Restif de la Bretonne
Monsieur Nicolas' Abenteuer im Lande der Liebe
Restif de la Bretonne

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Am 22. November 1734 erblickte ich in Sacy das Licht der Welt. Mein Vater war zweimal verheiratet: das erstemal mit Marie Dondene, von der er sieben Kinder hatte, das zweitemal mit Barbe Ferlet-de-Bertro. Auch diese schenkte ihm sieben Kinder, von denen ich das erste bin. Ich wurde von Edme-Nicolas, meinem ältesten Stiefbruder, in Vertretung meines Urgroßvaters mütterlicherseits, und von meiner ältesten Stiefschwester Anne, in Vertretung meiner Großmutter mütterlicherseits, Anne-Marguerite Simon, zur Taufe getragen, denn der Greis konnte infolge des schlechten Wetters nicht nach Sacy kommen. Ich erhielt in der Taufe die Namen Nicolas Anne Edme, und mein Vater wünschte, daß Nicolas mein Rufname sei. Aber bei der Ausstellung der Taufurkunde ließ Jacques Beraut, der Schulmeister des Ortes, den Namen Anne weg, obwohl er genannt worden war.

Meine Mutter vereinigte in sich einen lebhaften Geist, ein gütiges Herz und körperliche Schönheit. Obwohl blond, war sie lebhaft bis zur Heftigkeit, aber sie konnte sich auch bis zur zartesten Milde mäßigen. Mein Vater war jähzornig, wußte sich aber doch menschlich weich zu zeigen. Liebe, Mut, Furchtsamkeit, Ungeduld, Zorn, Verachtung, Treue, Mitleid, alle diese Gefühle herrschten in mir mit einer leidenschaftlichen, außerordentlichen Kraft. Ohne Zweifel wurde ich von meiner Mutter in einer heißen Umarmung empfangen, was die Grundlage meines Charakters bildete.

Ich bekam die »temperamentvollste« Frau der ganzen Gegend als Amme. (Meine Mutter durfte mich nicht stillen, da es ihr mein Vater – wohl aus guten Gründen – verboten hatte.) Die gute Frau Lolive Lemoine entwöhnte ihr Töchterchen Nannette, das schon ziemlich groß war, um mich an ihre Brust zu nehmen, aber die gute Frau konnte den leidenschaftlichen Wünschen ihres Mannes, der schon achtzehn Monate zur Enthaltsamkeit gezwungen war, nicht widerstehen, und man glaubte, mich im sechsten Monat entwöhnen zu müssen. Meine Entwicklung ist dadurch beeinträchtigt worden, aber ich will meiner Amme keinen Vorwurf daraus machen. Sie hat mich immer zärtlich geliebt, so daß ich undankbar sein müßte, wollte ich ihr als meiner zweiten Mutter die schuldige Achtung versagen.

Ich war neun Monate alt, als man mich zu dem Advokaten Collet, einem Freunde meines Vaters, nach Vermenton brachte; es war an einem schönen Sonntag, dem Festtag des Schutzheiligen, Mitte August. Man erzählte mir später, daß sich dort zwei kleine Mädchen, die eine fünf-, die andere dreijährig, heftig darum stritten, wer von ihnen meine Frau sein sollte. Man nannte mir auch ihre Namen, und, seltsam, ich wurde zwar nicht ihr Gatte, aber ich habe sie beide angebetet.

Ich erinnere mich, daß ich über das Lob meines schönen Gesichts sehr erfreut war, aber ich war für dieses Lob nur insofern empfänglich, als die Person, die es äußerte, mir Zutrauen einflößen mußte, vor allem aber wenn es junge Mädchen waren. Der Instinkt zog mich seit meiner frühesten Jugend zum anderen Geschlecht, doch flößten mir verheiratete Frauen mit all den Widerwärtigkeiten ihres Hauswesens den größten Abscheu ein ... Ganz besonders gut gefielen mir junge Mädchen, die eine rosige Hautfarbe hatten. Thomas Piôt, ein Freund meines Vaters, besaß vier erwachsene Töchter. Marie, die zweite, hatte schöne Farben; Madeleine, die dritte, war blaß und ziemlich fleischig; Nannette, die jüngste, war regelrecht schön. Den Vorzug gab ich Marie, weil sie ein hübsches rotgeblümtes Halstuch trug, das die rosige Färbung ihres Gesichts noch besser hervorhob.

Jeden Sonntag lief ich gleich nach dem Mittagessen heimlich zu meiner Schönen, weniger wegen der Leckereien, die sie mir in den Mund steckte, als wegen der stürmischen Liebkosungen, die ich erwarten konnte, und um von ihr auf dem Arme getragen zu werden, wenn sie zur Vesper ging. Ich glaube diese Liebkosungen näher beschreiben zu müssen, da sie nicht nur für meine sittliche Entwicklung, sondern auch für meine Gesundheit von schädigendem Einfluß waren, indem sie meiner ohnehin sehr glühenden Phantasie zuviel Schwung gaben. Marie küßte mich auf die Wangen und auf die Lippen, die immer appetitlich waren. Sie ging aber noch weiter, wenn auch alles, was sie tat, in größter Unschuld geschah: sie griff mit der Hand unter mein Kleidchen und tätschelte und streichelte mich. Dann verschlang sie mich fast mit ihren Küssen. Aber um mich deutlicher ausdrücken zu können, muß ich mich der Sprache der Gelehrten bedienen und meine Leser mögen es den Damen zartfühlend übersetzen: Mentulam testiculosque titillabat, quoadusque engerem; tunc subsidebat velatis oculis humore vitreo, et aliquoties desciebat. Sie kitzelte Penis und Hoden, damit ich eine Erektion bekäme, dann kauerte sie sich mit von glänzender Feuchtigkeit verschleierten Augen nieder und senkte sich mehrmals herab. Ich erwiderte ihre Liebkosungen mit einem ausgelassenen Lachen.

So wurde durch viele kleine Ursachen mein erotisches Temperament, das mich in so viele Abgründe stürzen sollte, zur Entfaltung gebracht. Dies sei allen Eltern, die hübsche Kinder haben, eine gute Lehre!

Ich wiederhole: Marie war dabei ebenso unschuldig wie ich selbst; aber sie handelte nach einem blinden Triebe. Als Zeugin der Zärtlichkeiten, mit denen mich ihre Schwestern und alle andern jungen Mädchen überschütteten, fühlte sie sich durch meine Vorliebe für sie so geschmeichelt, daß ihre Liebe zu mir sich zur Leidenschaft auswuchs. Mein zierliches Gesichtchen mußte in einer Gegend, wo das Blut der Bewohner infolge der Sumpfluft, die sie einatmen, träg und dickflüssig war, sehr gefallen; ich war eben ein Wunderkind. Wenn Marie mich auf dem Arm zur Kirche trug, umringten alle jungen Mädchen sie, um mich abzuküssen. Ich erinnere mich, wie eines Tages ein kräftiger Bursche meiner Trägerin ins Ohr flüsterte: »Mariechen! Gesteh nur, daß du den hübschen Jungen gern hast! Du wirst einmal eine gute Mutter und eine gute Frau werden. So einen hättest du sicher selbst einmal gern, nicht wahr? Ich wünsche ihn dir, und ich möchte gern der sein, der ihn dir macht!« Marie errötete und senkte die Augen, aber gleich darauf erhob sie sie wieder und verfolgte Jean Nollin mit ihren Blicken, solange sie ihn sehen konnte. Nach einiger Zeit heiratete sie ihn, und ich war bei der Hochzeit.

Ein Ereignis aus dem gleichen Jahre 1738 beweist, wie schädlich es sein kann, wenn sich zwei Ehegatten allerlei Freiheiten vor Kindern erlauben, wenn diese unschuldigen Geschöpfe auch in einem Alter sind, wo sie noch nichts davon verstehen.

Ich war eines Tages bei einem Manne namens Cornavin, der vor kurzem ein hübsches Mädchen, Nannette Belin, geheiratet hatte. Sie bewohnten ein kleines Häuschen, das ihnen mein Vater vermietet hatte. Der Mann machte Rebenstöcke und jedesmal, wenn er einen zugespitzt hatte, küßte er seine junge Frau und nahm sich noch andere Freiheiten, die bei mir ein naives Erstaunen hervorriefen. Mein Gesichtchen erschien der jungen Frau so komisch, daß sie jedesmal, wenn ihr Mann sie liebkoste, in schallendes Gelächter ausbrach. Ich lachte mit, wenn ich sie so fröhlich sah, und dann lachte sie noch lauter. Ihr Mann führte sonderbare Reden; seine Worte mißfielen mir sehr, zweifellos wegen ihrer Frechheit, vielleicht aber auch aus einem Gefühl der Eifersucht heraus, die sich beim männlichen Geschlecht selbst vor der vollendeten Entwicklung zeigt. Der Haß, den mir Cornavin damals einflößte, besteht noch immer in mir. Als er mit einer seiner Liebkosungen zu weit ging, lief ich wütend davon. Das Lachen der jungen Frau fand ich reizend, aber den Mann so abscheulich, daß ich nicht begreifen konnte, wie Nannette seine Liebkosungen dulden und sogar erwidern mochte.

Die Eindrücke dieser schlüpfrigen Szene haben sich nicht verwischt, und sie waren in meiner zarten Kindheit von schrecklichem Einfluß auf meine noch unentwickelten Sinne, besonders, nachdem mir Thomas Carré mit seiner Braut, die den Spitznamen Polie trug, in einer Scheune eine Wiederholung dieses Schauspiels gegeben hatte.

Thomas machte Strohbündel und seine Geliebte scherzte mit ihm. Ich freute mich über dieses gute Einvernehmen zwischen den beiden, aber plötzlich warf Thomas die Polie auf das frische Stroh. Ich sah darin eine Falschheit, da aber das Mädchen weiter lachte, fürchtete ich nichts. Bald aber wurde die Sache ernster; das Mädchen wehrte sich, Thomas drückte sie nieder, schließlich hörte ich Seufzer. Da erwachte das Mitleid in mir; mit einem Rebenpfahl bewaffnet, stürzte ich mich auf den Bösewicht, schlug mit aller Kraft auf ihn los und schrie ihn an: »Laß sie los, du Garstiger!« – »Oh, der kleine Teufel!« rief das Mädchen keuchend, »er ist da und sieht alles...!« Ich beschleunigte dadurch nur ihre Niederlage. Nach der Krisis herzte sie mich und verbot mir, irgend jemand zu sagen, daß Thomas sie geschlagen habe ...

Ich sah alles ganz genau, ohne allerdings damals etwas davon zu verstehen, aber es wurde dadurch der Keim gelegt zu meinen Abenteuern mit Nannette Rameau und mit Marguerite Mine. Ich erinnere mich, daß damals mein Zutrauen zu den Frauen und Mädchen noch unerschüttert war. Ich sah in ihnen die einzig guten Wesen, barmherzig, unfähig mich zu täuschen, mich lächerlich zu machen. Eine gerade entgegengesetzte Meinung hatte ich von den Männern, nur mein Vater bildete eine Ausnahme. Ich sah in ihnen harte, strenge, spöttische, böse Geschöpfe, vor denen ich Angst hatte; sie erschreckten mich, und ich floh vor ihnen ebenso furchtsam wie vor den Hunden.

Die Einsamkeit von La Bretonne machte mich scheu wie die jungen Katzen, die in einem verborgenen Winkel aufwachsen. Mein Stolz und meine Ungeschicklichkeit entfremdeten mich noch mehr den Menschen; meine beiden älteren Brüder, die damals Seminaristen waren, verschüchterten mich außerdem durch ihren strengen Jansenismus ...

