin, durch ihn auch das Material in Händen halte« aus dem die Plastiker, ein Donatello, ein Michelangelo, ihre Werke schufen. Und das befriedigte sie. Aber wissen Sie Herr Marin, etwas anderes als Nachttisch- und Kommodenplatten hat ihr Bruch niemals produziert.«

An einer Straßenkreuzung ließ er Mario halten.

»Hier zweigt der Weg nach Carrara ab«, sagte er. »Das ist kein Spaß, diese nächtlichen Wege in die Berge hinauf. Aber wenn die Sonne erst einmal brennt, dann fällt mir das Gehen zu schwer, und man stirbt vor Durst. Denn zu einem Auto hab ich's leider noch nicht gebracht.«

Lucidus grüßte und verschwand in der Dunkelheit.

Bald darauf traf Mario in Marina Bassa ein. Ermüdet von der langen Fahrt, stieg er in der ersten besten Pension ab, die er sah, und legte sich sofort schlafen.

Lucidus Meccherini hatte es im Grunde gar nicht eilig: sein Weg führte nicht in die Berge. Aber er hatte Durst gespürt und sich daran erinnert, daß in der Nähe jener Straßenkreuzung auch um diese Zeit noch eine Wegschenke offenstand.

Er kehrte ein, und innerhalb kurzer Zeit war er angetrunken. Dann machte er sich auf den Weg, legte sich bald irgendwo auf den Rain an der Chaussee nieder und schlummerte. Bis der Morgenwind im Schilf des Straßengrabens rasselte, bis das rosafarbene Licht der Frühsonne von den hohen Marmorgipfeln niedergestiegen war und sich im Laub dieser Sumpfebene zwischen Meer und Bergen vergoldet hatte; bis die ersten weißen Ochsenpaare mit ihrer Ladung von quadratischen Blöcken aus Staubwolken heranwalzten.

Da stand Lucidus auf, zündete sich eine schwarze toskanische Zigarre an und schlenderte auf Carrara zu.

Die helle, saubere Stadt, in der alle Schwellen und Gesimse und selbst das Straßenpflaster aus weißem Marmor sind, blitzte und blinkte wie ein gut eingerichtetes Badezimmer. Und der staubige, übernächtige Kerl, der da über den Bürgersteig trottete, fiel den Passanten unangenehm auf.

Lucidus Meccherini klopfte an ein großes Portal. Ein Bedienter in weißer Jacke öffnete ihm, und er trat in einen weiten Säulenhof, dessen lichte Gänge so zart und rosig leuchteten wie die Monatsrosen in ihrer Mitte. Als eine zitternde Blume breitete sich ein Springbrünnlein darin aus und spiegelte in seinem Wasser die morgendliche Farbe der Bogen und der Blumen. Der Diener sah Lucidus mißtrauisch an; »Sie wünschen, Herr?«

»Den Grafen Calzego.«

»Der Herr Graf schläft.«

»Ich warte gerne.«

»Der Herr Graf empfängt erst gegen Mittag.«

»Sagen Sie dem Grafen«, erwiderte Lucidus bestimmt, »daß ich gekommen bin, um ihm von einer Marmorart zu sprechen, von der er gewiß noch niemals gehört hat.«

Darauf bat ihn der Diener, auf einer der Bänke des Hofes Platz zu nehmen, und verschwand sofort.

Carlo Graf Calzego di Monte Minuto war einer der reichsten Grubenbesitzer im carrarischen Marmorgebiet. So reich, daß er sich nur noch wenig um den Bergwerksbetrieb kümmerte und sich ganz seiner einzigen, großen Liebhaberei widmete: dem Sammeln von Marmorproben. In einem eigens dafür eingerichteten Saal seines Palazzo bewahrte er eine Kollektion von mehreren tausend Täfelchen, Kuben, Kugeln und Pyramiden, die aus den verschiedensten Marmorarten der ganzen Welt gefertigt waren. Er behauptete, daß seine Sammlung vollständig sei – mit Ausnahme gewisser neuseeländischer Gesteinsarten, deren er noch nicht habhaft geworden war.

Auf die Nachricht hin, die ihm sein Diener brachte, erschien er binnen weniger Minuten im Hof. Im Eifer schlürfte er mit krummen Beinen so rasch durch die Bogengänge, daß er fast über seinen grünen geblümten Morgenrock gestolpert wäre und daß seine vornehm geschwungene, aber viel zu große Nase beinahe den Klemmer abgeschüttelt hätte, den sie zu tragen bestimmt war.

»Um was handelt es sich?« fragte er aufgeregt. »Um einen neuen Marmor«, erwiderte Lucidus. »Aus Neuseeland?«

Lucidus Meccherini lachte. »Aber nein, Herr Graf! Nicht aus Neuseeland. Auch nicht sonst aus irgendeinem fernen Erdteil. Aus unseren guten, lieben, reichen carrarischen Bergen.«

Der Graf wurde blaß vor Enttäuschung.

»Und das wagen Sie mir zu sagen!« schrie er. »Wo ich alle Winkel dieses Gebirges kenne. Wo ich seit Jahr und Tag jeden Stein dieser Täler und Höhen umgewendet, beklopft und untersucht habe. Sie sind ein Scharlatan, mein Herr!«

Lucidus zeigte sich keineswegs beleidigt, ließ sich auch nicht aus der Fassung bringen, sondern bestand auf seiner Behauptung.

»Und wo sollte der Marmor zu finden sein?« rief der Graf empört.

»In meinem eigenen Bruch«, erwiderte Lucidus, »im Bruch ›Iphigenie Meccherini‹.«

»Kenne ich«, sagte Calzego, »Machiato zweiter und dritter Qualität und ein wenig blasser Pavonazzo.«

»Und Rosso lucido«, erwiderte Meccherini. »Ich weiß, Herr Graf, daß Sie alle Marmorarten der Welt und alle Brüche unseres Gebirges kennen, aber meinen Rosso lucido kennen Sie nicht.«

Calzego verstummte. Mit äußerster Spannung hörte er Lucidus' Erzählung vom geheimnisvollen Gesteine an. Alte Bergarbeiter, so berichtete der, hätten ihm des öfteren zugeraunt, daß ein wunderbarer Marmor im Bruch seiner Tante verborgen liege: ein roter, blutroter Marmor von ungewöhnlichem Glanz. Seit Jahrzehnten sei der Stein nicht mehr zum Vorschein gekommen, aber man müsse nur tief genug graben, um seiner habhaft zu werden.

»Und das glauben Sie?« fragte der Graf.

»Warum soll ich steinalten Traditionen mißtraun?« meinte Lucidus. »Es ist sehr gut möglich, daß die Leute recht haben. Ich wollte Ihnen heute nur dieses sagen, Herr Graf:

Der Bruch steht zum Verkauf. Wollen Sie der Besitzer des Rosso lucido werden, der Herr über den seltsamsten und seltensten Marmor im ganzen Gebirge?«

»Wenn Sie sich nur nicht irren!« meinte Calzego.

»Was bedeutet für Sie der kleine Bruch?« fuhr Lucidu fort. »Kaufen Sie ihn! Beruht die Erzählung der Bergleute auf Wahrheit, so werden Sie einen neuen Marmor finden; ist sie aber Geschwätz, so ist mein Bruch nicht schlechter als hundert andere auch, die Sie besitzen.«

Der Graf besann sich einen Augenblick.

»Kommen Sie übermorgen wieder«, sagte er. »Kommen Sie bestimmt. Wir wollen sehen, was sich tun läßt.«

Am Morgen nach seiner Ankunft in Marina saß Mario unter der Weinlaube, die das rote Haus der Pension »Sandra« rings umschattete. Die Sonne durchleuchtete die frühsommerlich hellen Blätter und Ranken der Reben und warf Lichtflecken auf den Boden und die weißen Marmortische. Hin und wieder schien der Boden zu zittern – das Laub bewegte sich, denn es war noch nicht wirklich heiß. Noch wehte auch am Morgen ein leichter Wind von den Bergen, und solange der wehte, blieb es im Pensionsgarten still.

Mario war einstweilen der einzige Gast. Frau Salvatori, die Wirtin, hatte ihm den Morgenkaffee ins Freie getragen. Jetzt stand sie hinter dem Küchenfenster, den Blick fest auf den jungen Mann geheftet. Er sah sie nicht. Er las in der Zeitung und rauchte eine Zigarette. Er beschattete sich mit einer Hand die Stirn gegen die tänzelnden Sonnenflecken. Aber sein Haar glaubte Frau Salvatori doch zu erkennen. Und da stand es ja auch deutlich auf dem Meldezettel: Mario Marin. Sie besah sich den Zettel noch einmal, sie blickte wieder zu ihm hinüber. In dem Augenblick trat Sandra, ihre verheiratete Tochter, in die Küche.

»Der erste Gast?« fragte sie lächelnd.

»Und weißt du wer?« antwortete die Mutter. »Mario Marin!«

Sie reichte ihrer Tochter den Schein.

»Ich müßte mich sehr irren«, fuhr die Alte fort, »wenn er's nicht wirklich ist. Es mag zwar zehn Jahre her sein, daß er im Lande war – so lange wie der alte Oberst tot ist. Aber die glänzenden schwarzen Augen hatte er schon damals. Und die breite Stirn. Und die langen Hände.«

»Und die braunen Locken glaube ich auch«, fügte Sandra hinzu. »Ob er mich erkennt?«

»Damals wart ihr beide Kinder. Aber vielleicht – wenn du ihn erinnern willst.«

Sandra legte ihr braunes Wolltuch beiseite, kämmte sich rasch ihr kurzgeschnittenes Haar. Dann ging sie flink durch den Garten und stellte sich plötzlich vor Mario hin. Sie lachte ihn an.

