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Zuerst erschienen:
1903
Suhrkamp
1994
Teil II: Die Schlafwandler
Eine Romantrilogie
Für Anja Herzog
Der 2. März 1903 war ein schlechter Tag für den 30jährigen Handlungsgehilfen August Esch; er hatte mit seinem Chef Krach gehabt und war entlassen worden, ehe sich noch Gelegenheit ergeben hatte, selber zu kündigen. Und so ärgerte er sich weniger über die Tatsache der Entlassung als darüber, daß er nicht schlagfertiger gewesen war. Was hätte er dem Mann nicht alles ins Gesicht sagen können, diesem Mann, der nicht wußte, was in seinem Geschäft eigentlich geschah, der sich auf die Einbläsereien eines Nentwig verließ, der keine Ahnung hatte, daß dieser Nentwig Provisionen nahm, wo es nur anging, und der wohl die Augen absichtlich verschloß, weil der Nentwig von irgendwelchen Schweinereien Kenntnis haben mußte. Und wie blödsinnig hatte er sich von denen überrumpeln lassen: sie hatten ihm in unflätiger Weise einen Buchungsfehler vorgeworfen und wenn er es sich jetzt überlegte, war es gar kein Fehler gewesen. Aber die beiden hatten so wüst in ihn hineingeschrien, daß es zu einem albernen Geschimpfe ausgeartet war, in dessen Verlauf er sich plötzlich gekündigt sah. Natürlich war ihm dann nichts anderes als das Götzzitat eingefallen, während er jetzt so allerlei Treffendes wußte, »Herr«, ja, »Herr«, hätte er sagen müssen und auf die Fußspitzen hätte er ihm dabei schauen müssen, und Esch sagte nun sarkastisch »Herr« vor sich hin, »haben Sie eine Ahnung, wie es in Ihrem Geschäft aussieht …«, ja so hätte er sprechen müssen, aber jetzt war es zu spät. Hinterher hatte er sich besoffen und mit einem Mädchen geschlafen, aber es hatte nichts genützt, der Zorn war geblieben und Esch schimpfte vor sich hin, während er das Rheinufer entlang zur Stadt ging.
Er hörte Schritte hinter sich und als er sich umwandte, sah er Martin, welcher, die Fußspitze des verkürzten Beines gegen das Holz gepreßt, sich in aller Eile zwischen den beiden Krücken einherschwang. Der Kerl da hinten hatte ihm gerade noch gefehlt. Esch wäre gerne seines Weges weitergeschritten, auf die Gefahr hin, mit den Krücken eins über den Schädel zu kriegen – verdient hätte er es ja, erschlagen zu werden –, aber er fühlte, daß es eine Gemeinheit wäre, den Krüppel nachlaufen zu lassen, und so blieb er stehen. Überdies mußte er sich nach einem Posten umtun, und Martin, der alle Welt kannte, würde ihm vielleicht etwas wissen. Der Krüppel war nachgekommen, ließ das krumme Bein baumeln und sagte schlicht: »Rausgeschmissen?« Also das wußte der auch schon. Esch entgegnete giftig: »Rausgeschmissen.« »Hast du noch Geld?« Esch zuckte die Achsel; für ein paar Tage reiche es noch. Martin überlegte: »Ich wüßte einen Platz für dich.« – »Ja, aber in die Organisation steige ich dir nicht rein.« – »Ich weiß, ich weiß, bist dir zu gut dazu … na, wirst schon noch kommen. Wohin gehen wir?« Esch hatte kein Ziel, und daher gingen sie zu Mutter Hentjens Wirtschaft hinauf. In der Kastellgasse blieb Martin stehen: »Haben sie dir ein anständiges Zeugnis gegeben?« – »Muß mir's erst holen.« – »Bei der Mittelrheinischen in Mannheim brauchen sie einen Schiffskassier oder so was Ähnliches … wenn es dir nichts ausmacht, von Köln wegzuziehen …«, sie traten ein. Es war ein mäßig grober, düsterer Raum, wohl schon seit Hunderten von Jahren eine Kneipe der Rheinschiffer; allerdings war von der langen Vergangenheit außer dem verrauchten Tonnengewölbe nichts mehr zu sehen. Die Wände hinter den Tischen waren bis zur halben Höhe braun vertäfelt und eine angebaute Bank lief die Wand entlang. Oben auf dem Bord standen Münchner Maßkrüge, und auch ein Eiffelturm aus Bronze war dort zu sehen. Der Eiffelturm war mit einer schwarz-weiß-roten Fahne geschmückt, und wenn man genauer hinsah, konnte man darauf die verwischten Goldbuchstaben des Wortes »Stammtisch« entziffern. Zwischen den beiden Fenstern aber stand ein Orchestrion mit geöffneten Flügeln und zeigte die Notenrolle und die Mechanik in seinem Innern. Eigentlich sollten die Flügel geschlossen sein, und wer die Musik zu genießen wünschte, hätte einen Nickel einwerfen müssen. Doch Mutter Hentjen ließ sich nicht lumpen und so brauchte der Gast bloß in die Mechanik zu greifen und den Hebel zu ziehen; alle Gäste Mutter Hentjens wußten, wie der Apparat zu bedienen war. Gegenüber dem Orchestrion aber wurde die ganze rückwärtige Schmalseite des Lokals von dem Büfett eingenommen, und hinter dem Büfett befand sich der große Spiegel zwischen den beiden Glasschränken mit den bunten Likörflaschen. Wenn dann Mutter Hentjen abends ihren Platz am Büfett eingenommen hatte, pflegte sie sich manchmal umzuwenden und die blonde Frisur, die wie ein kleiner steifer Zuckerhut auf dem runden, schweren Schädel saß, vor dem Spiegel abzutasten. Auf dem Büfett standen einige große Flaschen mit Wein und Schnaps. Denn die bunten Liköre aus dem Glasschrank wurden selten verlangt. Schließlich war noch zwischen dem Büfett und dem Glasschrank ein Zinkblechbecken mit Wasserhahn diskret eingebaut.
Das Lokal war ungeheizt und seine Kälte stank. Die beiden Männer rieben sich die Hände und während Esch schwer auf eine Bank sich setzte, griff Martin in das Orchestrion, das brüllend den Gladiatorenmarsch in die kalte Luft des Raumes entließ. Trotz des Lärms hörte man bald Schritte auf einer knarrenden Holztreppe, und die schloßlose Pendeltüre neben dem Büfett wurde von Frau Hentjen aufgestoßen. Sie war noch in morgendlicher Arbeitskleidung, hatte eine große blaue Kattunschürze dem Rocke vorgebunden und auch das abendliche Mieder hatte sie noch nicht angelegt, so daß ihre Brüste wie zwei Säcke in der breitkarierten Barchentbluse lagen. Nur die Frisur saß als steifer und korrekter Zuckerhut über dem blassen, ausdrucksarmen Gesicht, dessen Alter man nicht anzugeben vermochte. Aber alle wußten, daß Frau Gertrud Hentjen sechsunddreißig Jahre zählte und seit langer, langer Zeit – man hatte erst kürzlich nachgerechnet, daß es sicherlich vierzehn Jahre her sein mußten – Witwe nach dem Herrn Hentjen war, dessen gelbverblaßte Photographie zwischen dem Gewerbeschein und einer Mondlandschaft, alle drei in schönen, schwarzen, goldverzierten Rahmen, oberhalb des Eiffelturmes prangte. Und obwohl Herr Hentjen mit seinem Ziegenbärtchen wie ein dürftiger Schneidergeselle aussah, hielt ihm seine Witwe die Treue; zumindest konnte man ihr nichts nachsagen, und wenn einer sich ihr ehrbar zu nahen wagte, so meinte sie schnöde: »Ja, die Wirtschaft würde ihm eben in den Kram passen. Nee, da wirtschafte ich schon lieber alleine.«
»Morgen, Herr Geyring, Morgen, Herr Esch«, sagte sie, »heute sind Sie aber zeitig dran.« – »Sind auch schon lang genug auf den Beinen, Mutter Hentjen«, antwortete Martin, »wer arbeitet, will auch essen«, und er bestellte Käse und Wein; Esch, dem der gestrige Wein noch immer Mund und Magen lähmte, bekam einen Schnaps. Frau Hentjen setzte sich zu den Männern und ließ sich die Neuigkeiten erzählen; Esch war einsilbig, und wenn er sich seiner Entlassung auch keineswegs schämte, es ärgerte ihn doch, daß Geyring dieses Ereignis so breittrat. »Ja, wieder einmal ein Opfer des Kapitalismus«, schloß der Gewerkschaftler seine Erzählung, »aber jetzt heißt's von neuem an die Arbeit; natürlich, der Freiherr hier darf auf der faulen Haut liegen bleiben.« Er zahlte, ließ es sich auch nicht nehmen, den Schnaps Eschs mit zu begleichen. »... Arbeitslose muß man unterstützen …«, nahm die Krücken, die neben ihm gelehnt hatten, preßte die linke Fußspitze an das Holz und klapperte zwischen den Stöcken sich schwingend hinaus.
Nachdem er gegangen war, schwiegen die beiden eine Weile; dann deutete Esch mit dem Kinn nach der Tür: »Ein Anarchist«, sagte er. Frau Hentjen zuckte die fleischige Schulter: »Und wenn schon, ist doch ein anständiger Mann …« – »Anständig ist er«, bekräftigte Esch und Frau Hentjen fuhr fort: »... aber bald genug werden sie ihn wieder packen; sechs Monate haben sie ihm schon einmal aufgebrummt …«, dann: »'s ist ja sein Geschäft.« Sie schwiegen wieder. Esch sann darüber nach, ob Martin schon von Kindheit an gehinkt habe; eine Mißgeburt, sagte er sich, und laut: »Der möchte mich auch zu seiner sozialistischen Gesellschaft bringen. Ich tue es aber nicht.« – »Warum nicht?« antwortete Frau Hentjen ohne Interesse. »Paßt mir nicht. Ich will hinaufkommen; Ordnung muß sein, wenn man hinaufkommen will.« Frau Hentjen konnte nicht umhin beizupflichten: »Ja, das ist richtig, Ordnung muß sein. Aber nun muß ich in die Küche. Werden Sie heute bei uns essen, Herr Esch?« Esch konnte ebensowohl hier wie anderswo essen, und schließlich, warum sollte er sich in dem eisigen Wind herumtreiben. »Daß es heuer keinen Schnee gibt«, verwunderte er sich, »der Staub macht einen ganz blind.« – »Ja, häßlich ist es draußen«, sagte Frau Hentjen, »also Sie bleiben gleich hier.« Sie verschwand in die Küche, die Pendeltür zitterte noch eine Zeitlang, und stumpf verfolgte Esch das Zittern, bis der Türflügel zur Ruhe kam. Dann versuchte er zu schlafen. Aber nun spürte er die Kälte des Raumes; er ging auf und ab, mit etwas schweren und ungelenken Schritten, nahm die Zeitung, die auf dem Büfett lag, konnte aber mit den erstarrten Fingern die Seiten nicht wenden; auch schmerzten die Augen. So entschloß er sich, die warme Küche aufzusuchen; die Zeitung in der Hand trat er ein. »Sie wollen wohl in die Töpfe riechen«, sagte Frau Hentjen, indes sie begriff, daß es im Lokal zu kalt war, und da sie dort erst nachmittags Feuer zu machen pflegte und an dieser Regel festhielt, erlaubte sie, daß er ihr Gesellschaft leiste. Esch betrachtete sie, wie sie am Herde hantierte, und hätte ihr gerne unter die Brüste gegriffen, doch der Ruf ihrer Unnahbarkeit ließ den Wunsch im Keime ersticken. Als das Küchenmädchen, das ihr in der Wirtschaft half, die Küche verließ, sagte er: »Daß Sie so alleine leben mögen.« – »Nanu«, antwortete sie, »fangen Sie jetzt auch mit der Melodie an.« – »Nein«, sagte Esch, »ich meinte bloß so.« Frau Hentjen hatte einen sonderbar starren Ausdruck bekommen; es war, als ekelte ihr vor etwas, denn sie schüttelte sich, daß ihre Brüste wackelten, und dann ging sie wieder an die Arbeit mit dem gelangweilten leeren Gesicht, das man an ihr gewohnt war. Esch, beim Fenster, las seine Zeitung und sah schließlich auf den Hof hinaus, in dem der Wind kleine Staubzyklone aufblies.
Später kamen die beiden Mädchen, die abends als Kellnerinnen fungierten, ungewaschen und verschlafen. Frau Hentjen, die beiden Mädchen, die kleine Magd und Esch nahmen um den Küchentisch herum Platz, jedes streckte die Ellbogen weit von sich, beugte sich tief über den Teller, und sie aßen.
Esch hatte das Offert für die Mannheimer vorbereitet; er brauchte bloß das Zeugnis beizulegen. Eigentlich war er froh, daß die Dinge so gekommen waren. Es war nicht gut, immer an einem Platz zu sitzen. Man mußte hinaus, je weiter desto besser. Und man mußte sich umtun; so hatte er es auch stets gehalten.
Nachmittags ging er zu Stemberg & Co., Weingroßhandlung und Kellereien, sein Zeugnis holen. Nentwig ließ ihn an der Holzbarriere warten, saß dick und rundlich an seinem Schreibtisch und rechnete. Esch klopfte ungeduldig mit dem harten Fingernagel auf die Barriere. Nentwig erhob sich: »Nur Geduld, Herr Esch«, er trat zur Barriere und sagte von oben herab: »Also wegen Ihres Zeugnisses, – wird schon nicht so dringend sein. Also, Geburtsdatum? Eintrittsdatum?« Esch, weggewandten Kopfes, machte ihm diese Angaben und Nentwig schrieb sie auf. Dann diktierte Nentwig und brachte das Zeugnis. Esch las es durch: »Das ist kein Zeugnis«, sagte er und gab das Papier zurück. »So, was ist es denn?« – »Sie haben mir meine Tätigkeit als Buchhalter zu bestätigen.« – »Sie, und ein Buchhalter! Sie haben ja gezeigt, was Sie können.« Jetzt war der Augenblick der Abrechnung da: »Daß man für Ihre Inventuren einen Spezialbuchhalter braucht, das will ich meinen!« Nentwig wurde stutzig. »Was soll das heißen?« – »Es heißt, was es heißt.« Nentwig schlug um, wurde freundlich: »Mit Ihrer Aggressivität schaden Sie immer nur sich selbst; haben einen guten Posten und überwerfen sich mit dem Chef.« Esch fühlte einen Sieg, begann ihn auszukosten: »Mit dem Chef werde ich schon noch reden.« – »Meinetwegen reden Sie mit dem Chef, was Ihnen paßt«, trumpfte Nentwig auf, »also was soll's für ein Zeugnis sein?« Esch bestellte sich »pflichteifrig, zuverlässig, in allen buchhalterischen und sonstigen Comptoirarbeiten bestens bewandert.« Nentwig wollte ihn loshaben. »Wahr ist es zwar nicht, aber meinetwegen.« Er wandte sich wieder dem Schreiber zu, um die neue Fassung zu diktieren. Esch hatte einen roten Kopf bekommen: »So, es ist nicht wahr? so? … dann schreiben Sie noch dazu, ›jedermann bestens zu empfehlen‹, verstehen Sie?« Nentwig verbeugte sich: »Gerne zu Diensten, Herr Esch.« Esch las das neue Manuskript durch und war befriedigt. »Unterschrift des Chefs«, kommandierte er. Das war Nentwig denn doch zu stark; er schrie: »Die meine tut's Ihnen wohl nicht?!« – »Wenn Sie Einzelprokura haben, soll es mir nicht darauf ankommen«, war Eschs großmütige und großartige Antwort, und Nentwig unterschrieb.
Esch trat auf die Straße, steuerte auf den nächsten Postkasten zu. Pfiff vor sich hin; er fühlte sich rehabilitiert. Das Zeugnis hatte er, gut; es steckte in dem Umschlag mit dem Offert für die Mittelrheinische. Daß Nentwig nachgegeben hatte, zeugte für dessen schlechtes Gewissen. Die Inventuren waren also geschwindelt, man müßte also den Mann der Polizei übergeben. Ja, es war einfach Bürgerpflicht, sofortige Anzeige zu erstatten. Der Brief war im Postkasten weich und dumpf aufgeklatscht, und Esch, die Finger noch immer in der Einwurf klappe, überlegte, ob er direkt zum Polizeipräsidium gehen solle. Unschlüssig streunte er weiter. Es war nicht in Ordnung, daß er das Zeugnis abgeschickt hatte, er hätte es dem Nentwig zurückstellen müssen; erst ein Zeugnis erpressen und dann anzeigen, das war nicht anständig. Aber nun war es bereits geschehen, und ohne Zeugnis würde es auch schwer halten, den Platz bei der Mittelrheinischen Reederei zu bekommen, – es bliebe ihm rein nichts anderes übrig, als wieder bei Stemberg einzutreten. Und er malte sich aus, daß der Chef ihm für die Aufdeckung des Schwindels die Stelle Nentwigs geben würde, welcher indessen im Kerker zu schmachten hätte. Ja, aber wenn der Chef selber an den Schweinereien beteiligt war? Dann allerdings würde die polizeiliche Untersuchung die ganze Kiste zusammenbrechen machen. Dann gab es ein fallites Haus, aber keinen Platz für einen Buchhalter. Und in der Zeitung würde man von der »Rache eines entlassenen Angestellten« lesen. Und schließlich würde er der Mitwisserschaft verdächtigt werden. Und dann gab es für ihn weder ein Zeugnis, noch war irgendwo ein Posten zu finden. Esch freute sich des Scharfsinns, mit dem er alle Konsequenzen zog, aber er war wütend. »Versautes Schweinehaus«, fluchte er vor sich hin. Er stand am Ring vor dem Opernhaus, fluchte in den Wind hinein, der den kalten Staub ihm in die Augen trieb, war unschlüssig, und endlich entschied er, die Sache aufzuschieben; falls er die Stelle bei der Mittelrheinischen nicht bekommen sollte, würde immer noch Zeit sein, die Nemesis walten zu lassen. Durch den dunkelnden Abend ging er, die Hände in den Taschen seines schäbigen Überrocks vergraben, ging eigentlich mehr der Form halber bis zum Polizeipräsidium. Dort betrachtete er den Posten, und da ein Schubwagen mit Häftlingen vorfuhr, wartete er, bis alle ausgestiegen waren, und fühlte sich enttäuscht, als der Beamte schließlich den Wagenschlag zuwarf, ohne daß Nentwig zum Vorschein gekommen wäre. Er blieb noch einige Augenblicke stehen, dann kehrte er definitiv um und schlug den Weg zum Alten Markt ein. Die beiden Längsfalten, die in seinen Wangen angedeutet waren, hatten sich vertieft. »Weinpantscher«, »Essigfritze«, schimpfte er vor sich hin. Und mürrisch und unzufrieden ob des vergällten Sieges, mußte er sich wieder betrinken und mit einem Mädchen schlafen.
In dem Braunseidenen, mit dem sie sich sonst erst abends zu bekleiden pflegte, hatte Frau Hentjen den Nachmittag bei einer Freundin verbracht, und nun wurde sie von ihrem gewohnten Zorn gepackt, als sie, heimkommend, dieses Haus wieder vor sich sah und dieses Lokal, in dem ihr Leben hinzubringen sie nun schon so lange gezwungen war. Gewiß, man konnte sich bei dem Geschäft etwas zurücklegen, und wenn sie von den Freundinnen wegen ihrer Tüchtigkeit belobt und umschmeichelt wurde, dann ergab sich ein kleines Wohlgefühl, das manches wiedergutmachte. Aber warum besaß sie nicht lieber einen Weißwarenladen oder ein Miedergeschäft oder einen Damenfrisiersalon, statt sich allabendlich mit diesen besoffenen Kerlen abgeben zu müssen! Wäre sie nicht durch ihr Korsett behindert gewesen, sie hätte sich vor Ekel geschüttelt, als sie ihres Hauses ansichtig wurde: so sehr haßte sie die Männer, die darin verkehrten und die sie zu bedienen hatte. Obzwar sie vielleicht noch mehr die Frauen haßte, die immer wieder so albern waren und den Männern nachliefen. Nein, von ihren Freundinnen gehörte nicht eine einzige zu diesen Weibern, die es mit den Männern hielten, sich mit diesen Subjekten vermischten, sie in sich aufnahmen wie die Hündinnen. Gestern hatte sie das Küchenmädchen im Hofe mit einem Burschen erwischt, und befriedigt juckte sie noch die Hand, mit der es die Ohrfeigen gesetzt hatte: sie hatte alle Lust, sich das Mädel nochmals vorzunehmen. Nein, Weiber waren vielleicht noch widerlicher als Männer. Am liebsten mochte sie noch ihre Kellnerinnen und alle die Dirnen, die die Männer verachteten, wenn sie mit ihnen schlafen gehen mußten: mit diesen Frauen sprach sie gerne und lange, ließ sich ihre Geschichten ausführlich erzählen, tröstete und verhätschelte sie, um sie für ihre Leiden zu entschädigen. So waren denn auch die Plätze in Mutter Hentjens Wirtschaft beliebt, und die Mädchen sahen sie als etwas Erstrebenswertes an, das sie sich möglichst zu erhalten suchten. Mutter Hentjen aber freute sich solcher Anhänglichkeit und Liebe.