Ein an sich ganz unbedeutender Vorfall verdient doch erwähnt zu werden, weil er meine außerordentlich große physische Empfindlichkeit beweist: als meine Schwester Margot, die mich anzukleiden pflegte, mich eines Tages im Scherz kitzelte, wurde ich ohnmächtig. Man dachte, sie hätte mich geschlagen und glaubte auch mir nicht, als ich sie verteidigte. Meine drei Schwestern, Marie, Marianne und Madeleine, alle drei große Betschwestern, riefen den Pfarrer, damit er in der Beichte herausbekomme, ob Margot gelogen habe, denn die Beichte dient auf dem Lande allen möglichen Zwecken. Das junge Mädchen aber rechtfertigte sich, was meine Eltern nur noch besorgter machte, denn sie sagten, wenn sie unter sich waren: »Er wird sicher nicht lange leben.«

Wenn Margot sich in diesem Falle durch die Beichte auch vollkommen reingewaschen hatte, so weiß ich nicht, wie sie sich vor dem Priester den Folgen einer weit schlimmeren Unbesonnenheit entzog, die trotz allem nur ihre Unschuld beweist. Eines Tages nahm sie mich und meine fast gleichaltrige Schwester Marie-Louison bei der Hand, führte uns in ein hochstehendes Hanffeld und hier disposuit nos ignorantissime, quemquem nostrum sedentem e regione, dicens: »Hem coite!...« Maria-Ludovicella, pro sua intelligentia, oboediebat; ast ego nec voluntatem neque facultatem habebam, et nihil nisi conatus inertes efficiebam. Erubuit tandem Margaritella, et nos dimisit integros, fans: »Stulti vos, inquit abite!« brachte sie uns in ganz unkundiger Weise zueinander, so daß wir uns gegenüber saßen, und sagte: »Los, koitiert«. – Marie-Louise gehorchte voller Verständnis, doch ich besaß weder den Willen noch die Fähigkeit und brachte nichts zustande. Da errötete Margot und brachte uns Unschuldige wieder auseinander, indem sie sagte: »Zieht ab, ihr Toren!«

Ich habe nie verstehen können, was Margot, die damals dreizehn Jahre alt war, damit beabsichtigte. Ohne Zweifel hatte ihr ein Junge einiges gesagt, oder sie hatte einmal eine Szene mitangesehen, wie ich sie vorhin geschildert habe. Man sagt, auf dem Lande sei die Unschuld zu Hause. Aber überall, wo sich Männer und Frauen zusammenfinden, gibt es Fäulnis und Verderbtheit.

Meine erste Freundschaft fällt in mein sechstes Lebensjahr. Holdes Gefühl, für das ich immer ebenso empfänglich war wie für die Liebe, ach könntest du sie in meinem Herzen überleben, wie du ihr vorausgegangen bist! ... Mein erster Freund war ein Nachbarskind. Er war an demselben Tage wie ich geboren und hieß Edme oder, wie man bei uns zu Lande sagt, M'lo Berault.

Meine Anhänglichkeit an ihn war grenzenlos, aber ich bemerkte wohl, daß er sie nur schwach erwiderte. Das berührte mich peinlich. Um ihn an mich zu fesseln, machte ich ihm Geschenke. Damals begann ich die Einsamkeit zu lieben, aus einem Gefühl heraus, das ich erst heute erklären kann: es war Stolz. Ich fühlte, daß ich keine glänzenden Eigenschaften besaß; ich verkannte noch den Wert meiner Schönheit, denn auf dem Lande wird ja auch die Blume nicht geachtet, und die Tiere schätzt man nur nach ihrem Nutzen. Mein hübsches Äußeres hatte mir in Sacy nur Unannehmlichkeiten bereitet; ich fühlte mich schwach, unwissend, zu allem unfähig. Ich war das Spielzeug der großen Mädchen, die mich abküßten, um sich einen Spaß zu machen oder vielleicht auch, um die großen Burschen zur Eifersucht zu reizen. Diese waren mir wegen ihrer Aufgeblasenheit unausstehlich. Recht gern dagegen hatte ich alte Männer und Frauen, weil sie mich lobten, vernünftig mit mir sprachen und sich niemals über mich lustig machten.

Aber am liebsten war mir das Zusammensein mit meinem Schulkameraden. Mit ihm fühlte ich mich eins und erfreute mich unserer Gleichheit. Ich weiß nicht, hatte ich von Höhlen erzählen gehört oder ist uns der Drang, einen Zufluchtsort aufzusuchen, angeboren, jedenfalls hatte mich schon immer eine kleine Tongrube in der Nähe meines väterlichen Hauses angezogen. Mit meinem kleinen Werkzeug zimmerte ich dort eine Bank und eine ganze Wohnungseinrichtung zurecht, schleppte allerhand unnützen Kleinkram von meiner Mutter und meinen Schwestern dorthin und richtete mich ein, ohne Betschemel und Kruzifix zu vergessen. Als alles fertig war, nahm ich M'lo Berault bei der Hand und führte ihn hin. Ich wollte mich an seinem Erstaunen weiden und mich seiner Dankbarkeit freuen, aber er war weder erstaunt noch dankbar, als ich ihm erklärte, daß ich ihn zum Mitbesitzer meiner Behausung mache. Doch gefiel ihm das Asyl wegen seiner Kühle. Wir beschlossen, jeden Tag in unserer Höhle zusammenzukommen, aber keinem ein Wort davon zu sagen. Ich war närrisch vor Freude! Es machte mir ungeheuren Spaß, hier jeden Tag meinen M'lo bewirten zu können. Die Mahlzeiten waren weder kostspielig noch schwer zu beschaffen. Der kleine Bauernbursche bekam zu Hause nur Schwarzbrot, bei uns aber aß man Weißbrot, und das war für ihn ein Festessen. Manchmal gab ich als Zuspeise Nüsse, runde grüne Erbsen oder einen Fladen, zuweilen Linsen, oder an den Tagen, wenn bei uns Brot gebacken wurde, Aschenkuchen. Dies letztere Gericht war für uns eine Köstlichkeit! Manchmal gab mir meine Amme, die viele Bienen hatte, Honig oder Met, oft auch Rosinen und Haselnüsse. Ich trug alles in unsere Höhle, und ich verzehrte diese Leckereien mit doppeltem Behagen, weil ich sie mit M'lo teilen konnte. (So vergrößerte ich später auch meine Liebesfreuden, indem ich meinem Freunde Loiseau alles erzählte ...) Ich fesselte ihn durch die reichen Gaben an mich und war überglücklich.

Eines Tages hatten wir rohe Erbsen gegessen und viele, die durch Würmer angefressen waren, warfen wir auf die lockere Lehmerde neben unserer Hütte. Am nächsten Tage und die ganze folgende Woche regnete es, so daß wir unseren Zufluchtsort nicht aufsuchen konnten. Als es nach acht Tagen wieder schön wurde und wir zu unserer Höhle kamen, fanden wir – welch Erstaunen! – ein ganzes Feld junger Erbsenpflanzen vor. Unsere Freude war ebenso groß wie unsere Überraschung, vor allem, als wir an einer Erbse, die nicht ganz von Erde bedeckt war, erkannten, daß unsere wurmstichigen Erbsen so herrlich gewachsen waren. »Sind das unsere Erbsen?« fragten wir uns mit Verwunderung. Pflanzen, die durch unsere Mithilfe gekeimt hatten! Wir empfanden eine Art Vaterstolz: welch ein Ruhm! Ein Feldherr nach einer gewonnenen Schlacht hat keine so hohe Meinung von sich. Das war unser Garten, unser Eigentum, unser Königreich. Wir fühlten den unüberwindlichen Drang, es mit einem Zaune zu umgeben... So entsteht wohl der Begriff des Eigentums, die Quelle aller Laster und des Unglücks der armen Sterblichen!

Jeden Tag besichtigten wir unser Feld; jedesmal, wenn ein neues Blatt sich entfaltet hatte, bedeutete es für uns eine neue Freude. Mein Glück war zu groß, als daß ich es ganz in meiner Brust hätte verschließen können. »Papa«, sagte ich eines Abends, »ich habe Erbsen gesät, und sie treiben ebenso schön wie die Ihren.«

»Ei! Um so besser! Wenn unser Acker dann nichts bringt, wird uns der deinige schadlos halten.«

»Aber er gehört nicht mir allein; die Hälfte gehört M'lo Berault.«

»Nun, so werden wir die Ernte teilen!«

Welche Freude für mich! Insgeheim wünschte ich mir, das Feld meines Vaters möge mißraten, damit ich ihm meine Ernte zum Ersatz anbieten dürfe. Denn schon damals galt es in meinen Augen als das einzige Glück, nützlich sein zu können.

Kurze Zeit nachher, nach zwei Regentagen, fanden wir unsere Erbsen in voller Blüte; neues Entzücken! Alles war neu für uns, alles sonderbar und beglückend. Es bildeten sich die Schoten, sie füllten sich, der Tag der Ernte kam näher.

Eines Morgens ging ich, da M'lo nicht zu finden war, allein in unser Reich. Großer Gott! Welche Verwüstung. Einzelne Pflanzen waren herausgerissen: die Schoten, frisch geöffnet, schienen von einem Naschmaul, das hier sein Frühstück gehalten, geleert worden zu sein, denn ich sah auf dem Boden auch Brotkrumen verstreut. Ich war einer Ohnmacht nahe und ging mit Tränen in den Augen nach Hause. Mein Herz war schier gebrochen. Ach, wenn ich ein Mann und ein König gewesen wäre, wie grausam würde ich die Ungeheuer bekämpft haben, die mir die Ernte des ersten Feldes, das ich besät hatte, raubten.

Die Glocke rief zur Schule, und ich fand dort M'lo, die Augen auf das Buch geheftet. Ich war damals noch viel zu arglos, um ihn zu verdächtigen. Die Wahrheit habe ich erst zehn Jahre später erfahren ... Dieses unglückselige Ereignis heilte mich für lange Zeit vollständig von der Sucht nach Besitz, die erst viel später wieder in mir erwachte.

Ich war schon bald sieben Jahre, als ich Zeuge eines Vorgangs wurde, der wiederum beweist, daß die Menschen auf dem Lande, wenn sie dicht beisammen leben, fast ebenso verderbt sind wie die Menschen in der Stadt. Man darf nicht vergessen, daß die Verderbnis durch die Dienstboten beiderlei Geschlechts und durch die Soldaten, die in ihre Dörfer zurückkehren, nachdem sie in der Stadt verführt worden sind, eingeschleppt wird...

Ein Dutzend Knaben, die doppelt so alt waren wie ich, also eben im Alter der Pubertät standen, zeigten mir am »Unteren Tor« von Sacy etwas, was ich nur in lateinischer Sprache erläutern kann: Omnes, sine verecundia, mentulas exhibentes, ad retractionem praeputii certatim ludebant. An ad emissionem usque seminis emperunt, non potui, pro aetate mea, distinguere: sed erubescere vidi neminem. Alle holten ohne Scheu ihr Glied heraus und wetteiferten im Zurückschieben der Vorhaut. Ob sie es bis zum Samenerguß trieben, konnte ich bei meinem kindlichen Alter nicht unterscheiden; doch sah ich keinen erröten.

Ich würde diesen Vorfall nicht erwähnen, hätte ich nicht wichtige Gründe dafür. Treibt einen am Ende der Knabenjahre die Natur zum Physischen in der Liebe oder wird man nur durch das aufgeklärt, was man sieht und hört? Ich glaube, die Natur wäre zu langsam, wollte sie nur durch Träume belehren; aber ein einziges Wort genügt, und wenn die Eltern auch in der tiefsten ländlichen Einsamkeit, ohne Dienstboten lebten, dieses Wort würde doch immer einmal ausgesprochen. Da die Aufklärung notwendig ist, was soll man also tun? Man wird es mit der Natur halten müssen, die das Licht mit den Kräften schenkt. Aber soll man, wenn die Erleuchtung durch einen Zufall geschieht, zu den Kindern sprechen? – Ich glaube ja, um sie vor physischen und psychischen Schäden zu bewahren. Wenn in der Jugend der erste Ausbruch der Sexualität verzögert wird, so ist alles gewonnen, denn die Gefahr liegt hauptsächlich im Mißverhältnis zwischen den Kräften und den frühreifen Begierden. Um diese hintanzuhalten und eine vorzeitige Aufklärung zu verhindern, müßten die Eltern auf dem Lande, wie es früher geschah, die Kinder von ihrem Tische fernhalten, wenn Fremde anwesend sind, und sie unter ihren Augen mit ländlichen Arbeiten beschäftigen. Aber das ist heute nicht mehr gut möglich. Den Eltern in den Städten bleibt nur die bedauerliche Möglichkeit, ihre Kinder rechtzeitig aufzuklären und ihnen mit dem Gift zugleich das Gegengift einzuflößen.