Aber Mario erkannte sie nicht.

»Sie erinnern sich nicht?« fragte Sandra.

Er stand auf, lächelte höflich, versuchte sich zu besinnen, aber die junge Frau schien ihm fremd.

»Ich will Ihnen gestehen, daß ich mich auch nicht erinnert hätte«, sagte sie, »wenn Ihr Name nicht auf dem Meldezettel stünde. Aber so. Ich bin Sandra Salvatori.«

Nun erkannte er sie sofort.

Mario und Sandra waren Spielgefährten gewesen, von ihren allerersten Lebensjahren an. Jedes Jahr, wenn der alte Oberst mit seiner Familie an die See kam und wie immer in der Pension abstieg, die nach der einzigen Tochter ihres inzwischen verstorbenen Besitzers »Pension Sandra« hieß, hatten sich Sandrina und Mariuccio unter beifälligem Lachen und Klatschen der beiden Familien umarmt und geküßt. Dann waren sie einen Sommer hindurch unzertrennlich gewesen. Bis Mario vierzehn Jahre alt war und nicht mehr mit Mädchen spielen wollte. Damals hatte Sandrina geweint. Als der Oberst starb, zog sich die Witwe Mann auf ein Landhaus am Comersee zurück, wo auch ihre Söhne von da an den Sommer verbrachten. Seit jener Zeit waren sich Mario und Sandra nicht mehr begegnet, und nur selten mochten sie aneinander gedacht haben.

Sie kamen nun rasch ins Gespräch. Sandra erinnerte sich, daß Marios Name oft im »Secolo« zu lesen stand, aber es war ihr dabei nie in den Sinn gekommen, an ihren Spielkameraden zu denken.

»Und Sie?« fragte Mario. »Ich sehe an Ihrem Ring, daß Sie verheiratet sind.«

»Ja«, antwortete Sandra trocken.

»Mit wem, wenn ich fragen darf?«

»Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern werden. Vielleicht doch. Ihr Vater hat meinen Mann sehr gut gekannt: Lucidus Meccherini.«

Mario erschrak. So sehr, daß er sich sammeln mußte.

»Wirklich?« sagte er. »Ach! Mit Herrn Meccherini. Ja, ja, ich erinnere mich.« Und nach einer Weile fügte er hinzu:

»Wissen Sie, ich habe Herrn Meccherini nämlich heute nacht im Walde von Migliarino getroffen.«

»Im Walde?« seufzte Sandra. »Nachts im Walde?«

»Er war auf dem Weg in die Steinbrüche«, erklärte Mario.

»Wenn das nur wahr ist! Wenn er nur nicht wieder auf dem Weg in die Schenken war!« Sandra setzte sich. »Wissen Sie, er trinkt. Er säuft. Er spielt. Was weiß ich, was er tut. Und das ist mein Mann!«

Sandra hatte an jenem Tage Zeit genug, Mario die traurige Geschichte ihrer Ehe mit Lucidus zu erzählen. Sie war nun seit drei Jahren verheiratet. Nach dem Tode ihres Vaters war die Pension der Frau Salvatori ein recht schlechtes Geschäft gewesen. Damals hatte Lucidus um sie angehalten. Seine Tante Iphigenie, die alte Schriftstellerin, deren Haus und deren Marmorbruch Lucidus verwaltete, lag im Sterben. Der Neffe war der einzige Erbe. Zwar warnten gute Freunde vor dieser Heirat; wer sein eigenes Vermögen verschleudere, so erklärte der Ortspfarrer, der werde Geerbtes noch weniger zusammenhalten. Aber die Mutter schenkte dem vierzigjährigen Mann Vertrauen. »Mit zwanzig Jahren, meine Tochter«, so sagte sie, »braucht man weniger einen Gatten als einen Vater. Lucidus könnte dein Vater sein.«

»Und so ist es!« rief Sandra. »Was sein Alter betrifft, so ist er nur wenige Jahre älter, als mein seliger Vater war; als er starb. Was aber seine Gewohnheiten betrifft, da ist er übler als ein mißratener Sohn.«

Sandra weinte. Und als sie weinte, da erinnerte sie Mario deutlich an die Sandrina aus der Kinderzeit. Damals, als er nicht mehr mit Mädchen spielen wollte und er sie irgendwo im Winkel des Weinberges traf, da hatten ihre Augen die gleiche leuchtende Bernsteinfarbe gehabt, und ihre Haut war blaß und durchsichtig gewesen wie heute.

Lucidus kehrte erste nach vollen drei Tagen und drei Nächten zurück. Mitten in der Dunkelheit klopfte er an das winzige Häuschen, das er mit seiner Frau bewohnte. Als Sandra nicht auf der Stelle öffnete, begann er laut zu fluchen und zu schimpfen, daß die Leute in den Nachbarhäusern aufwachten.

»Warum kommst du nicht gleich?« schrie er seine Frau an. »Ich bin müde!«

Das letzte Wort klang ganz heiser.

»Du bist betrunken«, antwortete Sandra, »und gehörst ins Bett.«

Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war Lucidus schon mitten im Zimmer niedergefallen, ohne sich aber nur im geringsten weh zu tun. Er schlief auf der Stelle ein. Sandra versuchte ihn aufzuheben. Aber er war zu schwer. So legte sie ihm ein Kissen unter den Kopf.

Lucidus schnarchte und prustete, so daß die junge Frau auch im Nebenzimmer keine Ruhe fand. Mehrmals ging sie in den Garten hinaus. Dann aber lief sie wieder plötzlich ins Haus: Der Betrunkene hatte so furchtbare Hustenanfälle bekommen, daß sie zusammenschrak. Minutenlang schüttelte er seinen schweren Körper und schlug mit den stiefeln krachend auf die Fliesen. Oft schrie er im Traum oder röchelte rauh.

Kurz bevor es Tag wurde, hoffte Sandra einzuschlafen. Aber beim ersten Morgenstrahl erwachte ihr Mann.

»Na und?« sagte er. »Wo bist du?«

»Du hast einen solchen Lärm gemacht, daß ich kein Auge hab schließen können.«

»Beschwer dich bei deiner Mutter, die uns kein größeres Haus als das da mieten will! Beschwer dich bei Iphigenie, die nicht stirbt. Aber nicht bei mir. Wo soll ich was Besseres hernehmen?«

Er stand plötzlich auf; sein Gesicht entfärbte sich vollkommen bei dieser Anstrengung, und er mußte sich setzen. »Und wenn ich noch soviel Geld haben sollte«, sagte er, »ein Haus kaufe ich nicht.«

»Wann wirst du wohl Geld haben!« rief Sandra. »Freitag, nachmittags um fünf Uhr«, erwiderte Lucidus mit Bestimmtheit und drehte die Augen ganz schräg herum, um seine Frau zu sehen. Aber Sandra schwieg.

»Freitag, nachmittags um fünf Uhr. Der Bruch wird verkauft.«

»Was?«

»Ich verkaufe den Bruch.« »Der dir gar nicht gehört!«

»Ja.«

»Also bist du soweit?«

»Aber mein liebes, süßes Kind«, sagte Lucidus, »was soll ich allerärmster Hund denn eigentlich tun? Wenn Iphigenie entdeckt, daß wir eine Hypothek auf ihr Häuschen genommen haben, dann enterbt sie uns.«

»Sicher.«

»Und was dann? Die Hypothek muß zurückgezahlt werden. Sofort. Und deswegen muß ich den Bruch verkaufen. Sofort. Solange ich noch die Vollmacht in Händen habe.«

»Wenn nun aber Iphigenie ihren Bruch einmal aufsuchen will? Wenn das alles einmal herauskommt?«

»Unmöglich!« schrie Lucidus. »Die Wege sind furchtbar! Sie ist zu alt, zu kränklich. Sie käme nicht lebend heim aus den Bergen.«

»Ob sie das Märchen, das du ihr da erzählst, immer glauben wird?«

Beide schwiegen eine Weile. Dann berichtete Lucidus von seinem Besuch bei Carlo Calzego. Als er den Grafen zum zweiten Mal aufsuchte, wollte dieser den Bruch auf der Stelle sehen. Aber Lucidus wußte das zu verhindern: es war ein Wochentag gewesen, und Calzego hätte sich durch Herumfragen bei den Leuten leicht davon überzeugen können, daß kein Mensch im Gebirge etwas von dem geheimnisvollen Marmor gehört hatte. Lucidus schlug also den kommenden Sonntag vor. Doch der Graf verlangte das Bergwerk in Betrieb zu sehen. Zu seinem Vorteil aber wußte Lucidus, daß die Bergarbeiter am darauffolgenden Freitag nicht arbeiten wollten, da in einem benachbarten Bergwerk das Totenamt für einen verunglückten Kameraden gelesen wurde. Deswegen hatte er mit dem Grafen vereinbart, den Bruch gerade an diesem Tage zu besichtigen. »Aber damit ist's leider noch nicht getan«, fügte er hinzu. »Wenn Calzego nicht an den neuen Marmor glaubt, dann kauft er nicht. Und vor allem nicht gleich. Daß der Bruch außer dem Zaubermarmor auch sonst ganz guten Stein enthält, das bedeutet ihm gar nichts. Deswegen habe ich mir einen Mordsspaß ausgedacht. Du kommst am Freitag mit in die Berge!«

Sandra, die der Erzählung ihres Mannes schweigend zugehört hatte, fragte hart: »Und wozu?«

Er lachte verlegen. »Als Zeugin natürlich. Du wirst als Bergbäuerin angezogen, als Arbeiterfrau. Du kommst, wenn ich mit Calzego verhandle, plötzlich des Weges. Ich spreche dich an. Und dann wirst du es sein, die die Geschichte vom Wundermarmor erzählt.«

Sandra weigerte sich. Lucidus bat. Sie erklärte ihm deutlich, daß das gemeiner, betrügerischer Diebstahl sei, mit dem sie selbst nichts.zu tun haben wolle.

