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In einem anmutigen Tale, nicht weit von dem Fuß eines hohen Gebirges, findet sich ein ansehnliches Freigut, gewöhnlich der Waldhof zugenannt, weil es einsam und abgesondert an dem Saume eines mächtigen Waldes liegt, der von dem Gebirge herabkommt und zu beiden Seiten des Tales eine gute Strecke hinläuft, als wollt' er es mit den grünen Armen liebreich umfangen.
Dieser Waldhof gehörte vor nicht gar langer Zeit einem wackern Manne namens Arnold. Der lebte hier mit seinem Weibe und einem Häuflein guter, frommer Kinder schon manches Jahr. Alles gedieh und blühte unter seinen Händen und willig hätte man fast diesen Erdenwinkel für ein wohlbewahrtes Stück des verlorengegangenen Paradieses gehalten. Auch trug Arnold keinen höhern Wunsch in seinem Gemüte, als daß alles nur immerfort also Bestand haben möchte.
Doch das war im Himmel anders beschlossen. Der Krieg kam ins Land. Da ging's dem armen Arnold gar übel. Seine Felder wurden verwüstet, seine Herden mit fortgeschleppt, sein Haus ward geplündert. – Zwar gedieh es bald darauf wieder zum Frieden und Arnold dachte: was sein soll, das schickt sich wohl! – Lieh sich eine bedeutende Summe auf sein Gut und ersetzte das Verlorne, so gut es gehn wollte; allein der Sonnenblick war nur von kurzer Dauer. Der Krieg schlug von neuem los, von neuem kam Arnold um all das Seinige und war nun, bis auf ein weniges, das er geborgen, ein ganz armer Mann. – Sein harter Gläubiger, dem er keine Zinsen mehr zahlen konnte, machte Anstalt, ihn von Haus und Hof zu vertreiben; er sah mit schwerem Herzen den Tag schon ganz nahe vor der Tür, an welchem er seinem Paradiese Valet sagen und auf immer den Rücken wenden sollte.
Arnold aber war ein rechter Mann, der sich von keinem Unglück, das er nicht selbst verschuldet, gänzlich zu Boden drücken ließ. Und so dachte er auch hier bald wieder: was sein soll, das schickt sich wohl! und schaute voll Vertrauen auf Gott, auf sich und auf die Seinigen in das neue Leben hinaus, welches er jetzt beginnen mußte.
Mit freundlichem Gesicht trat er am vorletzten Tage vor der Abreise in die Stube, wo seine Frau, ihr jüngstes Kind auf dem Schoße, still vor sich hin weinend in einem Winkel saß und sprach zu ihr: »Elsbeth, ich bin nun fertig mit dem Leid; nun denk' ich mich noch einmal zum Abschied meines Eigentums und Besitzes zu erfreuen und will nicht in der Stille und bei Nacht und Nebel mich von dannen schleichen, als hätt' ich was Übles verschuldet. Drum rüste dich nur immer flink auf morgen, liebes Weib: da gibt's noch einen tüchtigen Abschiedsschmaus. Gib alles her, was du noch hast. Wir wollen reines Haus machen.«
»Wie magst du jetzt wohl scherzen«, sprach Elsbeth ernst, »und hast deine armen Kinder doch vor Augen!« – Sie warf dabei einen Blick durch das Fenster nach dem Hofe, wo die Kinder unbekümmert und lustig wie sonst die gewohnten Spiele trieben.
»Scherzen?« entgegnete Arnold. »Mitnichten, liebe Frau! Es ist mein wahrer, klarer Ernst mit dem, was ich gesagt. Ich gebe morgen einen Abschiedsschmaus.«
Er ging mit diesen Worten an das Fenster und schaute nach den Kindern.
»Es hat jedes Ding seine Zeit«, hub er an. »Man muß weder das Leid noch die Freude gänzlich Herr über sich werden lassen. Und was die da draußen betrifft, so darf uns, mein' ich, nicht bange sein um sie. Sie haben von uns beten und arbeiten gelernt und werden es fürder lernen: beides zusammen aber macht ein feines Kapital zum Anfang in jeglicher Hantierung.«
Er öffnete das Fenster und rufte die beiden ältesten von den Kindern herbei.
»Gleich, Vater!« antwortete Wilibald und legte schnell das Messer beiseite, womit er für die jüngern Brüder eben eine Armbrust schnitzte.
»Gleich, lieber Vater!« ließ sich Annens Stimme ebenfalls hören.
»Wo steckt das Mädchen denn?« sagte Arnold verwundert und sah sich um. –
»Ei, schau doch, Elsbeth«, fuhr er fort und zeigte nach dem Wipfel einer großen Linde, die mitten im Hofe stand, »da hat sich unsre stille Anna wieder ein recht feines Plätzchen auserwählt!« – Elsbeth sah hin. Anna stieg eben auf einer kleinen Treppe, wie es schien, die zwischen den Zweigen angebracht war, leicht und sicher herab.
»Das ist wohl recht des Vaters Tochter zu nennen!« sprach Frau Elsbeth. »Das Mädchen hat doch von jeher immer etwas Besonderes haben müssen.«
»Laß sie nur!« lächelte Arnold. »Das ist mitunter auch nicht übel im Leben und bewahrt vor manchem. Ist sie doch gut und fromm dabei wie ihre Mutter.«
Die Kinder traten herein. – »Wie bist du da hinaufgekommen, Anna?« fragte der Vater.
»Wilibald hat mir eine Treppe hinauf und oben einen schönen Sitz gebaut!« – entgegnete sie.
»Sie hat sich's so oft gewünscht«, fuhr Wilibald fort, »daß sie da oben sitzen möchte wie ein Vogel – da wollte ich ihr doch noch die Freude machen, ehe wir fortreisen.«
Frau Elsbeth wandte sich schnell ab und verhüllte ihr Gesicht. Auch Vater Arnold sah eine Weile ganz ernst drein. Endlich fuhr er mit der Hand langsam über die Stirn, setzte sich in seinen Lehnstuhl, zog drauf die beiden Kinder zu sich und küßte sie. Dann gab er ihnen seinen Auftrag und hieß sie bereit sein, nach Reimershau zu gehn und dort seine alten Freunde, den Amtmann und den Oberförster einzuladen mit Weib und Kind auf morgen abend zum Abschiedsschmaus. Seinen Knecht Gottwalt, fügte er hinzu, – den einzigen, der ihm noch übrig war – wollte er indes mit gleichem Geheiß hinab ins Städtchen senden zu den beiden Vettern.