Meine Eltern wohnten bereits ein Jahr in La Bretonne, und ich war inzwischen neun Jahre alt geworden. Meine natürlichen Anlagen, die man schon in meiner ersten Kindheit geahnt hatte, traten mit den Jahren schärfer hervor. Eine Leidenschaft, die größte von allen, schlief damals noch in meiner Brust, aber sie sandte von Zeit zu Zeit ihre Strahlen hervor, bevor meine Kräfte ihr noch entsprechen konnten. Sie war die Folge meiner physischen Konstitution und daher unüberwindlich; sie verband sich mit einem lebhaften und schmerzlichen Gefühl, unter dem die Verschnittenen gewöhnlich leiden. Dieser noch ohnmächtige Trieb machte mich sehr scheu. Ich war schön: meine goldbraunen Haare lockten sich und gaben mir das Aussehen jener Engel, wie sie die italienischen Meister in ihrer lachenden Phantasie so schön gemalt haben. Der Reiz meines zarten Gesichts wurde durch eine Hakennase noch erhöht, ferner durch schöne Augen und durch die Frische meiner Lippen, die mir soviel Glück bescherten. Meine Haut war durchsichtig und weiß wie die Lilien. Ich war schlank und schmächtig, und das in einem Lande, wo die Gestalten sonst grobknochig zu sein pflegen.

Die großen Burschen spotteten, weil die Mädchen mich, einen so allerliebsten, aber schon so großen Jungen, abküßten wie ein kleines Kind. Ich schämte mich, aber die Mädchen durchschauten die Burschen und wurden durch ihre Worte nur noch mehr angespornt.

Eines Sonntags, als ich aus der Messe kam, sah ich mich plötzlich von fast allen heiratsfähigen Mädchen des Ortes auf einmal umringt. Sie küßten mich der Reihe nach ab, auf die Wangen, auf den Mund, und einige drückten mich sogar fest an ihren Körper. Mein Widerstand reizte ihre Angriffslust. Ich empfand gleichzeitig Beschämung und Lust. Als sie mich endlich losließen, begannen die großen Burschen ihre Sticheleien. Ich schämte mich und lief davon.

Seit diesem Tage konnte ich nicht mehr ausgehen, ohne daß mir die Burschen nachgelaufen wären, um zu spötteln. Da sie es wegen der Eltern und des Pfarrers nicht wagten, die Mädchen zu küssen, machte es ihnen Vergnügen, wenn diese mich mit ihren Liebkosungen verfolgten. Es wurde in Sacy Brauch, den »kleinen Monsieur Nicolas« festzuhalten und abzuküssen. Dies ärgerte mich sehr und raubte mir das letzte Zutrauen zu den Menschen.

Manchmal wälzte ich in meinem kleinen Kopfe sehr reife Ideen. Sonderbar ist, daß ich es mir sehr angenehm vorstellte, ein Mädchen gegen seinen Willen zu küssen, ihm Furcht einzujagen. Ich wollte es zur Flucht zwingen und es verfolgen: ich fühlte, daß dies meine Rolle sei und ich brannte darauf, sie zu spielen. Eine kleine Episode aus dieser Zeit wird diese sonderbare Idee näher beleuchten.

Oft kam in unser Haus eine Hausiererin aus Noyers, namens Frau Geneviève. Ein Mann, der nicht ihr Gatte war, führte ihren Wagen. (Dies gab mir die erste Ahnung von Sittenlosigkeit.) Dieser Mann, Comtois, war groß, stark und sehr blatternarbig; er hatte eine stolze Miene und trug den Hut immer schief auf einem Ohr. Das Aussehen dieses Herrn Comtois gefiel mir. Es erschien mir sehr männlich, und ich wünschte mir ebenfalls ein solches. Ich malte mir aus, wie die Mädchen vor mir fliehen würden, wenn ich auch so häßlich wäre; dieser Gedanke ließ mich vor Wohlbehagen erschauern. Denn man mußte nur gesehen haben, wie flink meine Schwestern und die beiden Mägde vor dem furchtbaren Comtois davonliefen; er holte sie aber immer ein. Ich sah die Angst, die sie hatten, wenn er sie festhielt: er war ein Held, ein furchtbarer Sieger! Wie schön erschien mir seine Rolle! Ich stellte einen traurigen Vergleich mit der meinen an: »Oh, wann werde ich blatternarbig sein?« rief ich aus ... Ich sagte allen, daß ich mir die Blattern wünschte, um Herrn Comtois ähnlich zu werden. Man lachte darüber, denn er war einer der häßlichsten Menschen, die man je gesehen hatte, grob, vierschrötig, abschreckend häßlich. Trotzdem gefiel er Frau Genevieve, die andererseits mir nicht mißfiel: ein Grund mehr, ihn um sein Los, häßlich und geliebt zu sein, zu beneiden.

Meine Gedanken über das Weib wurden allmählich klarer; ich fühlte, daß es alles in sich vereinigt, was liebenswert ist. Nur statt daß die Frauen mich küßten, wollte ich sie küssen, denn dies gefiel mir durchaus besser. Während sich meine Eltern in vollkommener Sorglosigkeit wiegten, weil sie glaubten, ihr Sohn hasse die Frauen, während sich das Gerücht von meinem Widerwillen gegen das andere Geschlecht durch die Leute, die bei meinem Vater verkehrten, in der ganzen Umgebung verbreitete und man den kleinen Monsieur Nicolas für einen »Narziß« hielt, hatten meine Gedanken, wenn ich allein war, bei Tag und bei Nacht kein anderes Ziel als das schöne Geschlecht, das ich zu fliehen schien.

Die Mädchen, die am meisten auf sich hielten, gefielen mir natürlich am besten; und da der Körperteil, der die Erde berührt, am schwersten reinzuhalten ist, so achtete ich am aufmerksamsten auf die Fußbekleidung. Die Mädchen, die ich schon genannt habe, besonders aber Madeleine Champeaux, waren damals die elegantesten; ihre gepflegten und schön gearbeiteten Schuhe hatten statt der Schnallen, die man damals in Sacy noch nicht trug, blaue oder rote Bänder, je nach der Farbe ihres Rocks. Der Gedanke an diese Mädchen erregte mich; ich wünschte... ich weiß nicht, was ... Nur war mir dunkel bewußt, daß ich sie mir unterwerfen wollte.

Damals sah ich in Sacy ein Fräulein. Seine Fußbekleidung war entzückend, ganz städtisch, farbige Stiefelchen mit edelsteinbesetzten Schnallen. Auch sonst war sie eine reizende Person. Sie blendete mich, und zuerst hielt ich sie für die junge schöne Colette, die mich in meiner Kindheit in Vermenton so sehr geliebkost hatte. Aber ich erfuhr dann, sie sei aus Noyers, eine Verwandte des Pfarrers, ein Fräulein Suzanne Colas ... Mit ihren köstlichen und frischen Zügen erschien sie mir wie eine Fee, eine Göttin. Ich träumte nur von ihr; Fräulein Colas machte mich den derben Schönen von Sacy untreu; ohne Zweifel hoffte ich, sie mir leichter unterwerfen zu können, da sie selbst doch auch schlank und zart war wie ich. Suzanne verschwand aber wieder und ich – vergaß sie. Allein sie hatte in mir den Trieb verstärkt, der mich zu den Frauen hinzog.

Ich bezweifle, daß die kleinen Neger, auch wenn sie so frühreif sind, daß sie mit neun oder zehn Jahren Vater sein können, die Frauen stärker begehren als ich. Man wird bald sehen, daß ich dieselben Fähigkeiten besaß wie jene, und dies Phänomen ist nicht das uninteressanteste in meinem Leben ...

Hat aber diese Vorliebe für schöne Füße, die so ausgeprägt in mir war, daß sie unfehlbar meine heftigsten Begierden erweckte und mich über sonstige Häßlichkeit hinwegsehen ließ, ihren Ursprung im Physischen oder Moralischen? Sie ist bei allen, die sie hegen, überaus stark. Was ist die Grundlage dieses Gefühls? Hängt es zusammen mit einer Vorliebe für leichten Gang und graziösen, sinnbetörenden Tanz? Der Schuhfetischismus ist nur der Reflex einer Vorliebe für schöne Füße, die selbst den Tieren eine gewisse Anmut verleihen; man schätzt die Hülle dann fast ebenso hoch wie die Sache selbst. So war meine Vorliebe für schöne Schuhe, die ich schon seit meiner Kindheit hegte, eine erworbene Neigung, die einem natürlichen Gefühl entsprang.

Die Vorliebe für kleine Füße jedoch hat einen physischen Grund, wie es das Sprichwort erklärt: »Parvus pes, barathrum grande! Die Gunst dieses Umstandes erleichtert ja die Zeugung. Ich kann mich hierzu nur in der Sprache der Wissenschaft näher erklären: Aperta vulva semper facilitat intromissionem ac projectum seminis in uterum. Eine offene Scheide erleichtert immer die Einführung des Gliedes und den Samenerguß in die Gebärmutter.

Ich gebe hier eine andere Beobachtung wieder, die sich auf die schöne Form der Füße bezieht. Im reifen Mannesalter kannte ich zwei Frauen, die vollendet schöne Füße und Beine besaßen. Die eine war Rosette aus der Rue Fosses-Saint-Germain, die lange Zeit den Schülern des berühmten Malers Fragonard Modell gestanden hat; die andere die schöne Harris, Tochter eines Tischlers in der Rue Vieille-Boucherie. Sonderbare Umstände brachten mich in Beziehung zu ihnen und ich konnte mich überzeugen, daß sie auch sonst von ungewöhnlicher Schönheit waren, praesertim ad mammas et ad concham Veneris; cuius venustas praecellebat quasquas venustates quas vidi in ceteris mulieribus; besonders was Brüste und Venusmuschel betrifft; ihr Liebreiz übertraf alles, was ich bisher bei anderen Frauen gesehen habe. ihre Gesichter waren nicht die schönsten, aber sie waren unendlich liebenswert. Ihr Fuß war nicht der kleinste, aber wohl der schönste; weit entfernt, den Schuh unförmig zu machen, könnte man vielmehr sagen, daß er ihn noch vollkommener werden ließ. Nur diese kleinen, runden, kurzen Beine deuten auf ein barathrum grande ...

Wenn ich irgendwo in ein Haus trat und dort die Sonntagsschuhe in Reih und Glied aufgestellt sah, so bebte ich vor Vergnügen; ich errötete und schlug die Augen zu Boden wie vor einem Mädchen ... Als ich später in Courgis bei einem Schuhmacher hübsche Schuhe sah und er mir sagte, sie seien für Jeannette Rousseau, bekam ich einen ganz roten Kopf und fiel fast in Ohnmacht... Auch mit den Schuhen der Madame Parangon trieb ich später meinen Kult.