Oben im ersten Stock lag ihre gute Stube: übergroß nahm sie mit ihren drei Fenstern nach der Gasse die ganze Hausbreite über dem Wirtslokal und dem Hausflur ein; im Hintergrund, dort wo unten das Büfett stand, bildete die Stube eine Art Alkoven, der mit einem verschlossenen lichten Vorhang abgegrenzt war. Hob man den Vorhang, so konnte man, wenn sich der Blick an das Dunkel gewöhnt hatte, drinnen die Ehebetten erkennen. Aber Frau Hentjen benützte diesen Raum nicht, und niemand wußte, ob er je benützt worden war. Ein derartig großes Zimmer läßt sich auch nur schwer und nur unter bedeutenden Kosten erheizen, und so war es Frau Hentjen nicht zu verdenken, daß sie die kleinere Stube oberhalb der Küche zum Wohn- und Schlafgemach erwählt hatte, hingegen den verdunkelten Saal und seine Eiseskälte zum Aufbewahren leicht verderblicher Waren verwendete. Auch die Nüsse, welche Frau Hentjen im Herbste einzuhandeln pflegte, waren dort untergebracht und lagen in schütterer Schicht auf dem Fußboden, über den zwei breite grüne Linoleumstreifen kreuzweise liefen.
Frau Hentjen, noch voller Zorn, war in das Zimmer heraufgekommen, um für den Abend Wurst ins Lokal zu holen, und weil der zornige Mensch unachtsam ist, geriet sie in die Nüsse, die mit aufreizend hartem Lärm ihr vor den Füßen herrollten. Als sie zudem noch eine zertrat, verstärkte sich ihr Zorn, und während sie, damit der Verlust nicht noch größer werde, die Nuß auflas und vorsichtig den Kern aus der zerschmetterten Schale herauslöste, und die weißen Stückchen mit der bitteren braungelben Haut in den Mund steckte, kreischte sie zwischendurch nach dem Küchenmädchen; endlich hörte das freche Luder, kam die Treppe heraufgestolpert und wurde mit einer Flut ungeordneter Scheltworte empfangen: natürlich, sich mit Burschen abgeben und Nüsse stehlen, das gehöre zusammen, – die Nüsse hätten drüben beim Fenster gelegen, und jetzt falle man schon hier bei der Türe darüber, – aus eigenem Antrieb seien die Nüsse nicht vom Fenster wegspaziert, – sie holte schon zum Schlage aus, und das Mädchen duckte sich hinter seinem Arm, aber da war Frau Hentjen eine Nußschale in den Mund geraten, und so spuckte Frau Hentjen bloß verächtlich aus; dann stieg sie, von dem weinenden Mädchen gefolgt, ins Lokal hinunter.
Als sie in die Wirtsstube trat, in der schon der dicke Tabaksrauch hing, überkam sie, wie fast alltäglich, jene angstvolle Erstarrung, die kaum verständlich, dennoch nur schwer zu bemeistern war. Sie ging zum Spiegel und betastete mechanisch den blonden Zuckerhut auf ihrem Kopfe, zupfte das Kleid zurecht, und erst als sie sich ihres vorteilhaften Äußeren vergewissert hatte, kehrte die Ruhe zurück. Sie sah nun die bekannten Gesichter unter ihren Gästen, und obwohl an den Getränken doch besser zu verdienen war als an den Speisen, freute sie sich mehr der Essenden als der Trinker. Sie trat aus dem Büfett und zu den Tischen hin und fragte, ob es munde. Und mit einer gewissen Beglückung rief sie die Kellnerin herbei, wenn ein Gast noch eine Portion bestellte. Ja, Mutter Hentjens Küche durfte sich sehen lassen.
Geyring war bereits da; seine Krücken lehnten neben ihm; er hatte das Fleisch auf dem Teller in kleine Stücke geschnitten und aß nun mechanisch, während er mit der Linken eine jener sozialistischen Zeitungen hielt, von denen stets ein ganzer Pack aus seinen Taschen hervorlugte. Frau Hentjen mochte ihn gerne, einesteils weil er als Krüppel kein richtiger Mann war, andernteils weil er nicht zum Juchhe und nicht zum Saufen und nicht wegen der Mädchen herkam, sondern weil es einfach sein Geschäft verlangte, daß er mit den Schiffern und Hafenarbeitern in Fühlung blieb; und vor allem mochte sie ihn, weil er Abend für Abend seine Mahlzeiten in der Wirtschaft einnahm und ihre Kost lobte. Sie setzte sich zu ihm. »War Esch schon hier?« fragte Geyring, »er hat den Platz bei der Mittelrheinischen bekommen, tritt ihn schon Montag an.« – »Den haben wohl Sie ihm verschafft, Herr Geyring«, sagte Frau Hentjen. »Nee, Mutter Hentjen, so weit sind wir noch nicht, daß die Organisation Plätze verschaffen kann … nee, noch lange nicht … na, auch das wird schon noch werden. Aber ich habe den Esch auf die Fährte gesetzt. Warum soll man einem braven Burschen nicht helfen, auch wenn er nicht von den unseren ist.« Mutter Hentjen zeigte dafür wenig Teilnahme: »Lassen Sie sich's nur schmecken, Herr Geyring, kriegen auch noch extra was von mir«, und sie ging zum Büfett und brachte auf einem Teller eine nicht zu starke Wurstschnitte, die sie mit einem Stengelchen Petersilie verziert hatte. Geyrings faltiges Gesicht eines vierzigjährigen Kindes lächelte ihr mit schlechten Zähnen Dank zu und tätschelte ihre weiße, fettliche Hand, die sie sofort etwas erstarrt zurückzog.
Später kam Esch. Geyring sah von der Zeitung auf und sagte: »Gratuliere, August.« – »Danke«, sagte Esch, »du weißt's also schon – glatt ist es gegangen, sofort geantwortet und engagiert. Also schönen Dank auch, daß du mich hingewiesen hast.« Aber seine Züge unter der kurzen dunklen Haarbürste hatten den hölzern leeren Ausdruck des Verärgerten. »Gerne geschehen«, sagte Martin und dann rief er zum Büfett: »Da haben wir nun unsern neuen Herrn Zahlmeister.« – »Viel Glück, Herr Esch«, antwortete trocken Frau Hentjen, indes, sie kam dann doch hervor und gab ihm die Hand. Esch, der zeigen wollte, daß nicht alles Verdienst bei Martin lag, holte sein Zeugnis aus der Brusttasche: »Es wäre ja wohl nicht so flott gegangen, wenn mir Stemberg nicht so ein anständiges Zeugnis hätte geben müssen.« Er betonte das »müssen« mit Nachdruck und setzte hinzu: »diese Schweinegesellschaft«. Frau Hentjen las das Zeugnis mit zerstreutem Blick und sagte: »Schönes Zeugnis.« Auch Geyring las das Zeugnis, nickte: »Ja, die Mittelrheinische darf wohl zufrieden sein, daß sie so eine erstklassige Kraft geheuert hat … ich werde mir jetzt wirklich vom Präsidenten Bertrand noch eine Vermittlungsprovision auszahlen lassen.«
»Perfekter Buchhalter, perfekt, was?« brüstete sich Esch. »Schön, wenn man so etwas von sich sagen kann«, bestätigte Frau Hentjen, »jetzt sind Sie gewiß sehr stolz, Herr Esch, haben auch alle Ursache dazu; wollen Sie was essen?« Natürlich wollte er, und während Frau Hentjen wohlgefällig zusah, wie es ihm schmeckte, erzählte er, daß er nun bald rheinaufwärts reisen werde und daß er hoffe, in den Außendienst zu kommen; da gäbe es Reisen bis nach Kehl und Basel. Indessen hatten sich mehrere andere Bekannte dazugesellt, der neue Zahlmeister ließ Wein für sie alle bringen und Frau Hentjen zog sich zurück. Angewidert mußte sie feststellen, daß Esch es nicht unterließ, die Kellnerin Hede jedesmal abzutasten, wenn sie beim Tische vorbeiging, und wie er sie schließlich neben sich nötigte, damit sie mit ihnen trinke. Aber es war eine große Zeche, und als die Herren nach Mitternacht aufbrachen und Hede mitnahmen, steckte sie ihr ein Markstück zu.
Nichtsdestoweniger konnte Esch seiner neuen Stellung nicht froh werden. Es war ihm, als hätte er den Posten um den Preis seines Seelenheils oder zumindest seiner Anständigkeit erkauft. Jetzt, da es soweit war und er bei der Kölner Filiale der Mittelrheinischen sogar schon Reisevorschuß behoben hatte, überkam ihn neuerlich der Zweifel, ob er nicht doch noch die Anzeige erstatten sollte. Allerdings müßte er dann bei den Erhebungen anwesend sein, könnte nicht abreisen, und das würde fast den Verlust seiner Stelle bedeuten. Einen Augenblick dachte er daran, die Situation mit Hilfe eines anonymen Briefes an die Polizei zu lösen, aber er verwarf diesen Plan: man konnte nicht eine Unanständigkeit durch eine andere auslöschen. Zu guter Letzt ärgerten ihn sogar auch noch seine Gewissensbisse; schließlich war er kein kleines Kind, er scherte sich einen Dreck um die Pfaffen und die Moral; er hatte schon allerlei gelesen, und als ihn einmal Geyring wieder aufgefordert hatte, in die Sozialdemokratische Partei einzutreten, da hatte er geantwortet: »Nein, zu euch Anarchisten komme ich nicht, aber damit du wenigstens zum Teil deinen Willen hast, werde ich mich vielleicht den Freidenkern anschließen.« Der undankbare Kerl hatte darauf geantwortet, daß ihm dies egal sei. So sind die Menschen; nun, Esch konnte es auch egal sein.
Zu guter Letzt tat er das Vernünftigste; er reiste termingemäß ab. Aber er fühlte sich losgerissen, die gewohnte Reisefreude wollte sich nicht einstellen, und jedenfalls ließ er einen Teil seiner Habe in Köln; auch sein Fahrrad ließ er zurück. Immerhin, sein Reisevorschuß versetzte ihn in Geberlaune. Und auf dem Mainzer Bahnsteig stehend, Bierglas in der Hand, Fahrkarte am Hut, gedachte er derer, die zurückgeblieben waren, wollte ihnen was Gutes tun, und da der Zeitungsmann eben seinen Wagen heranschob, kaufte er zwei Ansichtskarten. Vor allem hätte Martin einen Gruß verdient; freilich schreibt man einem Manne keine Ansichtskarten. So füllte er zuerst eine an Hede aus; die zweite bestimmte er für Mutter Hentjen. Dann überlegte er, daß es für Frau Hentjen, die doch stolz war, vielleicht beleidigend sein würde, zugleich mit einer Angestellten eine Karte zu erhalten, und weil es ihm heute nicht darauf ankam, zerriß er die erste und sandte bloß die an Mutter Hentjen ab; sie und alle lieben Freunde und Bekannten und die Fräulein Hede und Thusnelda grüße er herzlich aus dem schönen Mainz. Danach fühlte er sich wieder ein wenig einsam, trank ein zweites Glas Bier und fuhr weiter nach Mannheim.
Im Zentralbüro hatte er sich zum Dienst zu melden. Die Mittelrheinische Reederei-AG. besaß ein eigenes Gebäude unweit des Mühlau-Hafens, ein schweres Haus aus Stein mit Säulen neben dem Tor. Die Straße davor war asphaltiert, gut zum Radfahren; es war eine neue Straße. Das schwere schmiedeeiserne Glastor, das sicherlich leicht und geräuschlos zu bewegen war, stand halb offen und Esch trat ein; der Marmor im Vestibül gefiel ihm; über der Stiege hing ein Glasschild, auf dessen durchsichtiger Fläche in Goldbuchstaben »Direktion« zu lesen war. Er steuerte geradewegs darauf hin. Als er den Fuß auf der ersten Stufe hatte, hörte er hinter sich: »Wohin, bitte?« Er drehte sich um und sah den Portier im grauen Livreeanzug; silberne Knöpfe blitzten daran und die Mütze hatte eine silberne Borte. Das war alles sehr nett, aber Esch ärgerte sich: was ging ihn der Kerl an? er sagte kurz: »Ich habe mich hier zu melden« und wollte weiter. Der andere gab nicht nach: »Bei der Direktion?« – »Wo denn sonst?« entgegnete Esch grob. Im ersten Stockwerk mündete die Stiege in einen großen dunklen Vorraum. In der Mitte stand ein großer Eichentisch, darum herum einige Polsterstühle. Es war offenbar sehr vornehm. Wieder war einer mit Silberknöpfen da und fragte nach dem Begehr. »Zur Direktion«, sagte Esch. »Die Herren sind bei einer Aufsichtsratssitzung«, sagte der Diener, »ist es wichtig?« Notgedrungen mußte Esch Farbe bekennen; er zog seine Papiere hervor, das Anstellungsschreiben, die Anweisung des Reisevorschusses; »'n paar Zeugnisse habe ich auch mit«, sagte er und wollte Nentwigs Zeugnis hervorlangen. Er war etwas enttäuscht, daß der Kerl es gar nicht ansah: »Damit haben Sie hier nichts zu suchen … im Erdgeschoß durch den Korridor durch und zur zweiten Stiege … erkundigen Sie sich unten.« Esch blieb einen Augenblick stehen; er wollte dem Portier den Triumph nicht gönnen, fragte nochmals: »So, nicht hier?« Der Diener hatte sich schon gleichmütig abgewandt: »Nein, hier ist das Vorzimmer des Präsidenten.« In Esch stieg Zorn auf; die machen nicht wenig Aufhebens mit ihrem Präsidenten, Polstermöbel und Silberdiener; der Nentwig möchte sich gern auch auf so etwas herausspielen; na, so ein Präsident wird auch nicht groß was anderes sein als ein Nentwig. Aber wohl oder übel mußte Esch den Rückzug antreten. Unten stand der Portier. Esch sah ihn an, ob er ein boshaftes Gesicht machte; doch da der Mann bloß gleichgültig dreinschaute, sagte Esch: »Ich muß ins Aufnahmebüro« und ließ sich den Weg weisen. Nach zwei Schritten kehrte er um, zeigte mit dem Daumen die Stiege hinauf: »Wie heißt denn der dort droben, euer Präsident?« – »Präsident v. Bertrand«, sagte der Portier und es klang darin etwas wie Respekt. Und Esch wiederholte gleichfalls ein wenig respektvoll: »Präsident v. Bertrand«; den Namen mußte er schon irgendeinmal gehört haben.
Im Aufnahmebüro erfuhr er, daß er seinen Dienst im Hafenmagazin zu verrichten haben werde. Als er wieder auf die Straße hinaustrat, hielt eine Equipage vor dem Hause. Es war kalt; an den Bordsteinen und in den Mauerwinkeln lag der vom Wind zusammengefegte pulverige Schnee; das eine Pferd klopfte mit dem Huf auf den glatten Asphalt. Es war sichtlich ungeduldig, und das mit Recht. Ohne Equipage tut er es nicht, der Herr Präsident, sagte Esch, unsereins kann laufen. Aber trotzdem gefiel es ihm und er war zufrieden, daß er dazugehörte. Es war doch ein Sieg über Nentwig.
In den Magazinen der Mittelrheinischen Reederei hatte er seinen Platz in dem Glasverschlag, der sich am Ende des langen Schuppens befand. Neben seinem Schreibtisch stand der des Zollbeamten und dahinter glühte ein kleiner Eisenofen. Freute einen die Arbeit nicht mehr oder fühlte man sich wieder einmal vereinsamt und verwaist, so gab's bei den Waggons und bei den Ladearbeiten immer was zu schaffen. Die Schiffahrt sollte in den nächsten Tagen aufgenommen werden und bei den Booten war alles schon in Bewegung. Es gab Krane, die sich drehten und senkten, als wollten sie irgendwelche Dinge vorsichtig aus den Schiffskörpern herauspicken, und es gab solche, die wie begonnene und nicht fertiggestellte Brücken über das Wasser ragten. Das war für Esch natürlich nichts Neues, denn es sah auch in Köln nicht anders aus, aber dort war die lange Reihe der Lagerhäuser etwas Gewohntes, etwas, das man nicht zur Kenntnis nahm, und wäre man je gezwungen gewesen, darüber nachzudenken, so hätte man die Baulichkeiten, die Krane, die Rampen fast als etwas Sinnloses betrachtet, das irgendwelchen unerklärlichen Bedürfnissen der Menschen dienen mochte. Jetzt allerdings, wo er selber dazugehörte, da war dies alles zu natürlichen und sinnvollen Anlagen geworden, und das tat wohl. Während er sich früher höchstens gewundert, gelegentlich sogar geärgert hatte, daß es so viele Speditionsfirmen gab, und daß die gleichförmigen Schuppen am Ufergelände mit so verschiedenen Firmenschildern besetzt waren, wurden nun die einzelnen Betriebe zu Individuen und Individualitäten, die man an den Personen ihrer dicken und mageren Lagerhalter, ihrer barschen und gemütlichen Platzmeister erkannte. Auch die Anschriften der Kaiserlich Deutschen Zollbehörde beim Eingange in das umschlossene Hafengebiet waren erfreulich: sie führten zu Bewußtsein, daß man sich auf fremder Erde bewegte. Es war ein gebundenes und zugleich freies Leben, das man hier führte auf dieser Freistatt der Waren, die unverzollt hier lagern durften, es war Grenzerluft, die man hinter den Eisengittern des Zollgeländes atmete. Und wenn er auch noch keine Uniform trug und sozusagen nur ein Privatangestellter war, so war man in diesem Zusammenleben mit den Zollorganen und Bahnangestellten dennoch selber fast zur Amtsperson geworden, da man überdies die Legitimation in der Tasche hatte, mit der man im geschlossenen Gebiet unbehindert zirkulieren durfte, von den Wächtern am Haupttor bereits freundschaftlich salutierend begrüßt. Ja, dann salutierte man zurück, warf in großem Bogen die Zigarette fort, um das allenthalben angeschlagene Rauchverbot zu achten, und begibt sich, selber ein korrekter Nichtraucher, stets bereit, entgegenkommende Zivilpersonen wegen etwaiger Verstöße gegen die Vorschrift anzurüffeln, mit langen gewichtigen Schritten in das Büro, wo der Lagerhalter schon die Listen auf den Schreibtisch gelegt hat. Dann zieht man die grauen Wollhandschuhe mit den abgeschnittenen Fingerkappen an, weil einem sonst in der grauen staubigen Kälte des Schuppens die Hände erfrieren würden, man nimmt die Listen zur Hand und kontrolliert die aufgestapelten Kisten und Ballen. Falls eine Kiste verräumt ist, wird man nicht verfehlen, den Lagermeister, in dessen Ressort die Stapelung fällt, strafend oder auch ungeduldig anzublicken, damit dieser die Magazinarbeiter entsprechend beschimpfe. Und wenn dann später auf seinem Rundgang das Zollorgan in den Glasverschlag tritt und die Wärme des glühenden Ofens lobt, den Kragen der Uniformbluse aufhakt und unter wohligen Jammerrufen emporgehobenen Armes gähnend sich im Stuhle zurücklehnt, dann sind die Listen bereits kontrolliert und in die Kartothek übertragen, und es ist keine strenge Prüfung, sondern die beiden Männer sitzen nebeneinander vor dem Tische, besprechen mit Muße den Einlauf. Dann bestätigt der Beamte mit blauem Stift und gewohntem Schwung die Liste, übernimmt die Kopie, schließt sie in seinen Schreibtisch ein und sofern es ihnen zusagt, gehen sie miteinander in die Kantine.
Ja, Esch hatte einen guten Tausch gemacht, wenn auch die Gerechtigkeit dabei draufzahlte. Oft mußte er denken – und es war das Einzige, was zu seiner Zufriedenheit fehlte –, ob sich nicht doch ein Weg finden ließe, um die pflichtgebotene Anzeige zu erstatten; dann erst wäre alles in Ordnung.
Der Zollinspektor Balthasar Korn stammte aus einer sehr nüchternen Gegend Deutschlands. An der Grenzscheide zwischen bayrischer und sächsischer Kultur war er geboren, und seine Jugendeindrücke hatte er von der hügeligen Stadt Hof in Bayern empfangen. Sein Sinn stand zwischen nüchterner Grobheit und nüchterner Gewinnsucht, und nachdem er es im aktiven Militärdienst bis zum Feldwebel gebracht, hatte er die Gelegenheit ergriffen, die der vorsorgliche Staat treuen Soldaten gewährt, und war zum Zolldienst übergetreten. Unbeweibt lebte er mit seiner gleichfalls unverheirateten Schwester Erna in Mannheim, und da ihm das leerstehende Hofkabinett in der Wohnung ein Dorn im Auge war, veranlaßte er August Esch, das kostspielige Gasthofzimmer aufzugeben und wohlfeileres Logis bei ihm zu nehmen. Und obzwar er Esch nicht für voll gelten ließ, weil dieser als Luxemburger auf keine Militärzeit hinweisen konnte, so wäre es ihm doch nicht unlieb gewesen, wenn er mit Esch nicht nur das Kabinett, sondern auch die Schwester an den Mann gebracht hätte; er sparte nicht mit entsprechenden Anspielungen, und das ältliche Mädchen begleitete sie mit verschämten und kichernden Abwehrbewegungen. Ja, er ging sogar so weit, den guten Ruf der Schwester in Gefahr zu bringen, denn er entblödete sich nicht, Esch vor aller Öffentlichkeit in der Kantine als »Herr Schwager« anzureden, so daß jeder glauben mußte, der also Angeredete teile bereits das Bett seiner Wirtin. Doch tat Korn dies keineswegs bloß des gelungenen Scherzes halber, vielmehr wollte er Esch teils durch fortgesetzte Gewöhnung, teils durch den Druck der öffentlichen Meinung zwingen, das fiktive Leben, in das er ihn solcherart versetzte, in gediegene Realität zu verwandeln.