Elsbeth unterbrach ihn und rief: »Die beiden Kinder willst du durch den Wald schicken, heute, und so ganz allein?«
»Warum nicht?« erwiderte Arnold. »Sie machen ja den Weg nicht zum ersten Male. In einer Stunde sind sie drüben. Die Sonne steht noch hoch am Himmel; so können sie gar bequem wieder hier sein, ehe sie untergeht.«
»Es ist morgen Quatember!« rief Elsbeth. »Um diese Zeit ist es niemals ganz geheuer in dem Walde.«
Arnold lächelte. »Die Leute, die dort in dem Walde hausen, halten gute Nachbarschaft mit uns. Sie werden den Kindern nichts zuleide tun.«
Wilibald und Anna waren aber indes schon fröhlich hinausgesprungen, jener um Stock und Jagdtasche, diese um ihr Körbchen zu holen, und traten jetzt, zur Reise gerüstet, freundlich vor die Mutter hin. Frau Elsbeth versorgte kopfschüttelnd Tasche und Körbchen mit dem Vesperbrot, fügte zwei Tücher hinzu zum Umbinden in der kühlen Abendluft und gab dann mit dem Vater den Kindern das Geleit bis vor das Hoftor, wo beide ihnen nachschauten, wie sie den Fußsteig über die grüne, sonnige Wiese rasch und lustig hinschritten, bis sie endlich in den Waldschatten traten und bald darauf hinter den Bäumen verschwanden.
Es war kühl und ergötzlich in dem Walde, Wilibald und Anna gingen mit Lust in die grünen Schatten hinein und hatten ihre Freude an dem hellen, halb durchsichtigen Laubgewölbe der alten Buchen über ihnen und an den runden goldnen Lichtflecken, die auf dem Moosteppich zu ihren Füßen hin und wider spielten. Dazwischen horchten sie, wie die Vögel sangen und wie der Baumspecht klopfte, daß es weithin wie die Schläge einer Axt durch den Wald schallte. Auch blieben sie wohl von Zeit zu Zeit stehen, um das leise Rauschen in den Baumwipfeln zu vernehmen, das ihnen vorkam wie die Waldstimme, die ihnen gern etwas Geheimnisvolles vertrauen möchte, wenn sie nur die Sprache recht verständen.
So schlenderten sie miteinander lustig und recht wohlbehaglich hin und wurden es kaum gewahr, daß sie schon sehr lange gegangen waren und der Wald sich noch gar nicht lichten wollte. Vielmehr traten die Bäume immer dichter und näher an den Weg.
Wilibald bemerkte endlich zuerst, daß die Sonne schon sehr tief stand; und als sie nun genauer um sich schauten, wurden sie freilich inne, daß sie auf einem ganz falschen Wege waren. Nach Wilibalds Meinung mußten sie zu weit links gegen das hohe Gebirge hin gegangen sein.
Sie beschlossen wieder umzukehren, denn die rechte Straße war unmöglich weit entfernt. Allein sie gingen und gingen, und je weiter sie gingen, desto rauher wurde der Weg, desto wilder und unbekannter die Gegend. Keins von beiden wußte sich zu erinnern, daß es jemals hier gewesen wäre.
Da fing ihnen doch an zu bangen. Sie sahen einander ängstlich und verlegen an. – Wilibald kletterte endlich auf eine hohe Tanne und dachte sich dort oben umzusehen und zurechtzufinden. Jedoch er sah von allen Seiten nichts als Wald und überall Wald und Wald ohne Ende. Nicht weit von ihnen aber gewahrte er eine himmelhohe Felsenwand; die meinte er nun zu ersteigen und auf dem Gipfel eine Aussicht zu gewinnen. So kletterte er schnell wieder hinunter und schritt mit seiner Schwester darauf zu.
Es dauerte auch gar nicht lange, so standen sie davor. Doch zwischen ihnen und der Felswand, wie sie nun erst sahen, rauschte und tobte ein wilder Bergstrom über große Steinblöcke hin. Vergebens liefen die beiden Kinder an dem Ufer hin und her, um irgendwo eine Stelle zu finden, wo sie hinüberkommen möchten; zu wild und reißend war der Strom, zu weit entfernt voneinander lagen überall die Felsblöcke in seinem Bette.
Über dem Hin- und Widerlaufen aber hatten sie am Ende auch den Weg verloren, auf dem sie hergekommen waren. Alles Suchen war umsonst, und sie standen nun beide recht trostlos an dem Ufer des wilden Baches und blickten schweigend hinab in die schäumenden Wogen.
Wilibald, der sonst so mutig war, hub endlich mit leiser und kleinlauter Stimme an und fragte: »Was soll nun aus uns werden?« Dabei sah er seine Schwester traurig an, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Doch Anna streichelte ihm die Wangen und sprach: »Sei nur ganz ruhig, lieber Wilibald, und ängstige dich nicht. Wir sind überall in Gottes Hand, wie die Mutter sagt, so wird er uns auch hier nicht verlassen in der Einöde, die freilich recht wild und schauerlich ist. Wir wollen indes hier an dem Ufer lang dem Wasser nachgehn; das muß uns doch irgendwohin und wieder zu Menschen führen.«
»Mir ist nur bange um Vater und Mutter«, sagte Wilibald, indem er sich die Tränen von den Wangen wischte, »daß sie sich ängstigen um uns, wenn es Nacht wird.«
Auf einmal, indem sie noch so sprachen, erschallte es recht vernehmlich von jenseits des Stromes her: pst! pst! – Sie blieben stehn und schauten ein wenig betroffen hinüber, allein kein menschliches Wesen war zu ersehen, und sie wandten sich zum Weitergehn. In dem Augenblick erschallte es noch lauter und vernehmlicher wiederum: pst! pst! – Sie blieben abermals stehen und schauten hinüber und suchten mit den Blicken hin und her; da wurden sie endlich ein kleines Männchen gewahr, welches aus einem Felsspalt inmitten der großen Wand wie aus einem Fenster hervorguckte und ihnen zunickte und winkte, hinüberzukommen. Da es aber bald einsehn mochte, daß dies den beiden Kindern nicht möglich war, so machte es sich gleich selber auf den Weg, stieg ans Ufer herab, setzte mit einigen flinken Sprüngen grad über den Strom und stand freundlich nickend vor ihnen.
Wilibald konnte sich kaum des Lachens enthalten, als er die wunderliche Gestalt genauer ansah.
Das ganze Männlein war etwa drei Fuß hoch; die Hälfte dieser Höhe nahm beinah der ungeheure Kopf für sich hinweg und schien ebenso wie die beiden mächtigen Fäuste gar nicht zu den übrigen spärlichen Gliedmaßen zu gehören. Besonders war kaum zu begreifen, wie es die zwei dünnen Sichelbeinchen anfingen, um die Last zu tragen. Zwei große tellerförmige Augen stierten weit aus dem Kopf heraus. Ein unförmlicher scharlachroter Fleischklumpen stellte die Nase vor und war, als wie zur Zierde, mit großen Warzen besetzt, die so durchsichtig schimmerten und Wilibalden grade so vorkamen, wie die Granaten in Mutter Elsbeths Halsband. Die Kleidung des kleinen Mannes bestand aus einem grauen Bergmannskittel. In der Hand führte er einen starken Spitzhammer.
»Nun, meine Kinder«, hub er mit gellender Stimme an, nachdem sie sich gegenseitig eine Weile betrachtet hatten, »woher? Wo hinaus? Was wollt ihr hier?«
Wilibald berichtete ihm, wohin sie gingen, was der Vater ihnen aufgetragen, und wie sie auf eine unbegreifliche Weise vom rechten Wege ab und in diese Wildnis gekommen wären.