»Ich will nicht im Gefängnis enden wie du!« schrie sie.

Da wechselte Lucidus' Stimmung sofort. Und er schlug sie. Schlug Sandra so lange, bis sie ihm versprochen hatte, ihn in die Berge zu begleiten.

Inzwischen war es heller Tag geworden. Lucidus, der leichenblaß erschien, schlief wieder ein. Die junge Frau aber ging aus. Sollte sie der Mutter alles erzählen? Oder Iphigenie? Oder Mario? Dann schlug sie Lucidus tot. Oder er kam ins Gefängnis. Durfte man eigentlich seinen eigenen Mann ins Gefängnis bringen?

Als Sandra den Garten der Pension betrat, die ihren Namen trug, fand sie noch alle Fenster des Hauses geschlossen. Sie streifte durch den Weinberg. Hinter dem Weinberg lag ein kleines Piniengebüsch, in das sie einbog.

Plötzlich sah sie sich Mario gegenüber, der auf einem Morgenspaziergang war.

»So früh?« fragte Mario. Er sah ihre Augen an. »Sie haben geweint?«

»Mein Mann war wieder furchtbar betrunken, und er hat mich geschlagen«, erwiderte Sandra.

Mario fragte, was geschehen sei. Aber sie antwortete nicht. Die Ehe, das wußte Sandra, ist ein Gesetz wie irgendein anderes auch. Ein Gesetz, das man nicht übertreten darf. Und zu den Bestimmungen dieses Gesetzes gehört die Schweigsamkeit.

Hatte sie nicht schon zuviel erzählt? Sie lenkte ab: »Wie warm die Sonne scheint. Wissen Sie, daß ich mich schon wieder wohler fühle?«

Sie setzten sich, und Sandra schwieg, denn sie war wirklich zu müde zum Sprechen. Der Rücken tat ihr weh, und sie dachte eigentlich an gar nichts. Als ihr Mario den Arm um die Schulter legte und sie an sich heranzog, lehnte sie sich ruhig an ihn. Bis er ihr einmal über die Haare streichelte.

Da stand Sandra rasch auf und sagte: »Sie vergessen, Mario, daß wir keine Kinder mehr sind.«

»Leider«, antwortete er.

Aber sie sah ihn traurig an und ging.

Mario schlenderte am Strand entlang und dachte an Sandra. Sandra ist seltsam, dachte er, Sandra ist hübsch. Warum ist sie diesem Grobian und Saufbold treu? Wird sie ihm immer treu bleiben? Das Meer war still und muschelblaß und klatschte ganz zart auf den Sand. Die Krabben hatten es furchtbar eilig, rückwärts in ihre kleinen Sandkrater zu kriechen, aber die Segler, die es vielleicht auch eilig hatten, lagen still. Auf den Strandmasten wurden Fahnen aufgezogen, doch sie wollten nicht flattern. Ein Schwimmer lag auf dem Rücken im Wasser und trieb mit der Strömung die Küste entlang.

Es war vollkommener Sommer. Warum trug Sandra noch ein dunkles Kleid? Auch gestern hatte er sie nicht am Strand gesehen, hatte allein gebadet. Wie hübsch mußte Sandra im Wasser sein! Aber sie lachte nicht mehr.

Plötzlich stand Mario vor einem winzigen Gärtchen, vor einem schmalen, hohen Häuschen, das eine riesige Steineiche umschattete. Und davor ging eine große schwere Frau mit schneeweißen Haaren auf und ab: die Schriftstellerin Iphigenie Meccherini. Mario grüßte. Sie erkannte ihn nicht sogleich, aber als er sich vorgestellt hatte, nahm sie ihn mit größter Freundlichkeit auf.

»Prachtvoll dieser Morgen«, sagte sie. »Nicht wahr? Wie geschaffen, um meinen Homer zu repetieren und meinen Sprudel zu trinken!«

»Ihren Sprudel?« fragte Mario.

»Ach so«, erwiderte sie, »das wissen Sie natürlich noch nicht. Sehen Sie dort den Quell?«

Mario sah eine kleine verrostete Pumpe.

»Mein guter Lucidus hat diesen Brunnen in den glühenden Sand gebohrt. Und denken Sie, welche Überraschung: ein Wasser quillt hervor, das einen leicht mineralischen Beigeschmack hat und gewiß segensreiche Heilkraft.«

Sie beugte sich über die eiserne Pumpe und pumpte so heftig, daß ihr riesiger Strohhut mit den lang herabhängenden weißen Tüllbändern naß wurde. Dann reichte sie Mario ein Glas Wasser.

Er fand, daß es ganz einfach nach dem Rost schmecke, der sich im Rohr angesetzt hatte. Aber er behielt das für sich.

Iphigenie führte ihn nun durch den Garten, der aus einer großen Sanddüne und aus ein paar spärlichen Büschen bestand.

»Sehen Sie, mein Lieber«, sagte die alte Schriftstellerin, »das ist mein liebes Arkadien. Dort wächst der ruhmreiche Lorbeer im Schatten des segenspendenden Ölbaums. Dort blühen Aloe und Agave, die sinnlich-üppigen Gewächse des Südens, am südlichen Hang. Und vor dem Hause die neue Freitreppe, das ist das Symbol des steilen Weges, der zur Kunst führt. Sie mahnt mich täglich zum Höchsten – mit ihren leuchtenden Stufen aus echt carrarischem Marmor. Aus meinem Marmor!« Sie schritten das Treppchen hinauf in Iphigeniens Häuschen, dessen winzige Diele über und über mit griechischen und lateinischen Inschriften ausgemalt war. Mario erzählte der Alten von seiner nächtlichen Begegnung mit Lucidus.

»Der Gute!« rief Iphigenie begeistert. »Nachts. Zu Fuß. Allein auf der Landstraße. Da erkenn ich das Blut der Meccherini wieder! Und ihre grenzenlose Güte. Wissen Sie, daß ich Lucidus während der langen Zeit meiner Krankheit zum Verwalter meines Eigentums ernannt hatte? Er hat sich aufgeopfert für das ihm anvertraute Gut! Mit eigenen Händen hat er mir die marmorne Freitreppe gebaut. Aus meinem Marmor! Sie wissen nicht, mein lieber junger Freund, wie mich die Sehnsucht packt, wenn ich diese leuchtenden Kristalle sehe. Die Sehnsucht nach jenen strahlenden Höhen, wo sie gebrochen werden, nach der grenzenlosen, großartigen Klarheit der carrarischen Berge!«

»Haben Sie Ihren Bruch in letzter Zeit einmal aufgesucht?« fragte Mario.

»Leider seit meiner Krankheit nicht mehr. Lucidus sagt, daß die Straßen im Gebirge jetzt furchtbar sind, und ich bin auch nicht mehr ganz so rüstig wie ehemals. Aber der Tag wird kommen, wo mein Herz wieder den marmornen Höhen entgegenschlägt.« Iphigenie Meccherini erhob sich zu weiterem Gedankenflug. Sie wurde durch den Besuch Sandras unterbrochen, die plötzlich im Garten erschien. Die junge Frau sah ernst und traurig aus. Tante Iphigenie grüßte kurz, musterte Sandra scharf. »Du kommst zum Morgenbad? Nicht wahr? Geh hinauf und zieh dir dein Schwimmkleid an.«

Sandra verschwand.

»Sie kennen sie schon?« fragte Iphigenie. »Ein guter Kerl, aber leider ein melancholisches Temperament. Lucidus hat es oft schwer mit ihr.«

Die Alte ging ebenfalls, um sich für das Bad umzuziehn, nachdem sie Mario eine Badehose und ein Handtuch gebracht hatte. Sie kehrte kurz darauf am Arm Sandras zurück: über der Schulter ein meerblaues Peplon mit weißem Mäander, unter dem eine geplusterte Anstandshose mit großen Wellenrüschen hervorschaute.

Alle drei stiegen ins Wasser.

»Poseidon ruft seine Kinder!« exklamierte Iphigenie. »Laßt uns tummeln und flink wie die Rosse des Meeresbeherrschers...« Das Weitere hörten Sandra und Mario nicht, denn sie schwammen rasch dem offenen Meere zu und hatten bald klatschend und plantschend ein wirbelndes Bugwasser zwischen sich und die Tante gebracht.

Es war tiefe Nacht über dem Gebirge, als Lucidus und seine Frau die Grube »Iphigenie Meccherini« erreichten.

Der Mond wagte sich vorsichtig über die Gipfel – zierlich legte sich die Silbersichel um ein Zinnenstück. Die Flanken der Berge aber blieben schwarz. Nur dort, wo der Marmor anstand und die Brüche wie offene Wunden des Felsens bluteten, brachte das aufgehende Gestirn all die tausend Silberkristalle des Steins zu zartem Leuchten.

Und wie es höher und höher stieg, leuchteten die Bergwerke auf; tief in das lebendige Gestein geschnittene Kammern und Gänge, Säulenhallen und Tempelfronten, die die Arbeit gefügt hatte, leuchteten von einem geheimen, inneren Licht, das aus der Tiefe der Erde zu kommen schien, das zugleich Felsfeuchtigkeit und Erdfeuer sein konnte und doch nichts anderes als Mondsichellicht in Marmorkristallen war.

Lucidus fürchtete sich vor diesem Zauber, und kaum hatten die beiden einen der steinernen Säle betreten, so zündete er rasch Licht an.