Esch war nicht ungern zu Korn gezogen. Er, der sich schon so viel herumgetrieben hatte, fühlte sich diesmal verlassen. Vielleicht waren die numerierten Mannheimer Straßen daran schuld, vielleicht ging ihm der Geruch der Wirtsstube bei Mutter Hentjen ab, vielleicht war es die Geschichte mit dem Dreckkerl, dem Nentwig, die ihm noch in den Gliedern lag, kurzum, erfühlte sich einsam und blieb bei dem Geschwisterpaar, blieb, trotzdem er längst heraus hatte, woher der Wind bei den Korns wehte, blieb, trotzdem er nicht daran dachte, sich mit dieser ältlichen Person einzulassen: er machte sich nichts aus der reichhaltigen Wäscheausstattung, die Erna im Laufe der Jahre angesammelt hatte und die sie ihm mit einigem Stolze zeigte, und auch das Sparkassabuch über zweitausend Mark, das sie ihn einmal sehen ließ, reizte ihn nicht. Aber die Bemühungen Korns, ihn in die Falle zu locken, die waren so spaßig, daß man dafür schon etwas riskieren konnte; natürlich mußte man auf der Hut bleiben und sich nicht übertölpeln lassen. Einige Beispiele: Korn ließ es sich selten nehmen, ihm das Bier zu bezahlen, wenn sie sich vor dem gemeinsamen Heimweg in der Kantine trafen; und hatten sie dann weidlich über die Minderwertigkeit des Mannheimer Gesöffs geschimpft, so war Korn nicht davon abzubringen, auch noch im Spatenbräu einzukehren. Griff dann Herr Esch eilig in die Tasche, so wehrte Korn neuerlich ab: »Sie werden sich schon noch revanchieren, Herr Schwager.« Und wenn sie dann durch die Rheinstraße schlenderten, pünktlich blieb der Herr Zollinspektor dann vor den beleuchteten Schaufenstern stehen und ließ seine Pranke auf Eschs Schulter fallen: »So einen Schirm hat sich meine Schwester schon lange gewünscht; den werde ich ihr zum Namenstage kaufen«, oder: »Solch ein Gasbügeleisen gehört in jeden Haushalt«, oder »wenn meine Schwester eine Waschmaschine hätte, wäre sie froh.« Und weil Esch auf all dies nichts sagte, ärgerte sich Korn so wütend wie einst über die Rekruten, die die Zerlegung des Gewehrs nicht hatten verstehen wollen, und je wortloser Esch neben ihm herging, desto wütender wurde der dicke Korn über die freche Visage, die der Esch dabei aufsteckte.
Esch aber verstummte in solchen Fällen keineswegs aus Geiz. Denn obgleich er sparsam war und kleine Vorteile gern ergatterte, so erlaubte die solide und rechtliche Buchhaltung seiner Seele doch nicht, daß er Ware ohne Bezahlung annahm; Leistung erforderte Gegenleistung und Ware wollte Bezahlung; allerdings erachtete er es für überflüssig, sich in einen voreiligen Kauf einzulassen, ja, es wäre ihm geradezu plump und lieblos erschienen, den handfesten Aufforderungen Korns sachlich Folge zu leisten. So hatte er sich denn fürs erste eine sonderbare Art der Revanche zurechtgelegt, die ihm gleichzeitig gestattete, Korn etwas zugute kommen zu lassen und trotzdem zeigte, daß er es mit einer Heirat nicht eilig habe; nach dem Abendbrot pflegte er Korn auf einen kleinen Bummel einzuladen, der in die Kneipen mit Damenbedienung führte und der unweigerlich für sie beide in den sogenannt verrufenen Gassen draußen endigte. Das kostete manchmal ein schönes Stück Geld für die gemeinsame Zeche – wenn auch Korn gezwungen war, sein Mädchen selber zu bezahlen –, jedoch es war schon alles Geld wert, mit anzusehen, wie Korn nachher auf dem Heimweg mit knurriger Miene neben ihm herging, den schwarzen buschigen Schnurrbart zerzaust und oftmals daran kauend, brummend, daß solches Lotterleben, zu dem Esch ihn verführe, nun ein Ende haben müsse. Und überdies war Korn am nächsten Tag auf seine Schwester stets so schlecht zu sprechen, daß er sie ohne weiteres in ihren empfindlichsten Gefühlen beleidigte, indem er ihr vorwarf, daß es ihr nie gelingen werde, einen Mann an ihre Person zu fesseln. Und wenn sie dann keifend aufzählte, wie oft und oft sie dies zuwege gebracht habe, verwies er mit geringschätziger Bemerkung auf ihren ledigen Stand.
Eines Tages gelang es Esch, seine Schuld zu einem größeren Teile abzutragen. Auf seinem Wege durch die Speditionsmagazine war seine wachsame Neugierde an den auffällig geformten Kisten und Stücken eines Theaterfundus, den man eben verlud, hängengeblieben. Ein glattrasierter Herr stand daneben und gebärdete sich aufgeregt, schrie, daß man seine wertvolle Habe, die einen unermeßlichen Wert darstelle, so roh behandle, als wäre es Brennholz, und da Esch, der mit ernster Kennermiene zugesehen hatte, den Magazinarbeitern einen überflüssigen Rat erteilte, und solcherart in unmißverständlicher Weise zu wissen gab, daß der Herr in ihm eine fachmännische Standesperson zu erblicken habe, richtete er den nicht geringen Redeschwall des Fremden auf sich und sie gerieten bald in ein freundschaftliches Gespräch, in dessen Verlauf sich der glattrasierte Herr unter Lüpfen des Hutes als Direktor Gernerth, Gernerth mit th, und als neuer Pächter des Thaliatheaters vorstellte, dem es zu besonderem Vergnügen gereichen würde – inzwischen waren die Verladearbeiten beendigt –, wenn der Herr Speditionsinspektor mit seiner geehrten Familie der glanzvollen Eröffnungsvorstellung beiwohnen wollte, zumal er ihm hiefür gerne Billette zu ermäßigtem Preise zur Verfügung stellen werde. Und als Esch mit Freuden zusagte, griff der Direktor sogar in die Tasche und schrieb kurzerhand eine Anweisung auf drei Freikarten.
Nun saß Esch mit dem Geschwisterpaar Korn vor dem weißgedeckten Tisch des Varietétheaters, dessen Programm mit einer neuen Attraktion, den beweglichen, sogenannt kinematographischen Bildern eingeleitet wurde. Diese Bilder fanden zwar wenig Anklang bei ihnen sowie bei dem übrigen Publikum, da man dieselben als unernst und nur als Überleitung zu den reelleren Genüssen empfand, allein man war von der modernen Kunstform trotzdem gefesselt, als man ein Lustspiel vorgesetzt bekam, das die komischen Wirkungen von Abführpillen zeigte und die kritischen Augenblicke mit einem Trommelwirbel unterstrich. Korn schlug dröhnend mit der flachen Hand auf den Tisch, Fräulein Erna lachte, die Hand vor dem Mund, schaute neckisch und verstohlen durch die Finger zu Esch, und Esch war stolz, als wäre er selber der Erfinder und Dichter dieser gelungenen Vorführung. Der Rauch ihrer Zigarren stieg aufwärts und mündete in die Tabakswolke, welche unter der niederen Decke des Saales gar bald schwebte, silbrig durchschnitten von der Lichtbahn des Scheinwerfers, der von der Galerie aus die Bühne beleuchtete; in der Pause, die den Darbietungen des Kunstpfeifers folgte, bestellte Esch drei Glas Bier, obwohl es in dem teueren Theaterlokal wesentlich mehr kostete als anderswo, war aber zufrieden, da es sich als abgestanden und schal erwies, so daß beschlossen wurde, von weiterer Bestellung abzusehen und das Getränk nach der Vorstellung im Spatenbräu einzunehmen. Er geriet wieder einmal in Geberlaune, und während die Primadonna Feuriges und Schmerzliches zum besten gab, sagte er beziehungsvoll: »Ja, die Liebe, Fräulein Erna.« Doch als der Vorhang nach dem Beifall, den man der Sängerin von allen Seiten reichlich gespendet hatte, wieder hochging, da blinkte es wie Silber, und droben standen vernickelte Tischchen und die anderen Nickelgerätschaften eines Jongleurs. Auf dem roten Samt, mit dem die Gestelle teils behangen, teils überzogen waren, ruhten die Kugeln und die Flaschen, die Fähnchen und die Keulen und auch ein großer Stoß weißer Teller. An einer spitz zulaufenden Leiter, die gleichfalls aus spiegelndem Nickel verfertigt war, hingen etwa zwei Dutzend Dolche, deren lange Klingen nicht minder blinkten als all das polierte Metall ringsumher. Der Jongleur im schwarzen Fracke war von einer Gehilfin unterstützt, die er offenbar bloß mitgenommen hatte, um ihre große Schönheit dem Publikum zu zeigen, und auch das schillernde Trikot, mit dem sie bekleidet war, diente wohl nur diesem Zwecke, denn sie hatte ja nichts anderes zu tun, als dem Jongleur die Teller und die Fähnchen zu reichen oder sie ihm mitten in einer Übung zuzuwerfen, so oft er, in die Hände klatschend, sie dazu aufforderte. Sie entledigte sich dieser Aufgabe mit einem graziösen Lächeln und wenn sie ihm die Keule zuwarf, stieß sie einen kleinen fremdländischen Schrei aus, vielleicht um die Aufmerksamkeit ihres Gebieters auf sich zu lenken, vielleicht auch, weil sie damit um ein wenig Liebe bettelte, die der Strenge ihr vorenthielt. Und obzwar der eigentlich wissen mußte, daß er Gefahr lief, sich mit seiner Hartherzigkeit die Sympathie der Menge zu verscherzen, würdigte er die Schöne keines Blickes, und bloß wenn es galt, den Applaus mit einer Verbeugung zu quittieren, dann machte er eine beiläufige Bewegung zur Gehilfin hin, andeutend, daß er ihr einige Prozente des Beifalls überlasse. Dann aber geht er in den Hintergrund und freundschaftlich, als wäre die Schmach, die er ihr doch eben angetan, niemals gewesen, holen sie gemeinsam ein großes schwarzes Brett, das, von niemand beachtet, dort gewartet hat, bringen es zu dem wartenden Nickelgerüst, stellen das Brett auf und befestigen es an dem Gestänge. Hernach schieben sie, mit kleinen Rufen und Lächeln sich gegenseitig anfeuernd, das nunmehr senkrecht aufgestellte schwarze Brett zur Rampe vor und fixieren es mit Drähten, die plötzlich nun da sind, am Boden und in den Kulissen. Nachdem sie dies mit großer Wichtigkeit besorgt haben, stößt die schöne Gehilfin neuerdings ihren kleinen Schrei aus und hüpft zu dem Brett, welches so hoch ist, daß sie mit ihren gestreckten Armen kaum bis zum oberen Rand hinreicht. Nun bemerkt man auch, daß dort oben zwei Handhaben an dem Brette angebracht sind, und die Gehilfin, die mit dem Rücken gegen das Brett lehnt, ergreift jetzt die Handhaben, und diese etwas gezwungene und künstliche Haltung verleiht ihr, die in ihrem glitzernden Flittergewand scharf gegen die Schwärze des Brettes steht, das Aussehen einer Gekreuzigten. Trotzdem lächelt sie noch immer ihr graziöses Lächeln, auch jetzt noch, da der Mann, der sie mit scharf zugekniffenem Auge betrachtet hat, herantritt und ihre Lage zwar unmerklich, aber doch so verändert, daß jedem inne wird, wie es hier auf den kleinsten Millimeter ankommt. Dies alles vollzieht sich unter den Klängen eines leisen Walzers, der alsbald auf ein kleines Zeichen des Jongleurs verstummt. Ganz still ist es im Saal geworden; eine außerordentliche Einsamkeit, aller Musik entblößt, hat sich auf der Bühne droben aufgetan, und die Kellner dürfen weder Speise noch Bier zu den Tischen bringen, sie stehen, selber in großer Spannung, bei den gelb erleuchteten Türen im Hintergrund; wer im Begriffe war zu essen, tut die Gabel, die den aufgespießten Bissen noch trägt, auf den Teller zurück, und bloß der Scheinwerfer, den der Beleuchter voll auf die Gekreuzigte gerichtet hat, surrt weiter. Der Jongleur aber prüft bereits einen der langen Dolche in der mörderischen Hand; er legt den Oberkörper zurück, und er ist es jetzt, welcher den rauhen exotischen Schrei ausstößt, da das Messer pfeifend seiner Hand entfliegt, quer über die Bühne saust und neben dem Körper des gekreuzigten Mädchens mit dumpfem Aufschlag im schwarzen Holze stecken bleibt. Ehe man sich dessen versieht, hat er beide Hände voll spiegelnder Dolche und während seine Schreie immer rascher und immer tierischer, ja immer brünstiger aufeinanderfolgen, schwirren die Messer in immer rascherer Folge durch die zitternde Luft der Bühne, stoßen mit immer rascherem Aufschlag in das Holz, rahmen den schmalen Körper, die zarten nackten Arme, rahmen ein Gesicht, das immer noch lächelt, erstarrt und bezwungen, werbend und fordernd, kühn und verängstigt zugleich. Fast hätte Esch die Arme selber gegen den Himmel erhoben, selber gekreuzigt, hätte er gewünscht, vor der Zarten zu stehen, mit eigenem Körper die drohenden Messer aufzufangen, und hätte der Jongleur, wie dies zu geschehen pflegt, gefragt, ob ein Herr aus dem Publikum den Wunsch hege, auf die Bühne zu kommen, um sich vor das schwarze Brett zu stellen, wahrlich, Esch hätte sich gemeldet. Ja, es war ihm fast ein wollüstiger Gedanke, daß er allein und verlassen dort stünde, und daß die langen Messer ihn an das Brett anheften könnten wie einen Käfer, doch müßte er dann, korrigierte er, mit dem Gesicht gegen das Brett gewendet sein, da kein Käfer vom Bauche her aufgespießt wird: und der Gedanke, daß er gegen die Finsternis des Brettes gekehrt wäre, nicht wissend, wann das tödliche Messer von hinten heranfliegt, das Herz ihm zu durchbohren und es an das Brett anzuheften, war von so außerordentlichem und geheimnisvollem Reiz, war Wunsch von so neuer Stärke und Reife, daß er wie aus Traum und Seligkeit auffuhr, als mit Trommelwirbel und Paukenschlag und Fanfarenruf das Orchester den Jongleur begrüßte, der siegreich das letzte Messer entsendet hatte, indes das Mädchen aus seiner nun vollendeten Umrahmung heraushüpfte, und sie beide mit symmetrischer Pirouette, an den Händen sich haltend und mit dem freien Arme runde Bewegungen vollführend, vor dem erlösten Publikum sich verneigten. Es waren die Fanfaren des Gerichtes. Der Schuldige wird wie ein Wurm zertreten; warum soll er nicht wie ein Käfer aufgespießt werden? warum soll der Tod nicht statt der Sense eine lange Stecknadel tragen, oder zumindest eine Lanze? immer wartet man, daß man zum Gericht geweckt wird, denn mag man auch einmal beinahe dem Freidenkerbund beigetreten sein, so hat man trotzdem sein Gewissen. Er hörte Korn sagen: »Das war großartig«, und es klang wie Blasphemie; und gar als Fräulein Erna meinte, daß sie, wenn man sie fragen täte, sie sich nicht so nackt hinstellen und in aller Öffentlichkeit mit Messern anwerfen lassen möchte, da wurde es Esch zu bunt, und er stieß Ernas Knie, das an dem seinen lehnte, höchst unsanft von sich; solchen Leuten durfte man eben nichts Besseres zeigen; hergelaufene Leute ohne Gewissen waren sie, und es imponierte ihm durchaus nicht, daß Fräulein Erna jeden Augenblick zur Beichte rannte, vielmehr wollte ihm scheinen, als sei die Lebensführung seiner Kölner Freunde doch gesicherter und anständiger.
Schweigsam im Spatenbräu trank Esch sein dunkles Bier. Er hatte ein Gefühl mit hierher gebracht, das schier Sehnsucht genannt werden durfte. Besonders da es sich nun in eine Ansichtskarte an Mutter Hentjen umsetzte. Daß Erna sich daran beteiligen wollte, »Herzliche Empfehlungen Erna Korn«, das war selbstverständlich, aber daß auch Balthasar sich dazudrängte und unter seinem »Gruß Korn Zollinsp.« mit fester Hand einen dicken Abschlußstrich zog, das bildete eine Art Huldigung für Frau Hentjen und stimmte Esch so milde, daß er unsicher wurde: hatte er seine Schuldigkeit, sich anständig zu revanchieren, wirklich zur Gänze erfüllt? Eigentlich müßte er zwecks Abrundung des Festes zu Ernas Türe schleichen, und hätte er Erna vorhin nicht so unsanft weggestoßen, er würde die Türe auch sicherlich unversperrt finden. Ja, so müßte wohl der richtige und gemäße Abschluß aussehen, allein er unternahm nichts, um solches herbeizuführen. Eine Art Lähmung war über ihn gekommen, er kümmerte sich nicht weiter um Erna, suchte nicht ihr Knie, und es geschah nichts, weder auf dem Heimweg noch hinterher. Irgendwo drückte schlechtes Gewissen, doch dann konstatierte August Esch, daß er immerhin genug geleistet hätte, und daß es sogar üble Konsequenzen nach sich ziehen könnte, wenn er sich dem Fräulein Korn gegenüber allzusehr verausgabte: er fühlte ein Schicksal über sich, das die Lanze zu drohender Strafe erhob, bereit zuzustoßen, wenn er sich weiterhin wie ein Schwein benahm, und er fühlte, daß er jemandem treu zu bleiben habe, wußte er auch nicht wem.
Während Esch noch den Stich des Gewissens in seinem Rücken spürte, so deutlich, daß er schon meinte, von kalter Zugluft getroffen worden zu sein, und abends den Rücken, soweit er ihm zugänglich war, mit einem scharfen Fluid einrieb, freute sich Mutter Hentjen der beiden Ansichtskarten, die er ihr geschrieben hatte, und steckte sie, bevor sie zur endgültigen Aufbewahrung ins Ansichtskartenalbum wanderten, in den Spiegelrahmen hinter dem Büfett. Abends nahm sie sie dann heraus und zeigte sie den Stammgästen. Vielleicht tat sie dies auch, damit niemand ihr nachsagen könne, sie führe mit einem Manne eine geheime Korrespondenz: ließ sie die Karten die Runde machen, so waren sie nicht mehr an sie, sondern an die Wirtschaft gerichtet, die sich bloß zufällig in ihr personifizierte. Daher war es ihr auch recht, daß Geyring die Beantwortung übernahm, doch ließ sie es nicht zu, daß Herr Geyring sich Unkosten machte, vielmehr besorgte sie selbst für den nächsten Tag eine besonders schöne, eine sogenannte Panoramakarte, die in dreifacher Länge einer gewöhnlichen Postkarte ganz Köln in der vollen Ausdehnung seines dunkelblauen Rheinufers zeigte und Platz für sehr viele Unterschriften bot. Oben schrieb sie »Vielen Dank für die schönen Karten sendet Mutter Hentjen.« Dann beorderte Geyring »zuerst die Damen«, und es unterschrieben sich Hede und Thusnelda. Und dann folgten die Namen von Wilhelm Laßmann, von Bruno May, Hoelst, Wrobek, Hülsenschmitt, John, folgte der Name des englischen Monteurs Andrew, des Steuermanns Wingast und schließlich nach einigen anderen, die man nicht alle entziffern konnte, der Name Martin Geyrings. Dann schrieb Geyring die Adresse, »Herrn August Esch, dzt. Lageroberbuchhalter, Speditionsmagazin der M. R. Schiffahrts-AG., Mannheim«, und überreichte das fertige Produkt Frau Hentjen, die nach aufmerksamem Durchlesen die Kassenlade öffnete, um dem Drahtkorb, in dessen breitem Fach die Banknoten ruhten, die Freimarke zu entnehmen. Fast erschien ihr nun die große Karte mit den vielen Unterschriften als eine zu bedeutende Ehrung für Esch, der doch keineswegs zu den ausgezeichneten Gästen der Wirtschaft zählte. Doch da sie in allem, was sie tat, nach großer Vollkommenheit strebte, und weil auf der weiträumigen Karte trotz der vielen Namen noch so viel leerer Platz geblieben war, daß es nicht nur ihr Schönheitsgefühl beleidigte, sondern auch die erwünschte Gelegenheit bot, Esch in seine Schranken zu verweisen, indem man den leeren Platz durch einen Namen geringeren Standes ausfüllen ließ, trug Mutter Hentjen, auf daß die Magd sich unterfertige, die Karte in die Küche hinaus, doppelt befriedigt, weil sie damit auch der Magd eine wohlfeile Freude bereiten konnte.