Der Kleine lächelte, wiegte den großen Kopf von einer Schulter zur andern und sprach: »Nach Reimershau kommt ihr doch heut nicht mehr. Auch ist mir's nicht gelegen, und ich verbiet' es euch. Auf daß es aber euerm Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen abend selbst mich bei ihm einstellen.«
Mit diesen Worten ging er ins Gebüsch hinein und winkte den Kindern, ihm zu folgen. Nach wenigen Schritten standen sie auf einem schmalen Fußpfade. Diesem hieß er sie nur immer nachgehen, er werde sie grad' und sicher nach Hause führen.
»Doch«, fügte er hinzu, »so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, sagt ihm kein Wort von dem, was euch begegnet, sondern sprecht nur, die Gäste wären eingeladen.«
Die großen Augen funkelten, indem er dieses sprach, so seltsam, und seine Stimme gellte so gebieterisch, daß Wilibald und Anna kein Wort zu erwidern wagten, sondern schnell auf dem angewiesenen Fußsteige fortschritten. Als sie nach einer Weile sich umsahen, war das Männlein verschwunden.
Sie überlegten noch miteinander, wer der Kleine wohl gewesen sei und ob sie seinen Worten gehorchen sollten, da hörten sie zu ihrer Rechten ein dumpfes Rauschen, und als sie gleich darauf aus den Bäumen traten, sahen sie einen See zu ihren Füßen vor sich liegen, der auf drei Seiten von hohen, hohen Bergen umgeben war. Die Bäume oben an den Gipfeln der Berge standen golden in den letzten Strahlen der Abendsonne; unten aber an dem Ufer des Sees begann es schon zu dämmern. Leichte Nebel stiegen aus den Schluchten, doch schaute klar und freundlich noch der blaue Himmel aus der dunkeln Flut herauf.
Anna faßte Wilibalds Arm und flüsterte ihm zu: »Das ist gewiß der Bergsee, von dem uns der Vater oft erzählt!« – Indem gewahrte Wilibald eine Frau, die mitten auf der grünen Wiese unten am Ufer saß. »Laß uns hinuntergehn!« sprach er. »Vielleicht kann uns die Frau berichten, ob es noch weit bis Reimershau und wo der Weg zu finden ist, daß wir des Vaters Gebot doch noch vollbringen.«
Sie liefen hinab und wunderten sich beim Näherkommen gar sehr, als sie nicht eine Bäuerin, wie sie vermutet, sondern eine gar stattliche und schöne Frau im Grase sitzend fanden, die ihre langen blonden Haare mit einem Kamm von Gold und Perlmutter strählte.
»Woher? Wo hinaus? Was wollt ihr hier, ihr hübschen Kinder!« begann die Frau, als sie beide verlegen vor ihr standen. Wilibald erzählte, wie es ihnen ergangen, und brachte bescheiden sein Begehr vor.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nach Reimershau«, sprach sie, »kommt ihr doch heut nicht mehr. Auch ist mir's nicht gelegen, und ich verbiet' es euch. Auf daß es aber euerm Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen abend selbst mich bei ihm einstellen.« – Darauf zeigte sie ihnen die Bergschlucht, wodurch ihr Weg sie führte und hieß sie unverweilt sich nach Hause begeben.
»Doch«, setzte sie hinzu, »so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, sagt ihm kein Wort von dem, was euch begegnet, sondern sprecht nur, die Gäste wären eingeladen.« Damit winkte sie ihnen zu gehen, und Wilibald und Anna neigten sich höflich vor ihr und gingen.
»Das ist doch wohl sehr seltsam!« sprach Wilibald, als sie an die Bergschlucht kamen und sah sich noch einmal nach der Frau um, die aber nicht zu sehen war. – »Wer sind die gestrengen Herrschaften denn, die uns hier befehlen wollen? Und warum sollen wir denn durchaus nicht nach Reimershau?«
»Daran haben sie nun wohl für heute nicht ganz unrecht«, fiel Anna ein; »denn sieh doch nur, wie finster es schon wird! Wir können ja lieber morgen früh hingehen. Allein, warum wir dem Vater nichts sagen sollen –«
»Da ist ein Licht!« rief Wilibald. »Nun werden wir ja zu vernünftigen Menschen kommen, mit denen sich ein Wort reden läßt.«
Es schimmerte in der Tat ein Licht durch die Bäume und bald noch eins und wieder eins und immer mehrere, je weiter sie gingen. »Das ist ein großes Dorf!« sagte Anna.
Sie schritten munter darauf zu. Die Schlucht erweiterte sich. Bald standen sie im Freien. Allein da war weit und breit kein Haus, viel weniger ein Dorf zu sehen. Wohl aber erblickten sie seitwärts auf einer Wiese eine große Menge kleiner, blauer Flämmchen, die lustig hin und her und durcheinander sprangen.
»Das sind Irrlichter!« flüsterte Wilibald.«Laß uns nur wohl auf den Weg merken, daß sie uns nicht irreführen.«
Indem sonderte eins der Flämmchen sich von den andern ab und kam husch! husch! über die Wiese her auf sie zu. Je näher es aber kam, desto mehr dehnte es sich aus und ward immer größer, doch zugleich auch immer unscheinbarer, bis es auf einmal dicht vor ihnen auf dem Wege stand; und da sahen sie nun deutlich, daß es gar kein Flämmchen oder Irrlicht war, sondern ein wirklicher Mann von geringer Statur und bleichem Ansehn, dabei von einer so außerordentlichen Hagerkeit, Dünne und Schmächtigkeit der Glieder, daß es fast schien, als ob er sich vor dem Winde, der ziemlich scharf über die Wiese strich, nicht recht auf den Beinen erhalten könne. Wenigstens war er in beständiger Bewegung und hüpfte und wankte vor den Kindern herüber und hinüber, ohne jedoch die Füße vom Boden zu erheben.
Mit einer sehr feinen und leisen Stimme begann er gleichfalls wieder das alte Sprüchlein: »Woher? Wo hinaus? Was wollt ihr hier?«
Wilibald mußte zwar ein wenig lächeln über das gar zu dünne und gefüge Herrlein, doch gab er ihm geziemenden Bescheid auf seine Fragen.
»Possen! Possen!« wisperte es darauf, schnell hin- und herspringend. »Possen! mit euerm Reimershau! Dahin kommt ihr nun einmal heut nicht mehr, auch morgen nicht. Es ist mir nicht gelegen, und ich verbiet' es euch. Auf daß es aber euerm Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen abend selbst mich bei ihm einstellen.«
»Dacht' ich's doch gleich«, murmelte Wilibald, »daß es so kommen würde!«
»Doch«, fuhr jener fort und hob den langen weißen Zeigefinger drohend empor, »so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, sagt ihm kein Wort von dem, was euch begegnet, sondern sprecht nur, die Gäste wären eingeladen.« – Damit sprang er flink über den Graben zur Seite des Weges und lief schnell neben den Kindern her, die auf dem Fußsteige fortgingen, indem er sagte, er wolle ihnen das Geleit geben bis an die Weiden dort.