»Zieh dich aus«, sagte er zu Sandra, »wir wollen anprobieren.«

»Ich bin müde«, antwortete die junge Frau, »und es ist noch lange Zeit, bis dein Käufer kommt.«

Aber Lucidus war ungeduldig und befahl, daß Sandra sich schleunigst umkleide. Solange es Nacht war. Er kramte aus seinem Mantelsack einen schwärzlichen Rock und eine graue Bluse hervor, dazu ein Kopftuch aus gelbem Kattun, und warf das alte, fadenscheinige Zeug über einen Marmorblock. Dann zog er eine Korbflasche mit Wein aus dem gleichen Sack und ging an den Eingang der Höhle, wo er sich's auf einigen dort liegenden Brettern bequem machte und zu trinken begann.

Mit Widerwillen zog Sandra diese Lumpen an, von denen sie nicht einmal wußte, wer sie vor ihr getragen hatte, legte ihre eigenen Kleider sorgfältig zusammen und verbarg sie in einem Winkel. Dann trat sie vor die Felsen und blickte in das finstere Tal hinab, das sich zu ihren Füßen in der Gebirgsnacht verlor.

Sandra war fromm. Für sie waren die Gesetze der Menschen und die Gesetze Gottes ein und dasselbe. Ob diese Gesetze zu Recht oder Unrecht bestanden, danach hatte sie niemals gefragt: sie hatte sie als eine Selbstverständlichkeit hingenommen wie Sommer und Winter, wie Tag und Nacht. Wie schön konnten diese Berge am hellen Tag sein! Wie grausig schienen sie in dieser Nacht, da der Mond nach raschem Vorüberwandeln schon wieder versunken war und Finsternis rings die gewaltigen Felsmassen ergriff. Aber die Berge waren Berge auch in der Nacht: auch die Schatten, die über das Leben der Menschen fallen, waren Gesetze. Und so war für Sandra auch Lucidus, der Mann, den ihr die Mutter gegeben hatte, ein Gesetz. Kein Mensch konnte sie von seiner Härte befreien.

Auch Mario nicht.

So und nicht anders dachte Sandra.

Die Sonne rollte mit königlichem Licht über die schneeweißen Marmorhalden heran, die Wälder aus grünen Kastanien begannen zu leuchten, die Täler dampften, das Meer blitzte auf. Stimmen tönten im Gestein: kleine Vögel fielen nieder, flatterten über Bergstürzen. Menschenrufe klangen von Felswand zu Felswand. Lucidus schlief. Er hatte den Arm über den Kopf geschoben, um sich vor der Morgensonne zu schützen.

Als Sandra das Aufschlagen von Hufen im Marmor vernahm, weckte sie ihren Mann und versteckte sich. Kurz darauf sah sie zwei Reiter, den Grafen Carlo Calzego und seinen Diener, die im Bruch einritten. Lucidus verbeugte sich tief, hielt dem Grafen den Bügel und half ihm vom Maultier.

»Und die Arbeiter?« fragte Calzego. »Ich wollte das Bergwerk in Tätigkeit sehen.«

»Ein Unglück, Herr Graf!« rief Lucidus. »In einem benachbarten Bruch ist ein Mann gestorben, und meine Leute sind zu seinem Totenamt gegangen. Ich wollte Sie benachrichtigen. Ich wollte nach Carrara kommen. Aber es war zu spät.«

Calzego runzelte die Stirn und schwieg.

Er durchschritt nun das Bergwerk nach allen Richtungen, betastete sorgfältig das Gestein, schlug mit einem kleinen Hämmerchen gegen den Felsen. Aufmerksam durchkramte er den Abfall, Stück für Stück. Er ließ sich Wasser geben, spülte einzelne Steinbrocken darin, hielt sie gegen das Licht. Andere zerschlug ,er und untersuchte die Bruchflächen mit einer Vergrößerungslinse. Schließlich trat er auf einen Felsvorsprung und besichtigte die Lage des Ganzen.

»Ihr Bruch«, sagte er endlich, »ist einer der allergewöhnlichsten im ganzen carrarischen Gebiet. Eine gemeine, immer wiederkehrende Formation. Nichts, aber auch gar nichts Besonderes. Ich glaube nicht an Ihren roten Marmor.«

»Wie Sie meinen, Herr Graf«, erwiderte Lucidus. »Aber die Leute ...«

In diesem Augenblick trat Sandra hervor.

Ihre schwarzen Haare und ihre dunklen Augen leuchteten unter dem gelben Kopftuch, über ihrer hellen, durchsichtigen Haut, in der die Schatten der durchwachten Nacht standen.

Lucidus beobachtete seine Frau aufmerksam.

Sandra näherte sich schüchtern, und als ihr der Graf freundlich zunickte, erwiderte sie kaum.

»Sie suchen Ihren Mann?« sagte Lucidus.

Sandra bejahte.

»Wissen Sie nicht, daß heute im Nachbarwerk Totenamt gelesen wird?«

»Ich hatte es ganz vergessen«, antwortete seine Frau.

»Aber Sie kommen uns gerade recht«, fuhr Lucidus fort. »Denn der Herr Graf, den Sie hier bei mir sehen, ist der ungläubigste Thomas von der Welt. Er will nicht einmal an sein eigenes Glück glauben!«

Sandra schwieg noch immer. Ihr Mann aber bewegte drohend seine fuchsigen Brauen, unter denen kurz darauf ein falsches Lachen aufzuckte.

»Sehen Sie, Herr Graf, wie schüchtern unser Bergvolk ist. Die Anwesenheit von zwei Herren aus dem Tal genügt, damit sie die Sprache verlieren. Aber versuchen Sie einmal Ihr Glück! Fragen Sie diese Frau, was Sie wissen wollen!«

Calzego begann vorsichtig und langsam ein Verhör, und Sandra antwortete, zögernd und ängstlich, was sie antworten sollte. Dann verabschiedete sie sich rasch.

Kurz darauf waren Lucidus und der Graf handelseinig, und Carlo Calzego di Monte Minuto wurde der Herr des Bergwerkes, das den Namen »Iphigenie Meccherini« trug. Übrigens nicht ohne eine größere Anzahlung, die der Verkäufer erbeten und erhalten hatte.

Nachdem der Graf und sein Diener davongeritten waren, suchte Lucidus seine Frau. Er lachte sie böse an. »Arn Ende hast du also das Lügen doch gelernt!«

»Alle Frauen lernen lügen«, erwiderte Sandra. »Ob man sie's aber wirklich lehren soll?«

Über eine Woche hindurch hatte Mario Sandra nicht gesehen, weder am Strand noch in der Pension noch in der Nähe von Iphigenies Häuschen.

Mario langweilte sich ein wenig in Marina Bassa. Er hätte verreisen können; nichts zwang ihn, in dieser Sommerfrische zu bleiben. Aber er blieb.

Eines Morgens fuhr er nun mit seinem kleinen Auto ins Land hinein, bis an den Fuß der Marmorberge heran. Hier hatte in seiner Kindheit die Fahrstraße aufgehört; beschwerliche Fußpfade und steinige Schleifbahnen, auf denen man den Marmor zu Tal schlitterte, waren die einzigen Zugänge zum Gebirge gewesen. Jetzt führte eine breite Straße ins Innere: durch ein schmales Tal, das große Steinsägewerke mit ihrem Lärm erfüllten, dann aufwärts in weiten Windungen durch dunkle Kastanienwälder, endlich an kahlen Felsen und tiefen Abgründen vorbei bis unter die Marmorgipfel. Dort endete sie überraschend vor einer steilen Wand.

Man überschaute von hier aus einen großen Teil der Bergwerke. Wie strahlende Gletscher glitten die Schotterhalden zu Tal. Silbern leuchtete der Reichtum des Erdinnern.

Mario fragte einen Arbeiter, der des Weges kam, wem alle diese steinernen Schätze gehörten.

»Oh, den verschiedensten Herren«, erwiderte der Mann. Und er nannte eine ganze Reihe von Namen. Zum Schluß aber erklärte er: »Und der kleine Bruch dort, wo der Zickzackweg hinaufführt, zehn Minuten Wegs von hier, der gehört Iphigenie Meccherini. Wissen Sie, die die Romane schreibt.«

Mario machte einen kleinen Spaziergang bis dorthin; es war still in den hohen Marmorsälen; eingerahmt von roh beschnittenen Pilastern aus grünlich geflecktem Stein, öffnete sich der großartige Rundblick über das Tal, das in einer einzigen Flucht diese silbernen Höhen mit der silbernen See verband.

Gegen Abend in Marina Bassa begegnete Mario zufällig Iphigenie Meccherini am Strand.

»Wissen Sie, wo ich war, gnädiges Fräulein?« rief er ihr entgegen. »In Ihrem Bergwerk!«

»Ach, wie reizend von Ihnen!« erwiderte die Alte. »Aber es war gewiß anstrengend.«

»Keineswegs«, antwortete Mario. »Mein kleiner Wagen hat mich bis in die unmittelbare Nähe des Bruchs getragen. Eine prachtvolle Straße. Glatt wie ein Parkett. Von der Stelle, wo die Chaussee aufhört, bis zu Ihrem Bergwerk hat man dann nur noch wenige Minuten zu gehen...«

Iphigenie schwieg.

»Sie werden sich wundern, wie einfach das jetzt ist«, fügte Mario hinzu. »In einer knappen Stunde sind Sie oben. – Wollen Sie mir einmal die Freude machen, mit mir hinaufzufahren?«

»Sehr gerne. Sehr, sehr liebenswürdig«, sagte die Alte langsam und ernst. »Wann wurde es Ihnen passen?«

»Morgen? Übermorgen?«

»Morgen, wenn ich bitten dürfte«, erwiderte Iphigenie.