Als sie ins Lokal zurückkam, saß Martin an seinem gewohnten Platz in der Ecke neben dem Büfett und war in eine seiner sozialistischen Zeitungen vertieft. Frau Hentjen setzte sich zu ihm und wie so oft sagte sie scherzend: »Herr Geyring, Sie werden mein Lokal noch in Verruf bringen, wenn Sie hier ständig Ihre aufwieglerischen Zeitungen lesen.« – »Ich ärgere mich selber genug über die Zeitungsschmierer«, war die Antwort, »unsereiner kann die Arbeit leisten und die schmieren Unsinn zusammen.« Wieder einmal war Frau Hentjen von Geyring ein wenig enttäuscht, denn immer wieder erwartete sie von ihm umstürzlerische und haßerfüllte Äußerungen, an denen sie ihre eigene Abneigung gegen die Welt hätte weiden können. Sie hatte manchmal in die sozialistischen Zeitungen hineingeblickt, freilich, was sie darin fand, kam ihr stets recht zahm vor und so hoffte sie, daß die lebendige Rede ihr mehr bieten würde als die gedruckte. Solchermaßen war sie einerseits befriedigt, daß auch Geyring von den Zeitungsleuten nichts hielt, wie es ihr überhaupt immer recht war, wenn irgendeiner von irgendeinem andern nichts hielt, andererseits aber blieb er ihr doch schuldig, was sie erwartete. Nein, mit diesem Anarchisten war es nicht sehr weit her, mit so einem, der in seinem Gewerkschaftsbüro saß, nicht anders als der Polizeifeldwebel in seinem Amte, und Frau Hentjen hatte wieder die feste Überzeugung, daß die ganze Welt bloß ein abgekartetes Spiel zwischen den Männern sei, bloß vereinbart, um die Frauen zu schädigen und zu enttäuschen. Sie machte noch einen Versuch: »Was paßt Ihnen an Ihren Zeitungen nicht, Herr Geyring?« – »Dummen Lärm machen sie«, brummte Martin, »machen uns mit ihrem revolutionären Geschwätz die Leute verrückt und wir sollen es dann draußen auslöffeln.« Frau Hentjen verstand nicht recht; es interessierte sie übrigens auch nicht mehr. Mehr aus Höflichkeit seufzte sie: »Ja, man hat's nicht leicht.« Geyring blätterte um und sagte zerstreut: »Ja, man hat's nicht leicht, Mutter Hentjen.« – »Und ein Mann wie Sie, immer auf den Beinen, immer unermüdlich vom frühen Morgen bis zum späten Abend …« Geyring sagte beinahe zufrieden: »Für unsereinen wird es noch lange keinen Achtstundentag geben; erst kommen alle anderen dran …« – »Und so einem Mann werden Prügel zwischen die Füße geworfen«; Frau Hentjen wunderte sich, schüttelte den Kopf und warf dann einen Blick auf ihre Frisur im Spiegel drüben. »Im Reichstag und in den Blättern können sie schreien, die Herren Juden«, sagte Geyring, »aber vor dem Gewerkschaftsdienst, da drücken sie sich.« Das verstand Frau Hentjen; beleidigt ergänzte sie: »Überall sitzen sie, das ganze Geld haben sie und auf jede Frau gehen sie los wie die Böcke.« Der Zug erstarrten Ekels breitete sich wieder über ihr Gesicht; Martin sah von der Zeitung auf und mußte lächeln: »Wird schon nicht so arg sein, Mutter Hentjen.« – »So, jetzt halten Sie es wohl auch schon mit denen?«, sie hatte eine kleine hysterische Aggression in der Stimme: »Ihr könnt nichts anderes als zueinanderhalten, Ihr Männer …« und höchst unvermittelt dazu: »anderes Städtchen, anderes Mädchen.« – »Wird schon so sein, Mutter Hentjen«, lachte Martin, »aber so gut wie bei Mutter Hentjen wird doch so bald nicht woanders gekocht.« Frau Hentjen war versöhnt: »In Mannheim wohl auch nicht«, sagte sie, indem sie Geyring die Karte an Esch zur Expedition übergab.
Theaterdirektor Gernerth gehörte jetzt zum engeren Freundeskreise Eschs. Denn Esch, ein Mensch impetuoser Haltungen, hatte sich schon am folgenden Tage ein Billett zur Vorstellung gekauft, nicht nur, weil er das mutige Mädchen wiedersehen wollte, sondern er hatte es auch getan, um nach Theaterschluß den etwas verwunderten Gernerth in der Direktionskanzlei aufzusuchen und sich als zahlenden Kunden zu präsentieren; dabei hatte er ihm nochmals für den gestrigen schönen Abend gedankt, und Direktor Gernerth, der neuerliche Freibillette witterte und schon daran war, sich die Taschen zuzuknöpfen, mußte sich nun statt dessen gerührt zeigen. Und angesichts solch freundlichen Empfanges einfach sitzen bleibend, erreichte Esch seinen weiteren Zweck und lernte den Jongleur Herrn Teltscher sowie dessen mutige Freundin Ilona kennen, die sich beide als aus Ungarn gebürtig erwiesen, insonders Ilona, die der deutschen Sprache wenig mächtig war, während Herr Teltscher, der unter dem Künstlernamen Teltini arbeitete und auf der Bühne ein englisches Idiom sprach, aus Preßburg stammte.
Herr Gernerth dagegen war ein Egerländer und das war, als er zum ersten Male mit ihm zusammentraf, eine große Freude für Korn; denn Eger und Hof sind so sehr benachbarte Städte, daß Korn es für einen außerordentlichen Zufall ansah, wenn zwei, die beinahe Landsleute sein könnten, gerade in Mannheim zusammenkamen. Doch waren seine Ausbrüche der Freude und Überraschung eher rhetorischer Art, da er für das Faktum der beinahe Landsmannschaft in einem weniger erwünschten Falle bloße Gleichgültigkeit empfunden hätte. Er lud Gernerth zu sich und seiner Schwester ein, wohl auch, weil er nicht dulden konnte, daß sein präsumptiver Schwager selbständige Privatbekanntschaften hätte, und ebenso wurde Herr Teltscher bald zu einem Kaffeebesuche aufgefordert.
Nun saßen sie um den runden Tisch, auf dem neben der bauchigen Kaffeekanne die von Esch beigesteuerten Kuchen zu einer kunstvollen Pyramide aufgeschichtet waren, und der Regen des trüben Sonntagnachmittags floß die Scheiben herab. Herr Gernerth, der das Gespräch in Gang zu bringen suchte, sagte: »Sehr hübsch wohnen Sie, Herr Zollinspektor, geräumig, licht …« und er sah zum Fenster und auf die trübselige Vorstadtstraße hinunter, auf der die großen Regenlachen standen. Fräulein Erna erklärte, es sei eben bescheiden, wie es ihren Verhältnissen anstehe, doch der eigene Herd sei wirklich das einzige, was das Leben schön mache. Herr Gernerth wurde elegisch: eigener Herd, Goldes wert, ja, so könne sie sprechen, allerdings für einen Künstler sei dies ein unerfüllbarer Traum; ach, für ihn gäbe es kein Heim, er habe wohl eine Wohnung, eine schöne nette Wohnung in München, in der seine Frau mit den Kindern hause, aber seine Familie kenne er kaum mehr. Warum er sie denn nicht mitnehme? Das sei kein Leben für Kinder, jede Saison woanders. Und überhaupt. Nein, seine Kinder würden keine Künstler werden, seine Kinder nicht. Er war offenkundig ein guter Vater, und nicht nur Fräulein Erna, sondern auch Esch waren von seinem guten Herzen bewegt. Und vielleicht weil er sich einsam fühlte, sagte Esch: »Ich bin Waise, ich habe meine Mutter kaum gekannt.« – »Ach Gott«, sagte Fräulein Erna. Doch Herr Teltscher, dem das traurige Gespräch nicht zu behagen schien, ließ eine Kaffeetasse auf der Spitze seines Fingers kreiseln, so daß alle lachen mußten, mit Ausnahme Ilonas, die unbeteiligt auf ihrem Stuhle saß und sich wohl von dem vielen Lächeln ausruhte, mit dem sie den Abend verschönen mußte. Jetzt in der Nähe war sie lange nicht so lieblich und zart wie auf der Bühne, vielleicht sogar ein wenig behäbig; ihr Gesicht war ein wenig schwammig, sie hatte schwere Tränensäcke, die voll Sommersprossen waren, und Esch, mißtrauisch geworden, argwöhnte, es könnte auch das schöne blonde Haar nicht echt, sondern eine Perücke sein; aber der Gedanke versank, da er neben ihrem Körper wieder sausende Messer sehen mußte. Dann bemerkte er, daß auch Korns Augen diesen Körper abtasteten und deshalb versuchte er, Ilonas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, fragte sie, ob es ihr in Mannheim gefalle, ob sie den Rhein schon kenne und ähnliches Geographisches. Leider gelang es ihm nicht, denn Ilona antwortete bloß hie und da und an unrechter Stelle: »Ja, bitte schön«, und schien weder mit ihm noch mit Korn irgendeine Verbindung zu wünschen; schwer und ernst trank sie ihren Kaffee, und selbst wenn Teltscher ihr etwas in ihrem heimischen Idiom zuzischte, sichtlich unangenehme Dinge, hörte sie kaum hin. Fräulein Erna indes sagte zu Gernerth, daß ein schönes Familienleben doch das Schönste auf der Welt sei, und sie versetzte Esch kleine Stöße mit der Fußspitze, sei es, um ihn zu ermuntern, daß er Gernerth nacheifern möge, sei es aber auch nur, um ihn von der Ungarin abzulenken, deren Schönheit sie nichtsdestoweniger lobte: denn die Begehrlichkeit, mit der ihr Bruder jene Frau betrachtete, war ihrem aufmerksamen Eidechsenblick nicht entgangen, und sie hielt es für angemessener, daß die Schöne dem Bruder und nicht Esch zufalle. Also streichelte sie die Hände Ilonas und lobte deren Weiße, streifte ihr auch den Ärmel zurück und sagte, daß das Fräulein eine feine Haut habe, Balthasar möge sich überzeugen. Balthasar legte die haarige Tatze darauf. Teltscher lachte und sagte, daß alle Ungarinnen eine Haut wie Seide hätten, worauf Erna, die auch nicht ohne Haut herumlief, erwiderte, daß es bloß auf die Pflege der Haut ankäme, und sie wasche ihr Gesicht täglich mit Milch. Gewiß, sagte Gernerth, sie habe eine prachtvolle, geradezu eine internationale Haut, und Fräulein Ernas welkes Antlitz öffnete sich, ließ die gelblichen Zähne und die Zahnlücke links oben sehen, und sie errötete bis unter die Schläfenhaare, die dünn und braun und ein wenig fahl aus der Frisur heraushingen.
Es war dämmerig geworden; Korns Faust umspannte immer fester die Hand Ilonas, und Fräulein Erna erwartete, daß Esch oder zumindest Gernerth das gleiche mit der ihren tun werde. Sie zögerte, die Lampe anzustecken, nicht zuletzt, weil Balthasar sich solche Störung gründlich verbeten hätte, doch schließlich mußte sie aufstehen, um den selbstgebrauten Likör zu holen, der in blauer Karaffe auf der Kommode prangte. Stolz verkündend, daß das Rezept ihr Geheimnis sei, kredenzte sie das Gebräu, das nach abgestandenem Bier schmeckte, von Gernerth aber als deliziös befunden wurde; und er bekräftigte dies mit einem Handkuß. Esch erinnerte sich, daß Mutter Hentjen die Schnapstrinker nicht liebte, und insbesondere erfüllte es ihn mit Befriedigung, daß sie gegen Korn allerlei einzuwenden gehabt hätte, denn der stürzte ein Gläschen nach dem andern hinunter, wobei er jedesmal schnalzte und den buschigen dunklen Schnurrbart ableckte. Korn schenkte auch für Ilona ein, und es mochte ihrer unwandelbaren Gleichgültigkeit und Unbeweglichkeit entsprechen, daß sie sich das Glas von ihm zum Munde führen ließ und auch nicht darauf achtete, als er einmal daran nippte, seinen Schnurrbart eintauchte und erklärte, daß dies ein Kuß sei. Ilona verstand es wahrscheinlich nicht, hingegen mußte Teltscher wissen, was da vor sich ging. Unbegreiflich, daß er dem so ruhig zusah. Vielleicht litt er in seinem Inneren und war bloß zu gebildet, um Krach zu schlagen. Esch verspürte große Lust, es an seiner Stelle zu besorgen, aber da fiel ihm ein, in welch barschem Tone Teltscher auf der Bühne das mutige Mädchen zu Handlangerdiensten kommandierte; oder wollte er sie gar absichtlich herabwürdigen? Irgend etwas mußte geschehen, man mußte sich mit ausgebreiteten Armen davor stellen! Teltscher jedoch schlug ihn lustig auf die Schulter, nannte ihn Kollege und confrère, und als Esch ihn fragend anblickte, wies er auf die beiden Paare und sagte: »No, wir müssen zusammenhalten, wir Junggesellen.« – »Da muß ich mich Ihrer doch erbarmen«, sagte Fräulein Erna darauf und wechselte den Platz, so daß sie nun zwischen Gernerth und Esch zu sitzen kam, Herr Gernerth aber gekränkt sagte: »So wird ein armer Künstler immer wieder verkürzt … ja, die Kaufleute.« Teltscher meinte, Esch möge sich das nicht gefallen lassen, im Kaufmannsstand allein sei noch Solidität und weiter Blick zu finden. Das Theatergeschäft wäre ja gewiß auch als kaufmännisches zu betrachten und sogar als das schwierigste, und alle Achtung vor Herrn Gernerth, der nicht nur sein Direktor, sondern gewissermaßen auch sein Kompagnon sei und der in seiner Art sicherlich als tüchtiger Kaufmann gelten dürfe, selbst wenn er seine Erfolgsmöglichkeiten nicht immer in entsprechender Weise ausnütze. Er, Teltscher-Teltini, könne das recht gut ermessen, denn er habe, ehe es ihn zum Künstlerberuf gezogen hatte, selber als Kaufmann begonnen. »Und was ist das Ende vom Lied? Ich sitz' hier, wo ich lauter Prima-Engagements in Amerika haben könnt' … oder bin ich vielleicht keine prima Nummer?« In Esch rebellierte eine unklare Erinnerung: was hatten die den Kaufmannsstand so sehr zu loben; gar so weit ist es mit der gepriesenen Solidität auch nicht her. Er sagte es ihnen geradeheraus und schloß: »Natürlich gibt es Unterschiede, zum Beispiel der Nentwig und der Präsident v. Bertrand, das sind beides Kaufleute, und der eine ist ein Schwein und der andere … der ist eben was anderes, was Besseres.« Korn brummte verächtlich, daß der Bertrand ein weggelaufener Offizier sei, das wissen alle, der brauche sich nichts einzubilden. Esch hörte es nicht ungern, also war der Unterschied gar nicht so arg groß. Aber das verschlug nichts; der Bertrand war etwas Besseres, und überhaupt waren das Gedanken, an die Esch sich nicht recht heranwagen wollte. Teltscher indessen fuhr fort, von Amerika zu reden: drüben, fein, da könnte man hochkommen, da brauche man sich nicht wie hier umsonst zu schinden. Und er zitierte: »Amerika, du hast es besser.« Gernerth seufzte; ja, wenn man bloß genügend Kaufmann wäre, dann wäre jetzt manches anders: schwer reich sei er schon einmal gewesen, doch trotz allen kaufmännischen Geistes habe er eben die kindliche Vertrauensseligkeit des Künstlers, und das ganze Kapital, fast eine Million Mark, ist ihm durch einen Gaunerstreich wieder entrissen worden. Ja, Herr Esch möge nur schauen, so reich sei der Direktor Gernerth gewesen! Tempi passati. Nun, er wird es schon wieder schaffen. Er denke an einen Theatertrust, eine große Aktiengesellschaft, um deren Anteile sich die Leute noch reißen würden. Man müsse bloß mit der Zeit gehen und Kapital müßte man beibringen. Und mit einem neuerlichen Handkuß für Fräulein Erna ließ er sich das Glas noch einmal vollschenken, sagte genießerisch: »Deliziös«, und gab die Hand nicht mehr frei, die willig und befriedigt ihm überlassen blieb. Esch aber, von dem Gehörten überwältigt und nachdenklich gestimmt, merkte kaum, daß Fräulein Ernas Schuh auf dem seinen stand, sah bloß von ferne und in der Dunkelheit Korns gelbe Hand, – die nämlich lag auf der Achsel Ilonas, und es war leicht zu erraten, daß Balthasar Korn seinen kräftigen Arm um Ilonas Schulter geschlungen hatte.
Dann mußte schließlich doch Licht gemacht werden, und nun sprachen sie alle durcheinander, und nur Ilona schwieg. Und da es Theaterzeit wurde und man nicht auseinandergehen wollte, lud Gernerth seine Gastgeber ein, die Vorstellung zu besuchen. So machten sie sich fertig und fuhren mit der Straßenbahn in die Stadt. Die beiden Damen saßen drinnen im Wagen und die Männer rauchten ihre Zigarren auf der Plattform. Der kalte Regen warf Tropfen in ihre erhitzten Gesichter, und das war angenehm.
Der Händler, bei dem August Esch seine billigen Zigarren zu erstehen pflegte, hieß Fritz Lohberg. Er war ein junger Mann, etwa im gleichen Alter wie Esch, und dies mochte der Grund sein, warum Esch, der stets mit älteren Leuten verkehrte, ihn als Idioten behandelte. Dennoch sollte der Idiot eine gewisse Bedeutung für sein Leben erhalten, sicherlich keine überragende, aber eigentlich hätte Esch selber stutzig werden müssen, daß er sich just an diesen Laden so rasch gewöhnt hatte und Lohbergs Stammkunde geworden war. Schön, der Laden lag auf seinem Weg, doch das war noch lange kein Grund, sich sogleich darin heimisch zu fühlen. Freilich, es war ein properer Laden und man mochte sich gerne darin aufhalten: der helle reine Tabaksgeruch, der in dem Raume schwebte, gab ein leichtes Gefühl in der Nase, und es war angenehm, über den polierten Tisch zu streichen, an dessen einem Ende stets einige geöffnete Probeschachteln hellbrauner Zigarren und ein Kistchen mit Zündhölzern neben der glänzend vernickelten automatischen Kasse standen. Tätigte man einen Kauf, so erhielt man ein Zündholzpaket gratis, und das war von einer adretten Großzügigkeit. Ferner gab es einen riesigen Zigarrenabschneider, den Herr Lohberg stets bei der Hand hatte, und wenn man die Zigarre gleich in Brand zu stecken wünschte, so schnitt er mit einem scharfen kleinen Knacks die Spitze ab, die man ihm hinhielt. Es war ein guter Aufenthaltsort, hell und sonnig und freundlich hinter blanken Schaufenstern und an diesen kalten Tagen voll einer guten, sozusagen glatten Wärme, die über den weißen Steinfliesen lag und von der überhitzten Staubigkeit des Glaskäfigs im Speditionsmagazin wohltuend sich unterschied. Aber das genügte gerade, um nach der Arbeit oder in der Mittagspause gerne herzukommen, mehr bedeutete es nicht. Man lobte dann die Ordnung, schimpfte auf den Dreck, in dem man selber zu schuften hatte; doch das war nicht ganz ernst gemeint, denn Esch wußte recht gut, daß man die schöne Ordnung, die er in seinen Büchern und Magazinslisten hielt, nicht auf die Stapelung von Kisten und Ballen und Fässern übertragen konnte, und mochte der Lagermeister noch so sehr dahinter sein. Hier im Laden dagegen herrschte eine seltsam beruhigende Geradlinigkeit und eine fast weibliche Präzision, die um so seltsamer schien, als es für Esch kaum oder bloß mit Unbehagen vorzustellen war, daß Zigarren von Mädchen verkauft werden könnten; bei aller Reinlichkeit, es war Männerarbeit, etwas, was ihn an gute Kameradschaft erinnerte: so sollte Männerfreundschaft aussehen und nicht so beiläufig und salopp wie die unordentliche Hilfsbereitschaft eines Gewerkschaftssekretärs. Aber das waren lauter Dinge, über die sich Esch eigentlich keine Gedanken machte; das kam bloß so nebenbei. Hinwiederum war es komisch und auffällig, daß Lohberg mit dem Lose, das ihm beschieden war und mit dem er hätte glücklich sein können, sich nicht zufrieden gab, und noch komischer waren die Gründe, die Lohberg dafür ins Treffen führte und an denen es so recht deutlich wurde, daß er ein Idiot war. Denn obwohl er an der Automatenkasse ein Pappschild hängen hatte: »Rauchen hat noch keinem geschadet«, und obwohl er seinen Zigarrenkistchen hübsche Geschäftskarten beilegte, die nicht nur die Geschäftsanschrift und die Spezialsorten anzeigten, sondern auch ein Verslein trugen: »Wer stets nur reines Kraut geraucht, hat niemals noch den Arzt gebraucht«, so glaubte er doch selbst nicht daran, ja, er rauchte seine eigenen Zigaretten bloß aus Pflichtgefühl und Schuldbewußtsein, und in steter Furcht vor dem sogenannten Raucherkrebs erlebte er an sich, an seinem Magen, seinem Herzen, seinem Rachen alle üblen Wirkungen des Nikotins. Er war ein schmächtiger kleiner Mensch mit einem dunklen Schnurrbartanflug und glanzlosen Augen, die viel Weiß zeigten, und seine etwas schiefen Allüren und Bewegungen standen zu seinen sonstigen Überzeugungen in einem nicht minder merkwürdigen Gegensatz als das Geschäft, das er betrieb und das er doch nicht gegen ein anderes auszutauschen dachte: nicht nur, daß er im Tabak die Volksvergiftung und die Vergeudung des Nationalwohlstandes sah, unausgesetzt wiederholend, daß man das Volk von dem Gifte erlösen müßte, er trat überhaupt für ein großes, naturgemäßes, echt deutsches Leben und Wesen ein, und ein großer Schmerz war es ihm, nicht mit gewaltiger Brust und in gewaltiger Blondheit leben zu können. Immerhin ließ sich diese Benachteiligung durch die Mitgliedschaft in antialkoholischen und vegetarischen Vereinen zum Teil wieder wettmachen, und so hatte er neben der Registrierkasse stets eine Anzahl einschlägiger Zeitschriften liegen, die ihm zumeist aus der Schweiz zugeschickt wurden. Kein Zweifel, er war ein Idiot.