Zwei ältere Männer, Monsieur Restif aus Noyers, der Großvater der Restifs in Grenoble, und mein Onkel Droin wurden durch mein Äußeres getäuscht, als sie bemerkten, daß ich beim geringsten Lob meine großen Augen mit den langen Wimpern niederschlug. Sie sagten zu meinen Eltern: »Euer Sohn ist ja ein schüchternes Mädchen; seid ihr auch seines Geschlechtes sicher?«

Ich glaube, daß die Männer, die die Frauen am wildesten begehren ... ob amplitudinem testiculorum, longitudinemque gracilis penis, Wegen des stattlichen Umfangs der Hoden und der Länge des schlanken Gliedes. was auch der Grund der unbezähmbaren Sinnlichkeit war, die mich in meinen schönsten Lebensjahren quälte ... alle in den Jahren keimender Männlichkeit dieselbe Schüchternheit, dieselbe Schamhaftigkeit, dieselben seltsamen Neigungen haben. Dies rührt daher, daß sie schon fühlen, was andere eben noch nicht spüren. Ebenso darf man wohl glauben, daß Mädchen, die sehr schamhaft sind und leicht erröten, für die Freuden der Liebe am empfänglichsten sind ...

Ich will an dieser Stelle eine Beobachtung mitteilen, die den wahren Grund meiner Scheu vor hübschen jungen Mädchen erklären wird: Die alten und häßlichen nämlich mied ich nicht und errötete auch nicht in ihrer Gegenwart, wenn ich mangelhaft bekleidet war oder mich irgendwie vergangen hatte. Häufig waren es gerade die häßlichen Mädchen von Sacy, die mich verfolgten. Da hielt ich stand. Daraus schloß denn jeder, daß ich die alten und häßlichen liebe. Eines Tages ließ mich mein Vater insgeheim durch den Karrenjungen Germain nach dem Grunde meines sonderbaren Benehmens ausfragen. »Nein!« erwiderte ich, »die häßlichen Mädchen liebe ich nicht, aber ich habe auch keine Scheu vor ihnen.« Das beruhigte meinen Vater.

Am 6. Dezember 1745 beschlossen meine Eltern, mich zu meiner ältesten Stiefschwester Anne, die meine Taufpatin gewesen war, nach Vermenton in Kost zu geben. Dort war auch mein ältester Stiefbruder eben Vikar geworden. Aber erst am 29. Juni des nächsten Jahres kam es zur Ausführung dieses Entschlusses, da in Sacy mit diesem Tage die Schule schließt, um erst wieder nach der Weinernte zu beginnen. An diesem Tage fand eine Wallfahrt nach La Vierge d'Harbeaux bei Crevan statt. In der dortigen Kapelle befindet sich eine Quelle, deren Wasser nicht allein den Durst löscht, sondern auch noch andere, wunderbare Eigenschaften besitzt. Unter anderem hat es schon oft kinderlose Frauen fruchtbar gemacht ...

Da man wahrgenommen hatte, daß ich mich davor fürchtete, meine gewohnte Umgebung zu verlassen, denn ich hing mit ganzem Herzen an dem Schafböckchen, das ich aufgezogen hatte, an den Bienen, die ich betreute, bediente man sich einer List. Man schützte die Wallfahrt nach Harbeaux vor, an der ich mit meiner Schwester Margot teilnehmen sollte, und diese hatte den Auftrag, mich in Vermenton zurückzulassen. Ich sah mir die Kapelle an und trank von dem Wasser, das ich vortrefflich fand, denn ich war sehr durstig. Ich aß viele Kirschen, die ich leidenschaftlich liebte. Auf dem Rückweg kamen wir nach Vermenton, wo meine Begleiterin mich zurückließ; aber sie gab mir das Versprechen, mich am nächsten Freitag, dem Markttag, wieder abzuholen.

Als Margot weggegangen war, sagte mir Anne alles. Da drückte mich der Gedanke an das, was ich hatte zurücklassen müssen, so schmerzlich nieder, daß ich ohnmächtig wurde. Dieser Tag ließ mich zuerst einen mir bisher unbekannten lebhaften Schmerz fühlen, der mich noch jetzt, wenn ich daran denke, schaudern läßt. Ich kam nur halb zu mir selbst; ich verblieb in einer Art Betäubung, die meine Schwester so in Schrecken versetzte, daß sie eiligst meinen Bruder, den Vikar, holen ging. Endlich konnte ich weinen und dies gab mir Erleichterung. Die halbwilde Landschaft von La Bretonne, nach der ich mich sehnte, besaß für mich schon immer einen unaussprechlichen Reiz; sie war für mich, was den Schweizern ihre Berge sind. Man mußte mich jeden Samstag wieder nach Hause gehen lassen, und erst am Montag früh kehrte ich zurück, um mich rechtzeitig in der Schule von Vermenton einzufinden.

Am besten gefiel mir noch an meinem Verbannungsort die Schule, weil ich dort mit Altersgenossen zusammentraf. Ich war damals sehr scheu, trotzdem spielte ich manchmal mit den jungen Viards und Boudards. Diese Kameraden brachten mich zu Monsieur Collet, dem Notar und Richter, einem alten Freunde meines Vaters. In diesem Hause gab es vier oder fünf hübsche Mädchen, von denen eine, Colette, mir viel Güte erwies. Wenn man sich über mein bäuerisches Benehmen lustig machte oder meine Einfalt bespöttelte, verteidigte sie mich stets. Als sie mich eines Abends weinen sah, trat sie mitleidig zu mir und fragte mich nach dem Grunde meines Kummers. Ich antwortete: »Weil ich Heimweh habe ... und dann ... weil ich mich nach meinen Bienchen sehne ... nach meinem Böckchen ... und nach meinem Birnbaum ... und dann ... nach unserm Garten ... und nach Etienne Dumont... und nach Vater und Mutter; und weil es mir hier nicht gefällt.«

»Bei uns?«

»Ja, bei meinem Onkel Miche Linard.«

»Und bei Monsieur Collet?«

»Ach, es ist doch nicht Sacy; mir gefällt es nur in La Bretonne!«

»Warum denn?«

»Weil es dort ganz einsam ist und ich die vielen Leute nicht leiden kann.«

»Aber« (sie lächelte über mein kindisches Wesen) »mißfallen wir dir auch, meine Schwestern und ich?«

»Hier alles, alles!«

»Auch ich?« (Das liebenswürdige Mädchen faßte mich zärtlich bei den Händen.)

»Nein, du nicht!« sagte ich schluchzend.

»Der arme Junge!« sagte Colette zu ihren Schwestern, »wenn seine Eltern ihn nicht bald von hier wegnehmen, wird er zugrunde gehen. Dieser Michel Linard ist auch wirklich unausstehlich!«

Ja, wenn ich nach Sacy zurückgekehrt sein werde, dann will ich mich an Colette erinnern, und die Gedanken an sie werden mir noch süßer sein als ihre Gegenwart. Ihr teures Bild wird lange meine Träume verschönern. Zwei- bis dreimal ging ich während des Sommers sogar auf die kahle Anhöhe von Terrapion, um den mir einst so furchtbaren Ort zu betrachten und gerührt zu sagen: »Dort wohnt sie, meine liebe Colette, die gute Freundin meiner Eltern, die noch viel schöner ist als Fräulein Colas, die Kusine des Herrn Pfarrers.«

Nach meiner Rückkehr nach Sacy glaubte man, der Aufenthalt in der Fremde habe mich geheilt; aber bald bemerkte man, daß ich nur noch scheuer geworden war. Auch die Mädchen liefen mir wieder nach. Und doch kam die Gefahr nicht von diesem Benehmen meiner Dorfgenossinnen, sondern von einer Fremden... So jung noch, sollte ich schon das seltsamste Abenteuer erleben, an und für sich und in seinen Folgen das außerordentlichste meines Lebens!

Meine Schulkameraden waren die jungen Rameaus. Edmond, Francois, Charles und Louis sowie deren Schwester Madelon nahmen Stunden beim Lehrer Jacques. Ihre Mutter haßte mich zwar, und doch überschüttete sie mich mit Liebkosungen. Ihre Söhne waren geistig sehr schwerfällig und dumm; in der Meinung des Dorfes war ich ihnen weit überlegen, obgleich sie reicher waren als ich. Ihre Mutter wußte dies, und es kränkte ihren Ehrgeiz. Sie versuchte daher, mich bei Messire Antoine Foudriat herabzusetzen, was ihr bei einem andern auch gewiß gelungen wäre. Dieser aber verstand es, in meinem Herzen zu lesen.

Sie war freundlich gegen mich und schmeichelte mir, aber sie hätte es gern gesehen, wenn ich mir irgend etwas zuschulden hätte kommen lassen, um mich dann im ganzen Dorfe in Verruf zu bringen. Diese mütterliche Eifersucht war ein seltsamer Zug an ihr. Aber sie erreichte nur, daß Messire Antoine mich nicht in die Anfangsgründe der lateinischen Sprache einweihte, wie er anfangs beabsichtigt hatte. Schon dadurch schadete sie mir ungemein, denn Messire Antoine war ein ausgezeichneter Lehrer und hätte mich in meiner Bildung sehr fördern können.

Madame Rameau hatte im August des Jahres 1745 eine hübsche Schnitterin aus Percy-le-Sec eingestellt, wo ihr Mann lebte. Obgleich ihre Ehe sehr glücklich war, lebten die beiden Ehegatten getrennt. Die Mutter weilte mit den Kindern auf dem Gute in Sacy, während der Mann die viel größere Besitzung in Percy bewirtschaftete.

Diese Schnitterin, ein dickes, hübsches, immer lustiges Mädchen, sah so verführerisch aus, daß sie die Eifersucht der Madame Rameau erregte, wenn auch zu Unrecht, wie ich weiß; der »Automat«, wie sie ihren Mann nannte, hatte nur Sinn für seine Felder. Die beiden Gatten tauschten ihre Schnitterinnen aus; die dicke Mathron, häßlich wie das böse Gewissen eines Wucherers, wurde nach Percy geschickt, und die appetitliche Nannette kam zu der Frau ihres Herrn.

Ich sah Nannette zum erstenmal am Marientag in der Kirche, wo alle Mädchen in weißen Kleidern waren. Ihr Anblick fesselte mich, aber auf eine Art, die ich noch nie empfunden hatte. Es war Begierde, nicht mehr Liebe, was ich empfand. Das Blut brannte mir in den Adern. Nannette war das erste Weib nach meinem Geschmack. Ich war erstaunt über diese neue, merkwürdige Empfindung ... War das die Wirkung ihrer Schönheit, die nur zu den Sinnen sprach, wie die vieler Frauen, denen ich seither begegnete, in den dreißig Jahren meiner vollen Männlichkeit? ...

Als Nannette die Kirche verließ, schlich ich ihr nach, um sie besser zu sehen, und sie entflammte meine Phantasie vollends; sie hatte etwas Lüsternes an sich, das ich noch bei keiner empfunden hatte, außer bei der schönen Ursule Lamas aus Nitry, von der ich bald sprechen werde ... Ich folgte ihr, zitternd vor Wollust, immer möglichst nah, bis zur Haustüre der Rameaus. Als ich dann wieder im Garten von La Bretonne war, erinnerte ich mich an die früher erzählte Parade, die mir seinerzeit die fünfzehnjährigen Burschen am »Unteren Tor« vorgeführt hatten, und meine Hand forschte, zwar noch nicht befleckend, aber schon neugierig, nach der Ursache einer neuen Erscheinung, altae rigidaeque erectionis ...

Am folgenden Tage ging ich auf dem Meßweg trotz meiner Schüchternheit zu den Rameaus, um sie mit ihrer Schwester Madelon abzuholen. Ich hörte, wie Fräulein Rameau leise zu der schönen Schnitterin sagte: »Nannette, siehst du den großen Jungen da? Wenn du ihn küssen wolltest, würde er davonlaufen!« Nannette lachte, doch wir mußten uns eilen, da es schon höchste Zeit war.