Man verabredete sich.

»Und es wäre reizend«, sagte Mario, »wenn auch Ihr Neffe und Frau Sandra mit uns kämen. Darf ich sie auffordern?«

Die Alte nickte zustimmend und zog sich rasch zurück.

Sofort nach dem Abendessen ging Mario aus, um Lucidus und Sandra aufzusuchen. Es dämmerte rasch. Unter den großen Schirmpinien, die längs des sandigen Weges standen, verbarg sich schon die Nacht, und ein kühler Bergwind scheuchte die Wärme des Tages hinab zwischen Mäuerchen und Brombeerhecken.

Sandra war allein. Sie ging unruhig in ihrem Gärtchen auf und ab und grüßte ein wenig zerstreut, als ihr Mario die Hand gab. »Ich müßte nun wohl sagen«, meinte er lächelnd, »wie lebhaft ich es bedaure, Ihren Gatten nicht angetroffen zu haben.«

Die junge Frau sah ihn eindringlich an. »Ich erwarte Lucidus zum Abendessen.«

»Und er kommt zu spät?« fragte Mario, noch ein wenig im Scherz.

»Tante Iphigenie hat ihn plötzlich zu sich bitten lassen«, erwiderte Sandra ernst. »Aber ich denke, daß er bald da ist.«

»Wissen Sie, Sandra, warum ich gekommen bin?« fragte Mario. »Um Ihnen Vorwürfe zu machen! Warum sieht man Sie nicht am Strand? Das Meer ist jetzt herrlich: warm und still. Und ich bade immer allein. Als wir Kinder waren, haben Sie mich niemals allein baden lassen.«

»Eben, weil wir Kinder waren.«

»Aber, Sandra, wenn Ihre Tante dabei ist! Auch sie fragt oft nach Ihnen.«

»So?«

»Und besonders morgen wird sie fragen. Morgen müssen Sie unbedingt mit uns kommen! Ihre Tante und ich planen einen Ausflug in die Berge, und dabei dürfen Sie nicht fehlen.«

»Und wohin?«

»Iphigenie will ihre alte Marmorgrube wiedersehen.«

Sandra erschrak. Sie mußte sich gegen einen Baum stützen. Auch Mario schwieg sofort.

Nach einer Weile begann sie zu sprechen: »Sie haben mich noch immer gern, nicht wahr?«

»Gewiß, Sandra.«

»Wie in der Kindheit?«

»Und noch mehr.«

»Dann verhindern Sie um alles in der Welt diese Fahrt in die Berge.«

In dem Augenblick kam Lucidus zurück. Er grüßte kaum, ging rasch ins Haus und trat wenige Minuten später mit einer Reisetasche in den Garten.

»Was tust du?« rief Sandra mit einer Stimme, in der Furcht war.

»Ich verreise.«

»Wohin?«

»Nach Pisa. Um zehn Uhr dreizehn fährt die letzte Straßenbahn. Ich habe gerade noch Zeit genug, um sie zu erreichen.«

»Und du willst nicht einmal zu Abend essen?«

»Nein. Es eilt. Es eilt sehr. Iphigenie will, daß ich schon morgen früh bei unserm Rechtsanwalt bin. Adieu. Adieu, Herr Marin.«

Kaum hatte Lucidus gegrüßt, war er auch schon in der Dunkelheit verschwunden.

Sandra schwieg. Sandra sah auf: der Nachthimmel war hell. Eine schwarze Wolke verrohte überm Meer. Eine Weile sah sie ihr nach. Dann ging sie, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus.

Als sie nach kurzer Zeit wiederkam, hatte sie eine Tasche in der Hand.

»Wir gehen zusammen zurück«, sagte sie zu Mario. »Wenn Lucidus nicht zu Hause ist, dann schlafe ich immer lieber bei meiner Mutter. Ich fürchte mich allein.«

Die beiden gingen ganz langsam dem Dorfe zu. »Aber wissen Sie, Mario, Sie müssen mir den Gefallen tun. Sie müssen den Ausflug absagen. Unter irgendeinem Vorwand und heute abend noch.«

Mario nickte. Er verstand nicht, was Sandra gegen diesen Ausflug hatte, aber er fragte nicht. Wie er so schweigsam neben ihr herging, bemerkte er, daß ihr Schritt heute schwer war und ein wenig unsicher.

Plötzlich, in einem dunklen Weg, zwischen hohen Mauern, stand sie still, faßte sich mit beiden Händen an den Kopf und blickte zur Erde.

»Wie heiß es schon wieder ist«, sagte sie. »Auf einen Augenblick, bei Sonnenuntergang, wird es kühl, aber dann bricht die Wärme nochmals aus dem Boden.«

Sie lehnte sich an ein Mäuerchen.

»Ich gehe so schwer.«

»Ich fürchte, daß Sie sich am Tage zuwenig bewegen«, sagte Mario. »Sie sollten schwimmen.«

»Ja.«

»Rudern und segeln.«

»Ja.«

»Sie sollten sich weniger um Ihren Mann kümmern und mehr um Ihren Spielkameraden.«

Sandra sah ihn mit einem Blick an, den er nicht verstehen konnte und nicht verstand. Aber er deutete ihn sich. So wie er wollte. Vielleicht falsch. Er legte ihr den Arm um die Schultern und küßte sie. Und sie bewegte sich gar nicht.

Im Garten der Pension trennten sie sich dann. Mario ging, um Iphigenie Meccherini aufzusuchen.

Als er vor ihr Häuschen trat, fand er es verschlossen. Er klopfte ein- oder zweimal leise an. Niemand antwortete. Die Alte schläft, dachte er. Dann ging er rings um das Häuschen herum, nach der Seeseite zu, um auszukundschaften, ob noch irgendwo Licht sei.

Im oberen Stock war ein Fenster weit geöffnet. Er sah Iphigenie tief gebückt, emsig schreibend an ihrem Tisch, vor ihr eine große Petroleumlampe, deren helles, goldgelbes Licht auf die große Steineiche vor dem Haus fiel. Sie hob hin und wieder den Kopf, lehnte sich in tiefem Nachdenken zurück, begann dann wieder rasch, fast stürmisch zu arbeiten.

Wer wird da stören? dachte Mario. Morgen früh ist noch Zeit genug, um den Ausflug abzusagen.

Die Aufwartefrau, die Iphigenie Meccherini im Dienst hatte, entdeckte frühmorgens das furchtbare Verbrechen, das an der alten Schriftstellerin verübt worden war. Als sie aus dem Dorf kam, wo sie wohnte, und wie gewöhnlich das Zimmer betrat, in dem ihre Herrin zugleich schlief und arbeitete, fand sie diese wie im Schlaf über ihren Arbeitstisch gebeugt. Ihr Kopf lag unbeweglich auf einem großen Manuskriptbogen, der rechte Arm war weit über die Tischplatte ausgestreckt.

Zuerst glaubte die Frau, daß Iphigenie über ihrer Arbeit eingeschlafen sei. Aber bald erkannte sie, daß die Alte nicht mehr atmete. Sie riß die grünen Holzläden auf, die nur angelehnt waren, und ließ das Licht herein.

Iphigenie hatte eine grausame Schußwunde unterhalb der Schläfe. Neben ihr am Boden lag in tausend Trümmern die Lampe, die ihre letzte Arbeit beschienen hatte.

Die Aufwartefrau wollte Hilfe rufen. Aber sie besann sich. Wer sollte noch helfen? So eilte sie zunächst zu Lucidus' Wohnung und, als sie dort niemand fand, in die Pension, wo sie Sandra vermutete. In wenigen Augenblicken war Sandra bei der Toten. Nachdem auch sie festgestellt hatte, daß es sich um ein Verbrechen handle und daß die Alte durch einen Schuß getötet worden sei, befahl sie der Aufwartefrau, die Polizei zu benachrichtigen.

Sie stiegen beide zusammen die Treppe hinunter.

»Ich erwarte Euch hier vor dem Haus«, sagte Sandra.

Die Sonne war glühendheiß trotz der frühen Stunde. So ging Sandra unter der Steineiche auf und ab, die einen Winkel des Gartens beschattete. Sie war eigentlich unfähig zu denken. Sie richtete ihre Blicke fest auf den Boden, auf ihre Schritte, so als ob sie der Sicherheit ihres Ganges mißtraue. Unentwegt. Plötzlich bemerkte sie im Sand, mitten unter der Steineiche, einen schwarzen glänzenden Gegenstand. Sie sah ihn mehrmals genau an. Sie wandte dann wieder den Blick ab, versuchte einen Schritt zu gehen. Nun war es, als ob der Gegenstand sie ansähe, als ob er sie mit glänzendem schwarzem Blick verfolge. Und sie wandte sich um. Sah ihn nochmals ganz scharf an. Dann hob sie ihn auf. Es war ein Knopf. Es war einer der drei großen schwarzen Knöpfe von Lucidus' Jacke. Gestern früh noch hatte sie einen dieser Knöpfe, der ihr locker schien, befestigt.

Als Sandra Schritte hörte, steckte sie den Knopf sofort in ihre Tasche.

Die Polizei kam. Sie stellte fest, was festzustellen war: daß Iphigenie Meccherini durch einen Schuß in die Schläfe getötet worden, daß der Mörder ins Zimmer gedrungen war und daß er bei seiner Flucht die Petroleumlampe zu Boden gerissen hatte. Dann wurde die Leiche auf ihrem Bette niedergelegt, und man zündete die Totenlichter an.