Esch, der gern rauchte, große Fleischportionen vertilgte und Wein trank, wo immer es anging, wäre nun von den Argumenten des Herrn Lohberg, trotz des lockenden Wortes von der Erlösung, das aus ihnen immer wieder herausklang, nicht so sehr beeindruckt gewesen, wäre ihm nicht eine seltsame Parallele zur Haltung Mutter Hentjens aufgefallen. Allerdings, Mutter Hentjen war eine vernünftige Frau, eine besonders vernünftige Frau sogar, und hatte mit solchem Kauderwelsch nichts zu tun. Wenn aber Lohberg, treu den calvinistischen Meinungen, die ihm mit den Zeitschriften aus der Schweiz geliefert wurden, wie ein Pfarrer gegen den Sinnengenuß herzog und gleichzeitig wie ein sozialistischer Redner in einer Freidenkerversammlung für ein freies einfaches Leben am Busen der Natur eintrat, wenn er solcherart an seiner dürftigen Person erahnen ließ, daß die Welt einen Bruch hatte, einen fürchterlichen Buchungsfehler, der nur durch eine wundersame neue Eintragung zur Erlösung gebracht werden konnte, so war in solchem Durcheinander vor allem bloß das eine deutlich, daß es mit Mutter Hentjens Betrieb ebenso lag wie mit Lohbergs Zigarrengeschäft: sie mußte ihren Erwerb von den betrunkenen Männern nehmen, und auch sie haßte und verachtete ihren Erwerb und ihre Kundschaft. Es war zweifellos ein seltsames Zusammentreffen, und Esch dachte schon daran, Frau Hentjen davon zu schreiben, damit sie über solchen Zufall sich gleichfalls verwundere. Aber er ließ es bleiben, als er sich überlegte, wie befremdet Frau Hentjen sein würde, vielleicht sogar beleidigt, daß er sie mit einem Menschen verglich, der ungeachtet aller Tugendhaftigkeit ein Idiot war. Er sparte es sich also für einen mündlichen Bericht auf; er würde ohnehin bald dienstlich in Köln zu tun haben.
Nichtsdestoweniger blieb der Fall Lohberg besprechenswert; eines Abends als Esch mit Korn und Fräulein Erna bei Tische saß, machte sich sein Mitteilungsbedürfnis Luft.
Die beiden Geschwister kannten selbstverständlich den Zigarrenhändler. Korn hatte schon manchmal bei ihm eingekauft, doch von den Eigenheiten des Mannes hatte er nichts bemerkt: »Man tät's ihm nicht ansehen«, beschloß er seine schweigende Gedankenreihe, mit welcher er Esch beipflichtete, daß es sich um einen Idioten handle. Fräulein Erna jedoch hatte eine lebhafte Abneigung gegen den geistigen Doppelgänger der Frau Hentjen gefaßt und fragte vor allem, ob Frau Hentjen etwa gar der so lange geheimgehaltene Schatz des Herrn Esch sei. Das müsse ja eine sehr tugendhafte Dame sein, aber sie glaube schon, daß sie es mit ihr aufnehmen könne. Und was die Tugend des Herrn Lohberg anlange, so sei es natürlich nicht schön, wenn einer, wie ihr Herr Bruder, die ganzen Gardinen vollrauche, andererseits merke man dann wenigstens, daß ein Mann im Hause sei. »Ein Mann, der gar nichts tut, nur Wasser trinkt …«, sie suchte nach Worten, »mir wäre er ekelhaft.« Und dann erkundigte sie sich, ob Herr Lohberg überhaupt schon eines Weibes Liebe genossen hätte. »Wird schon noch eine Unschuld sein, der Idiot«, meinte Esch, und Korn, voraussehend, daß man mit dem noch seine Gaudi haben werde, schrie: »Der keusche Josef.«
Sei es deshalb, sei es, weil er seinen Mieter unter Kontrolle hielt, sei es, weil es sich bloß so ergab, Korn wurde nun gleichfalls Kunde in Lohbergs Geschäft, und Lohberg fürchtete sich, so oft der Herr Zollinspektor polternd eintrat. Die Furcht war nicht unberechtigt. An einem der nächsten Abende geschah es; knapp vor Ladenschluß kam Korn mit Esch zu Lohberg und kommandierte: »Mach dich fertig, Bürscherl, heute verlierst deine Unschuld.« Lohberg rollte hilflose Augen und deutete auf einen Mann in Heilsarmeeuniform, der sich im Laden aufhielt. »A Maskerer«, sagte Korn, und Lohberg stellte verwirrt vor: »Ein Freund von mir.« – »Wir sind auch Freund'«, konstatierte Korn und hielt dem Heilsarmeemann die Pranke hin. Das war ein sommersprossiger, etwas finniger, rothaariger Bursche, welcher gelernt hatte, daß man zu jeder Seele freundlich sein müsse; er lachte Korn ins Gesicht und rettete Lohberg: »Bruder Lohberg hat uns versprochen, heute in unseren Reihen zu streiten. Ich hole ihn dazu ab.« – »So, streiten gehts Ihr, da gehen wir mit«, Korn war begeistert, »wir sind Freund' …« – »Jeder Freund ist uns willkommen«, sagte der fröhliche Heilsarmeesoldat. Lohberg wurde nicht gefragt; er hatte ein ertapptes Gesicht und schloß betreten den Laden. Vergnügt war Esch den Vorgängen gefolgt, doch weil er sich über Korns Breitspurigkeit ärgerte, klopfte er Lohberg wohlwollend auf die Schulter, nicht anders, als Teltscher es mit ihm selber zu tun pflegte.
Sie marschierten in die Neckarvorstadt hinaus. Schon in der Käfertaler Straße hörte man Trommel- und Beckenschlag und Korns Soldatenbeine kamen in Takt. Als sie aus der Straße traten, sahen sie in der Dämmerung die Heilsarmeeleute am Rande der Anlage. Es hatte dünn und wässerig geschneit und wo die kleine Menschengruppe versammelt war, da war der Schnee zu einer schwarzen Suppe zerronnen, die sich kalt in die Stiefel einfraß. Der Leutnant stand auf einer Bank, rief in das beginnende Dunkel: »Kommet zu uns, lasset euch retten, der Erlöser ist nahe, rettet die gefangene Seele!« Aber nur wenige waren seinem Rufe gefolgt, und wenn seine Soldaten mit Trommel- und Beckenschlag von der erlösenden Liebe sangen und ihr Halleluja ertönen ließen: »Herr Gott Zebaoth, rett', o rett' uns vor dem Tod«, so stimmte kaum einer der umstehenden Zivilisten mit ein, und sicherlich sahen die meisten bloß aus Neugierde dem Spektakel zu. Und obgleich die braven Soldaten aus Leibeskräften sangen und die beiden Mädchen mit aller Macht ihre Tamburins schlugen, es wurde dennoch immer lichter um sie herum, je dunkler es am Himmel wurde, und bald standen sie allein mit ihrem Leutnant und hatten nur mehr Lohberg, Korn und Esch als Zuschauer. Lohberg hätte vielleicht auch jetzt noch gerne mitgesungen, er hätte es auch ganz bestimmt getan und sich auch vor Esch und Korn weder geschämt noch gefürchtet, hätte ihm Korn nicht in einem fort unter Rippenstößen »Lohberg, mitsingen!« befohlen. Es war keine angenehme Lage für Lohberg und er war froh, als ein Schutzmann kam und sie zum Gehen aufforderte. Da machten sie sich alle auf den Weg ins Thomasbräu. Und es wäre doch so gut gewesen, wenn Lohberg mitgesungen hätte, ja, es wäre dann vielleicht sogar ein kleines Wunder geschehen, denn es hätte nicht viel gefehlt und auch Esch hätte seine Stimme erhoben zum Preise des Herrn und der erlösenden Liebe, ja, nur eines kleinen Anstoßes hätte es bedurft und vielleicht wäre Lohbergs Singen dieser Anstoß geworden. Aber das läßt sich jetzt hinterher nicht mehr entscheiden.
Was da draußen geschehen war, Esch verstand es selber nicht: die beiden Mädchen hatten Tamburin geschlagen, während ihr Kommandant auf der Bank stand und ihnen das Zeichen zum Einsatz gab, und das hatte merkwürdig an die Befehle erinnert, die Teltscher auf der Bühne Ilona erteilte. Vielleicht war es die plötzlich erstarrende Ruhe des Abends gewesen, der hier am Rande der Stadt erstummte wie die Musik im Theater, die Unbeweglichkeit des schwarzen Baumgeästes, das in den dunkelnden Himmel hineinstarrte, und hinten am Platz waren die Bogenlampen aufgeflammt. Alles blieb unverständlich. Durch die Schuhe drang beißend die Kälte des nassen Schnees; aber nicht bloß deshalb wäre Esch lieber auf der trockenen Bank droben gestanden, das Heil und die Erlösung zu predigen, sondern es war auch das fremdartige Gefühl verwaister Einsamkeit wieder da, und plötzlich war es ihm erschreckend klargeworden, daß er mutterseelenallein werde sterben müssen. Irgendeine vage und doch überraschende Hoffnung war aufgestiegen, daß dies besser, viel besser werden würde, wenn er auf der Bank droben hätte stehen können: und er sah Ilona vor sich, Ilona in der Uniform der Heilsarmee, zu ihm emporschauend und seines erlösenden Zeichens harrend, das Tamburin zu schlagen und Halleluja zu rufen. Aber Korn hatte sich neben ihm aufgepflanzt, feixte aus dem hochgestellten Kragen des nassen Uniformmantels hervor, und bei diesem Anblick hatte sich die Hoffnung verkrochen. Esch verzog den Mund, seine Miene wurde verächtlich, und nun war es ihm fast recht, daß es keine Gemeinschaft gab. Jedenfalls war auch er froh, daß der Schutzmann sie weggeschickt hatte.
Vorne schritt Lohberg mit dem finnigen Heilsarmeesoldaten und dem einen der beiden Mädchen. Esch stapfte hinterdrein. Ja, ob so eine Tamburin schlägt oder Teller wirft, man braucht's ihnen bloß zu befehlen, es ist immer dasselbe, nur das Kleid ist verschieden. Von der Liebe singen sie da wie dort. »Erlösende vollkommene Liebe«, Esch mußte lachen, und er beschloß, die brave Heilssoldatin diesbezüglich zu begutachten. Wie sie in die Nähe des Thomasbräu kamen, blieb das Mädchen stehen, stellte den Fuß auf einen Mauervorsprung, bückte sich und begann die Schnüre ihres nassen unförmigen Stiefels zu knüpfen. Wie sie nun zusammengeklappt dastand, den schwarzen Strohhut gegen das Knie gebeugt, war sie eine höchst unmenschliche Masse, eine Mißgeburt, dennoch von einer gewissen, sozusagen mechanischen Sachlichkeit, und Esch, der bei anderer Gelegenheit eine solche Positur mit einem Klaps auf den vorgestreckten Körperteil quittiert hätte, war ein wenig erschrocken, als sich keine Lust hiezu einstellte, und fast wollte es ihn bedünken, als sei wieder eine Brücke zum Nebenmenschen abgebrochen worden, und er sehnte sich nach Köln zurück. Damals in der Küche hatte er ihr unter die Brüste greifen wollen; ja, Mutter Hentjen wäre es gestattet, sich niederzubücken und sich die Schuhe zu schnüren. Da aber alle Männer dieselben Gedanken haben, wies Korn, der gut gelaunt alle Welt duzte, auf das Mädchen: »Glaubst, daß die laßt?« Esch warf ihm einen giftigen Blick zu, Korn hingegen gab keine Ruhe: »Untereinander werden 's schon tun, die Soldaten.« Mittlerweile waren sie beim Thomasbräu angelangt und sie traten in den hellen lärmenden Saal, in dem es nach Braten, Zwiebel und Bier angenehm roch.
Hier allerdings widerfuhr Korn eine Enttäuschung. Denn die Heilsarmeeleute waren nicht zu bewegen, gleichfalls am Tische Platz zu nehmen, sondern verabschiedeten sich, um im Saale zu sammeln und ihre Zeitungen zu verkaufen. Auch Esch wäre es lieber gewesen, wenn sie ihn nicht mit Korn alleingelassen hätten: irgendein Rest von Hoffnung schwamm noch in seiner Seele, daß sie ihm das zurückbringen könnten, was er draußen unter den dunkelnden Bäumen erfahren und doch nicht hatte erfassen können. Andererseits war es wieder gut, daß sie sich den Hänseleien Korns entzogen, und es wäre noch besser gewesen, wenn sie Lohberg mit sich genommen hätten, denn Korn versuchte nun sich zu entschädigen und die Gaudi mit Lohberg zu beginnen, indem er mit Hilfe einer Portion Zwiebelfleisch und einer Maß Bier den Hilflosen zur Durchbrechung seiner Prinzipien bringen wollte. Indes der Schwache hielt stand, sagte bloß still: »Man spielt nicht mit Menschenleben« und berührte weder Fleisch noch Bier so daß Korn, neuerlich enttäuscht, ingrimmig sich bequemen mußte, diese Portionen selber zu vertilgen, damit sie nicht ungenützt davongetragen würden. Esch betrachtete den dunklen Tümpel am Grunde seines Maßkrugs; komisch, daß das Heil davon abhängen sollte, ob man das austrank oder nicht. Trotzdem war er dem sanft verstockten Idioten beinahe dankbar. Lohberg saß still lächelnd da, und manchmal glaubte man, daß er mit seinen großen weißen Augen zu weinen beginnen werde. Als jedoch die Heilsarmeeleute auf ihrem Rundgang zwischen den Tischen wieder in die Nähe kamen, stand er auf und es schien, als wollte er ihnen etwas zurufen. Wider Erwarten tat er es nicht, sondern blieb einfach stehen. Plötzlich sagte er unvermittelt, sinnlos, unbegreiflich für jeden, der es hörte, ein einziges Wort; er sagte laut und deutlich das Wort »Erlösung«, und dann setzte er sich wieder hin. Korn sah Esch an und Esch sah Korn an. Wie nun aber Korn einen Finger zur Stirn führte, um mit einer kreisenden Bewegung den Zustand in Lohbergs Kopf darzutun, da veränderte sich das Bild in höchst merkwürdiger und schreckhafter Weise, und es war, als schwebte das Wort der Erlösung befreit über dem Tische, gehalten und doch losgelöst von einer unsichtbar kreisenden Mechanik, losgelöst auch von dem Munde, der es ausgesprochen hat. Und obwohl die Verachtung für den Idioten um keinen Deut geringer wurde, schien das Reich der Erlösung zu bestehen, konnte bestehen, mußte bestehen, und sei es bloß, weil der Korn, dieses tote Stück Vieh mit breitem Hintern im Thomasbräu saß und nicht bis zur nächsten Straßenecke, geschweige denn bis zur erlösten Freiheit der Ferne zu denken vermochte. Und wenn auch Esch deshalb noch lange nicht zum Tugendbold wurde, vielmehr mit dem Krug auf den Tisch klopfte und sich noch ein Bier geben ließ, so wurde er doch schweigsam wie Lohberg, und als Korn nach Aufhebung der Tafel vorschlug, nun mit dem keuschen Josef zu Mädchen zu gehen, weigerte sich Esch, heute mitzutun, ließ den vollends enttäuschten Balthasar Korn auf der Straße stehen und begleitete den Zigarrenhändler nach Hause, sehr zufrieden, daß ihnen Korn unflätige Worte nachrief. Es hatte zu schneien aufgehört und in dem lauen Wind, der sich erhoben hatte, flatterten die häßlichen Worte wie leichte Frühlingsbänder.
In jener außerordentlichen Bedrängnis, die jedem Menschen auferlegt ist, wenn er, der Kindheit entwachsen, zu ahnen beginnt, daß er einsam und brückenlos seinem einstigen Tode entgegenzugehen hat, in dieser außerordentlichen Bedrängnis, die eigentlich schon eine göttliche Furcht zu nennen ist, sucht der Mensch nach einem Genossen, damit er mit ihm Hand in Hand dem dunklen Tore zuschreite, und wenn er die Erfahrung gemacht hat, wie lustvoll es unleugbar ist, mit einem anderen Wesen im Bette zu liegen, so meint er, daß diese sehr innige Vereinigung der Haut hindauern könne bis zum Sarge: wenn also auch manches widerwärtig aussieht, weil es zwischen schlecht gelüfteten und groben Bettlaken vor sich geht, oder weil man meinen könnte, es käme einem Mädchen bloß darauf an, in ihrem späteren Alter von einem Manne versorgt zu werden, so möge man doch nie vergessen, daß jedes Wesen, auch wenn es von gelblicher Hautfarbe ist, spitzig und klein und mit einer sichtbaren Zahnlücke oben links, daß dieses Wesen trotz seiner Zahnlücke nach jener Liebe schreit, die es in Ewigkeit vor dem Tode bewahren soll, vor einer Todesfurcht, die täglich neu mit der Nacht sich herabsenkt auf das einsam schlafende Geschöpf, Furcht, die es bereits umzüngelt und beleckt gleich einer Flamme, wenn es sich seiner Kleider entledigt, wie es Fräulein Erna nun tat: sie legte die rotsamtene verschlossene Taille ab und ließ den dunkelgrünen Tuchrock fallen und auch den Unterrock. Auch die Schuhe zog sie aus; die Strümpfe hingegen behielt sie an und ebenso den weiß gestärkten Unterrock, ja, sie konnte sich nicht einmal entschließen, das Mieder zu öffnen. Sie hatte Angst, aber sie verbarg die Angst hinter einem verschmitzten Lächeln und beim Scheine der züngelnden Kerzenflamme auf dem Nachttisch schlüpfte sie, ohne sich weiter zu entkleiden, ins Bett.
Es begab sich nun weiters, daß sie Esch mehrmals durch den Vorraum schreiten hörte, wobei er größeren Lärm machte, als die Verrichtungen, denen er oblag, es erfordert hätten. Vielleicht waren diese Verrichtungen selbst etwas überflüssig, denn wozu mußte er jetzt noch zweimal Wasser holen? Und gar so schwer war der Eimer gewiß nicht, daß man ihn im Vorraum gerade vor Ernas Türe mit einem Krach zu Boden stellen mußte. Und jedesmal, wenn Fräulein Erna solches vernahm, wollte sie nicht zurückbleiben und machte gleichfalls Lärm: rekelte sich in dem knarrenden Bett, stieß sogar absichtlich gegen die Fußwand und seufzte vernehmlich wie ein schläfriger Mensch »Ach Gott«, und auch Husten und Räuspern benützte sie zu solchem Zwecke. Esch jedoch war ein Mensch impetuoser Haltungen, und nachdem sie sich auf diese Art eine kleine Weile telegraphiert hatten, trat er kurz entschlossen bei ihr ein.
Da lag nun Fräulein Erna in ihrem Bette und lächelte mit ihrer Zahnlücke verschmitzt und listig und zugleich ein wenig freundlich ihm entgegen und gefiel ihm eigentlich nicht sehr. Dessenungeachtet leistete er ihrer Aufforderung: »Aber Herr Esch, jetzt machen Sie aber, daß Sie da wieder hinauskommen«, keine Folge und blieb ruhig in dem Zimmer, und er tat dies nicht nur, weil er ein Mensch grober Sinnlichkeit war wie eben die meisten Menschen, tat es nicht nur, weil zwei Personen verschiedenen Gechlechtes, die in vertrauter Wohnungsgemeinschaft leben, der Mechanik ihrer Körperlichkeit kaum entrinnen können und mit der Überlegung »warum schließlich nicht« sich leichthin ihr unterwerfen, er tat es nicht nur, weil er bei ihr Ähnliches vermutete und ihre Aufforderung nicht ernst nahm, er tat es also sicherlich nicht bloß infolge seiner niedrigen Triebe, selbst wenn man zu diesen auch noch die Eifersucht zählt, die bei jedem Manne erregt wird, sooft er zusehen muß, wie ein Mädchen mit Herrn Gernerth poussiert, sondern auch für den Menschen Esch galt es, daß die Lust, die der Mensch als Selbstzweck zu suchen meint, einem höheren Zwecke dient, den er kaum ahnt und der ihn dennoch beherrscht, und der doch nichts anderes ist als die Aufgabe, jene große Angst zu betäuben, die weit über ihn hinausreicht, auch wenn sie manchmal bloß die zu sein scheint, die den Handlungsreisenden befällt, wenn er ferne von Frau und Kindern sich in das einsame Hotelbett legt: Angst und Lust des Reisenden, der bei dem häßlichen, ältlichen Stubenmädchen schläft, manchmal mit herzbrechenden Zoten und oftmals mit schlechtem Gewissen. Natürlich dachte Esch, da er seinen Wassereimer hart auf den Boden stellte, nicht mehr an die Einsamkeit, die wieder über ihn gekommen war, seit er Köln verlassen hatte, er dachte auch nicht an die Einsamkeit, die über der Bühne lag, bevor Teltscher die blitzenden, spiegelnden Messer sausen ließ. Doch wie er jetzt, auf dem Rande von Fräulein Ernas Bett sitzend und über sie gebeugt, nach ihr begehrte, da wollte er mehr von ihr als das, was man sich unter den Wünschen eines brünstigen Mannes im landläufigen Sinne vorstellt, denn hinter dem scheinbar so sehr Handgreiflichen, ja Ordinären, steht immer die Sehnsucht, die Sehnsucht der gefangenen Seele nach Erlösung aus ihrer Einsamkeit, nach einer Rettung, die ihm und ihr, ja vielleicht allen Menschen und sicherlich auch Ilona gelten sollte, einer Rettung, die das Mädchen Erna ihm nicht gewähren konnte, weil weder sie noch er wußten, was er meinte. So war der Zorn, der ihn ergriff, als sie ihm das Letzte vorenthielt und zart abwehrte: »Wenn wir Mann und Frau sein werden«, nicht bloß der Zorn des enttäuschten Männchens und nicht bloße Wut, weil er den Scherz ihrer Bekleidung entdeckt hatte, es war mehr und war Verzweiflung, mochte es auch kaum nach Edlerem aussehen, als er grob und ernüchtert antwortete: »Na, denn nicht.« Und obwohl ihm ihre Weigerung als ein Fingerzeig Gottes zur Keuschheit erschien, war er sofort aus dem Hause und zu einem willigeren Mädchen gegangen. Das kränkte Erna.