Als die Messe zu Ende war, gab ich der dringenden Einladung meiner Freunde und den lebhaften höflichen Bitten Madelons nach. Übrigens wurde ich in diesem Hause immer so freundlich aufgenommen, daß ich mich dort schon ein wenig heimisch fühlen durfte. Als wir den Hof betraten, sah ich, wie Fräulein Rameau der verführerischen Schnitterin etwas ins Ohr flüsterte.

Ich spielte mit meinen Freunden; als ich mich allein im Hintergrunde eines Mauleselstalles versteckt hatte, Tiere, die der alte Rameau zur Bestellung des Feldes verwendete, trat Nannette plötzlich leise hinter mich und hielt mich mit beiden Händen fest. »Ich werde dich jetzt nach Herzenslust abküssen!« sagte sie lachend. Ich suchte mich scheinbar ihr zu entwinden. Dies vermehrte nur noch ihr Verlangen. Sie drückte mich gegen ihren Busen, den schönsten, den ich noch gesehen habe ... Heftig erregt erwiderte ich ihre Küsse. Da schien Nannette wie von Liebeswut ergriffen; sie umschlang mich und zwang mich, ihren ganzen Körper abzutasten ... Sie schien besonders sinnlich zu sein; sie erblaßte, ihre Knie trugen sie nicht mehr, sie drückte mich an sich und stieß mich wieder zurück; schließlich erfaßte sie die Leidenschaft derart, daß sie besessen sein wollte, und sie traf alle Vorbereitungen dazu. Eine neue Sappho, unterstützte sie die Natur und ließ sie wirken, und sie erregte mich dadurch immer mehr. In diesem schrecklichen Augenblick, als meine Zeugungskraft zum erstenmal wirksam ward, wurde ich ohnmächtig! ... Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich mit Wasser übergossen und von meinen Freunden umgeben. Madelon sagte zu Nannette: »Du hast ihn wohl gekitzelt? Ich habe vergessen, dir zu sagen, daß man es nicht darf. Seine Schwester Margot hat mir gesagt, daß er bewußtlos wird, wenn man ihn kitzelt.« Nannette errötete und stammelte: »Das habe ich nicht gewußt!« Das war ihre ganze Erklärung; ich selbst hatte nur eine unklare Vorstellung von dem, was geschehen war.

Im Oktober kehrte ich wieder in die Schule des Lehrers Jacques zurück. Ich hatte es in Vermenton gelernt, wie man die Schule schwänzt, und fehlte nun öfters. Dies gab den Rameaus Gelegenheit, mich bei Messire Antoine anzuschwärzen. Ich bekam Hiebe! Eine tiefe Erniedrigung, die Mutter Rameau frohlocken ließ. Sie machte meiner Mutter einen Besuch, um ihr Bedauern auszusprechen, und meine Mutter fühlte sich mehr gekränkt als ich selbst.

Meine Eltern waren mit meinem Benehmen wenig zufrieden, meine Veranlagung versprach ihnen nichts Gutes. Ich schien zu jeder Beschäftigung untauglich. Wenn ein Fremder ins Haus kam, machte ich mich auf und davon und kam erst zurück, wenn die Luft wieder rein war. Vielleicht aber war dies nur eine Wirkung meines glücklichen Instinkts, der mir sagte, nur die Fremden, die zu uns kämen, könnten mich mit dem Laster bekannt machen, da dies in meinem väterlichen Hause etwas vollkommen Unbekanntes war.

Die Mädchen ließen nicht ab, mich zu verfolgen. Die älteste Tochter meiner Nährmutter, einer Nachbarin der Madame Rameau, hatte scheinbar etwas von der Szene im Mauleselstall bemerkt. Eines Tages machte sie den Mädchen des Dorfes Vorwürfe und gab ihnen zu bedenken, daß ich doch kein Kind mehr sei, und daß ihre Handlungsweise ihnen in den Augen der Leute schaden werde. »Du bist zu gutmütig!« sagte sie zu mir. »Wenn sie wiederkommen und dich küssen wollen, so mach' es wie bei Nannette ... aber nicht zu heftig! Du wirst es nur zweimal tun müssen, dann werden sie dich schon in Ruhe lassen ...«

Die Mädchen glaubten, meine Nährmutter habe mir geraten, mich gegen sie zu wehren. Eine von ihnen, die schöne Marguerite Bourdillat, die in meinem Alter war, traf mich eines Abends allein, näherte sich mir und sagte, daß sie mich küssen werde: Sie beugt sich über mich, ich rühre mich nicht; sie packt mich, ich drücke sie an mich; sie küßt mich, ich küsse sie wieder, dreimal, viermal; schließlich muß sich die kecke kleine Angreiferin sogar verteidigen, und bald flieht sie mit den Worten: »Was ist denn das? Ich habe gedacht, daß du immer davonläufst!« Ich antwortete, daß ich mir vorgenommen habe, nun nicht mehr davonzulaufen, sondern den Mädchen für einen Kuß drei zurückzugeben. »Ei, da werden sie alle an die Reihe kommen und große Augen machen; denn ich erzähle nichts.«

Ich war stolz auf diesen Erfolg. Als ich auf dem Heimweg an einer Schar großer Mädchen vorüberkam, die mich umringten, fühlte ich mich zuerst versucht, davonzulaufen, aber die Vernunft siegte. Ich warf mich zuerst Reine Mine an den Hals. »Ich glaube gar, er küßt dich!« rief Madeleine Champaut. Dann ereilte sie dasselbe Schicksal, und sie ließ mich gewähren. Dann küßte ich Agathe. Die drei Mädchen waren starr vor Staunen. Nun näherten sich mir die anderen Frauen und Mädchen und man spendete mir Beifall, als man sah, daß ich meine Sache so gut machte. »Das ist recht!« riefen sie. »Ha! ha! Glaubt ihr noch immer, daß ihr es mit einem Kinde zu tun habt?« – »Ich will alle Mädchen küssen!« rief ich aus.

Von diesem Tage an wagte kein Mädchen mehr, mich zu belästigen. Eine meiner Nachbarinnen, schön und immer zurückhaltend, lobte meinen Entschluß und gestand mir ganz verlegen, wie sehr ihr die Zudringlichkeit der erwachsenen Mädchen mißfallen habe. Es hätte wenig gefehlt, und ich würde auf der Stelle mit ihr mein Abenteuer aus dem Maultierstall wiederholt haben. Aber Marguerite war nicht dafür zu gewinnen...

Gegen Ende Juli, wenn das Gras hoch genug stand, um die Pferde auf die Weide treiben zu können, kamen die jungen Männer und die jungen Mädchen, die die Tiere hüteten, auf den Wiesen zusammen und ergötzten sich mit verschiedenen Spielen, die voller Anklänge an das Leben der alten Hirten waren.

Ich hatte in meinem väterlichen Hause noch keine bestimmte Beschäftigung, so war ich außer den Schulstunden und besonders während der Ernte und der Weinlese vollständig frei. Aber dieser Müßiggang war gar nicht nach meinem Sinn, und ich betrachtete ihn als eine unerträgliche Schande. Während des Tages pflegte ich die Bienen, die Lämmer und das Geflügel des Hofes oder ich arbeitete im Garten, dessen Unkraut ich den Kühen brachte. Wenn ich mich müde fühlte, las ich lateinische Bücher; ich verstand sie zwar nicht, aber ich fand die lateinischen Kirchenlieder so wohlklingend. Französisch konnte ich noch nicht lesen, obschon ich große Lust dazu verspürte, aber mein Vater versperrte alle Bücher in dieser Sprache und las uns nur abends, nach dem Nachtmahl daraus vor, wenn die ganze Familie versammelt war.

Angelockt von dem lauten Gelächter der Jugend, lief ich abends hinaus auf die Wiesen, wo man scherzte und spielte. Eines dieser Spiele, mit denen die Jugend sich erfreute, hieß »Der Wolf«. Man steckte einen Pfahl in die Erde und band an diesen einen langen Strick. Dann wählte man den ersten »Wolf«, gewöhnlich war dieser Titel sehr gesucht, sein Träger wurde an das Seil gebunden und man verband ihm die Augen, hierauf liefen die Mitspieler auseinander. Nun schleuderten die Knaben ihm ihre Hüte oder Mützen zu, die Mädchen ihre Schürzen oder Tücher, ja sogar ihre Unterröcke und Mieder. Der »Wolf« mußte nun erraten, wem der Hut, die Schürze oder das Tuch gehörte, und wenn er es nicht erriet, mußte er es zu seinem Pfahl legen, von dem man es wiederzuholen versuchte. Wenn der »Wolf« einen Buben erraten hatte, so wurde dieser »Wolf«; hatte er ein Mädchen erraten, so wählte dieses einen Burschen als Ersatzmann für sich. Wenn der »Wolf« einen Burschen erwischte, zauste er ihn gründlich; war es ein Mädchen, so »fraß« er es, das heißt, küßte es gehörig ab und nahm sich allerlei Freiheiten bei ihm heraus. Man konnte aber nur gefaßt werden, wenn man sich die Pfänder zurückholen wollte, die sich um den Pfahl herum häuften.

Dieses Spiel war für Kinder wie mich – trotz meines Abenteuers mit Nannette – höchst harmlos; aber manchmal beteiligten sich auch Burschen von fünfzehn bis zwanzig Jahren daran, und dann kam es zu ziemlich zweideutigen Zwischenfällen.

Aber Messire Antoine Foudriat wollte es nicht verbieten und unterließ auch jede Ermahnung zur Schicklichkeit; er sagte, daß seit mehr als fünfhundert Jahren nichts Besonderes dabei vorgekommen sei, und wenn man es verbieten würde, könnte es erst recht gefährlich werden...

Aber dieser brave Geistliche starb und sein Nachfolger, Messire Louis Jolivet, untersagte das Spiel, und nun entartete es wirklich und wurde so unzüchtig, daß die weltliche Gerichtsbarkeit einschreiten mußte. Von da an gab es keine Spiele mehr in Sacy, und man lebte dort ebenso eintönig wie anderswo dahin. Die puritanische Heuchelei war schon immer der größte Feind des Menschengeschlechts.

In jenem Alter und nach allem, was man bisher von mir gelesen hat, kannte ich die Süße des Kusses noch nicht. Ich spreche nun von der ersten Gelegenheit, bei der ich dieses entzückende neue Gefühl auch wirklich empfand.

Als ich eines Abends aus der Schule nach Hause kam, hörte ich, daß zwei meiner Kusinen, Gautherins aus Aigremont, eingetroffen seien; es waren Töchter einer Schwester der Mutter meines Vaters. Die blonde Marie, die ältere der beiden, sollte heiraten; sie war gekommen, dies ihrem Oheim mitzuteilen; die braune Nannon begleitete sie. Ich erinnere mich, daß Marie eine wunderschöne Gestalt besaß, sie glich der schönen Guéant, die leider nur wenige Jahre als Schauspielerin am Théâtre-Français wirkte.

Auch Nannon, die jüngere, war hübsch; ihre dunkle Hautfarbe machte ihre Erscheinung nur noch reizvoller. Marie umarmte mich, gab mir Süßigkeiten und überließ mich dann ihrer Schwester, die mich ganz in Beschlag nahm und sich nur mit mir beschäftigte. Sie gab mir einen Kuß, aber es war nur ein Kuß der Freundschaft... Noch nie hatten so weiche Wangen die meinigen berührt; ich verspürte eine Woge der Wollust in mir aufsteigen.

Diesen Kuß glaube ich noch heute zu fühlen, wenn meine Phantasie mich zu jenem Augenblick zurückführt. Ich nahm mir ein Herz und erwiderte ihn, ohne daß meine Kusine widerstrebt hätte, im Gegenteil, sie schien entzückt zu sein und war doppelt zärtlich.