Im Dorfe richtete sich der Verdacht der Täterschaft gegen Lucidus. Auch Sandra wurde kurz verhört, obwohl ihr niemand die Tat zutraute; es stellte sich dabei sofort heraus, daß sie die Nacht in der Pension verbracht hatte und dort von vielen Personen gesehen worden war. Aber Lucidus, der Grobian, der Spieler und Säufer, der entweder gar kein Geld oder viel zuviel Geld hatte, der mußte der Mörder gewesen sein.

Als er gegen Mittag aus Pisa heimkehrte, wurde er verhaftet. Mario Mann, der ja die letzten Stunden vor dem Verbrechen in Gesellschaft Sandras verbracht und der Abreise ihres Mannes beigewohnt hatte, meldete sich als Zeuge auf der Polizei.

Als er das Zimmer des Karabinierihauptmanns betrat, der die Untersuchung leitete, sah er sich plötzlich Sandra gegenüber. Und Sandra blickte ihn so ernst und traurig an, daß er erschrak. Er verstand die Frage: »Warum haben Sie meine Tante nicht noch am gestrigen Abend aufgesucht? Alles Unglück wäre verhütet worden!«

Mario entlastete Lucidus. Er bestätigte, daß dieser sein Haus zu einer Stunde verlassen hatte, wo er direkt zur Haltestelle der Straßenbahn eilen mußte, wenn er diese überhaupt noch erreichen wollte. Im weiteren Verhör wurde festgestellt, daß, nach dem Gespräch zwischen Mario und Iphigenie am Strand, diese ihre Aufwartefrau ausgeschickt hatte, um Lucidus zu holen. Gegen acht Uhr war er gekommen, gegen neun Uhr gegangen. Auf der Schwelle hatte ihn die Aufwartefrau gesehen, als sie nochmals kurz zu ihrer Herrin zurückkehrte; sie war dann zusammen mit ihm gegangen. Nach der Versicherung mehrerer Zeugen hatte Lucidus tatsächlich die Straßenbahn, die um 10.13 Uhr von Marina nach Pisa fuhr, benützt, auch ließ sich feststellen, wo er in Pisa übernachtet hatte – in einem kleinen Hotel beim Bahnhof – und daß er morgens um acht Uhr, um die Stunde, da in Marina der Mord entdeckt wurde, das Bureau des Familienadvokaten der Meccherini betreten hatte.

Nach dieser Untersuchung wurde Lucidus aus der Haft entlassen. Einen Verdacht, den man für kurze Zeit gegen die Aufwartefrau hegte, ließ man ebenfalls sehr rasch fallen.

Eine gewaltige Erregung hatte dieser Mord an der alten, immer noch recht bekannten Schriftstellerin Iphigenie Meccherini hervorgerufen. Vierundzwanzig Stunden nach der Aufdeckung des Verbrechens wimmelte Marina bereits von Sonderberichterstattern der großen Zeitungen.

So kam es, daß Mario auf der Straße einem Redakteur seines eigenen Blattes, dem Kollegen Placci vom »Secolo«, begegnete. »Sie sind hier, Mann !« rief Placci. »Wir dachten, Sie wären längst an irgendeinem anderen Ende Italiens. Und Sie rühren sich nicht! Sie sind wohl vollkommen zum Fisch geworden, körperlich und geistig? Ein solcher Fall! Erstklassige Sensation! Eine bekannte Schriftstellerin ermordet! Und das in der Zeit, wo sonst nichts los ist. Die Leute sind halb toll. Zwar wollte kein Mensch mehr eine Zeile von der Alten lesen, aber plötzlich erinnert sich alle Welt daran, daß man einmal, in seiner Jugend – na, Sie wissen ja, wie das Publikum ist. Wir drucken schon Extrablätter. Die Frau des Chefs hat aufs tiefste beklagt, daß sie in diesem Jahr nicht nach Marina, sondern nach Levante in die Sommerfrische gegangen ist. Und Sie schweigen sich aus!«

Marinos journalistischer Ehrgeiz erwachte. Er diktierte dem Sonderberichterstatter ein Telegramm, das sofort erschien und sehr sensationell wirkte. Die Überschriften lauteten: »Das grausige Rätsel von Marina – Unser Redakteur Mario Mann als Zeuge im Fall Meccherini vernommen –

Auch er glaubt fest an die Unschuld des Neffen der alten Schriftstellerin«.

Wirklich, auch Mario war fest von Lucidus' Unschuld überzeugt. Wie im übrigen plötzlich alle Welt. So blieb das Rätsel dieses Verbrechens weiter ungelöst. Und es war ein Rätsel! Wie war der Dieb ins Haus gedrungen, dessen Türen und Fenster von innen verschlossen gewesen waren? Auch hatte der Schuß unmöglich von außen durchs Fenster kommen können, denn der Fensterladen, hinter dem man die Tote gefunden hatte, war fest angelehnt gewesen. Er lag viel zu hoch, als daß man ihn von außen hätte schließen können. Dazu kam, daß der Mörder, hätte er von außen geschossen, aus sehr großer Entfernung hätte schießen müssen, da der Tisch nicht unmittelbar hinter dem Fenster stand. Man schloß also diese Hypothese aus und blieb bei der Vermutung, daß sich irgend jemand die Schlüssel zum Hause beschafft hatte oder mit Nachschlüsseln eingedrungen war.

Wenige Stunden, nachdem Mario das Telegramm diktiert hatte, begegnete er Lucidus. Er schüttelte ihm die Hand und sagte voll Teilnahme: »Wie Sie das mitgenommen haben muß! Dieser tragische Tod Ihrer Tante und dann noch die furchtbare Anklage!«

Lucidus nickte nur. Er war angetrunken. Seine Augen ohne bestimmten Ausdruck. Der Kopf schien schief auf den Schultern zu sitzen, und mit den Armen machte er immer wieder weit ausholende Bewegungen, als ob er mit dem Körper etwas sagen wollte, wozu Geist und Mund nicht mehr fähig waren.

»Wer hätte das gedacht«, stotterte er.

»Und immer noch keine Aufklärung«, sagte Mario. »Die Polizei tappt völlig im dunkeln.«

»Die Polizei ist dumm«, erwiderte Lucidus. »Saudumm. Zum Beispiel die Steineiche?«

»Was meinen Sie mit der Steineiche?«

»Ja, ja, die Steineiche. Da steht doch eine große Steineiche vor dem Haus meiner seligen Tante. Nicht wahr? Sehn Sie, die Steineiche hat gewiß eine Rolle bei dem Verbrechen gespielt. Ich bin fest überzeugt, daß der Mörder auf dem Baum gesessen hat. Iphigenie arbeitete am offenen Fenster. Sie arbeitete immer am offenen Fenster, bei einer Petroleumlampe. Erst ein Schuß, der vielleicht tödlich war. Dann ein Schuß in die Lampe, die die Tote beschien. Nicht wahr, die Lampe war zertrümmert?«

»Gewiß«, bestätigte Mario »Aber der angelehnte Fensterladen?«

»Es gibt ja auch Leitern. – Sehn Sie, so muß es gewesen sein. So und nicht anders. – Arme Iphigenie! Trostlos. – Sagen Sie, Herr Marin, wollen Sie vielleicht einen Schoppen mit mir trinken?«

Mario dankte.

Sie trennten sich, und Mario diktierte sofort ein Telegramm an den »Secolo«, das unter folgenden, noch sensationelleren Überschriften erschien: »Der Schuß durchs Fenster – Lucidus Meccherinis Hypothese – Eine tragische Steineiche«.

Mit dem Inhalt dieser Depesche beschäftigte sich die Polizei.

Im Laufe der Nacht wurden zwischen den Behörden von Mailand, wo der »Secolo« erschien, und denen von Marina Bassa mehrere Telegramme gewechselt.

Als Mario am folgenden Morgen im Garten der Pension saß, unter der Laube, wo er Sandra zuerst begegnet war, wurde er plötzlich durch laute Stimmen aufgeschreckt. Er sah Frau Salvatori händeringend am Fenster stehen und hörte, wie sie ein Mal über das andere rief: »Mein Gott! Mein Gott! Wie soll das enden? Was soll aus uns werden?«

Kurz darauf trat Sandra aus dem Haus und kam rasch auf Mario zu.

»Lucidus ist wieder verhaftet worden«, sagte sie leise. »Und wissen Sie, warum? Das letzte Telegramm des ›Secolo‹ hat neuen Verdacht erregt.«

Mario war fassungslos.

»Auf dieses Telegramm hin«, fuhr Sandra fort, »hat die Polizei heute in aller Frühe neue Untersuchungen angestellt. Sie hat in dem Beet, das unterm Fenster entlangläuft, tatsächlich die Eindruckspuren einer Leiter gefunden, die man hier angelehnt hatte. Die Leiter, die zu diesen Spuren paßte, fand sich in einem Schuppen des Gartens. Außerdem ist die Steineiche untersucht worden. Man bemerkte mehrere geknickte Äste und stellte fest, daß die Borke an einigen Punkten abgeschürft ist. Es ist also tatsächlich jemand auf den Baum gestiegen. Auch beweise, so behauptet man jetzt, die Lage der Toten, die Art, wie die Lampe getroffen worden sei, daß der Schuß nur von der Steineiche kommen konnte. Die Polizei fragt sich nun, woher Lucidus das alles habe wissen können.«

»Eine Hypothese also, die sich als richtig erwiesen hat«, erwiderte Mario.

»Aber die Polizei glaubt mehr. Sie beschuldigt ihn abermals.«

»Und Lucidus?«

»Er schweigt einstweilen«, antwortete Sandra. »Aber wenn Sie mir einen großen Gefallen tun wollen, so gehen Sie sofort zum Büro der Karabinieri.«

Mario zögerte keinen Augenblick. Er fand in der Stube des Hauptmanns außer Lucidus noch den Korrespondenten des »Secolo«, den man ebenfalls herbeigeholt hatte.