Seit jenem Abend war offener Krieg zwischen Esch und Fräulein Erna. Sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen, seine Begierde zu reizen, und nicht minder ergriff er jeden Anlaß, den Versuch zu erneuern und die Widerstrebende ohne Eheversprechen in sein Bett zu ziehen. Der Kampf begann am Morgen, da sie ihm, dem kaum Bekleideten, das Frühstück ins Zimmer brachte, eine lüsterne Bemutterung, die ihn in Raserei versetzte, und endete abends, gleichgültig, ob sie nun ihre Stube versperrte oder ihn eindringen ließ. Keines der beiden sprach das Wort der Liebe aus, und wenn zwischen ihnen nicht offener Haß entbrannte, vielmehr manches in Form böser Scherze vor sich ging, so lag dies bloß daran, daß sie einander noch nicht besessen hatten.
Oftmals dachte er, daß es mit Ilona anders und besser sein müßte, aber sonderbar genug, wollten sich seine Gedanken nicht an sie heranwagen. Ilona war etwas Besseres, ungefähr so wie der Präsident Bertrand etwas Besseres war. Und Esch nahm es nicht einmal ungern hin, daß es zu den Scherzen Ernas gehörte, ihm jedes Beisammensein mit Ilona zu vereiteln, ja, es war ihm ganz recht, so sehr ihn auch das neckische Getue und diese kichernde Scherzhaftigkeit erbitterten. Dabei war jetzt Ilona nahezu täglich in der Wohnung und es hatte sich zwischen ihr und Erna eine Art Freundschaft entwickelt. Was sie miteinander trieben, war Esch allerdings unverständlich: kam er nach Hause und spürte er das starke und billige Parfüm Ilonas, das ihn stets erregte, so fand er die beiden Frauen in einer merkwürdig stummen Zwiesprache: Ilona hatte kein deutsches Wort zugelernt, und Fräulein Erna war genötigt, sich darauf zu beschränken, die Freundin zu streicheln, sie vor den Spiegel zu stellen und an ihrer Frisur und an ihrem Kleide bewundernd herumzuzupfen. Doch meistens sah Esch sich ausgeschaltet. Denn Erna hatte es geradezu darauf angelegt, ihm die Anwesenheit der Freundin zu verheimlichen. So saß er eines Abends unschuldigen Sinnes auf seinem Zimmer, als die Flurschelle ertönte. Er hörte Erna öffnen, und hätte sich weiter nichts Böses gedacht, wenn nicht plötzlich der Schlüssel in seiner Türe umgedreht worden wäre. Mit einem Satz war Esch bei der Tür: er war eingesperrt! Das Frauenzimmer hatte ihn eingesperrt! Und obwohl er diese albernen Scherze nachgerade hätte ignorieren müssen, war es stärker als er, und er begann zu toben und an die Tür zu trommeln, bis endlich Fräulein Erna öffnete, um kichernd hereinzuschlüpfen. »So«, sagte sie, »jetzt kann ich mich Ihnen widmen … wir haben nämlich einen Gast, aber um den kümmert sich schon Balthasar.« Da rannte Esch wütend davon.
Als er eines Nachts spät heimkehrte, roch es im Vorhaus wieder nach ihrem Parfüm. Sie war also wieder einmal hier gewesen oder sie mußte noch hier sein, denn nun sah er auch ihren Hut am Haken hängen. Aber wo steckte sie? Die Wohnstube war dunkel. Korn schnarchte daneben in seiner Kammer. Sie wird doch nicht ohne Hut fortgegangen sein! Esch horchte an Ernas Tür; er hatte die erregende und beklemmende Vorstellung, daß die beiden Frauen da drinnen beieinander lägen. Vorsichtig drückte er die Klinke nieder; die Türe gab nicht nach, sie war abgesperrt, wie immer, wenn Fräulein Erna wirklich zu schlafen wünschte. Esch zuckte die Achsel und ging lärmend auf sein Zimmer. Aber es litt ihn nicht im Bett; er schaute in den Vorraum hinaus; das Parfüm schwebte noch immer in der Luft und der Hut hing noch immer dort. Etwas war nicht in Ordnung, das fühlte man, und Esch schlich durch die Wohnung. Da war es ihm, als werde in Korns Zimmer geflüstert; freilich, Korn war nicht der Mensch, der flüstern konnte, und Esch horchte schärfer hin: da stöhnte Korn, unverkennbar stöhnte er, und Esch, ein Kerl, der sich vor einem Korn gewiß nicht zu fürchten brauchte, floh mit nackten Füßen in seine Stube zurück, als ob etwas Entsetzliches hinter ihm her gewesen wäre. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten.
Am Morgen weckte ihn Erna aus bleiernem Schlaf, und ehe er noch eine Frage anbringen konnte, sagte sie: »Pst, eine Überraschung – stehen Sie nur auf!« Eilends zog er sich an, und als er in die Küche hinaus kam, in der Erna hantierte, nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn auf Fußspitzen zu ihrer Stube, öffnete einen Spalt der Türe und ließ ihn hineinschauen. Da sah er Ilona; sie ließ den vollen weißen Arm, der noch immer keine Messerwunden aufwies, über die Bettkante hängen, in ihrem etwas aufgedunsenen Gesicht lagen die schweren Tränensäcke, und sie schlief.
Nun stellte sich Ilona öfters zu später Stunde in der Wohnung ein, und es dauerte verhältnismäßig lange, ehe Esch begriff, daß sie bei Balthasar Korn übernachtete und daß Erna die Liebschaft des Bruders sozusagen mit eigenem Leibe deckte.
Martin besuchte ihn in seiner Magazinskanzlei. Es war merkwürdig, wie dieser Verfemte, der von jedem Betriebsportier befehlsgemäß hinauszuweisen war, sich doch immer wieder Eintritt verschaffte und in aller Öffentlichkeit und mit aller Seelenruhe auf seinen Krücken sich durch die Arbeitsstätten dahinschwang, von niemandem aufgehalten, von vielen freundlich gegrüßt, sicherlich auch, weil ein jeder sich scheute, dem Krüppel etwas anzuhaben. Just an seiner Arbeitsstätte hatte Esch den Gewerkschaftssekretär allerdings nicht gebraucht; Martin hätte ihn ebensowohl draußen erwarten dürfen, aber andererseits konnte man sich auf ihn verlassen: er wußte, wann er kommen durfte und wann er zu gehen hatte, er war ein anständiger Bursche. »Morgen, August«, sagte er einfach, »ich wollte doch mal sehen, was du treibst. Hübsch hast du's hier; guten Tausch gemacht.« Wollte der Krüppel ihn erinnern, daß er ihm für dieses verfluchte Mannheim dankbar sein müsse? Immerhin, für die Geschichte zwischen Ilona und Korn war Martin nicht verantwortlich zu machen, und so erwiderte Esch bloß mürrisch: »Ja, guter Tausch.« Und irgendwie stimmte es auch. Denn jetzt, da Martin ihn an seinen früheren Posten und an Nentwig erinnerte, da war Esch heilfroh, mit Köln nichts mehr zu tun zu haben. Wie ein Hehler hielt er Nentwigs Missetat noch immer verborgen, und daß man in Köln den Essigfritze an jeder Straßenecke treffen konnte, das benahm einem alle Lust, je wieder dorthin zurückzukehren. Köln oder Mannheim, es war überhaupt kein Tausch – wo sollte man eigentlich leben, um von dem ganzen Dreck erlöst zu sein! Demungeachtet fragte er, wie es in Köln ginge. »Später«, sagte Martin, »jetzt habe ich keine Zeit; wo ißt du zu Mittag?« Und als er es erfahren hatte, schwang er sich eilig davon.
Nun freute sich Esch doch des Wiedersehens und weil er ein ungeduldiger Mensch war, konnte er die Mittagsstunde kaum erwarten. Es war über Nacht Frühling geworden, Esch ließ den Überrock im Magazin zurück; die Pflastersteine zwischen den Schuppen glänzten freundlich in der lauen Mittagssonne und mit einem Male gab es bei den Gebäudeecken auch junges frisches Gras zwischen den Steinen. Als er bei den Verladerampen vorbeiging, legte er die Hand auf die Eisenleiste, mit der die holperigen grauen Holzböden eingekantet waren, und auch das Eisen fühlte sich warm an. Falls er nicht nach Köln versetzt wird, muß er trachten, sein Fahrrad bald herzubekommen. Es atmete sich tief und leicht, und das Essen schmeckte ganz anders, vielleicht weil die Fenster der Gaststube offen standen. Martin erzählte, daß er wegen einer Streikangelegenheit heraufgekommen sei; sonst hätte er sich noch Zeit lassen können. Aber in den süddeutschen und elsässischen Fabriken gehe etwas vor und solche Dinge greifen gerne über: »Meinetwegen dürfen die ja streiken so viel sie wollen, wir jedoch können jetzt keinen Wirbel brauchen. Ein Streik der Transportarbeiter wäre heute der helle Wahnsinn … wir sind eine arme Gewerkschaft und von der Zentrale ist kein Geld zu kriegen … es wäre ein Zusammenbruch, der sich gewaschen hat. Natürlich, mit einem Schiffer darfst du nicht rechnen, wenn so ein Ochse streiken will, hält ihn kein Teufel zurück. Über kurz oder lang werden sie mich noch totschlagen.« Er erzählte dies freundlich, ohne Bitterkeit. »Jetzt schreien sie schon wieder hinter mir her, daß ich von den Reedern bezahlt werde.« – »Vom Bertrand?« fragte Esch interessiert. Geyring nickte: »Selbstredend auch vom Bertrand.« – »So ein Schwein«, entfuhr es Esch. Martin lachte: »Der Bertrand? das ist ein hochanständiger Mann.« – »So, so, der ist also anständig … ist es wahr, daß er ein entlaufener Offizier ist?« – »Ja, er soll vom Militär weggegangen sein – das spricht doch bloß für den Mann.« So, so! das spricht für den Mann? nichts ist eindeutig, dachte Esch voll Zorn, nichts ist eindeutig, nicht einmal an solch schönem Frühlingstag: »Ich möchte bloß wissen, warum du dieses Geschäft noch weiter betreibst?« – »Jeder steht, wo Gott ihn hingestellt hat«, sagte Martin und sein altes Kindergesicht blickte fromm. Dann bestellte er Grüße von Mutter Hentjen und daß sich alle auf Eschs baldigen Besuch schon freuten.
Nach dem Essen begaben sie sich in Lohbergs Zigarrenladen. Sie hatten etwas Zeit und Martin ruhte auf dem schweren Eichenstuhl aus, der vor dem Ladentisch stand und der so blank und solid war wie alles andere in dem Laden. Gewöhnt, nach allem Gedruckten zu greifen, das ihm in Reichweite kam, blätterte Martin in den alkoholfeindlichen und vegetarischen Schweizer Zeitungen. »Alle Wetter«, sagte er, »fast ein Gesinnungsgenosse.« Lohberg war geschmeichelt, aber Esch verdarb ihm die Freude: »Ja, er gehört zu den Limonadebrüdern«, und um ihn gänzlich zu vernichten, setzte er hinzu: »Geyring hatte heute eine große Versammlung, aber eine richtige – keine Heilsarmee!« – »Leider«, sagte Martin. Lohberg, der eine große Schwäche für öffentliche Versammlungen und rednerische Darbietungen hatte, schlug sogleich vor, sie zu besuchen. »Das lassen Sie lieber bleiben«, sagte Martin, »zumindest soll Esch nicht hinkommen, dem könnte es schaden, wenn er dort gesehen wird. Außerdem dürfte die Sache nicht glatt abgehen.« – Esch hatte nicht eben Angst, seine Stelle zu gefährden, doch sonderbarerweise schien der Besuch der Versammlung wie eine Untreue gegen Bertrand. Lohberg dagegen sagte kühn: »Ich komme auf jeden Fall«, und Esch fühlte sich von dem Limonadeschwächling beschämt: nein, es ginge nicht an, einen Freund schutzlos in der Gefahr zu lassen und täte man es, man dürfte Mutter Hentjen nicht mehr unter die Augen treten. Indes er verschwieg seinen Entschluß. Martin erläuterte: »Ich glaube, daß uns die Reeder ein paar Provokateure hinschicken werden; sie haben ja alles Interesse daran, daß so ein wilder Streik in Gang kommt.« Und obwohl Nentwig kein Reeder war, sondern der feiste Prokurist eines Weingeschäftes, war es Esch, als ob der Verruchte auch bei dieser Perfidie die feiste Hand im Spiele hätte.
Die Versammlung fand, wie dies so üblich ist, im Saale eines kleinen Wirtshauses statt. Vor dem Eingang standen einige Schutzleute, musterten die Hineingehenden, und die gaben sich den Anschein, die Wächter nicht zu bemerken. Esch kam spät; als er eintreten wollte, klopfte ihm jemand auf die Schulter und als Esch sich umwandte, war es der Revierinspektor der Hafenwache. »Was führt denn Sie hierher, Herr Esch?« Esch war rasch gefaßt. Eigentlich bloße Neugierde; er habe erfahren, daß der Gewerkschaftssekretär Geyring, den er in Köln gekannt habe, hier sprechen werde und da er nun sozusagen mit zum Bau gehöre, interessiere ihn die ganze Aufmachung. »Davon möchte ich Ihnen abraten, Herr Esch«, sagte der Inspektor, »eben weil Sie vom Bau sind; es riecht brenzlig und Sie können keinen Nutzen davon haben.« – »Für einen Augenblick will ich es mir ansehen«, entschied Esch und ging hinein.
Der niedere Saal, geziert mit den Bildnissen des Kaisers, des Großherzogs von Baden und des Königs von Württemberg, war dicht gefüllt. Auf der Estrade stand ein weißgedeckter Tisch, hinter dem vier Männer saßen; einer von ihnen war Martin. Esch, zuerst ein wenig neidisch, weil nicht auch er an bevorzugter Stelle sitzen durfte, wunderte sich im nächsten Augenblick, daß er jenen Tisch überhaupt wahrgenommen hatte, so wüst lärmte das Chaos im Saale. Ja, es dauerte eine Zeitlang, bis er bemerkte, daß mitten im Saale ein Mensch auf einen Stuhl gestiegen war und eine unverständliche Sprache von sich gab, wobei er jedes Wort – besonders liebte er das Wort »Demagoge« – mit einer Schleudergeste unterstrich und zu dem Tische auf dem Podium hinaufwarf. Es war eine Art ungleicher Zwiesprache, denn die Antwort vom Tische war dünnes Bimmeln einer Glocke, die nicht durchdrang, schließlich aber das letzte Wort behielt, als Martin, auf Krücke und Stuhllehne gestützt, sich erhob und der Lärm verebbte. Zwar war nicht ganz deutlich zu verstehen, was Martin mit der etwas müden und ironischen Routine des gewiegten Versammlungsredners sagte, aber daß er mehr wert war als alle, die um ihn herumbrüllten, das fühlte Esch. Beinahe war es, als käme es Martin gar nicht darauf an, sich Gehör zu verschaffen, denn leicht lächelnd verstummte er und ließ die Rufe »Kapitalistensöldling«, »Schweinestaat«, »Kaiserlicher Sozialist« ruhig über sich ergehen, bis plötzlich unter all den Pfiffen ein schärferer ertönte – in der jähen Stille stand ein Polizeioffizier auf der Estrade und sagte knapp: »Im Namen des Gesetzes, die Versammlung ist aufgelöst; der Saal ist zu räumen.« Während Esch nun von den Hinausstürzenden aus der Türe gedrängt wurde, bemerkte er noch, daß der Polizeioffizier sich Martin zuwandte.
Wie einer Verabredung gemäß hatten sich die meisten zu dem Hofausgang des Lokales gedrängt. Freilich nützte das den Leuten nichts, denn das ganze Haus war inzwischen von der Polizei umstellt worden, und ein jeder mußte sich legitimieren oder mit auf die Polizeiwache. Beim Haupteingang war das Gedränge weniger arg; Esch hatte das Glück, wieder an den Revierinspektor zu geraten und konnte ihm rasch sagen: »Sie haben recht gehabt, einmal und nie wieder«; so entging er der Perlustrierung. Aber die Sache war noch nicht zu Ende. Die Leute standen nun vor dem Lokal, verhielten sich ruhig und schimpften bloß leise auf das Komitee, auf die Gewerkschaft und auf Geyring. Doch mit einem Male wurde es ruchbar, daß das Komitee und Geyring verhaftet worden seien und daß man bloß warte, bis sich die Menge verzöge, um sie abzutransportieren. Da warf die Stimmung jählings um; Pfiffe wurden wieder laut und die Menge schickte sich an, gegen die Polizei loszugehen. Der freundliche Polizeiinspektor, in dessen Nähe Esch geblieben war, gab ihm einen Stoß: »Jetzt verschwinden Sie wohl endlich, Herr Esch«, und Esch, der einsah, daß er hier nichts mehr nützen könne, verzog sich bis zur nächsten Straßenecke, hoffend, irgendwo wenigstens auf Lohberg zu stoßen.
Vor dem Lokal hielt der Lärm noch eine gute Weile an. Dann kamen in raschem Trab sechs berittene Schutzleute, und weil Pferde, die zwar fügsame, dennoch etwas irrsinnige Tiere sind, auf viele Menschen eine Art magischen Einfluß ausüben, so war diese kleine hippische Verstärkung entscheidend. Esch sah noch, wie eine Anzahl Arbeiter mit gefesselten Händen unter dem entsetzten Schweigen der anderen wegeskortiert wurden, und dann leerte sich die Straße. Wo noch zwei beieinanderstanden, wurden sie von den roh und ungeduldig gewordenen Schutzleuten barsch davongetrieben und Esch, in der begründeten Annahme, daß man ihn nicht minder rücksichtslos behandeln würde, räumte das Feld.
Er ging zu Lohberg. Der war bisher nicht heimgekehrt, und Esch blieb vor der Haustüre stehen, wartete in der lauen Frühlingsnacht. Hoffentlich haben sie nicht auch Lohberg mit gefesselten Händen abgeführt. Obgleich dies eigentlich eher erfreulich gewesen wäre. Herrje, was würde Erna sagen, wenn sie den Tugendbold in Fesseln vor sich sähe! Als Esch das Warten schon aufgeben wollte, kam Lohberg daher, furchtbar aufgeregt und fast weinend. Derartiges habe er noch nicht erlebt und es sei unerhört gewesen. Nach und nach und sehr ungeordnet erfuhr Esch, daß die Versammlung erst ganz ruhig verlaufen wäre, wenn man auch Herrn Geyring, der sehr schön gesprochen habe, allerlei Unflätiges zugerufen hätte. Ja, und dann sei einer aufgestanden, welcher offensichtlich einer der agents provocateurs gewesen sei, von denen Herr Geyring selber mittags Erwähnung getan hatte, und habe eine fürchterliche Rede gegen die Besitzenden, gegen den Staat und selbst gegen den Kaiser gehalten, so daß der Polizeioffizier schon gedroht habe, die Versammlung zu schließen, wenn in solchem Tone fortgefahren werde. Unverständlicherweise hätte Herr Geyring, dem es doch klar gewesen sein mußte, was für einen feinen Vogel er da vor sich hatte, den Mann nicht als agent provocateur entlarvt, sondern habe ihn sogar in Schutz genommen und für ihn Redefreiheit verlangt. Nun, dann wurde die Sache eben immer wüster, und schließlich sei die Versammlung aufgelöst worden. Das Komitee und Herr Geyring seien tatsächlich verhaftet: das könne er mit Gewißheit aussprechen, denn er sei unter den letzten gewesen, die den Saal verlassen hatten.
Esch war fassungslos, eigentlich fassungsloser als er sich's eingestand. Er wußte bloß, daß er Wein trinken müsse, um Ordnung in die Welt zu bringen: Martin, der gegen den Streik war, wurde verhaftet, verhaftet von der Polizei, die es mit den Reedern und mit einem entlaufenen Offizier hielt, einer Polizei, die sich nun in ruchloser Weise an einem Unschuldigen vergriff – vielleicht weil man ihr den Kopf Nentwigs schuldig geblieben war! Dabei hatte sich der Revierinspektor doch so freundlich gegen ihn benommen, hatte ihn sogar geschützt. Jäher Zorn gegen Lohberg überkam ihn; der verfluchte Idiot mit seiner ewigen Limonade war vermutlich bloß deshalb bestürzt, weil er sich eine harmlose und erhebende Vereinsmeierei erwartet hatte und nicht begriff, daß es wirklich hart auf hart gehen konnte. Diese Vereinsmeierei erschien Esch plötzlich ekelerregend: wozu gab es so viele Vereine? sie machen die Unordnung nur noch größer und wahrscheinlich sind sie es, die all dies verursachen; grob fuhr er Lohberg an: »Tun Sie diese verfluchte Limonade endlich weg oder ich schmeiße sie Ihnen vom Tisch … wenn Sie 'nen ehrlichen Wein trinken würden, dann wären Sie wenigstens einer vernünftigen Antwort fähig.« Aber Lohberg sah ihn nur mit verständnislos großen Augen an, in deren Weiße sich nun rote Äderchen zeigten, und war keineswegs in der Lage, die Zweifel Eschs zu lösen, Zweifel, die am nächsten Tage noch viel ärger wurden, als man hörte, daß die Verlader und Schiffer mit Hinblick auf die Verhaftung ihres Gewerkschaftssekretärs Geyring die Arbeit eingestellt hatten. Gegen Geyring aber war von der Staatsanwaltschaft die Anklage wegen des Verbrechens der Aufwiegelung erhoben worden.