Als sie an die Weiden kamen, rief er: »He! he! Herr Nachbar! Wie steht's? Wollt Ihr noch mit von der Partie sein morgen abend? Ich denke, es soll lustig hergehn.«
»Wohl! wohl! gehe mit«, antwortete eine dumpfe Baßstimme. Sie schien den Kindern aus einem alten Weidenstamm herzukommen, auf den sie zugingen; wie sie aber näher traten, fing der Stamm an, sich zu bewegen, und sie sahen nun, daß es ein starker, untersetzter Mann war, der vor ihnen stand, mit einem langen Mantel um die Schultern und einer Krone auf dem Haupte.
»Woher? Wo hinaus? Was wollt ihr hier?« rief er die Kinder gleichfalls an.
Wilibald brachte zum vierten Male seine Geschichte vor, obwohl mit einigem Stottern, denn die Baßstimme hatte ihn doch etwas erschreckt. Als er geendet, brummte jener wieder: »Nichts Reimershau! Heut nicht, morgen nicht! Will's nicht haben. Selber zu Gaste kommen. Aber nichts plaudern! Sonst Hals umdrehen. Punktum! Marsch!«
Das ließen sich Wilibald und Anna nicht zweimal sagen. Sie setzten sich vielmehr auf der Stelle und mit großer Hast in Bewegung und sahen sich nur unterweilen um, ob der gestrenge Herr Marschkommissarius ihnen nicht etwa auf den Fersen sei.
»Nun wird mir's doch beinah zu toll!« hub Wilibald endlich an und begann langsamer zu gehen. »Das ist ja ganz absonderliches Volk hier im Gebirge. Wer mochte der grobe Gesell wohl sein?«
»Schweig nur ganz still!« sagte Anna. »Ich wollte, wir wären bald zu Hause. Die Finsternis nimmt ja mit Macht überhand. Was soll das werden, wenn wir noch durch jenen Wald müssen?«
Ihr Weg führte sie aber richtig grade auf den Wald zu. Doch ehe sie ihn erreichten, kam noch eine andre Straße von der Seite her, durchschnitt die ihrige und schien links an dem Saume des Waldes hinzugehen. Da war nun guter Rat nicht wohlfeil, welchem von den beiden sie folgen sollten.
Und als sie noch so überlegend auf dem Kreuzweg standen, da ward es plötzlich laut im Walde! Hundegebell und Jagdruf und Hörnerklang ließ sich von weitem vernehmen und kam näher und näher und war jetzt ganz nahe bei ihnen, und rechts und links brach es mit Macht durch das Gebüsch und zog an ihnen mit entsetzlichem Getöse vorüber. Sie konnten dabei nichts weiter sehn und unterscheiden als ein Gewimmel grauer Schatten, das sich in einiger Entfernung über und neben ihnen dahinwirbelte.
Endlich kam ein Reiter auf einem schwarzen Rosse mit lautem Hallo aus dem Walde gesprengt, hielt dicht vor ihnen still und schnarrte sie an: »Woher? Wo hinaus? Was wollt ihr hier?« – Wilibald hub an und wollte ihm berichten, allein die Erzählung blieb ihm in der Kehle stecken; denn der Reiter hatte in seiner ausländischen Tracht mit der hohen Mütze auf dem Kopfe etwas gar Besonderes und Unheimliches, und die Augen des schwarzen Rosses funkelten durch die Nacht wie glühende Kohlen. Da nahm Anna das Wort und tat ihm freundlich und gelassen kund, was er zu wissen begehrte.
»Ho, ho! Hallo!« schrie er, nachdem sie geendet. »Wenn ich euch raten soll, so denkt nur nicht mehr an Reimershau, auch morgen nicht. Ich will's nicht haben. Auf daß es aber euerm Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen abend selbst mich bei ihm einstellen. Hussa! Hallo!«
Er spornte sein Roß an. In geringer Entfernung aber hielt er noch einmal still und rief: »Doch merkt's euch wohl, so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, so plaudert nicht!« Und damit jagte er über den Anger hin, seiner tollen Jagd nach, die sich noch von weitem vernehmen ließ.
Sie sahen ihm lange nach; endlich sprach Wilibald: »Hättest du ihn nicht fragen können, welches der rechte Weg nach dem Waldhof ist?«
»Der Herr sah mir nicht aus wie antworten!« erwiderte Anna. »Laß uns nur in Gottes Namen immer gradaus gehen. Das wird wohl das beste sein.« – Und so gingen sie denn, ohne sich weiter zu besinnen, in Gottes Namen in den Wald hinein.
In dem Walde aber war es mit der Finsternis in der Tat recht arg und wurde immer ärger, je tiefer sie hineingerieten. – Bald hatten sie ganz den Weg verloren, liefen mit der Nase überall an die Bäume und wußten gar nicht mehr, wohin sie sich wenden sollten. In diesem Augenblick der größten Not zeigte sich auf einmal an den alten Baumstämmen hin- und herflatternd ein schwacher Lichtschimmer, der bald verschwand, bald wiederum zum Vorschein kam. Wilibald sprang hoch auf vor Freuden, umarmte seine Schwester und fing dann aus Leibeskräften an zu schreien und zu rufen.
Da ließ sich deutlich eine Stimme hören, die ihm antwortete, und gleich darauf kam ein großes Licht um eine Bergecke herumgehuscht und schnell auf sie zu.
Im Anfang hielten es Wilibald und Anna für einen Mann mit einer großen Laterne; dann deuchte es ihnen wie ein brennendes Strohbund und endlich, als es ihnen mehr zur Seite war, sahen sie, wie es ganz die Gestalt eines dicken Mannes hatte, nur daß es über und über leuchtete wie ein Johanniswurm, das breite Gesicht ausgenommen, welches aber an sich von einer so hochroten Farbe war, daß es gleichfalls beinah aussah, als ob es brennte.
»Guten Abend, guten Abend, meine Kinderchen!« rief ihnen der Mann über einen Bach herüber zu, den sie erst in ihrer Nähe bemerkten. »Woher? Wo hinaus? Was wollt ihr hier?«
Wilibald erzählte wieder und bat dann, er möchte ihnen doch ein wenig leuchten, damit sie durch diese Finsternis den Weg nach Hause fänden.
»Recht gern, recht gern, meine Kinderchen!« sagte der dicke Johanniswurm. »Wir werden bald da sein. Aber den einfältigen Gang nach Reimershau gebt nur ganz auf. Der ist mir nicht gelegen. Es möchte euch wohl auch morgen nicht besser gehen denn heut. Auf daß es aber euerm Vater nicht an Gästen fehle, so werde ich morgen abend selbst mich bei ihm einstellen.«
Während dieses Gesprächs war er immer, ohne sich aufzuhalten, flink weitergeschritten; und obwohl die beiden Kinder im Anfang ein leises Grauen anwandelte vor der wunderlichen Erscheinung, so beruhigte sie doch bald wieder sein freundlich zutrauliches Wesen, und sie folgten ihm dreist und munter nach, besonders da sie hörten, daß es nicht mehr weit nach Hause sei.