»Es ist gut, daß Sie kommen, Marin«, sagte dieser. »So werden Sie bestätigen können, daß ich den Inhalt des Telegramms von Ihnen habe.«

»Gewiß«, erwiderte Mario. »Wird das etwa bezweifelt?« »Wenn Sie sich selbst dazu bekennen, nein!« sagte der Hauptmann.

»Herr Meccherini dürfte Ihnen das gleiche gesagt haben«, meinte Mario.

»Herr Meccherini hat sich darüber noch nicht deutlich ausgesprochen«, antwortete der Offizier. »Aber sagen Sie, Herr Marin, von wem haben Sie selbst diese so außerordentlich zutreffenden Schilderungen des Vorgangs in der Mordnacht?«

Mario lachte. »Wenn Sie die Zeitung aufmerksam lesen, so finden Sie die Antwort auf Ihre Frage in der Depesche selbst. Von Herrn Meccherini.«

Lucidus, der scheinbar teilnahmslos dagesessen hatte, erhob sich. »Wissen Sie, Mario Marin, daß Sie ein unverschämter Lügner sind?«

Mario schwieg. Er verstand Lucidus zunächst gar nicht.

»Wissen Sie, daß Sie mich durch diese vollkommen falsche Behauptung ins Zuchthaus bringen können? Weiß der Teufel, wer Ihnen von dem Schuß aus der Steineiche berichtet hat. Ich nicht. Ich gewiß nicht.«

Nun entspann sich ein leidenschaftlicher Wortwechsel zwischen den beiden, dem die Anwesenden aufs gespannteste folgten. Aber da ihr Gespräch keine Zeugen gehabt hatte, konnte keiner von ihnen beweisen, was er behauptete.

»Im übrigen«, erklärte Lucidus, »berufe ich mich auf mein Verhalten in der Mordnacht, das der Polizei genau bekannt ist. Prüfen Sie es noch einmal durch, Herr Hauptmann, vom ersten bis zum letzten Augenblick. Sie werden wiederum bewiesen finden, daß ich die Wahrheit und nur die Wahrheit gesagt habe. Ob man das gleiche auch von Herrn Marin behaupten kann?«

Man untersuchte also zunächst noch einmal auf das sorgfältigste die Angaben des Lucidus Meccherini. Sie stimmten. Weniger klar ließ sich beweisen, was Mario in jener Nacht unternommen hatte. Wenn die so zutreffende Hypothese über den Verlauf des Verbrechens, wie sie in jenem Telegramm des »Secolo« aufgestellt war, nicht von Lucidus, sondern von Mario Mann stammte, so war das Grund genug, um Mario zu verdächtigen. Aber andere Feststellungen belasteten ihn fast noch mehr. Er mußte zugeben, daß er an jenem Abend noch einmal an Iphigeniens Haus geklopft hatte, um den geplanten Autoausflug abzusagen. Warum hatte er diesen wichtigen Punkt bei seiner ersten Aussage übergangen? Er selbst wußte es: Sandra hatte damals ihren Wunsch, er möge den Ausflug in die Berge unter allen Umständen verhindern, in so geheimnisvoller Weise vorgebracht, daß es ihm klug schien, davon zu schweigen. Daraus wurde ihm nun ein Strick gedreht, zumal er auch diesmal eine vollständige Erklärung dafür schuldig blieb, was ihn in so später Abendstunde noch einmal zu der Alten geführt hatte. Ferner ließ sich nicht beweisen, daß er tatsächlich die ganze Nacht, wie er behauptete, in seinem Pensionszimmer verbracht hatte. Es lag zu ebener Erde, und die Möglichkeit bestand, es unbemerkt zu verlassen.

»Nun sagen Sie einmal, Herr Hauptmann«, fragte Mario, »was mich nach Ihrer Meinung zu diesem Mord gebracht haben könnte?«

»Ich weiß es zunächst nicht«, erwiderte der Offizier. »Aber ebensowenig könnte ich diese Frage beantworten, wenn Herr Meccherini angeklagt wäre.«

»Das läge doch immerhin sehr viel näher«, meinte Mario, der sich nun verteidigen mußte. »Herr Meccherini ist mittellos und der natürliche Erbe der Ermordeten.«

»Aber Herr Meccherini hatte gar kein so großes Interesse an dieser Erbschaft«, antwortete der Hauptmann. »Erst vor wenigen Tagen hat er im Auftrag seiner Tante deren Marmorbruch verkauft. Die Verkaufssumme, die bei der hiesigen Bank deponiert wurde, hat sie ihm in jenem Gespräch, unmittelbar vor ihrer Ermordung, für musterhafte Verwaltung ihres Besitzes während der Krankheit geschenkt.«

»Was immerhin nachgeprüft werden müßte«, sagte Mario.

»Ebenso wie Ihr Verhalten in dieser Sache, Herr Marin«, sagte der Hauptmann streng. »Ich bedaure, Sie in Untersuchungshaft nehmen zu müssen.«

Lucidus Meccherini wurde nun zum zweiten Male aus dem Gefängnis entlassen.

Sandra empfing ihren Mann, als er heimkehrte, ohne ein Wort zu sagen. Nachdem er sich die Jacke ausgezogen und den Krägen abgeknöpft hatte, kramte er aus dem Küchenschrank ein Rechenheft hervor und begann darin Zahl an Zahl zu reihen. Er schrieb langsam und ungelenk. Vielleicht eine halbe Stunde mochte vergangen sein, in der er ununterbrochen gerechnet hatte, als er sich umwandte und seine Frau herbeirief.

Sandra kam sofort.

»Die Erbschaft in bar«, sagte er, »beträgt hundertvierundzwanzigtausend Lire. Dazu das Haus.«

»Ob das genügt, um Mario Mann aus dem Gefängnis zu befreien?« fragte Sandra.

Lucidus blieb die Antwort schuldig.

»Ich frage dich, ob das genügt, um Mario zu befreien?« »Dazu genügt nicht einmal eine Million. Nicht zwei Millionen. Glaubst du etwa, daß die Polizei bestechlich ist?«

»Und was willst du dann tun?« »Ich? Nichts.«

»Nichts?«

Sandra trat ganz nahe an ihren Mann heran.

»Soll ich dem Dummkopf etwa aus der Klemme helfen; verfluchtes Journalistenpack! Warum muß er gleich in die Welt hinaustelegraphieren, was er so nebenbei von irgendeinem Menschen hört? Er hat sich die Suppe selbst eingebrockt.«

»Er ist unschuldig!« schrie Sandra, und ihre Stimme überschlug sich dabei.

»Geht mich das was an? Herr Marin, der sich von Berufs wegen so sehr für Verbrecher und Verbrechen interessiert, kann jedenfalls bei diesem Experiment nur lernen.«

Lachend erhob er sich, setzte den harten, braungebrannten Strohhut schief auf seinen roten Schopf, schob sich eine schwarze Zigarre zwischen die Zähne und strolchte zum Garten hinaus.

»Ich gehe nach dem Unsern sehn«, rief er seiner Frau von weitem zu, »und die alte Wohnung kündigen.«

Sandra sah ihm eine Weile nach. Als sie Lucidus entfernt genug glaubte, kleidete sie sich an und ging ebenfalls aus, um ihre Mutter aufzusuchen...

Frau Salvatori empfing sie fröhlich. »Gott sei Lob und Dank, daß alles vorüber ist! Das waren entsetzliche Tage. Wundert mich eigentlich, daß ich noch am Leben bin. Und du, meine arme Sandrina?«

Sandra weinte.

»Aber wer hätte das gedacht!« fuhr die Mutter fort. »Mario Marin! Warum? Wozu? Ob sie recht haben? Ob sie ihn nicht auch entlassen müssen?«

Sandra schluchzte immer lauter. Vergeblich suchte die Mutter zu beruhigen, zu trösten. Sandra war fassungslos.

Später kamen die Abendzeitungen. Darin stand zu lesen, daß der Untersuchungsrichter immer fester von der Schuld Mario Marins überzeugt sei. Der späte Besuch des Redakteurs bei Iphigenie Meccherini bleibe vollkommen rätselhaft. Im übrigen sei der Gefangene aus dem Polizeigefängnis in Marina Bassa nunmehr nach dem Gerichtsgefängnis in Pisa übergeführt worden.

Was war das für ein seltsamer, dichter Staub, der die Pinienstämme im Wald von Migliarino versilberte, als schiene der Mond? Wie ein metallisch glänzender Strom schlängelte sich die Straße durch die Sommernacht, und wenn ein Auto darauf vorüberglitt, brachen schwere durchleuchtete Wolken, flatternde Brandbänder ins Gebüsch und übersamteten mit ihren winzigen, glitzernden Kristallen Pinienwedel und Brombeerhecken.

Ein Gendarm, der mit einem Auto des Weges kam, hielt sein Fahrzeug an.

»Verfluchter Staub!« schimpfte er. »Schutzglas und Scheinwerfer mit einer dicken Schicht verkleistert. Schon zum dritten Mal! Sie verzeihen, Herr Major?«

Der Karibinierimajor, ermüdet von einer längeren Inspektionsfahrt, war eingenickt. Nun hob er den Kopf. Der Staub hatte sich etwas gelegt. Sein Chauffeur hatte soeben den Scheinwerfer? klargemacht, und ein scharfes Licht fiel auf den Wegrand. Da stand zwischen den Brombeerbüschen eine junge Frau. Sie war über und über weiß vom Staub der Straße, aber sorgfältig gekleidet. Verängstigt blickte sie in die glühenden Augen des Automobils, das ihren Blick blendete.