Während der Vorstellung saß Esch bei Gernerth im sogenannten Direktionsbüro, das ihn immer an seinen Glaskäfig im Magazin erinnerte. Draußen arbeiteten Teltscher und Ilona, und er hörte die sausenden Messer in das schwarze Brett einschlagen. Über dem Schreibtisch befand sich ein weißes Kästchen, das mit dem Genfer Kreuz geziert war und Verbandzeug enthalten sollte. Sicherlich war schon längst keines mehr darin und seit Jahrzehnten hatte keiner das Kästchen geöffnet, aber Esch war überzeugt, daß man jeden Augenblick Ilona hereintragen werde, um ihre blutenden Wunden zu verbinden. Statt dessen kam Teltscher, etwas schwitzend und etwas stolz, wischte sich die Hände mit dem Taschentuch und sagte: »Reelle Arbeit, gute gediegene Arbeit … heißt eine Bezahlung dafür.« Gernerth rechnete in seinem Notizbuch: Saalmiete M. 22.-, Steuern M. 16.-, Beleuchtung M. 4.-, Honorare … »Hören Sie mir auf damit«, sagte Teltscher. »Ich weiß es ohnehin schon auswendig … viertausend Kronen hab' ich in dem Geschäft stecken, sehen werde ich sie nie mehr wieder … mir muß so etwas passieren … Herr Esch, haben Sie einen, der mich hier auslöst! Zwanzig Prozent Rabatt kann er haben und für Sie noch zehne Provision extra.« Esch kannte bereits diese Ausbrüche und diese Anerbieten und reagierte nicht mehr darauf, obwohl er gerne den Teltscher ausgekauft hätte, damit er samt Ilona verschwände.
Esch war mißlaunig. Seit der Einkerkerung Martins hatte sich das Leben gründlich verdunkelt: daß das Geplänkel mit Erna unerträglich und lästig geworden war, das war schließlich belanglos, daß aber Bertrand sich mit der Polizei eingelassen hatte, daß die Polizei sich niederträchtig benommen hatte, das war mehr als aufreizend, und das Verhältnis Ilonas zu Korn, weder von den beiden noch von Erna mehr geheimgehalten, war widerlich anzusehen. Ekelhaft war es. Er wollte gar nicht daran denken; Ilona war doch etwas Besseres. Ja, am schönsten wäre es, man wüßte nichts mehr von ihr und sie verschwände auf Nimmerwiedersehen. Und der Präsident Bertrand nicht minder mitsamt seiner Mittelrheinischen. Das ward Esch nun erst recht deutlich, als Ilona umgekleidet hereinkam und stumm und ernst, von keinem der Männer beachtet, sich niedersetzte. Jetzt würde Korn bald erscheinen, um sie abzuholen; der ging ja neuestens hier ein und aus.
Über Ilona war eine ehrliche Leidenschaft zu dem beleibten Manne gekommen, vielleicht weil Balthasar Korn sie an irgendeine dem Unteroffiziersstande angehörige Jugendliebe erinnerte, vielleicht auch nur, weil er völlig anders war als der gewandte, schwächliche, gleichgültige und in seiner Schwächlichkeit doch herzensrohe Teltscher. Daran freilich verlor Esch keinen Gedanken; genug, daß eine Frau, auf die er selber verzichtet hatte, weil sie zu Höherem bestimmt war, statt dessen nun von einem Korn erniedrigt wurde. Unerklärlich blieb höchstens das Verhalten Teltschers. Der Kerl war zweifelsohne ein Zuhälter, doch das brauchte niemanden zu stören. Übrigens konnte die ganze Geschichte dem Teltscher nicht viel tragen: Korn ließ sich zwar nicht lumpen und Ilona war in einem neuen Kleide, das er ihr geschenkt hatte, recht prächtig anzuschauen, dermaßen prächtig, daß Fräulein Erna die kostspielige Liebschaft ihres Bruders keineswegs mehr mit dem gleichen Wohlwollen wie am Anfang begünstigte, aber bei all dem nahm Ilona kein Geld von Korn und seine Geschenke mußte er ihr förmlich aufdrängen; so sehr liebte sie ihn.
Korn trat zur Türe herein und Ilona warf sich ihm unter östlichen Koseworten an die Uniformbrust. Nein, es war nicht mit anzusehen! Teltscher lachte: »Soll sie sich unterhalten«, und als die beiden zur Türe hinausgingen, rief er ihr sichtlich hämische Worte in ungarischer Sprache nach, die ihm nicht nur einen haßerfüllten Blick Ilonas eintrugen, sondern auch das halb scherzhafte, halb ernsthafte Versprechen Korns, den jüdischen Messerstecher einmal noch zu erschlagen. Teltscher kehrte sich nicht daran, sondern kam auf seine geliebten geschäftlichen Erwägungen zurück: »Wir müssen etwas bringen, was uns nicht teuer kommt und zieht.« – »Da hat er schon eine große Entdeckung gemacht, der Herr Teltscher-Teltini«, sagte Gernerth und rechnete wieder in seinen Notizen. Dann sah er auf: »Wie wäre es übrigens mit Damenringkämpfen?« Teltscher pfiff durch die Zähne: »Wäre zu überlegen, natürlich, ganz ohne Geld geht auch das nicht.« Gernerth kritzelte Ziffern: »Etwas Geld braucht man, nicht so arg, die Weiber kosten nicht viel. Allerdings Trikots … man müßte schon noch jemand dafür interessieren.« – »Anlernen möcht' ich sie schon«, sagte Teltscher, »und Schiedsrichter kann ich auch spielen. Aber Mannheim?«, er machte eine verächtliche Miene, »als ob man nicht sehen möcht', wie das Geschäft hier geht. Was halten Sie davon, Esch?« Esch hatte keine bestimmte Meinung, doch die Hoffnung stieg in ihm auf, daß mit einer Verlegung des Schauplatzes Ilona aus den Fängen Korns erlöst werden könnte. Und da es das Nächstliegende war, sagte er, daß ihm Köln als vorzüglicher Boden für Ringkämpfe erschiene, im Vorjahre hätte es dort im Zirkus Ringkämpfe gegeben, allerdings ernste, und es wäre steckvoll gewesen. »Ernst sein werden auch wir«, nahm sich Teltscher vor. Sie redeten noch lange hin und her, und schließlich erhielt Esch den Auftrag, bei seinem bevorstehenden Kölner Besuch mit dem Agenten Oppenheimer Rücksprache zu nehmen, dem Gernerth inzwischen geschrieben haben würde. Und wenn es Esch gelingen sollte, noch außerdem Geld für das Unternehmen aufzutreiben, so wäre dies nicht nur ein Freundschaftsdienst, sondern es könnte überdies etwas für ihn selber abfallen.
Esch wußte vorderhand keinen Geldgeber. Aber im stillen dachte er an Lohberg, der ja beinahe als reicher Mann gelten konnte. Ob ein keuscher Josef Interesse für Damenringkämpfe haben mochte?
Obwohl man durch die Verhaftungen die Schiff- und Hafenarbeiter im vorhinein der zuständigen Führung beraubt hatte, zog sich der Streik nun schon seit zehn Tagen hin. Es gab zwar einige Arbeitswillige, doch da sie zum Bahnverladedienst nicht ausreichten, und die Schiffahrt ohnehin zum Teil lahmgelegt war, verwendete man sie bloß zu den dringendsten Arbeiten. In den Lagern herrschte sonntägliche Ruhe. Esch war verärgert, weil er wahrscheinlich nicht vor Ende des Streiks abberufen werden konnte und lungerte müßig im Magazin herum, rieb seinen Rücken an den Türpfosten und setzte schließlich einen Brief an Mutter Hentjen auf. Erzählte von den Begebenheiten bei Martins Einkerkerung, erzählte von Lohberg, erzählte aber nichts von Erna und Korn, denn davor ekelte ihm. Und dann besorgte er sich wieder einmal Ansichtskarten und sandte sie an eine Anzahl Mädchen, mit denen er in den letzten Jahren geschlafen hatte und an deren Namen er sich erinnerte. Draußen im Schatten standen die Meister und Lagerverwalter beisammen, und hinter den halboffenen Schiebetüren eines leeren Güterwagens wurde Karten gespielt. Esch dachte nach, wem er noch schreiben sollte und versuchte, die Frauen, die er bisher besessen hatte, zusammenzuzählen. Als ihm dies nicht gelang, war es wie eine verdorbene Lagerliste, und um ins reine zu kommen, begann er die Namen auf einem Blatt zu verzeichnen und setzte Monat und Jahr dazu. Dann addierte er und war befriedigt, besonders als Korn hereinkam und seiner Gewohnheit gemäß ihm wieder einmal mitteilte, daß Ilona ein Prachtweib und eine feurige Ungarin sei. Esch steckte die Liste in die Tasche und ließ Korn reden; der würde sowieso nicht mehr lange reden können. Der Streik müßte nur erst vorüber sein und dann würde der Herr Zollinspektor seiner Ilona bis nach Köln nachlaufen können, oder noch weiter, bis ans Ende der Welt. Und fast tat er ihm leid, weil er nicht wußte, was ihm bevorstand; sorglos prahlte Balthasar Korn mit seiner Eroberung, und als er genügend von Ilona geschwätzt hatte, zog er ein Paket Karten hervor. Brüderlich suchten sie einen dritten Mann und dann spielten sie den ganzen Tag.
Abends ging Esch zu Lohberg, der mit einer Zigarette zwischen den Lippen in seinem Geschäfte saß und in die vegetarischen Zeitungen vertieft war. Er legte sie weg, als Esch hereinkam und begann von Martin zu sprechen: »Die Welt ist vergiftet«, sagte er, »nicht nur mit Nikotin und mit Alkohol und mit tierischer Nahrung, sondern mit einem noch übleren Gift, das wir kaum kennen … es ist nicht anders, als ob Geschwüre aufbrächen.« Seine Augen waren feucht und sahen fiebrig aus, er machte einen ungesunden Eindruck; möglich, daß wirklich ein Gift in ihm arbeitete. Esch stand vor ihm, hager und robust, aber sein Kopf war von dem langen Kartenspiel ausgeleert und er erfaßte nicht den Sinn der idiotischen Rede, erfaßte kaum, daß sie sich auf Martins Einkerkerung bezog; alles lag in einem idiotischen Nebel und klar war bloß der Wunsch, die Sache mit der Beteiligung am Theatergeschäft ins reine zu bringen. Er war kein Freund von Winkelzügen: »Wollen Sie sich an Gernerths Theater beteiligen?« Das war für Lohberg eine überraschende Frage, und groß aufgerissenen Auges sagte er bloß: »Hh?« – »Ja, ob Sie sich an dem Theatergeschäft beteiligen wollen?« – »Aber ich habe doch das Zigarrengeschäft.« – »Die ganze Zeit haben Sie geflennt, daß sie es nicht mögen und da dachte ich mir, daß Sie mit einem anderen glücklicher wären.« Lohberg schüttelte den Kopf: »Solange meine Mutter lebt, muß ich den Zigarrenladen weiterführen; zur Hälfte gehört er ja ihr.« – »Schade«, sagte Esch, »Teltscher meint, daß an den Damenringkämpfen hundert Prozent zu verdienen sein werden.« Lohberg fragte gar nicht, welche Bewandtnis es mit den Ringkämpfen habe, sondern sagte auch bloß: »Schade.« Esch fuhr fort: »Ich habe mein Geschäft gleichfalls satt. Jetzt streiken sie; es ist zum Kotzen, wie stumpfsinnig man dort herumsitzt.« – »Was wollen Sie denn anfangen? wollen Sie auch zum Theater?« Esch dachte nach; das Theater hieß, mit Gernerth und Teltscher in irgendeiner verstaubten Direktionskanzlei beisammen hocken. Die Künstlerinnen waren ihm auch schon über, seitdem er sich hinter den Kulissen herumgetrieben hatte; sie waren nicht viel anders als Hede oder Thusnelda. Eigentlich wußte er heute überhaupt nicht, was er wollte, so öde war der Tag. Er sagte: »Weg, nach Amerika.« In einer illustrierten Zeitung hatte er Bilder aus New York gesehen; die stiegen jetzt auf; auch die Photographie eines amerikanischen Boxkampfes hatte es dort gegeben und dies führte zu den Ringkämpfen zurück. »Wenn ich mir das Fahrgeld rasch verdienen könnte, ziehe ich los.« Er war selber erstaunt, daß er es ernst meinte und ernstlich zu rechnen begann: er besaß nahezu dreihundert Mark; wenn er die in das Ringkampfgeschäft hineinsteckte, könnte er sie tatsächlich vermehren und warum sollte er, ein kräftiger, arbeitsfähiger Mensch mit buchhalterischer Praxis, es nicht ebensowohl in Amerika als hier versuchen. Zumindest hätte man dann ein Stück Welt gesehen. Vielleicht würden Teltscher und Ilona dann bereits ihr New Yorker Engagement haben, von dem Teltscher immerzu sprach. Lohberg unterbrach seinen Gedankengang. »Sie haben eben Sprachkenntnisse, die mir leider abgehen.« Esch nickte befriedigt; ja, mit dem Französischen würde er sich schon irgendwie durchbringen und das Englische würde auch keine Hexerei sein, – aber um sich an der Ringkampffinanzierung zu beteiligen, brauche Lohberg doch keine Sprachkenntnisse. »Nein, das nicht, hingegen wohl für Amerika«, meinte Lohberg. Und obgleich es für Lohberg unvorstellbar war, daß irgend jemand oder gar er selber in einer andern Stadt als in Mannheim leben sollte, waren sie nun trotzdem fast Reisekameraden geworden und besprachen die Kosten der Überfahrt und wie sie sie aufbringen könnten. So kamen sie im natürlichen logischen Ablauf wieder auf die Gewinnchancen des Damenringkampfes, und nach mancherlei Überlegungen gelangte Lohberg zu dem Schluß, daß er ganz gut tausend Mark im Geschäfte freimachen und bei Gernerth placieren könnte. Das reichte nun allerdings nicht, um den Anteil Teltschers aufzukaufen, immerhin war es ein ganz netter Anfang, besonders wenn man die dreihundert Eschs dazurechnete.
Der Tag hatte besser geendet, als er begonnen hatte. Auf dem Heimweg grübelte Esch darüber nach, wo er den Rest des Geldes auftreiben könne und es fiel ihm Fräulein Erna ein.
Sosehr es Erna lockte, Esch durch finanzielle Leistungen an sich zu fesseln, sosehr hielt sie auch hierin an dem Prinzip fest, das Verlangte erst dem angetrauten Gatten preiszugeben. Als sie neckisch diese Sinnesart kundtat, ärgerte sich Esch: was sie von ihm glaube! ob er vielleicht das Geld für sich verlange? aber indem er es aussprach, fühlte er, daß es nicht stimmte, daß es eigentlich gar nicht um das Geld ging und daß Fräulein Erna noch viel mehr im Unrecht war, als man ihr begreiflich machen konnte – natürlich sollte das Geld bloß dazu dienen, Ilona auszukaufen, natürlich sollte bloß verhütet werden, daß je wieder mit Messern nach wehrlosen Mädchen geschmissen wird, natürlich wollte er das Geld nicht für sich, doch das war noch lange nicht alles, denn darüber hinaus wollte er ja auch von Ilona selber nichts mehr haben – beileibe nicht, wo doch die anderen das Geld hergaben –, und es war ihm sogar recht, verzichten zu müssen, er pfiff auf Ilona! für ihn stand Höheres auf dem Spiele, und mit Recht war er empört, daß Erna ihn des Eigennutzes zieh, gerechtfertigt war es, daß er sie barsch anließ: so möge sie es eben bleiben lassen und ihr Geld behalten. Sie aber nahm seine Grobheit für Schuldbewußtsein, freute sich, ihn ertappt zu haben, und kicherte, daß man dies schon kenne, wobei sie jenes Handlungsreisenden in Hof gedachte, der nicht nur ihre Gunst genossen, sondern überdies ihr einen schmerzlicheren Verlust von fünfzig Mark zugefügt hatte.
Überhaupt war das heute ein guter Tag für Fräulein Erna. Esch hatte etwas von ihr verlangt, was sie ihm versagen konnte, und zudem hatte sie neue Schuhe an, die ihr ein freudiges Empfinden verschafften, und in denen es sich gut stand. Sie hatte auf dem Kanapee Platz genommen, und weil es eine übermütige und ein wenig spöttische Geste war, ließ sie die Füße unter dem Kleidersaum hervorschauen und wippte mit den Fußspitzen; das leichte Knirschen des Leders tat wohl und im Rist gab es ein angenehmes Gefühl. Sie verspürte also keine Lust, das erfreuliche Gespräch zu beenden, und trotz des rüden Schlußpunktes, den Esch gesetzt hatte, fragte sie neuerdings, wozu er das viele Geld haben wolle. Esch antwortete wieder, sie möge ihr Geld behalten, Lohberg sei froh, wenn er sich an dem Theatergeschäft beteiligen könne. »So, der Herr Lohberg«, sagte Fräulein Erna, »der hat's eben, der kann es sich leisten.« Und in dem Eigensinn, der manche Situationen der Liebe auszeichnet und kraft dessen Fräulein Erna sich jetzt eher einem Gleichgültigen hingegeben hätte als dem Herrn Esch, welcher es bloß ehelich bekommen durfte, war sie sehr bereit, Esch zu ärgern und das Geld nicht ihm, sondern Lohberg zur Verfügung zu stellen. Sie wippte mit den Fußspitzen: »Ja, in Kompagnie mit dem Herrn Lohberg, das wäre etwas anders. Das ist ein solider Geschäftsmann.« – »Ein Idiot ist er«, sagte Esch teils aus Überzeugung, teils aus Eifersucht und war mit dieser Eifersucht Fräulein Erna wohlgefällig, denn sie hatte es ja darauf angelegt gehabt. Sie versuchte, in der Wunde zu wühlen: »Ihnen geb' ich's nicht.« Aber das wurde nun merkwürdig wirkungslos. Was ging es eigentlich ihn an? er hatte ja auf Ilona verzichtet, und eigentlich hätte der Korn dafür zu sorgen, daß sie von den Messern erlöst werde. Esch sah auf Ernas wippende Fußspitzen. Die würde Augen machen, wenn man ihr sagte, daß sie ihr Geld letzten Endes für den Balthasar hergeben soll. Natürlich wäre es auch damit nicht getan. Vielleicht müßte eigentlich der Nentwig zahlen. Denn soll die Welt erlöst werden, so muß man, wie Lohberg sagt, den Sitz des Giftes packen; der Sitz des Giftes jedoch war Nentwig, vielleicht sogar irgend etwas, das sich hinter Nentwig versteckt hielt, etwas Größeres – vielleicht so groß und so versteckt wie ein Präsident in seiner Unzugänglichkeit – etwas, das man nicht kannte. Dies alles mochte einen schon wütend machen und Esch, der doch ein kräftiger und keineswegs nervöser Bursche war, hatte Lust, Fräulein Erna auf die wippenden Füße zu treten, um sie zur Ruhe zu bringen. Sie sagte: »Gefallen Ihnen meine Schuhe?« – »Nein«, antwortete Esch. Fräulein Erna war überrascht: »Dem Herrn Lohberg werden sie schon gefallen … wann bringen Sie ihn denn her? In der letzten Zeit verstecken Sie ihn ja direkt … am Ende gar aus Eifersucht, Herr Esch?« Bitte, er könne ihn sofort herbringen, wenn sie solche Sehnsucht nach ihm habe, meinte Esch, der ja doch hoffte, die beiden würden über das Geschäftliche miteinander einig werden. »Gleich braucht er nicht zu kommen«, sagte Fräulein Erna, »aber am Abend zum Kaffee.« Schön, das werde er ihm bestellen, sagte Esch und entfernte sich.
Lohberg kam. Er hielt seine Kaffeetasse in der Hand und rührte mechanisch darin herum. Auch wenn er trank, ließ er den Löffel in der Tasse, so daß er ihn an der Nase störte. Esch saß breitspurig da, fragte, ob Balthasar mit Ilona kommen werde, und sonst allerlei Taktloses. Fräulein Erna hörte nicht hin. Sie betrachtete mit Interesse Herrn Lohbergs rachitischen Kopf und seine großen weißen Augäpfel; wahrlich, er sah ganz so aus, als ob man nicht viel dazu tun müßte, um ihn weinen zu machen. Und sie dachte darüber nach, ob er in Entflammung und Liebesraserei weinen würde; sie ärgerte sich über ihren Bruder, weil er sie in diese hoffnungslose Sache mit dem Esch hineingetrieben hatte, mit diesem Menschen, der grob war und sie beunruhigte, während es ein paar Häuser weiter einen wohlbestallten Geschäftsmann gab, der errötete, wenn sie ihn ansah. Ob er wohl schon das Weib erkannt hatte? und aus allen diesen Gründen und um Esch zu reizen, brachte sie das Gespräch mit geschickter Wendung auf die Liebe: »Sie sind ja auch ein eingefleischter Junggeselle, Herr Lohberg? Sie werden es schon noch bereuen, wenn Sie alt und krank sein werden und niemand sie pflegen wird.«
Lohberg errötete: »Ich warte bloß auf die Richtige, Fräulein Korn.«
»Und die ist noch nicht gekommen?« Fräulein Erna lächelte versprechend und streckte den Fuß unter dem Rocksaum hervor. Lohberg setzte seine Tasse ab und sah hilflos aus. Esch sagte giftig: »Er hat es halt noch nicht probiert.«
Lohberg fand sich in seiner Überzeugung wieder zurecht: »Man liebt bloß einmal, Fräulein Korn.«
»Oh«, sagte Fräulein Erna.