Sie hatten auch wirklich kaum einige hundert Schritte noch zurückgelegt, da traten sie aus dem Walde heraus auf einen freien Plan, den sie alsbald in höchster Freude für die große Wiese hinter ihrem Hause erkannten.
»Nun, meine Kinderchen«, rief ihr Begleiter, »nun braucht ihr mich nicht mehr. Gute Nacht! Doch laßt es euch gesagt sein, so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, kein Wort von dem, was euch begegnet! sondern sprecht nur, die Gäste wären eingeladen.«
Er drehte sich um und war bald mit einigen tüchtigen Sprüngen im Walde verschwunden.
Wilibald und Anna eilten nun auf das Haus zu; doch wurden sie unterwegs noch einig, den Eltern wenigstens vorderhand ihre Abenteuer zu verschweigen. Denn, meinte Anna, so ungern sie es auch tue, so sei doch mit dem wunderlichen Volk im Walde wohl nicht gut zu spaßen.
Ihre Ankunft brachte in den Waldhof gar große Freude mit. Man war bei der einsinkenden Nacht schon sehr in Sorge gewesen um sie, und eben hatte der Vater die Laterne angezündet und seine Büchse über die Schultern gehangen und wollte ausgehn sie zu suchen.
Von allen Seiten wurden sie nun mit Fragen bestürmt, warum und wo sie so lange sich aufgehalten hätten und was der Oberförster und der Amtmann denn gesagt? Doch Anna nahm ihren Vater bei der Hand und bat ihn leise, er möchte sie nur heut nichts weiter fragen, denn sie könnten ihm doch nicht antworten; er werde alles schon zu seiner Zeit erfahren.
Arnold schaute seiner Tochter verwundert in die Augen; da sie ihn aber so bittend ansah, küßte er sie schweigend auf die Stirn, wandte sich dann zur Mutter und sprach: »Die Kinder sind sehr müde, liebe Mutter. Laß sie zu Bette gehen. Sie werden uns ja das alles morgen wohl erzählen.«
Am andern Morgen, da es nun doch einmal nicht anders sein sollte, war Mutter Elsbeth schon sehr frühzeitig bei der Hand und rührte sich geschäftig, auf daß sie mit dem Abschiedschmaus noch Ehre einlegen möchte bei den werten Gästen.
Es ward Kuchen gebacken von zweierlei Art und Gestalt; das wenige Geflügel, das sich erhalten hatte auf dem Hofe, mußte ohne Barmherzigkeit sein Leben lassen, und da dies nicht hinreichend schien, ward Vater Arnold mit der Flinte hinausgeschickt, um schnell noch einen Braten in die Küche zu schaffen, überdies das ganze Haus vom Boden bis zum Keller überall durchstöbert, um alles noch etwa Brauchbare in Beschlag zu nehmen für das Fest.
Über diesen Geschäften aber vergaß Frau Elsbeth die Fragen ganz, die sie für Wilibald und Anna noch seit gestern in Bereitschaft hatte. Von Reimershau war heut nicht weiter die Rede: sie setzte die Ankunft des Amtmanns und des Oberförster als gewiß voraus, und hatte keine andere Sorge, als daß Gottwalt, der Knecht, bis jetzt noch immer vergeblich auf sich warten ließ, ob er gleich außer der Nachricht von den Vettern noch verschiedenes an Gewürz, Zitronen und dergleichen aus der Stadt mitbringen sollte.
Wilibald und Anna sahen den festlichen Anstalten, wie die andern Kinder, mit Vergnügen zu, und legten treulich mit Hand an, wo sie konnten. Dennoch begann ihnen jedesmal das Herz ein wenig zu klopfen, sobald sie an den Abend samt dem Ausgang dachten, den dies alles nehmen würde, und sie warfen einander oft verstohlen bedeutende Blicke zu.
Unter diesem Treiben rückte endlich der teils herbeigewünschte, teils gefürchtete Abend wirklich heran. Der Wald warf schon sehr lange Schatten über die Wiese, die fernen Berggipfel standen in violettem Schimmer; in der Küche loderte und knackte das Feuer auf dem Herde schon seit zwei Stunden, und Vater Arnold war schon zweimal auf dem Hügel hinter dem Hause gewesen und hatte mit Verlangen ausgeschaut nach den Gästen. Aber die Gäste kamen noch nicht.
Und schon lagen Wiese und Wald in tiefen Schatten, schon bedeckte ein grauer Nebelduft das ferne Tal, und die Berggipfel leuchteten noch mit dunkelrotem Schein herüber; auch Mutter Elsbeth hatte schon dreimal den Kopf zur Tür hereingesteckt und versichert, daß der Braten ganz verbrennen würde, wenn die Gäste nicht bald kämen. Aber die Gäste kamen noch immer nicht.
Endlich war es ganz Nacht geworden. Die Magd deckte den Tisch. Die jüngern Kinder fragten ungeduldig einmal über das andere nach dem Essen. Arnold befahl die Lichter anzuzünden, indem er verdrießlich in der Stube auf und nieder ging, und Frau Elsbeth wollte eben, aus der Küche kommend, Wilibalden und seine Schwester ernstlich vernehmen, auf welche Weise sie ihren Auftrag gestern ausgerichtet, und was der Amtmann und der Oberförster denn eigentlich darauf erwidert hätten; – da ging's auf einmal an der Tür ganz leise: poch, poch, poch! – Wilibald und Anna sahen sich ängstlich an, und das Herz hämmerte ihnen gewaltig an die Brust. Und als der Vater »Herein!« rief und hineilte, die Tür zu öffnen, da trat ein kleines Männchen herein mit einem mächtig großen Kopfe, welches die beiden Kinder sogleich erkannten, trotz der zierlichen Perücke von Steinflachs, die es aufgestülpt hatte. Außer dieser trug es heut auch ein braunes Röcklein mit großen goldnen Knöpfen, und seine Weste war ein wahres Prachtstück, gleichfalls von Asbest künstlich verfertigt, und statt der Knöpfe mit einer doppelten Reihe kostbarer Steine besetzt.
Der Kleine begrüßte Arnolden und seine Frau mit einem freundlichen: Glückauf! gab sich als den Oberberg- und Hütteninspektor Bergmann zu erkennen, und bat, die Dreistigkeit zu entschuldigen, mit der er so gradezu hereintrete; er habe sich verirrt in dem Gebirge, sei von der Nacht überfallen worden und herzlich froh gewesen, als er hier endlich Licht und eine menschliche Wohnung entdeckt, allwo er jetzt nun um gütige Aufnahme bitten wolle.
Arnold hieß ihn freundlich willkommen, und ersuchte ihn, sich indes auf der Ruhbank niederzulassen, welche die eine Seite des Zimmers einnahm.