Ein kurioser Fall, dachte der Major. Er stand sofort auf, näherte sich höflich der Fremden und fragte sie nach ihrem Namen.

Es war Sandra.

Wer hätte damals in ganz Italien nicht gewußt, wer Sandra war? Auch der Offizier wußte es sofort.

Sie erklärte, daß sie auf dem Weg zum Untersuchungsrichter in Pisa sei. Warum? Sie verweigerte die Auskunft.

Selbstverständlich erbot sich der Offizier, sie dorthin zu begleiten. Sandra verbrachte den Rest der Nacht in einem Polizeibureau und wurde am frühen Morgen vor den Untersuchungsrichter geführt.

Sie begann ihre Erklärung mit einem Satz, den sie sich in den letzten Stunden Wort für Wort zurechtgelegt hatte:

»Herr Richter! Die Mörderin der Iphigenie Meccherini bin ich.«

Der alte Herr, der dieses Geständnis entgegennahm, legte beide Hände breit und ruhig vor sich auf den Tisch, lehnte sich langsam zurück und blickte Sandra aufmerksam an. Er wartete lange Zeit.

»Sagen Sie«, so fragte er endlich, »wie haben Sie so etwas eigentlich zustande gebracht?«

Aber auf eine Gegenfrage war Sandra nicht vorbereitet. Sie blieb zunächst stumm. Endlich antwortete sie in einem Ton, der den Richter stutzig machte: »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«

Der Richter wartete eine Weile. Er schien sich auf eine andere Frage zu besinnen. Dann ergriff er plötzlich ein Aktenbündel, aus dem er ein winziges, engbeschriebenes Zettelchen hervorkramte.

»Nach Ihrem Bekenntnis, gnädige Frau, ist es Zeit, daß dieser Brief an die richtige Adresse kommt. Herr Marin hatte ihn an Sie gerichtet. Er ist abgefangen worden. Aber Sie können sich darauf verlassen, daß sein Inhalt unter uns bleibt.« Er reichte ihr das Blatt.

Sandra brauchte lange, bis sie es lesen konnte. Marios Brief lautete:

»Liebe Sandra, ich kann Lucidus' furchtbare Schuld dem Richter nicht beweisen. Sie, die Sie vielleicht nichts Bestimmtes darüber wissen, aber gewiß Bestimmtes ahnen, können es ebensowenig. Ich muß Ihnen dennoch sagen, daß an dieser Schuld keinerlei Zweifel mehr bestehen kann. Lucidus war es, der mir den Inhalt der verhängnisvollen Depesche geliefert hat; Lucidus war es, der das später hartnäckig leugnete. Diese Lüge, die ich allein kenne, ist ein Beweis, der dem Richter nicht genügen kann, mir aber vollkommen genügt.

Er muß auch Ihnen genügen, denn Sie ahnten das Verbrechen voraus. Warum hätten Sie mich sonst an jenem Abend so inständig gebeten, Ihre Tante aufzusuchen und den geplanten Ausflug in die Berge zu verhindern? Sie wissen, daß mein später Besuch bei Iphigenie mich ins Gefängnis gebracht hat. Sie wissen, daß ich über die Ursachen dieses Besuches geschwiegen habe. Das war meine Pflicht. Genauso wie es nun Ihre Pflicht ist, darüber zu sprechen.

Ihre Pflicht, Sandra! Und mehr, Sie müssen die Wahrheit kennen. Sie werden mir unmöglich zutrauen können, was die Polizei von mir glaubt. Sie dürfen es nicht, Sandra! Schon deswegen, weil Sie in diesen Tagen gefühlt und erlebt haben, was nun aus unserer Kinderfreundschaft geworden ist.

Warum zögern Sie? Gerade Sie, Sandra? Dürfen Sie mich einem Manne opfern, den Sie hassen und dessen Schuld Sie gewiß ebenso sicher ahnen, wie ich von ihr überzeugt bin?

Mario«.

Sandra war fertig. Sie sah starr auf das winzige Blättchen in ihrer Hand. Lange Zeit. hatte der Richter Geduld mit ihr.

»Es ist also wahr, daß Sie Herrn Marin veranlaßt haben«, fragte er endlich, »Ihre Tante an jenem Abend aufzusuchen?«

»Ja«, antwortete Sandra.

»Weil ein Ausflug in die Marmorberge geplant war, den Sie ungern sahen?«

»Ja.«

»Sie hatten den Bruch Ihrer Tante gegen deren Willen, ohne ihr Wissen verkauft?«

»Ja.«

»An den Grafen Calzego?«

»Ja.«

»Sie, Frau Sandra, oder Ihr Mann?«

»Ich.«

»Und Sie wollten verhindern, daß Iphigenie Meccherini diesen widerrechtlichen Verkauf bemerke?«

»Ja.«

»Deswegen haben Sie also das furchtbare Verbrechen begangen ?«

»Ja.«

Der Richter schwieg abermals. Er hatte es gewußt, daß Sandra nicht die Wahrheit sagte. An jenem Morgen hatte sich ein neuer Zeuge bei ihm gemeldet,, der Graf Carlo Calzego di Monte Minuto, und von ihm hatte er erfahren, daß es Lucidus und nicht Sandra gewesen war, von dem er den Bruch gekauft hatte. Der Graf war noch im Gerichtsgebäude anwesend. Er wurde gerufen und Sandra gegenübergestellt, die er zunächst nicht erkannte. Aber als ihn Sandra selbst an die Bäuerin erinnerte, der er bei seinem Besuch auf der Grube »Iphigenie Meccherini« begegnet war, wußte er gleich, wer sie war.

»Ich muß zugeben«, sagte der Richter, nachdem der Zeuge wieder gegangen war, »daß Ihre Mittäterschaft bei dem Verkauf des Bruches dadurch erwiesen ist.«

»Gewiß«, sagte Sandra.

»Und daß Herr Marin durch Ihre' Aussage vollkommen entlastet wird.«

»Selbstverständlich.«

»Andererseits steht fest, daß der Verkauf vor allem von Ihrem Mann bewerkstelligt worden ist und daß Sie, gnädige Frau, nur Statistin in seiner Komödie waren. Warum versuchen Sie ihn durch die Behauptung zu entlasten, daß er von dem Verkauf gar nichts gewußt habe?«

»Weil er mein Mann ist«, antwortete Sandra.

»Herr Marin sagt in seinem Brief, daß Sie ihn hassen.«

»Das ist nicht wahr!« rief Sandra. »Und dann, Herr Richter, er ist unschuldig! Vollkommen unschuldig! Ich bin die Mörderin!«

»Wenn Sie dabei bleiben wollen...«, erwiderte der Richter, indem er aufstand und dem Diener klingelte. »Zumindest aber ist Ihr Mann mitschuldig. Herr Marin wird natürlich noch heute frei. Nach Ihren Aussagen! Nach dem, was uns auch der Graf berichtet hat. – Darf ich Sie bitten, sich bis heute nachmittag zu gedulden?«

Am Nachmittag des gleichen Tages wurde Lucidus, den man inzwischen verhaftet hatte, nochmals genau verhört. Er war bei seinem Leugnen geblieben, er hatte sich wieder auf seine Abwesenheit in der Mordnacht berufen. Als man ihm schließlich von dem Geständnis seiner Frau berichtete, hatte er mit den Achseln gezuckt und gesagt: »Mag sein.«

Dann ließ der Richter Sandra zum zweiten Male kommen. Er erzählte ihr zunächst von der Aussage ihres Mannes.

»Also auch er hält mich für schuldig?« fragte sie endlich.

»Er schließt es nicht aus«, erwiderte der Richter.

»Er schließt es nicht. aus?«

»Ja.«

Sandra ging lange im Zimmer auf und ab. Immer schneller, immer erregter.

»Herr Marin wird frei, nicht wahr?« fragte sie endlich. »Er wird nie mehr verhaftet werden?«

»Nein.«

»Und mein Mann wird auch frei?« »Wahrscheinlich.«

»Und ich bin die Mörderin?«

»Weil Sie es sagen, gnädige Frau.«

»Und weil mein Mann es glaubt?«

»Ja.«

Sandra machte eine harte, krampfhafte Bewegung, riß ihr winziges Handtäschchen auf und griff hinein. Sie hatte sofort, was sie suchte, und legte es mitten auf den Kanzleitisch: einen großen schwarzen Knopf.

»Ich bin zu Ihnen gekommen, Herr Richter«, sagte sie leise, »um einem Unschuldigen zu helfen: Herrn Marin. Ich war bereit, für seine Befreiung eine Schuld auf mich zu nehmen. Aber nur in Gemeinschaft mit meinem Mann. Die Welt darf mich Mörderin nennen! Ich selbst darf mich Mörderin nennen! Aber der, der da, dem dieser Knopf gehört...«

Sandra erlag einem krampfhaften Schluchzen. Als sie wieder sprechen konnte, sprach sie ruhiger. Sie erzählte nun dem Richter, wo sie den Knopf gefunden hatte und was er bedeutete. Sie erzählte ihm alles, was sie wußte.

Lucidus wurde Sandra gegenübergestellt. Er bekannte nunmehr. Jetzt erfuhr man auch,. daß er in der Mordnacht sein Hotelzimmer in Pisa, das zu ebener Erde lag, ungesehen verlassen hatte und nach dem Verbrechen ebenso ungesehen dorthin zurückgekehrt war.

Sandra wurde frei. Sie erhielt bald einen Brief von Mario, der sie besuchen wollte. Aber Sandra erwiderte, daß eine Freundschaft, die sich unter so traurigen Umständen erneuert habe, keinen Bestand in sich bergen könne, und bat Mario, ihr und ihrem Dorf für alle Zeiten fernzubleiben.