Giacomo Casanova
Eduard und Elisabeth bei den Megamikren
Giacomo Casanova

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Vorwort

Casanovas Icosameron ist bekanntlich eines der seltensten Bücher, die es gibt. Ich persönlich hatte mich seit fünfzehn Jahren vergeblich bemüht, es zu erhalten. Da führte ein (wenn auch von mir etwas beeinflußter, doch immerhin) glücklicher Zufall zur Entdeckung eines Exemplars in einem kleinen österreichischen Städtchen.

Schon nach den wenigen Andeutungen Victor Ottmanns hatte ich stets angenommen, daß es sich um eine bedeutende geistige Schöpfung handeln müsse. Diese Erwartung fand ich nicht nur bestätigt, sondern sogar weit übertroffen, als ich diesen Icosameron nun endlich lesen konnte.

Wenn Casanovas Werk nichts anderes wäre, als eine von den vielen Utopien, die nach der Utopia des Thomas Morus entstanden oder eine der vielen Liliputiaden nach Swift, so brauchte man sich nicht darum zu mühen, es der Vergessenheit zu entreißen. Aber es ist mehr: es ist das Werk eines tiefen und vor allem auch freien Denkers und es ist vor allem eine sehr unterhaltsame Abenteuergeschichte, die zwar einen Leser verlangt, der gerne denkt, die aber auch ganz abgesehen von ihrem Gedankengehalt durch die bewußte Fülle der Ereignisse interessiert.

Eduard und Elisabeth sind ein junges englisches Geschwisterpaar, das im Maelstrom Schiffbruch leidet, aber auf eine sehr merkwürdige Art gerettet wird, indem es in einer Bleikiste durch die Rinde unseres Erdballs hinabsaust und so in den hohlen Innenraum der Erde gelangt, dessen Grundfläche von dem nach Milliarden zählenden Volk der Megamikren (das heißt: Großkleinen) bewohnt wird.

Eduard ist vierzehn, Elisabeth zwölf Jahre alt. Der Trieb der Natur führt sie zusammen: die Geschwister werden Mann und Frau, sie werden die Eltern von vierzig Zwillingspaaren, die stets aus einem Knaben und einem Mädchen bestehen. Im Laufe ihres Aufenthalts, der 324 Megamikrenjahre oder 81 Jahre unserer Zeitrechnung währt, vermehrt diese Nachkommenschaft sich auf mehr als 600000 Menschen, die sich zu Herren der Megamikrenwelt machen. Eduard und Elisabeth, die sich während dieser ganzen Zeit im Paradies (denn das Paradies unserer Bibel ist nach Casanovas Annahme eben die Megamikrenwelt) in ihrer Jugendblüte erhalten haben, gelangen auf eine höchst merkwürdige Weise wieder an die Oberfläche der Erde empor und begeben sich zu ihren noch lebenden Eltern in England. Dort erzählt nun Eduard, ab und zu von Elisabeth ergänzt, einer Gesellschaft von Lords und Ladies die ganze Geschichte ihrer erstaunlichen Abenteuer und gibt eine genaue Beschreibung aller Einrichtungen und Gebräuche des nicht minder erstaunlichen Megamikrenlandes. Sein Bericht wird in Kurzschrift aufgenommen und so entsteht ein englischer »Roman«, den Casanova ins Französische übersetzt. Diese Übersetzung ist natürlich eine Fiktion; jede Seite des Werkes ist aus Casanovas klugem und kühnem Kopf hervorgegangen.

Das Werk ist mit Feuereifer in einem Zuge geschrieben; in sechzehn Monaten hat Casanova die fünf Bände (ungefähr 1800 Druckseiten) vollendet. Eine ganz erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, daß zwar die Phantasie, und zwar eine sehr schwungvolle Phantasie, den Plan des Werkes eingegeben hat, daß aber die Ausführung auf den genauesten mathematischen Berechnungen beruht. Nachdem die Voraussetzung gegeben war, ist nichts mehr der Willkür überlassen; jede einzelne Zahl stimmt ganz genau. Die außerordentlichen Kenntnisse auf allen Gebieten, die schon für den jungen Casanova bei seinen ersten Ausflügen in die Welt so charakteristisch sind, treten in einer Fülle hervor, über die man staunen muß. Zugleich wird auch Casanovas Charakterbild in einer Weise ergänzt und vervollständigt, die seine zahlreichen Freunde erfreuen wird. In diesem Werk ist keine Spur von dem frivolen Abenteurer, Weibverführer, Spieler und Schwindler der Memoiren. Es ist die reife Frucht eines in allem Schlamm doch rein und im Kern gesund gebliebenen Geistes, der allerdings in einem sehr sinnlichen Körper haust. Eines Geistes aber, den Männer wie der Fürst von Ligne bewunderten, dem sie zugleich auch tiefe menschliche Teilnahme zollten. Eines Geistes, der allerdings sich über menschliche Vorurteile und Satzungen weit emporhebt; der in dem Eheverhältnis des Geschwisterpaares nicht den Incest sieht, sondern die Naturnotwendigkeit (wie übrigens auch unsere Bibel in der Fortpflanzung der ersten Menschensippe); der dieses Verhältnis zu einer moralischen Reinheit emporhebt, die man großartig nennen darf.