Er hatte sich aber kaum niedergesetzt, da ging es wiederum an der Tür ganz leise: poch, poch, poch! und als Arnold »Herein!« rief, und hineilte, sie zu öffnen, da trat eine stattliche Frau herein, vom Kopf bis zu den Füßen in einen faltenreichen Schleier gehüllt, die Wilibald und Anna gleichfalls auf den ersten Blick erkannten.
Sie neigte sich höflich gegen Arnold und Elsbeth, kündigte sich als eine Frau von Wasserleben an, welcher auf der Reise nach dem Bade nicht weit von hier der Wagen zerbrochen sei, und bat um Erlaubnis, so lange hier verweilen zu dürfen, bis derselbe notdürftig wieder hergestellt worden.
Arnold hieß sie freundlich willkommen, bot seine Dienste bei dem zerbrochenen Wagen an, und da sie diese durchaus ablehnte, ersuchte er sie, unterdessen auf der Ruhebank neben dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor Platz zu nehmen.
Sie hatte sich aber, nach höflicher Begrüßung des letztern, kaum neben ihm niedergelassen, da ging's von neuem an der Türe ganz leise: poch, poch, poch! und als Arnold »Herein!« rief, und mit einiger Verwunderung hinging, sie zu öffnen, da huschte flink und geschmeidig ein gar dünner und schmächtiger Herr ihm entgegen, sprang mit vielen seltsamen Bücklingen vor ihm und seiner Frau hin und her, und bat mit einer sehr feinen Stimme um Verzeihung, daß er so gradezu gehe, er sei der Professor Irrlicht, habe sich beim Botanisieren im Gebirge ein wenig verspätigt, und nehme sich die Freiheit, um eine kleine Erfrischung zu ersuchen, da er noch einen weiten Weg vor sich habe.
Wilibald und Anna erkannten auch diesen Freund von gestern auf den ersten Blick, ob er sich gleich, dem Fest zu Ehren, wie es schien, auf eine ganz besondere Weise herausgeputzt hatte. – Er trug einen lederfarbenen Rock mit silbernen Knöpfen, eine himmelblaue Weste und schwefelgelbe Beinkleider, in der einen Hand einen langen Stock, in der andern, sowie vor der Brust im Knopfloche einen großen Strauß von allerhand Sumpfpflanzen, und von seinem Kopfe stieg ein hohes, wunderlich ineinander gewirrtes Toupet, einer Flammenspitze ähnlich, in die Luft empor.
Arnold mußte selber lächeln über die seltsame Gestalt, doch hieß er den Herrn Professor freundlich willkommen, ersuchte ihn, indes neben der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor Platz zu nehmen, und gab seiner Frau einen Wink, für die unvermuteten Gäste Sorge zu tragen.
Der Herr Professor hatte sich aber noch nicht niedergesetzt, und Frau Elsbeth das Zimmer noch nicht verlassen, da ging es schon wieder an der Tür, doch diesmal sehr laut und vernehmlich: poch, poch, poch! – Und als Arnold »Herein!« rief und mit einem leisen Kopfschütteln hinging, zu öffnen, kam von einer tiefen Baßstimme ein lautes: »Guten Abend!« durch die Tür, und hinterdrein ein starker untersetzter Mann von etwas verwildertem Ansehn, in einem grauen Rock mit mächtigen goldbrokatenen Aufschlägen nach uralter Mode, auf dem Kopf eine große, ziemlich zerzauste Allongenperücke und einen kleinen dreispitzigen Tressenhut. An der Baßstimme und an der langen Habichtsnase erkannten Wilibald und Anna mit einigem Schreck den gestrengen Herrn Marschkommissarius von gestern abend, obgleich Krone und Mantel fehlten.
Er begrüßte Arnolden mit einem herablassenden Kopfnicken, kündigte sich als den pensionierten General Erlkönig an und gab in kurzen Worten den Wunsch zu erkennen, auf seiner Reise hier zu übernachten.
Arnold hieß ihn, trotz seiner steigenden Verwunderung über den zahlreichen Besuch, doch recht freundlich willkommen, und bat, sich indes neben dem Herrn Professor, der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor niederzulassen.
Der General schritt langsam auf die Ruhebank zu, Wilibald und Anna wichen seinem Marsch von weitem aus und zogen sich auf die Mutter zurück.
Kaum aber hatte der neue Gast Platz genommen, da ging's abermals und zum fünften Male an der Tür: poch, poch, poch! – Und als Arnold halb lachend, halb ungeduldig »Herein!« rief, da tat sich die Tür weit auf, und herein schritt ein langer Mann in grünem Jagdkleide, den Hirschfänger über die Hüften geschnallt, die schwarzen Haare hingen ihm wild um das bleiche Gesicht. – Wilibald und Anna ahneten, daß dies der tolle Jäger von gestern abend sein möchte, und Wilibald zog sich hinter den Ofen; Frau Elsbeth aber stand ganz starr vor Erstaunen, die Hände unter der Brust gefaltet, mit halb offnem Munde.
Der Jäger ging auf Arnolden zu, begrüßte ihn kurzweg, und sprach: er sei der Oberjägermeister von Hackelnberg, denke morgen eine große Jagd zu machen im Gebirge, und bitte daher um Nachtquartier auf dem Waldhof, als wohin er sein Gefolge morgen früh beschieden.
Arnold hieß ihn freundlich willkommen, versicherte, sein ganzes Haus stehe zu seinen Diensten, und ersuchte ihn, unterdes sich dort neben dem Herrn General, dem Herrn Professor, der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor niederzulassen.
Er hatte aber kaum ausgesprochen, da ging's zum sechsten Male an der Tür: poch, poch, poch! – Und ehe Arnold »Herein!« rufen konnte, schob sich schniebend und schnaubend ein dicker Herr in die Stube, mit einem breiten feuerroten Gesicht, in einen langen Überrock auf englisch gekleidet, neigte sich sehr höflich gegen Arnold und seine Frau und meldete sich als den Kammerrat und Laternenkommissarius Feuermann an, der schon längst viel Gutes von Herrn Arnold vernommen und gewünscht habe, seine werte Bekanntschaft zu machen.
Arnold dankte verbindlichst für die ihm erzeigte Ehre und bat, er möchte indessen neben dem Herrn Oberjägermeister, dem Herrn General, dem Herrn Professor, der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor Platz nehmen.