Damals hatten wir eine Magd aus Nitry im Hause, ein braves und ganz hübsches Mädchen, Catherine Panneterat, die mich verschiedentlich vor den Verfolgungen der Mädchen in Schutz genommen hatte. Diese erklärte leise meiner Kusine, daß ich noch keinem Mädchen so freundlich entgegengekommen wäre wie ihr. »Ich weiß es«, erwiderte diese, »darum habe ich meinen kleinen Vetter um so lieber.« Ich war sehr stolz darüber, mein junges Herz schwamm in Wonnen, die um so lebhafter waren, da noch ganz unschuldig. Aber ich erinnere mich, wie groß auch das Vergnügen war, das mir Nannons Liebkosungen bereiteten, so fühlten sich doch meine Augen stets von den schönen Füßen Maries angezogen.

Dieses kleine Ereignis war von Bedeutung für mein Leben, weil es mir eine neue Macht offenbarte: die Süßigkeit des Kusses... Nur wundere ich mich, daß dieses Ereignis dem Abenteuer im Maultierstall folgte, statt ihm vorauszugehen; es war wohl nur deshalb, weil dieses gewaltsam herbeigeführt worden war.

Als ich nach dem Besuch meiner Kusinen zum erstenmal wieder ›Wolf‹ spielen ging, betrachtete ich mir die Mädchen meines Alters, die eine ebenso zarte Haut hatten wie Nannon Gautherin, besonders aufmerksam. Es gab unter ihnen zwei sehr hübsche; die eine hieß Marie Fouard, die andere Madeleine Piot, die Base jener rotblonden Marie, die mich als Kind auf ihrem Arm in die Vesper getragen hatte.

Marie Fouard hatte schöne schwarze Augen und schön geschweifte Augenbrauen; alles an ihr sprühte von Kraft und Temperament, und deshalb gefiel sie mir vielleicht am besten von beiden. Madeleine hatte eine hellere Haut, ein sanfteres Wesen, war weicher und zarter; ich hatte auch sie von Herzen lieb ...

Man spielte »Wolf«. Mein Freund Etienne Dumont war auch dabei. Er war noch ein unschuldiges Kind mit großer Herzensreinheit, obwohl auch sie einst gefährdet worden war, wie die meine durch das, was mir und Marie Louison von Margot widerfahren war. Aber die ausgezeichneten Grundsätze, die seine Mutter in seine Seele gepflanzt hatte, schützten ihn.

Er wurde der erste »Wolf«; er war mein Nebenbuhler bei Marie Fouard und bemühte sich, sie zu fangen. Es gelang ihm auch; aber er handelte seinem Charakter entsprechend und raubte ihr nicht einmal einen Kuß, sondern begnügte sich damit, ihre Hand zu ergreifen und ihre Taille zu umschlingen. Dann ließ ich mich fangen. Er flüsterte mir zu: »Wenn du nicht »Wolf« sein willst, so werde ich dich nicht erraten, obwohl es mir schon langweilig wird.« – »Doch! Ich möchte es werden!« erwiderte ich, »damit ich meine Kusine Madeleine Piot auch so fressen kann, wie du Marie Fouard gefressen hast.«

Die Leidenschaft machte mich erfinderisch oder vielmehr zum Lügner; denn ich wollte doch Marie »fressen«. Etienne erriet mich also und ich wurde »Wolf«. Als ich Marie ergriffen hatte, die sich leicht haschen ließ, weil ich ihr lieber war als Etienne, erinnerte ich mich an alle wollüstigen Empfindungen, die ich schon genossen hatte, an die zufälligen Berührungen mit Ursule Rameau, an die begehrlichen Küsse Nannettens und an die weichen Wangen der Nannon Gautherin, und ich wünschte, sie bei der brünetten Marie wiederzuerleben. Ich tat so, als ob ich sie »fressen« wollte, aber ich küßte sie und ließ mich wieder küssen; manus insertae pertractabant inguinam impuberemque concham; meine eingedrungenen Hände betasteten ihren Unterleib und ihre noch unentwickelte Muschel; unschuldig, wie sie war, sträubte sie sich nicht und schien meine Begierden zu teilen ... Dann sagte ich zu ihr: »Marie! Mein Freund Etienne und ich lieben dich; wen von uns hast du lieber?« – »Dich, Monsier Nicolas; Etienne ist ja nur ein Knirps.«

Er war wirklich sehr klein und seine Arme waren kaum stärker als meine Finger; ich war von dieser Antwort entzückt. Aber da ich fürchtete, Etienne Kummer zu bereiten, wenn ich Marie länger festhielt, ließ ich sie los. Bevor ich mir einen Nachfolger aussuchte, wollte ich zunächst auch noch Madeleine fangen. Dies war leicht, denn sie war eifersüchtig auf Marie und wäre sehr gern auch so ›gefressen‹ worden wie jene. Ich bemerke hier, daß ich weder damals, während meines Aufenthaltes in Courgis, wo mein Herz für Jeannette Rousseau brannte, noch später in Auxerre, wo ich Madame Parangon liebte bis zur Raserei, wie auch sonst in meinem Leben niemals ein einziges Wesen anbetete, sondern immer mehrere zu gleicher Zeit. Ich gestehe dies, damit man die Gründe, die ich zuweilen vorbringe, um zu beweisen, daß ich nur ein Weib geliebt hätte, nicht als stichhaltig ansehe.

»Fürchte nichts, liebe Madeleine«, sagte ich zu der hübschen Piot, als ich sie faßte; »ich werde kein böser ›Wolf‹ für dich sein und dir nichts tun!« Ich küßte sie mehrmals, statt sie zu beißen, was die andern ›Wölfe‹ öfters taten, und ich versuchte auch, ihren Busen zu küssen, wie ich es bei Nannette getan hatte, was mir hier aber nicht gelang. Endlich ließ ich sie laufen, ich hatte keine Lust mehr, den ›Wolf‹ zu spielen. Etienne hatte mir so nachlässig die Augen verbunden, daß ich unter der Binde hervorlugen und alles sehen konnte; ich erriet also bald den Eigentümer eines Hutes und wurde abgelöst.

Ich glaube, damals liebte ich nur Marie Fouard... Aber kann man in jenem Alter schon von Liebe sprechen? Mir scheint doch, denn ich spürte damals schon die Gefühle, die uns das andere Geschlecht einflößt. Ich fühlte beim Anblick Maries eine geheimnisvolle Erregung und fand bei ihr die Reize, die mein Herz begehrte.

Seit mein Vater in La Bretonne wohnte, besaß er weite Wiesengründe und konnte deshalb große Herden von Schafen, Rindern und Schweinen halten. Ihm gehörte ein wohlbesetzter Geflügelhof, in dem auch die Wassertiere nicht fehlten, denn mein Vater war nicht der Mann, irgendeinen Zweig der Landwirtschaft zu vernachlässigen.

Um seine Herden zu hüten, nahm er einen Hirten; früher hatte er seine Schafe auf die Gemeindewiese geschickt. Ich liebte die Gesellschaft dieses Hirten, und um ihn öfters besuchen zu können, gebrauchte ich eine kleine List: an allen Vortagen von Sonn- und Feiertagen schwänzte ich die Schule, um zu Jacquot hinaus aufs Feld zu laufen.

Nur unvollkommen vermag ich die Freude auszudrücken, die es mir bereitete, durch die Felder zu streifen und mir von Jacquot Geschichten erzählen zu lassen.

Meine lebhafte und empfindsame Seele erfreute sich an allem; ein wilder Winkel, eine dicht bewachsene Anhöhe, ein tiefes Tal, in dem der Blick durch ein unheimliches Gehölz eingeengt wurde, alles das erzeugte in mir eine Art von Niedergeschlagenheit und ich wurde erst wieder heiter, wenn wir auf die Hügel hinaufstiegen. Dort fühlte ich mich freier, die Furcht wich der Kühnheit; da stimmte ich dann irgendeine Lobeshymne an, die mir gerade in den Sinn kam. Wenn wir einen Hasen sahen oder ein Nest aufstöberten, erreichte mein Glück seinen Gipfel; ich schwamm in Wonne. Nie mehr seitdem war meine Freude so rein, so vollkommen!

Eines Tages war Jacquot, der Hirte, verschwunden. Er hatte sich heimlich davongemacht, um an einer Wallfahrt nach Saint-Michel teilzunehmen, und war nicht zurückgekehrt. Im Hause gab es soviel Arbeit, daß man sich genötigt sah, mich die Herden hüten zu lassen.

Nun war ich allein, war frei, konnte tun und lassen, was ich wollte. So sehr ich auch um meinen mir teuer gewordenen Freund Jacquot trauerte und weinte, war ich doch glücklich und trunken vor Freiheitswonne. Man kümmerte sich nicht darum, wohin ich meine Herden auf die Weide trieb. Um mich aber vor den Wölfen zu schützen, gab man mir drei große Hunde mit, Pimard, Babillard und Friquette; namentlich der letztere war von wunderbarer Treue und Klugheit.

Der liebste Weideplatz war mir der von Grand-Pré. Die Leute von Nitry hielten ihre Weinlese immer ziemlich zeitig ab, denn sie sind sehr vergnügungssüchtig und brennen darauf, ihre Feste zu feiern. So konnte ich in den Weinbergen ungestört eine ergiebige Nachernte abhalten; denn die lässigen Einwohner Nitrys hatten eine Menge von Früchten, die noch nicht ganz reif gewesen waren, hängen lassen, nicht nur Trauben, sondern auch Pfirsiche, Birnen, Äpfel und Quitten. Aber es war nicht nur nachlässiger Leichtsinn, den die Leute von Nitry dadurch offenbarten, sondern auch eine gewisse großmütige Freigebigkeit.

Sie ernteten nicht mit der peinlichen Sorgfalt wie die Bewohner von Sacy, sondern meinten: »Man muß ein wenig für die Armen übriglassen, die keinen Weinberg haben, damit auch sie eine Traube kosten können; denn einst, als die Früchte wild wuchsen, gehörte allen alles. Da soll man auch jetzt den Armen ein paar Edelfrüchte übriglassen, um sie nicht zum Diebstahl und zur Verzweiflung zu bringen, und damit der Wanderer und der Hirt, die an diesen Höhen vorüberziehen, ihren Durst stillen können.« Auch ich fand reichlich Früchte in den Weingärten des Mont-Gre, während meine Schweine, Schafe und Ziegen nach Grand-Pré wanderten, wo sie Quendel und anderes Unkraut abgrasten.

Wie fühlte ich auf diesen Hügeln mein Herz schwellen! Welche köstlidien Augenblicke genoß ich da! Wie oft wünsche ich mir diese Zeit wieder zurück. Dort verging mir der Tag viel zu rasch. Nur ungern kehrte ich nach Hause zurück, und am Morgen trieb ich in aller Frühe meine Herden wieder hinaus. Sie gediehen trefflich unter meinen Händen, und dank der Wachsamkeit meines treuen Hundes Friquette tat der Wolf ihnen keinen Schaden.

Gegenüber dem Mont-Gré, hinter dem Wäldchen von Bout-Parc, lag ein einsames Tal, das ich noch nicht zu betreten gewagt hatte; dichtes hohes Gestrüpp gab ihm ein düsteres Aussehen, das mich erschreckte.

Am vierten Tage nach der Weinlese von Nitry entschloß ich mich, mit meiner Herde dorthin zu ziehen. Im Grunde des Tales gab es Gesträuch und Gebüsch für meine Ziegen und eine Wiese für meine Kälber. Ein geheimnisvoller Schauer ergriff mich, und ich mußte an die Menschen in Jacquots Geschichten denken, die in wilde Tiere verwandelt worden waren.

Meine Herde graste ruhig rings um mich; die Schweine fanden wilde Rüben und wühlten die Erde auf, während das Mutterschwein ins Gehölz vordrang. Als ich ihm folgte, um es zurückzutreiben, bemerkte ich unter einer alten Eiche einen ungeheuren Eber. Ich zitterte vor Schrecken und Freude; denn dieses Tier ergänzte die Wildheit des landschaftlichen Bildes, das für mich so viele Reize besaß. Ich näherte mich soweit als möglich; da das stolze Tier es verschmähte, sich durch ein Kind stören zu lassen, fraß es ruhig weiter.