Das war einmal eindeutig und klar. Esch schämte sich fast seines unkeuschen Lebens und es kam ihm nicht unwahrscheinlich vor, daß es diese große und einmalige Liebe gewesen wäre, die Frau Hentjen an ihren Gatten gebunden hatte, und vielleicht forderte sie nun deshalb Keuschheit und Enthaltsamkeit von ihren Gästen. Allerdings mußte es furchtbar für Frau Hentjen sein, die kurze Seligkeit mit dem Verzicht auf alle weitere Liebe bezahlen zu müssen, und deshalb sagte er: »Schön, aber wie ist es dann mit den Witwen? dann dürfte ja keine weiterleben … speziell, wenn sie keine Kinder hat …« und weil er sich manches merkte, was er so in den illustrierten Zeitungen las, fügte er hinzu: »Die Witwen, die müßte man dann eigentlich verbrennen, damit sie … ja, damit sie sozusagen erlöst werden.«
»Sie sind ein roher Mensch, Herr Esch«, sagte Fräulein Erna, »so etwas Häßliches würde einem der Herr Lohberg niemals zumuten.«
»Die Erlösung steht bei Gott«, sagte Herr Lohberg, »wem er die Gnade der Liebe geschenkt hat, der besitzt sie über den Tod hinaus.«
»Sie sind ein kluger Mann, Herr Lohberg, und es sollte bloß mancher Ihre schönen Worte beherzigen«, sagte Fräulein Erna, »das wäre noch schöner, sich für ein Mannsbild verbrennen lassen! Eine solche Gemeinheit …«
Esch sagte: »Wenn es gerecht zuginge, brauchte man Ihre albernen Vereine nicht für die Erlösung, … ja, ja, wundern Sie sich nur …« er schrie fast, »keine Heilsarmee brauchte man, wenn die Polizei die Leute einsperren würde, die es verdienen … statt Unschuldige.«
»Ich würde bloß einen Mann heiraten, der pensionsfähig ist oder seiner Witwe etwas hinterläßt zum Leben, sozusagen eine Sicherheit«, sagte Fräulein Erna, »das hat man sich um so einen Mann verdient.«
Esch verachtete sie. In dieser Weise würde Mutter Hentjen niemals reden. Lohberg aber sagte: »Wer sein Haus nicht bestellt, ist ein schlechter Wirt.«
»Sie werden Ihre Frau sehr glücklich machen«, sagte Fräulein Erna. Lohberg fuhr fort: »Wenn Gott mir das Glück schenkt, eine Gefährtin zu finden, so hoffe ich mit Bestimmtheit auszusprechen, daß wir eine wahrhaft christliche Ehe führen werden. Wir werden abgeschlossen sein gegen die Welt, nur unserem Glücke leben.«
Esch höhnte: »Wie der Balthasar mit der Ilona … und am Abend darf einer Messer nach ihr schmeißen.«
Lohberg war empört: »Wer sich mit billigem Fusel betrinkt, weiß einen Trunk kristallenen Wassers nicht zu schätzen, Fräulein Korn. Eine Leidenschaft ist keine Liebe.«
Fräulein Erna bezog den Kristall auf sich und war geschmeichelt: »Das Kleid, das er ihr geschenkt hat, hat achtunddreißig Mark gekostet; ich hab' mich im Laden erkundigt. Einen Mann derartig ausrauben … ich brächte das nie übers Herz.«
Esch sagte: »Ordnung muß gemacht werden. Der eine sitzt unschuldig und der andere läuft frei herum; umbringen müßte man ihn, oder sich selber müßte man umbringen.«
Lohberg begütigte: »Man spielt nicht mit Menschenleben.«
»Nein«, sagte Fräulein Erna, »eine Frau, die für den Mann kein Gefühl hat, müßte man umbringen … ich, wenn ich für einen Mann zu sorgen hab', ich bin ein Gefühlsmensch.«
Lohberg sagte: »Eine wahre evangelische Liebe ist auf gegenseitige Achtung gegründet.«
»Und Sie werden Ihre Frau auch achten, auch wenn sie nicht so gebildet sein wird wie Sie … mehr so ein Gefühlsmensch, wie eine Frau sein soll.«
»Nur ein Mensch mit Gefühl ist der wahren erlösenden Gnade fähig und für sie bereit.«
Fräulein Erna sagte: »Sie sind gewiß ein guter Sohn, Herr Lohberg, einer, der seinem Mütterlein dankbar sein kann.«
Esch wurde darüber wütend, wütender, als er selber begriff: »Guter Sohn hin, guter Sohn her … auf die Dankbarkeit pfeif' ich; solange man zusieht, daß Unrecht geschieht, gibt es keine Erlösung auf der Welt … warum hat Martin sich geopfert und sitzt?«
Lohberg antwortete: »Herr Geyring ist ein Opfer des Giftes, das die Welt zerfrißt. Erst, wenn die Menschen zur Natur zurückgefunden haben werden, werden sie sich nichts Böses mehr antun.«
Fräulein Erna sagte, daß auch sie die Natur liebe und schon oft spazierengegangen sei. Lohberg fuhr fort: »Erst in Gottes freier Natur, die uns erquickt, erwachen die edlen Gefühle des Menschen.«
Esch sagte: »Damit haben Sie noch keinen vom Kerker gerettet.«
Fräulein Erna meinte: »Das sagen Sie … aber ich sag', ein Mensch ohne Gefühl ist kein Mensch. Ein so untreuer Mensch wie Sie, Herr Esch, darf überhaupt nicht mitreden … Und so sind alle.«
»Wie mag man bloß so schlecht von der Welt denken, Fräulein Korn?«
Fräulein Erna seufzte: »Enttäuschungen des Lebens, Herr Lohberg.«
»Dennoch hält uns die Hoffnung aufrecht, Fräulein Korn.« Fräulein Erna sah sinnend ins Leere:
»Ja, wenn die Hoffnung nicht wär' …« dann schüttelte sie das Haupt. »Die Männer haben kein Gefühl, und zuviel Verstand ist auch schlecht.«
Esch überlegte, ob Frau Hentjen und ihr Gatte so gesprochen haben mochten, als sie sich verlobten. Doch Lohberg sagte: »In Gott und in der göttlichen Natur ist alle Hoffnung.«
Erna wollte hinter Lohberg nicht zurückstehen: »Ich gehe ja gottlob regelmäßig in die Kirche und zur Beichte …« und triumphierend setzte sie hinzu: »und unsere heilige katholische Religion hat vielleicht noch mehr Gefühl als die lutherische – ich, wenn ich ein Mann wäre, ich möcht' keine Lutherische nehmen.«
Lohberg war zu höflich, um zu widersprechen: »Jede Wendung zu Gott ist gleich achtbar … wen Gott zusammenführt, dem gibt er auch die Möglichkeit beisammenzubleiben … bloß der gute Wille muß vorhanden sein.«
Die Tugend Lohbergs wurde Esch wieder einmal ekelhaft, obwohl er ihn doch gerade dieserhalb oft mit Mutter Hentjen verglichen hatte. Er fuhr auf: »Schwätzen kann ein jeder Idiot.«
Fräulein Erna sagte geringschätzig: »Der Herr Esch natürlich, der nimmt eine jede, der fragt nicht nach Gefühl und nicht nach der heiligen Religion; wenn so eine nur Geld hat.«
Das könne er rein nicht glauben, sagte Herr Lohberg.
»Das können Sie ruhig glauben, ich kenne ihn, der hat kein Gefühl und der denkt über gar nichts nach … solche Gedanken wie Sie, Herr Lohberg, macht sich eben nicht ein jeder.«
Da könne er ihm aber leid tun, meinte Lohberg, denn dann sei ihm alles Glück der Welt verschlossen. Esch zuckte die Achseln, was wußte der von einer neuen Welt! er sagte höhnisch: »Erst machen Sie mal Ordnung.«
Fräulein Erna aber hatte die Lösung gefunden: »Wenn zwei Menschen zusammen arbeiten, wenn Ihnen zum Beispiel Ihre Frau im Geschäft hilft, dann findet sich schon alles andere, auch wenn der Mann lutherisch und die Frau katholisch ist.«
»Gewiß«, sagte Lohberg.
»Oder wenn die zwei Menschen überhaupt etwas Gemeinsames haben, wie man so sagt, ein gemeinsames Interesse … man muß sozusagen zusammenstehen, nicht wahr?«
»Gewiß«, sagte Lohberg.
Fräulein Ernas Eidechsenblick streifte Esch, als sie sagte: »Hätten Sie etwas dagegen, Herr Lohberg, daß ich mich auch an dem Theatergeschäft beteilige, von dem der Herr Esch gesprochen hat? Jetzt wo mein Bruder so leichtsinnig ist, muß wenigstens ich trachten, daß Geld ins Haus kommt.«
Wie konnte Herr Lohberg etwas dagegen haben! Und als Fräulein Erna sagte, daß sie die Hälfte ihrer Ersparnisse, also etwa tausend Mark anlegen wolle, da rief er aus und Fräulein Erna hörte es gerne: »Ach, da werden wir ja Kompagnons sein.«
Trotzdem war Esch unzufrieden. Daß er seinen Willen durchgesetzt hatte, war mit einemmal bedeutungslos, mag sein, weil er auf Ilona ohnehin verzichtet hatte, mag sein, weil es um wichtigere Ziele ging, aber vielleicht auch nur – und das war das einzige, was er sich klarmachte – weil ihm plötzlich ernste Bedenken aufstiegen: »Sprechen Sie vorerst mit Gernerth, dem Theaterdirektor Gernerth. Ich habe bloß auf das Geschäft aufmerksam gemacht, aber ich übernehme keinerlei Verantwortung.«
Ja, sagte Fräulein Erna, sie wisse schon, daß er ein verantwortungsloser Mensch sei und er brauche keine Angst nicht zu haben, daß man ihn zur Verantwortung ziehen werde. Er sei überhaupt ein unchristlicher Geselle und Herr Lohberg sei ihr im kleinen Finger lieber als der Herr Esch in Lebensgröße. Und Herr Lohberg möge doch öfters zu einer Tasse Kaffee zu ihr kommen. Ja? Und da es spät geworden war und sie sich bereits erhoben hatten, nahm sie Lohbergs Arm. Die Lampe droben goß milden Schein auf ihre Köpfe, und da standen die beiden vor Esch wie ein neues Brautpaar.
Esch hatte den Rock ausgezogen und an den Kleiderständer gehängt. Dann begann er ihn auszubürsten, klopfte ihn ab und besah den abgenützten Kragen. Wieder wollte ihm irgend etwas nicht stimmen. Er hatte auf Ilona verzichtet, nun aber mußte er zusehen, wie sich Erna von ihm abwandte und ihr Herz jenem Idioten anbot. Das war gegen alle buchhalterische Regel, die bekanntlich zu jeder Post ihrer Gegenpost verlangt. Allerdings – unternehmend schwenkte er den Rock in seiner Hand –, wenn er wollte, würde ein Lohberg ihn nicht so rasch ausstechen, mit dem nahm er es schon noch auf, nein, so eine arge Mißgeburt war der August Esch noch lange nicht, und er machte schon einige Schritte zur Türe hin, blieb jedoch stehen, ehe er öffnete: ach was, er wollte ja gar nicht. Die Person dort drüben könnte sonst meinen, er käme aus lauter Dankbarkeit für ihre lumpigen tausend Mark zu ihr gekrochen. Esch ging zum Bett zurück, setzte sich und schnürte die Schuhe auf. Soweit war alles in Ordnung. Und daß es ihm im Grunde leid tat, nicht mit Erna schlafen zu dürfen, das war auch in Ordnung. Opfer ist Opfer. Trotzdem blieb ein ungeklärter Buchungsfehler übrig, auf den er nicht gleich kommen konnte: schön, man wird nicht zu dem Weibsstück hinübergehen, man wird auf den Spaß verzichten; allein warum tat man dies? Etwa um sich der Heirat zu entziehen? Man nimmt also das kleinere Opfer auf sich um dem wirklichen Opfer zu entgehen und nicht mit der eigenen Person bezahlen zu müssen. Esch sagte: »Ich bin eine Sau.« Ja, eine Sau war er, keine Spur besser als der Nentwig, der sich gleichfalls der Verantwortung entzog. Eine Unordnung, in der sich der Teufel auskennen mochte!
Und ohne Ordnung in den Büchern gab es auch keine Ordnung in der Welt, und solange keine Ordnung war, würde Ilona weiter den Messern ausgeliefert sein, würde Nentwig sich weiterhin frech und gleisnerisch der Sühne entziehen und Martin würde ewig im Kerker schmachten. Er dachte scharf nach, und wie er jetzt die Unterhose fallen ließ, ergab es sich zwanglos: die andern hatten ihr Geld dem Ringkampfunternehmen zur Verfügung gestellt, also mußte er, der kein Geld besaß, nun eben doch mit seiner eigenen Person zahlen, zwar nicht durch Heirat, wohl aber, indem er sich dem neuen Unternehmen zur Verfügung stellte. Und weil dies bedauerlicherweise mit seiner Mannheimer Stellung unvereinbar war, so mußte er eben kündigen. Auf diese Art konnte er zahlen. Und wie als Probe aufs Exempel erkannte er in diesem Augenblicke, daß er bei einer Gesellschaft, die Martin ins Gefängnis gebracht hatte, nicht länger bleiben durfte. Und keiner hatte das Recht, ihm deshalb eine Untreue vorzuwerfen; selbst der Herr Präsident wird einsehen müssen, daß der Esch ein anständiger Bursche ist. Jetzt dachte Esch nicht mehr an Erna, und er legte sich beruhigt zu Bett. Daß es nebenbei angenehm sein würde, nach Köln und in Mutter Hentjens Lokal zurückzukehren, verkleinerte zwar das Opfer, fiel aber kaum in die Waagschale; Mutter Hentjen hatte ja nicht einmal seinen Brief beantwortet. Und Lokale gab's auch in Mannheim genug. Nein, die Rückkehr nach Köln, in diese Saustadt, war eine sehr geringfügige Verkleinerung des Opfers, war höchstens ein Kassaskonto bei der Zahlung, und ein Kassaskonto war sicherlich erlaubt.
Die Nachricht von dem Erfolg an den Mann zu bringen, trieb es ihn schon am frühen Morgen zu Gernerth: zweitausend Mark so rasch auftreiben, das war eine Leistung! Gernerth klopfte ihn auf die Schulter und nannte ihn einen Mordskerl. Das tat wohl. Über seinen Entschluß, die Stelle aufzugeben und sich in den Dienst der Ringkämpfe zu begeben, war Gernerth erstaunt; immerhin, er konnte nichts dagegen haben. »Wir werden's schon schaffen, Herr Esch«, sagte er, und Esch fuhr ins Zentralbüro der Mittelrheinischen.
In den oberen Stockwerken des Bürohauses der Mittelrheinischen Reederei gab es lange stille Korridore, die mit braunem Linoleum bespannt waren. Die Türen waren mit ordentlichen Schildchen versehen, und an irgendeinem Ende des Ganges, hinter einem Tische, von einer Stehlampe beleuchtet, saß ein Diener, fragte, wohin man wolle, und trug Namen und Wunsch des Besuchers in einen Durchschreibeblock ein. Esch ging durch den Korridor, und weil es das letzte Mal war, betrachtete er alles genau. Er entzifferte die Namenschilder an den Türen, und als er überrascht auf einen weiblichen Namen stieß, blieb er stehen und versuchte, sich die Person hinter der Türe vorzustellen: war sie ein gewöhnlicher Beamter, der mit schwarzen Schreibärmeln an schrägem Pulte rechnete und wie jeder andere kühl und teilnahmslos mit dem Besucher sprach? Er begehrte plötzlich nach dieser unbekannten Frau hinter der Türe, und die Vorstellung einer neuen, einfachen, sozusagen geschäftsmäßigen und magistralen Form der Liebe stieg in ihm auf, einer Liebe, die so glatt, so kühl und doch so ausgedehnt und weiträumig sein müßte wie diese Gänge mit ihrem glatten Linoleumbelag. Dann aber sah er die lange Reihe der Türen mit den vielen Männernamen und er mußte daran denken, daß jene einsame Frau von solch männlicher Umgebung sicherlich nicht minder angeekelt war als Mutter Hentjen von ihrem Geschäfte. Zorn gegen das Geschäftswesen erwachte wieder in ihm, Zorn gegen eine Organisation, die unter dem Schein schöner Ordnung, glatter Gänge, schöner glatter Buchungen alle Infamien verbirgt. Und das nennt sich Solidität. Ob es nun Prokurist oder Präsident heißt, es gibt keinen Unterschied zwischen Kaufmann und Kaufmann. Und hatte Esch einen Augenblick bedauert, nicht mehr Glied der schönen Organisation zu sein, nicht mehr zu denen zu gehören, die, von keinem Diener aufgehalten oder befragt oder angemeldet, hier ein- und ausgehen dürfen, er bedauerte jetzt nichts mehr, sah bloß hinter jeder Türe einen Nentwig sitzen, lauter Nentwigs, sie alle verschworen und darauf bedacht, Martin im Gefängnis schmachten zu lassen. Am liebsten wäre er in die Buchhaltung hinuntergegangen, hätte am liebsten den Verblendeten dort gesagt, daß auch sie endlich aus der Gefangenschaft der trügerischen Ziffern und Kolonnen ausbrechen und gleich ihm sich freimachen sollten, ja, sie sollten es tun, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dann gleich ihm und mit ihm nach Amerika auswandern müßten.
»Das war aber ein kurzes Gastspiel bei uns«, hatte der Personalchef, in dessen Büro er sich abmeldete und ein Zeugnis verlangte, freundlich gesagt und Esch war schon daran, die wahren Gründe seines Austrittes aus dieser niederträchtigen Firma aufzudecken. Aber er mußte es unterlassen, denn der freundliche Personalchef hatte sich sogleich anderen Dingen zugewandt, wobei er allerdings wiederholte: »Kurzes Gastspiel … kurzes Gastspiel«; recht behaglich wiederholte er es, als gefiele ihm dieses Wort besonders, und als suchte er mit dem Worte »Gastspiel« anzudeuten, daß das Theatergeschäft auch nicht viel anderes oder gar Besseres sei als der Betrieb, den zu verlassen Esch sich eben anschickte. Was konnte der Personalchef davon wissen? wollte er ihm am Ende Treulosigkeit vorwerfen und ihm in den Rücken fallen? Ihm nun die neue Stellung vermasseln? Mißtrauisch verfolgte er das ausgehändigte Dokument, trotzdem er recht gut wußte, daß bei der Ringkämpferei niemand nach einem Zeugnis fragen würde. Und weil er von dem Gedanken an das Theatergeschäft nicht loskam, auch nicht, als er schon über das braungespannte Linoleum der Korridore zur Stiege hin strebte, merkte er nichts mehr von der Ruhe und Ordnung des Hauses, dachte auch nicht mehr an die Türe mit dem weiblichen Namen, an dem er vorbeilief, und er sah auch nicht mehr die Tafel »Buchhaltung«, ja, sogar die Direktion und das Präsidium mit ihrem ganzen Pomp da vorne im Hauptgebäude waren ihm gleichgültig. Erst auf der Straße warf er einen Blick hinüber, einen Abschiedsblick, sagte er sich, und war irgendwie enttäuscht, daß keine Equipage vor dem Haupteingang hielt. Den Bertrand hätte er eigentlich gerne einmal zu Gesicht bekommen. Der versteckt sich auch immer; wie der Nentwig. Besser natürlich, man sieht ihn nicht, sieht ihn überhaupt nicht, ihn und das ganze Mannheim mit allem, was drum und dran hängt. Auf Nimmerwiedersehen, sagte Esch und war dennoch unfähig, so raschen Abschied zu nehmen, blieb vielmehr stehen, blinzelnd, weil glattes Mittagssonnenlicht auf dem Asphalt der neuen Straße lag, blieb stehen und wartete, daß das Glasportal sich vielleicht doch noch geräuschlos in den Angeln drehen werde, den Herrn Präsidenten zu entlassen. Aber wenn es auch im flimmernden Sonnenlicht so aussehen mochte, als zitterten die Flügel des Portals, so daß man an die Flügel der Pendeltüre hinter dem Büffet denken mußte, so war dies eine sogenannte Sinnestäuschung und die Flügel saßen fest in ihren Marmorgewänden. Sie öffneten sich nicht und niemand kam. Esch empfand es als Zumutung: da mußte er hier in der prallen Sonne stehen, weil sich die Mittelrheinische an einer protzigen neuen Asphaltstraße angesiedelt hatte statt in einer kühlen kellerigen Gasse; das Götz-Zitat drängte sich ihm auf, er machte kehrt, überquerte die Straße mit langen, etwas ungelenken Schritten, bog um die nächste Ecke, und als er sich auf das Trittbrett des heranrasselnden Trambahnwagens schwang, war er endgültig entschlossen, schon am nächsten Tage Mannheim zu verlassen und nach Köln zu reisen, um die Verhandlungen mit dem Theateragenten Oppenheimer in Angriff zu nehmen.