Das geschah; und indem jetzt Arnold die sechs wunderlichen Bilder so in einer langen Reihe nebeneinander sitzen sah, steif und ohne Bewegung – den Professor ausgenommen, der ein wenig mit den Beinen bammelte – die Augen alle starr auf ihn gerichtet, die mittelsten vier Gesichter bleich, fast leichenhaft, das Gesicht auf dem rechten Flügel und die Nase auf dem linken dagegen leuchtend in übernatürlichem Karfunkelschimmer, – da kam ihm die ganze Gesellschaft doch sehr sonderbar und fast ein wenig unheimlich vor. Als ein Mann, der zu leben wußte, ließ er sich jedoch nichts davon merken, sondern erhob seine Stimme und sprach:
»Ich habe eine Bitte an euch, verehrte Frau und werte Herrn! Da ich morgen dieses Haus und diese Gegend verlasse, so dachte ich heut meinen Abschiedschmaus zu geben; wider Verhoffen aber, und zu unserer nicht geringen Verwunderung sind die eingeladenen Gäste ausgeblieben. Daher ergehet mein freundliches Gesuch dahin, daß es euch sämtlichen gefallen möge, an deren Stelle zu treten, mit uns fürliebzunehmen, und mir meinen Abschied feiern zu helfen.«
Da verneigten alle sechs Bilder zu gleicher Zeit sich gegen ihn, der Oberberg- und Hütteninspektor aber nahm das Wort, und erklärte im Namen aller, wie sie es sämtliche sich für eine Ehre schätzten, die Gäste eines so wackern Mannes zu sein, zugleich aber sämtliche verhofften, er werde es sich in dieser Gegend noch länger gefallen lassen.
Arnold antwortete darauf bloß mit einem Achselzucken, und Frau Elsbeth lief schnell nach der Küche, das Essen anzurichten, zwar immer noch voll Staunen und Verwunderung, doch aber im Herzen froh darüber, daß sie ihre Back- und Kochkunst nun doch nicht umsonst aufgewendet haben sollte.
Und als das Essen kam, setzte sich Arnold mit den Seinigen und seinen Gästen an den Tisch. Die jüngern Kinder, die jetzt erst die Gäste zu sehn kriegten, schienen sehr große Freude zu haben an den seltsamen Gesichtern und Gestalten, und Frau Elsbeth hatte nur genug zu winken und zu steuern, daß die Freude nicht allzulaut ward.
Bei der übrigen Gesellschaft ging es indessen im Anfang ziemlich still und einsilbig her, wie dies zu geschehn pflegt unter Leuten, die einander nicht recht kennen. Die Gäste sprachen wenig und aßen auch wenig; ja zu Frau Elsbeths großem Verdrusse berührten sie die Speisen kaum und taten nur, als ob sie äßen. Allein als der Wein kam, ließen sie sich nicht lange nötigen, sondern kippten fleißig aus, und da Arnold immer fleißig einschenkte, zeigte sich bald Leben und Feuer von allen Seiten. Die Gäste fingen an gesprächig zu werden, teils mit ihren Wirten, doch mehr noch untereinander, wobei sie sich aber öfters zu vergessen schienen, indem sie die Unterhaltung in einer Sprache führten, die Arnolden so gänzlich fremd und unbekannt war, daß er sich nicht erinnern konnte, je in seinem Leben nur etwas Ähnliches vernommen zu haben. Auch war es kaum eine Sprache zu nennen; denn es bestand mehr aus einem ganz besonderen Zischen, Blasen, Pfeifen und Schnalzen, als aus wirklichen Worten.
Arnold und seine Frau hörten dem Schariwari mit dem größten Erstaunen zu, und die Kinder konnten sich des lauten Lachens darüber gar nicht länger erwehren.
Die rechte Lust ging aber erst an, als am Ende der Mahlzeit Mutter Elsbeth einen mächtigen Napf voll warmen Punsch auf die Tafel setzte, und die dampfenden Gläser fleißig angestoßen und aus dem Vollen geleert wurden. Die Fremden tranken auf die Gesundheit des braven Wirts und der angenehmen Wirtin, auf noch langen Besitz des Waldhofs, und, was Arnold freilich nicht recht verstand, auf fortgesetzte gute Nachbarschaft. Dabei fingen ihre Augen, je länger, je mehr, auf eine seltsame Weise, beinah wie die Augen der Katzen im Finstern, zu leuchten und zu strahlen an; ihr Gespräch untereinander ward immer lebhafter; dazwischen brachen sie oft in lautes Gelächter aus und machten die allerpossierlichsten Gebärden und Bewegungen dazu. Frau Elsbeth sah ihren Mann bedenklich an, und Vater Arnold selbst schüttelte mit Befremden den Kopf.
Nun traf es sich indem, daß die Frau von Wasserleben zu trinken verlangte und die Magd mit dem verlangten Wasser ein wenig zögerte; da faßte jene einen Zipfel ihres Schleiers auf und preßte daraus das klarste Wasser in ein Glas.
Elsbeth hatte es mit Schrecken bemerkt und wußte nicht, was sie davon denken sollte, und als sie in der Verwirrung darüber eine Lichtschere ergriff, das Licht zu putzen, und es ausputzte, streckte der Kammerrat Feuermann, ihr Nachbar, schnell mit einer verbindlichen Miene die Hand aus dem langen Ärmel hervor, und zündete das Licht auf der Stelle mit seinem Finger wieder an.
Das ging nun der guten Frau Elsbeth über den Scherz. Ein plötzliches Grauen ergriff sie vor den unbekannten Gästen. Sie schob erschrocken ihren Stuhl zurück und stand auf; Arnold und die Kinder folgten ihr. Die Gäste aber schienen ihr Entsetzen gar nicht zu bemerken, oder nicht darauf zu achten, sondern wurden nur immer lauter, schnitten dazu immer häßlichere Fratzen und Gesichter und taten ganz, als ob sie allein im Zimmer wären.
Die Stubenuhr schlug jetzt eben zwölf. Da sprang Professor Irrlicht endlich auf. schoß mit großer Behendigkeit einen Burzelbaum und krähte: »Musik, Musik, ihr lieben Leute! Musik herbei! Nun wollen wir eins tanzen.« Der Oberjägermeister erhob sich, lief nach dem Fenster, riß es auf und schrie: »Hup! hup!« nach Jägerart hinaus. Sogleich ließ sich draußen ganz nahe Hundegebell und Hörnerklang vernehmen; die Fenster flogen auf, verschiedene Eulen und Uhus setzten sich an die Öffnungen und begleiteten mit ihrem angenehmen Gesange die Musikanten, die draußen aufspielten. Nun erhob sich auch die übrige Gesellschaft und fing nach dieser höllischen Musik munter zu tanzen an.
Und mit jedem Augenblick wilder ward der Tanz, und immer ausgelassener wurden die Tänzer.
Der Oberberg- und Hütteninspektor warf jauchzend seine Perücke an die Decke, wo sie, zur großen Freude der andern, an einem Nagel hängen blieb; Professor Irrlicht sprang sehr flink und gelenk auf allen Bänken, Tischen und Schränken herum, und seine Gestalt dehnte sich wunderbarer Weise bald zu einer ungebührlichen Länge aus, bald schrumpfte sie wieder unter das gewöhnliche Maß zusammen; der Kammerrat Feuermann aber knöpfte unterweilen seinen Überrock auf, und es war recht entsetzlich anzusehen, wie er dann jedesmal einen glühenden Feuerregen auf die Tänzer schüttelte. Doch schien dieser letzte Scherz denselben besonders zu gefallen, und begeisterte sie zu immer wütenderm Jubel. Sie fingen an, einander in der Stube herumzujagen und zu haschen, und dieser oder jener nahm unversehens eins von seinen Beinen in die Hand und schlug damit wacker zu, oder warf auch wohl einem andern seinen eignen Kopf in den Rücken und setzte ihn dann gelassen wieder auf, als ob es ein Hut wäre. Dabei wurden alle Stühle und Bänke umgeworfen, Gläser, Flaschen und Teller von dem Tisch heruntergerissen. Mutter Elsbeth schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Arnold hieß sie die Kinder in das Nebenzimmer bringen, doch in dem Augenblicke sprang der General Erlkönig auf sie zu und rief: »Kinder dalassen! Kinder mitnehmen! Kinder mein sein!« Darüber begannen die Kinder zu weinen und zu schreien, und verkrochen sich hinter die Mutter; und Arnold trat entrüstet den Popanz an und beschwerte sich über das ungeziemende Betragen, womit sie seine Gastfreiheit vergölten.