Mein Mutterschwein war eben in der Brunstzeit und näherte sich dem Eber, der sich sofort, als er sie spürte, auf die Sau stürzte. Ich war trunken vor Freude über den Anblick dieses Schauspiels und hielt meine Hunde zurück, um den Eber nicht zu stören.

Bald darauf zeigten sich auch ein Hase und ein Rehbock. Ich glaubte mich ins Land der Feen versetzt und wagte kaum zu atmen. Aber als plötzlich auch ein Wolf erschien, schrie ich auf. Ich ließ meine Hunde los gegen diesen gemeinsamen Feind; die Furcht, er könne meine Herde angreifen, löste den Zauber des Augenblicks. Meine Hunde schreckten mit dem Wolfe auch den Hasen und den Rehbock auf, die im Gehölz verschwanden, aber der märchenhafte Reiz der Wildnis blieb. Ein Wiedehopf hüpfte auf den Zweigen der Birnbäume, deren Früchte ›Honigbirnen‹ hießen, weil sie so süß waren, daß Wespen und Bienen an ihnen naschten. Auch ich aß von diesen Birnen, die mir köstlicher schmeckten als alles, was ich bisher genossen hatte.

Da kam es mir in den Sinn: Dieses Tal gehört niemandem; ich will es in Besitz nehmen. Es soll mein Königreich sein, ich erobere es. Aber ich will hier ein Mal als Zeichen aufrichten, damit man erkenne, daß es mein Eigentum ist, wie es mein Vater aus der Bibel vorgelesen hat; es soll als Sinnbild dienen.

Sofort ging ich ans Werk und stieg dann auf den Denkstein, um mein Reich zu überblicken. Da ich niemand anders sah, hielt ich mich in meiner lebhaften Einbildungskraft für den Herrn dieses Ortes. In diesem Augenblick bewegte mich ein Gefühl, wie man es sonst in unsern Ländern wohl nicht kennt, das Gefühl eines Mannes, der erhaben ist über Könige und Gesetze. Aber auch dieser glückliche Tag endete allzu früh für mich.

Nach Hause zurückgekehrt, war ich traurig und schweigsam; die Heimkehr ins väterliche Haus und zu den Menschen bedrückte mich. Meine besorgte Mutter hielt mich für krank und umgab mich mit aller Liebe und Güte. »Aber ich fühle mich doch ganz wohl«, sagte ich. »Ich möchte ein Rehbock oder ein Wildschwein sein, um allein und ruhig im Walde leben zu können, oder noch lieber in jenem kleinen Tale, wo ich heute war.« – »Wo bist du denn gewesen, Nicolas?« fragte meine Mutter. »Jenseits von Bout-Parc.« – »Was? So weit, mein Kind!« – »Ach, wenn es doch noch weiter gewesen wäre! ... Oh, wenn du wüßtest, wie schön es dort ist!« Dann schwieg ich wieder, denn die Worte fehlten mir, mein genossenes Glück zu beschreiben. Alle Talente, alle Eigenschaften sind Gaben der Natur; die Erfahrung erleichtert und erklärt ihren Gebrauch, aber sie verleiht sie nicht. Ich habe schon erzählt, daß ich die Schafe hütete; die kleinen Lämmer genossen meine besondere Aufmerksamkeit; ich erreichte es durch meine Sorgfalt, daß die Sterblichkeit unter diesen zarten Tieren geringer wurde. Im ganzen Jahre 1745 starb keines unserer Lämmer.

Auch die Bienen pflegte ich sorgfältig. Meine Eltern und die Dienstboten waren erstaunt über meine landwirtschaftlichen Talente, aber ich erreichte nicht das Ziel, nach dem ich strebte; denn mein Vater verstärkte immer mehr seine Absicht, mich in die Stadt zu schicken, nachdem ich von einem meiner älteren Brüder im Latein unterrichtet worden war. Eines Tages stellte sich der verschwunden gewesene Jacquot wieder ein, und er übernahm sein Hüteramt erneut. Ich führte ihn in mein heimliches Reich und verbrachte dort einen herrlichen Tag mit ihm und meinen Tieren. Am nächsten Morgen aber weckte mich mein Vater mit dem Rufe: »Nicolas! Nicolas!« aus dem Schlaf. Ich dachte, daß ich wieder in die Schule gehen solle, und mein Herz krampfte sich zusammen. »Ja, Vater!« antwortete ich. – »Wir gehen nach Joux zu deiner Schwester Marianne und deinem Schwager Marsigny. Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch Monsieur Christoph Berthier, dem Sohn des guten Monsieur Berthier aus Nitry, einen Besuch abstatten.«

Als der Vater mein Zimmer verlassen hatte, erklärte meine Mutter mir, ich müsse mich bilden, ich werde in Joux bei meiner Schwester sein und mich wie zu Hause fühlen ...

Nach unserer Ankunft in Joux aßen wir bei meiner Schwester und gingen erst gegen Abend zum Lehrer. Der Sohn des guten Christoph Berthier begrüßte meinen Vater recht herzlich, mich aber betrachtete er mit strengen Blicken. Seine Frau dagegen flößte mir durch ihr gütiges Antlitz viel Vertrauen ein; ich glaubte, meine gute Tante Madellon vor mir zu sehen.

Christoph Berthier hatte zwei erwachsene Töchter von fünfundzwanzig und zwanzig Jahren. Joson, die ältere, glich ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten; Nannette, die zweite, war viel hübscher, aber hochmütig und spottlustig. Sie hatte das vornehme schöne Gesicht der Berthiers, und wenn sie nicht so weißhäutig gewesen wäre, hätte man sie für eine Römerin halten können. Anfangs mochte ich Nannette lieber, aber bald mißfiel sie mir, da sie stets von einem älteren Zögling aus Noyers sprach, einem gewissen Barbier, der damals in Ferien war.

Ich war noch nicht zwölf Jahre alt, aber mein gut entwickelter Wuchs und meine ernste Miene ließen mich älter erscheinen. Noch in diesem Alter litt ich an einer nächtlichen Schwäche, die sich jedoch seit längerer Zeit nicht mehr bemerkbar gemacht hatte. Zu meiner schmerzlichen Überraschung aber nahm ich in der dritten Nacht meines Aufenthaltes in Joux wahr, daß das Übel sich wieder eingestellt hatte.

Welche Schande für einen Jungen in meinem Alter, der in einem Hause lebt, wo erwachsene hübsche Töchter waren! Ich tat mein möglichstes, um meinen Platz zu trocknen, aber vergeblich; die Wolle trocknet schwer. Mein Bett war übrigens sehr gut, aber jetzt verwünschte ich es und hätte tausendmal lieber ein Strohlager gehabt.

Als ich aufgestanden war, trug ich das Bettuch ans offene Fenster und ließ die Luft darüberstreichen. Ich schlief (worüber man sich in Paris wundern wird) im gleichen Zimmer mit den beiden erwachsenen Mädchen des Hauses, im ersten Stock, während Vater und Mutter im Erdgeschoß schliefen.

Als ich ins Schulzimmer hinunterstieg, paßte ich auf, ob Nannette oben die Betten herrichten würde. Wartete sie damit bis gegen Mittag, so durfte ich hoffen, daß das meine inzwischen trocken geworden war. Und so geschah es. Aber sie muß doch etwas bemerkt haben, denn abends vor dem Schlafengehen sagte sie zu mir: »Monsieur Nicolas! Geben Sie acht, wenn Sie Ihr Nachtgeschirr benutzen!«

Dann lachte sie und flüsterte ihrer Schwester etwas ins Ohr. Ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein und wagte kaum einzuschlafen. Aber da die mictio lectuli eine Folge allgemeiner Schwäche ist, verschlimmerte ich diese nur durch meine ängstliche Vorsicht. Ohne wirklich ein Bedürfnis zu fühlen, griff ich zehnmal nach dem Geschirr, und trotzdem trat das Befürchtete ein. Ich war ganz trostlos!

Gegen Morgen hatte mich die Furcht etwas verlassen, und ich war eingeschlafen. Da träumte ich, daß ich den Nachttopf halte und ein Bedürfnis verrichte. Darüber erwachte ich, und das Unglück war geschehen. Ich wußte wohl, daß ich diesmal nicht entrinnen könne (denn es war schon Tag) und daß meine Schande offenbar würde. Und sie wurde es. Nannette, die etwas ahnte, machte morgens die Betten zurecht und fand Bettuch und Matratze ganz durchnäßt. Mit großem Geschrei lief sie eiligst zu ihrer Mutter. Ihr Vater und alle Schüler hörten es. Ich hätte in den Erdboden versinken mögen!

Seit diesem schrecklichen Tage verfolgte Nannette mich mit ihrem Spott. Sie behandelte mich wie ein verhaßtes Kind. Sie war das einzige Weib, das mich begreifen lehrte, wie man Schönheit hassen kann.

Heute lache ich darüber, wenn ich bedenke, daß ein hübsches Mädchen einen fast ebenso großen Jungen jeden Abend vor dem Schlafengehen vor die Haustür führte, damit er sein Bedürfnis erledige und genau aufpaßt, ob er sie auch nicht täuscht! ... Aber es beweist die Unschuld der Sitten in dieser Gegend. Nannette beklagte sich bei meiner Schwester, die ihr erwiderte: »Er muß krank sein, denn weder zu Hause noch zu Vermenton, wo er diesen Sommer war, ist etwas derartiges vorgefallen.«

Trotzdem machte sie mir schwere Vorwürfe. Aber wozu half das alles? Schon die bloße Furcht vor diesem Unfall ließ ihn sich immer wiederholen ... Ich hätte mich bei dieser Kinderei nicht weiter aufgehalten, wenn sie nicht der Anlaß zu einem merkwürdigen Abenteuer gewesen wäre.

Barbier, der junge Mann, von dem Nannette soviel gesprochen hatte, kam endlich. Das große Bett, in dem ich schlief, sollte ich mit ihm teilen. Nach der ersten Begrüßung hatte Nannette nichts Eiligeres zu tun, als ihm mitzuteilen, daß er mit einem Bettnässer schlafen solle. Diese Worte überraschten Barbier und er musterte mich: »Das ist ja nicht zu glauben! Na, wir werden sehen!« Ich wurde rot und schlug die Augen nieder; ich brachte keinen Bissen mehr die Kehle hinunter. Hatte mir der große Barbier schon vor seiner Ankunft mißfallen, so flößte er mir jetzt geradezu Entsetzen ein.

Nach dem Frühstück kam er ins Schulzimmer und begann mit den Demoisellen Garnier, den Töchtern des Amtmannes, den Demoisellen Barbier und Mademoiselle Mouchon, einem sehr reichen Mädchen, zu plaudern. Mir stiegen die Tränen in die Augen und Julie Barbier fragte mich, was mir fehle. Mein Mitschüler antwortete rasch: »Er hat ins Bett gemacht!«

Eine Lachsalve erscholl von allen Seiten. Ich wäre am liebsten in die Erde gesunken. Ich, ein großer Junge, das Orakel von Sacy, vielleicht schon Vater, sollte nun in Joux wegen eines Übels, das man nur bei Kindern findet, verspottet werden! ... Mademoiselle Julie Barbier (die mit meinem Mitschüler dieses Namens aber nicht verwandt war) besaß ein zartfühlendes mildes Herz und las sogar schon Romane. Sie eilte zu mir, trocknete mit ihrem schneeweißen Taschentuch meine Tränen und suchte mich damit zu trösten, daß mich ein solches vorübergehendes Übel nicht herabsetzen könne; dann wandte sie sich an Barbier: »Wie roh Sie doch sind! Sie sehen doch, daß er keine Schuld an seinem Vergehen hat; ihm ist die Sache gewiß peinlicher als Ihnen.