Es braucht für diejenigen, die den Casanova der Memoiren wegen seiner von Manchem wohl überschlagenen philosophierenden und kritisierenden Abschweifungen erst recht lieben – und nur solche sollten eigentlich die Memoiren lesen dürfen! – es braucht für diese wahren Freunde Casanovas nicht gesagt zu werden, daß die Wissenschaftlichkeit dieses Werkes in frevelnder Weise verarbeitet ist. Der Leser braucht nicht zu befürchten, mit dunkler Gelehrsamkeit gelangweilt zu werden.

Casanova hatte gewiß große Hoffnungen auf seinen Icosameron gesetzt, als er das Werk zu schreiben begann, sobald er in Dux beim Grafen Waldstein den sicheren Hafen gefunden hatte. Er hatte mit früheren Werken gute pekuniäre Erfolge gehabt. Er hatte in den sieben Jahren nach seiner Begnadigung in Venedig (es kann leider nicht verschwiegen werden) als Spion und Schmarotzer gelebt und seine fleißige Schriftstellerei hatte ihn aus dieser traurigen Sphäre nicht befreien können. Jetzt trat er wieder in glänzende Kreise ein: Waldstein und Ligne, Clarys und andere vom Hochadel ehrten seinen Geistesadel und verstatteten ihm Zutritt in ihren vertrauten Kreis. In diesem Kreise und unter seinen früheren Freunden und Gönnern mußte er unschwer auch die Subskribenten für sein Werk finden.

Er fand sie auch in einer Anzahl, die jedenfalls einen Verlust für ihn vollkommen ausschließen mußte. Trotzdem wurde die Herausgabe für Casanova zum Unglück, das ihm seinen Lebensabend verbitterte. Die Gründe sind nicht ganz klar. Er scheint von seinem Leipziger Verleger betrogen worden zu sein. Da er nun das Werk auf seine Kosten in Prag hatte drucken lassen, so geriet er in Schulden, in Wuchererhände und in die bekannten bedrängten Umstände, die ihm die Demütigungen von dem Feldkircher, dem Wiederholt und der übrigen Duxer Crapule einbrachten.

Es ist aber angebracht, zu untersuchen, ob nicht auch Eigenschaften des Werkes selber zu dem Mißerfolg beigetragen haben mögen. Die Frage muß ich bejahen. Das Werk hätte zweifellos einen Erfolg verdient, wenn auch nicht bei der großen Menge (an der natürlich Casanova gar nichts lag); daß es diesen Erfolg nicht fand, liegt meines Erachtens an der unglücklichen Form, die er seinem so inhalts- und abwechselungsreichen Buch gab. Die Nachahmung des Decameron lag einem Italiener nahe; auch ist die Einleitung durchaus nicht ungeschickt, denn sie erweckt Teilnahme und Spannung. Leider aber ist das Zwischenwerk, das bei Boccaccio so anmutig ist, dem Venetianer ganz mißglückt. Die Glossen der zuhörenden Engländer sind ganz überflüssig und können nur langweilen; sie werden sicherlich auch die freundlich gesinnten Gönner beim Lesen abgeschreckt haben, noch mehr vielleicht die Exegese der ersten Genesiskapitel, mit der Casanova sein Buch beginnt. Für diese theologischen Exkurse hatten die Fürsten und Fürstinnen, Grafen und Gräfinnen, die ihn mit ihrer Subskription beehrten, gewiß kein Interesse. Casanova hat allerdings den Plan seines Buches der biblischen Schöpfungsgeschichte entnommen: der Garten Eden ist das Reich der Megamikren. Hierfür brauchte aber nicht mühsam versucht zu werden, auf hundert Druckseiten einen Beweis zu führen, der doch nur Hypothese bleiben konnte. Diese Untersuchung war für Casanova eine Spielerei, die ihn interessierte, seine Leser aber und Leserinnen bekamen dabei wohl vor Gähnen Kinnbackenkrämpfe. Nicht jeder ist so klug, ein fünfbändiges Werk beim letzten Bande anzufangen, wenn er sieht, daß er nicht über den Anfang hinwegkommt.

So bedauerlich es nun ist, daß Casanovas Hoffnungen so schnöde enttäuscht wurden und daß er um den wohlverdienten Lohn kam, so ist seine Mühe darum nicht verloren gewesen. Ich habe den guten, blanken Kern herausgeschält und biete nun die Abenteurergeschichte von Eduard und Elisabeth bei den Megamikren als das was sie ist: einen phantastischen Roman in zwei starken Bänden.

Heinrich Conrad.


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