Doch jener antwortete ihm darauf bloß: »Psch – schw – schw – glapp!« und mischte sich wieder unter die Gesellschaft.
Da indes eben der Oberberg- und Hütteninspektor vorübersprang, den Arnold noch für den Vernünftigsten hielt, so machte er sich an diesen, und bat ihn, dem Unwesen doch ein wenig zu steuern und zu bedenken, daß sie sich hier nur als Gäste befänden. Allein der schnitt ihm eine abscheuliche Fratze entgegen, antwortete ihm bloß: »Pfü – – wisch!« und sprang gleichfalls wieder unter die übrigen.
Der tolle Wirbel drehte sich immer rascher und unbändiger. Die Lichter löschten aus. Der Kammerrat, der seinen Überrock ganz abgeworfen hatte, erleuchtete nun mit seiner feurigen Gestalt allein die ganze Szene und sprühte einen solchen Funkenregen um sie her, daß Arnold in der größten Angst schwebte, er werde ihm das Haus über dem Kopf anzünden. Am Ende mischten sich die Sänger darunter, die an den Fenstern saßen; selbst die Musikanten von draußen schienen an dem Feste teilnehmen zu wollen, denn Hundegebell und Hörnerklang erschallte bald mitten in der Stube auf eine ohrenzerreißende Weise! Der Oberjägermeister feuerte seine wütende Jagd mit Hussa! und Hallo! noch immer mehr an, und dazwischen ließ sich General Erlkönigs Baßstimme vernehmen: »Kinder her! Kinder mitnehmen! Kinder mein sein!«
In diesem höllischen Sabbat gingen Arnolds Worte, der noch immer steuern und vermahnen wollte, gänzlich unter und verloren. Ja, mit einem Male faßte ihn der rasende Knäuel selber; er mußte wider seinen Willen sich mit drehen, ward tüchtig hin und her gestoßen, und dankte Gott, als er endlich atemlos sich wie die andern in das Nebenzimmer retten konnte.
Dort war alles indes in größter Angst und Not. Die Kinder heulten und schrien; Frau Elsbeth stand zitternd und händeringend; die Magd kniete vor dem Bette und hatte den Kopf hineingesteckt, um nichts mehr zu sehen und zu hören.
»Hätten wir's doch gestern dem Vater gesagt!« sprach Wilibald weinend zu seiner Schwester, »so hätte der Vater das abscheuliche Volk heut gar nicht ins Haus gelassen.«
Aber Anna, die eine Weile still vor sich hin geschaut hatte, sprang jetzt schnell hinaus, und bald darauf, als eben der Lärm dort und die Angst hier aufs allerhöchste gestiegen war, daß Vater Arnolden selber fast der Kopf anfing zu drehen, und er gar nicht mehr wußte, was er beginnen sollte, da trat sie plötzlich in die Tür des Vorderzimmers, wo die wilde Jagd tobte, indem sie etwas unter der Schürze verborgen trug, und rief mit lauter Stimme:
»Wohl aufgeschaut!
Der Morgen graut;
der Tanz hat nun ein Ende!«
Und mit diesen Worten wickelte sie die Schürze auseinander, und der große Haushahn, den sie darunter verborgen getragen hatte, flatterte hervor, flog alsbald auf einen Kleiderschrank, schüttelte sich und fing aus Leibeskräften an zu krähen.
Da ward es auf einmal ganz still in dem Zimmer, und alle standen und horchten auf.
Und der Hahn krähte zum zweiten Mal. Da flogen die Eulen und Uhus schnell zum Fenster hinaus; die unsichtbare wilde Jagd folgte ihnen mit entsetzlichem Getöse; die übrige Gesellschaft lief in Verwirrung erschrocken durcheinander.
Und zum dritten Male krähte der Hahn. Da war auf einmal alles wie weggeblasen und weggestoben. Anna stand ganz allein im Zimmer, und friedlich und freundlich schaute der Mond vom klaren Himmel durch die Fenster.
Arnold hatte ihrem Beginnen aus der Nebenstube zugesehn, sprang jetzt herbei, und herzte und küßte seine mutige und kluge Tochter. Auch die andern wagten sich nun wieder aus ihrem Versteck hervor. Arnold befahl, Licht anzuzünden. Und als das Licht gebracht wurde, da sahen sie alle mit Erstaunen drei große Beutel auf dem Tische stehen, und drei große Zettel hingen daran, und auf dem ersten Zettel stand: »Zum Dank für freundliche Bewirtung!«
Auf dem zweiten: »Noch langer Besitz des Waldhofs!«
Auf dem dritten endlich:«Fernere gute Nachbarschaft!«
Und als Arnold die Beutel öffnete, fand er sie voll eitel alter harter Taler. Auf dem Fußboden aber waren noch überdies eine Menge Goldstücke verstreut, die allem Anschein nach der Feuermann ausgesäet hatte, und auf Tischen und Schränken, überall wo der Professor Irrlicht hingesprungen, lagen ansehnliche Häuflein blanker Silberpfennige.
Die Freude über diesen Fund war groß, und so geschah es, daß Anna erst ganz zuletzt ein kostbares Halsband von sehr schönen Perlen an ihrem Halse gewahr wurde. Sie wußte selber nicht, wie sie dazu gekommen war, doch hielt es Mutter Elsbeth wohl nicht mit Unrecht für ein Geschenk der Frau von Wasserleben.
So war nun Arnold durch die Freigebigkeit seiner wunderlichen Gäste auf einmal wieder ein reicher Mann geworden.
Und er säumte nicht, seine Schulden zu bezahlen, brachte sein Hauswesen wieder in Ordnung auf das beste, hatte auch bald die Freude, zu sehen, daß alles gedieh und blühete unter seinen Händen, wie zuvor, und lebte also mit den Seinigen in Glück und Frieden noch manches Jahr.
Das Perlenhalsband aber wird noch jetzt in der Familie aufbewahrt, zum Andenken an das wunderbare Gastmahl. Auch blieb des Oberberg- und Hütteninspektors steinflachsene Perücke an der Decke hängen, und ihr könnt sie heutigestages noch hängen sehen, wenn ihr einmal nach dem Waldhof kommt.