Tröste dich nur, Monsieur Nicolas! Es ist nichts Schlimmes; so ein kleines Gebrechen, das dich in meinen Augen noch anziehender macht, verliert man leichter und sicherer als diejenigen, die diesem Herrn anhaften (wobei sie auf Barbier deutete). Du kannst gut lesen, du rechnest ausgezeichnet; und (fügte sie flüsternd hinzu) um zu wissen, was der taugt, der dich so roh behandelt, braucht man ihn nur reden zu hören.«

Diese letzten Worte versüßten mir wirklich meine Lage; ich dankte dem liebenswürdigen Mädchen und lächelte ihr zu. Sie streichelte mit ihrer weichen Hand zwei- oder dreimal meine Wange, und ich war beinahe glücklich.

Trotz der Liebenswürdigkeit Julies gefiel es mir in Joux wegen der nächtlichen Vorkommnisse nicht, aber ich fühlte hier weniger Heimweh als in Vermenton oder als später in Paris bei meinem ältesten Bruder, dem Abbé Thomas. Aus zwei Gründen wurde mir Joux erträglich: der erste und vorwiegende war die Gesellschaft Julies, der zweite, daß ich mich in der Nähe meines Heimatortes befand. Dieser Gedanke war mir immer gegenwärtig und bewahrte mich vor den Schmerzen des Heimwehs.

Julie war etwa fünfzehn Jahre alt, hübsch und gut gewachsen. Sie las gut, mit Gefühl und Grazie vor; weil sie die Bücher liebte, konnte sie auch vollkommen richtig schreiben. Sie kam eigentlich nur in die Schule, um ihre Brüder und Schwestern zu beaufsichtigen, was sie mit vielbewunderter Umsicht tat. Sie lernte Musik bei ihrem Vater und war wegen ihrer Milde und Sanftmut im ganzen Orte beliebt. Fast täglich brachte sie mir Kuchen und Süßigkeiten oder Obst; sie drängte mich, es zu nehmen, indem sie sagte: »Ich habe von Joson gehört, daß du bei Tische fast nichts issest. Ich glaube, du bist zu schüchtern, mein lieber Nicolas! Gib acht, daß du es nicht später mit deiner Gesundheit zahlst! Das reife Alter rächt sich oftmals für die Unbesonnenheit der Jugend!«

Eines Tages, als wir allein am Schreibtisch saßen, da die anderen Schüler noch nicht gekommen waren, sagte sie lächelnd zu mir: »Du hast keinen Grund, unglücklich über das zu sein, was man dir in unserer Gegenwart in so roher Weise vorgeworfen hat! Denn wenn dieser kleine Unfall nicht bewiesen hätte, daß du noch ein Kind bist, wie hätte ein Mädchen in meinem Alter es dann wagen können, so vertraulich mit dir zu verkehren, wie ich es tue?« Ich sah ein, daß sie recht hatte, und war beinahe beglückt durch mein Mißgeschick.

Je weniger ich mich aber fürchtete, um so seltener wurden meine Unfälle. Der letzte führte ein merkwürdiges lustiges Abenteuer herbei, das an die Vorgänge in den »Ergötzlichen Nächten« des Straparola erinnert.

Barbier beklagte sich heftig darüber, daß er mit mir schlafen müsse, obwohl das Bett groß genug war, daß ich ihn auch im schlimmsten Falle nicht belästigte. Er sprach so oft davon, daß mir Joson, die die Güte selbst war, ein besonderes Bett herrichtete. »Nein!« sagte Barbier, »der Gelbblütler soll nur bleiben, wo er ist! Ich werde in dem anderen Bette schlafen!«

»Werden es dann nicht Vater und Mutter erfahren?« fragte Nannette leise.

»Ach, sie sollen nichts merken!« erwiderte Joson.

»Gib nur acht!« mahnte Nannette mit dem schelmischen Naserümpfen, das ihr so gut stand, »dieser ... wie hast du ihn genannt, Monsieur Barbier?« unterbrach sie sich laut auflachend.

»Gelbblütler!«

»Ja, dieser Gelbblütler ist gar zu lästig! Wenn ich meinem Vater alles gesagt hätte, würde er seine Hiebe schon bekommen haben!«

»Ach!« dachte ich, »also ist sie doch gut; sie hat nicht alles gesagt.«

Am folgenden Abend bereiteten Joson und Nannette für Barbier ein besonderes Nachtlager; es war ein langer niedriger Tisch, den sie mit Sesseln umstellten; mir blieb nur ein Strohsack, ein Leintuch und eine Decke. Ich fühlte mich nicht gekränkt, denn so konnte ich wenigstens das Bett nicht mehr beschmutzen, und sobald ich mich nicht fürchtete, stellte sich das Übel auch nicht mehr ein.

Wir waren also alle zufrieden, nur Joson nicht, weil sie glaubte, es wäre mir unangenehm. Als sie meinte, ich sei eingeschlafen, sagte sie zu ihrer Schwester: »Lieber würde ich selbst mein Bett verderben lassen, als einem so zarten jungen Menschen ein schlechtes Lager geben. Man sieht ja, daß es ihm hier nicht behagt, denn er ißt doch fast nichts. Das macht mir Sorgen.«

»Ach, laß nur!« sagte Nannette, »für ihn ist es gut genug. Er hat sicher kein Heimweh, dafür sorgt schon Julie Barbier; und daß er nicht ißt, so würde mich das auch beunruhigen, sähe ich nicht, daß er den ganzen Tag Leckereien mit ihr nascht. Nur gut, daß sie weiß, daß er ein Bettnässer mit gelber Blüte ist.« Dann lachte sie laut auf. »Sie weiß es«, sagte mein Kamerad, »und hat ihn nur noch lieber.« »Daran erkenne ich sie«, sagte Nannette, »sie ist immer die Trösterin der Unglücklichen.«

»Er ist sehr gut«, sagte Joson, »und deshalb hat man ihn auch gern; mir gefällt er. Monsieur Lemoine (Josons Bräutigam aus Oudun, der zweimal zu Besuch gekommen war) sagt, daß er ein sehr aufgewecktes Kind sei.«

»Er und aufgeweckt?!« rief Nannette; »er hat wohl seine Vernunft beim Schwätzerbrunnen gelassen, als er nach Joux kam.« (Es ist dies ein kleiner Brunnen, bei dem die Weiber von Joux meist laut schwätzend ihre Wäsche waschen.) »Er macht uns nur Schande, und dabei spricht er immerfort mit seiner süßen Julie.«

»Schüchternheit beweist Geist, liebe Schwester«, bemerkte Joson; »das sagt auch unser Vater, und die Dreisten sind fast immer Dummköpfe. Unser älterer Bruder in Noyers war auch schüchtern und dabei sehr klug. Der jüngere in Vezelay ist nicht halb so gescheit, und du weißt, was für ein Frechling er ist.«

So unterhielten sie sich, da sie glaubten, ihre Eltern schliefen schon. Aber es scheint, daß Lehrer Berthier, der nur ein Schlafzimmer für seine Zöglinge und seine Töchter besaß, der Unschuld der goldenen Jugend nicht unbedingt vertraute. Er war leise eingetreten, und da er Barbier, der ganz nahe bei dem Bette seiner Töchter schlief, hatte sprechen hören, faßte er Verdacht, dieser liege in deren Bett. Es wäre hier auf dem Lande nicht das erstemal gewesen, daß ein erwachsener Bursche mit jungen Mädchen in demselben Bette liegt, ohne daß irgend etwas Unschickliches vorgefallen wäre; in der Stadt wäre so etwas nicht denkbar. Barbier hätte ja den Vorwand gebrauchen können, daß das ungefährlich wäre, da beide Schwestern nebeneinander lagen.

In dieser Annahme näherte sich Monsieur Christoph Berthier ganz leise dem Bette und tastete mit der Hand nach dem vermeintlichen Missetäter. Nannette aber, die sich von einer Hand betastet fühlte, glaubte, es sei die ihres guten Freundes Barbier. »Was fällt dir ein?« sagte sie leise. »Geh doch weg, damit meine Schwester dich nicht hört.«

Der Vater wußte nicht, was er davon halten sollte, und er mochte wohl das Schlimmste daraus entnommen haben. Ohne ein Wort zu sagen, gab er seiner jüngeren Tochter eine Ohrfeige. Nannette stieß einen Schrei aus. Als Joson es hörte, schrie sie ebenfalls. Barbier, der dachte, es sei ein Dieb ins Zimmer eingedrungen, wollte von seinem Lager aufspringen; er warf den Tisch und die Stühle um und stürzte in der Mitte des Zimmers Berthier vor die Füße; der wußte nicht, was der Lärm zu bedeuten habe, und da er den vermeintlichen Schuldigen in seiner Gewalt sah, schlug er mit seinem Rohrstock auf ihn los; diesen Stock trug er nämlich immer bei sich, wie die Edelleute ihren Degen und die Italiener ihren Dolch.

Die beiden Mädchen schrien: »Diebe! Zu Hilfe!« und riefen nach ihrem Vater. Barbier, der sehr stark war, schlug auf den Lehrer ein, obwohl er ihn an seiner Waffe erkannt hatte. Schließlich kam die Mutter mit einer Lampe in der Hand, und man konnte den ganzen Schauplatz übersehen: Matratze und Federbett lagen auf dem Boden, der Lehrer und Barbier balgten sich auf der Erde; der Meister lag unten und schlug wie ein Rasender mit seinem Rohrstock um sich; die Mädchen saßen halbnackt und zitternd im Bett; ich lag, fest in meine Decke eingehüllt, auf meinem Strohsack und stellte mich, als sei ich eben erst aufgewacht.

Allmählich klärte sich alles auf. Christoph nahm mich ins Verhör und ich antwortete, als ob ich von nichts wisse. Er war sehr freundlich zu mir und sagte, er wisse, daß mein nächtliches Vergehen, das zuweilen vorkomme, unverschuldet sei, und daß er mir daraus keinen Vorwurf mache. Mein Bett wurde dann wieder wie sonst in Ordnung gebracht und Barbier legte sich zu mir; von meiner Angst befreit, gab ich ihm keine Gelegenheit mehr, sich über mich zu beklagen.

Acht Tage später war Weinlese, die in Joux immer sehr spät abgehalten wird. Es regnete und ich wurde ganz durchnäßt; ich verkühlte mich und bekam Fieber. Diese Krankheit war mir noch fremd. Julie Barbier war eben bei mir, als ich den zweiten Anfall bekam.

Ich zitterte am ganzen Körper, und sie fühlte mir den Puls. »Mein Gott, du hast ja Fieber!« sagte das gute Mädchen. »Du mußt sofort ins Bett gehen und viel trinken. Ich will dich pflegen, soweit es möglich ist, aber auch Madame Berthier wird dich gut versorgen.«

Ich wollte mich anfangs nicht niederlegen, denn ich fürchtete mich nicht, wenn ich auch von zarter Konstitution war. Es ist nicht möglich, die liebevolle Sorgfalt Julies zu schildern. Sie holte mir zu trinken, und weil der Lehrer nicht da war, lief sie zu ihrem Vater und brachte mir einen sehr angenehmen Sirup, ich glaube, es war Violensaft. Von diesem Mittel trank ich, soviel ich konnte.

Wie mitleidsvoll sprach sie mir zu! Es war dies der Ausdruck ihres ausgezeichneten Charakters. Sie umarmte mich und küßte mir sogar die Hände. Man weiß, daß meine Sinne leicht erregbar waren, und daß mein Abenteuer mit Nannette in mir einen sechsten Sinn erweckt hatte, der gerade in den Knabenjahren köstlich ist. Erhitzt durch das Fieber, trunken von Juliens Liebkosungen, spürte ich den Stachel der Wollust, suchte ich den Genuß, dessen Süße meine Erinnerung bewahrte. Mademoiselle Barbier leistete nicht den geringsten Widerstand; sie gab sich mir hin ... mit einer so zärtlichen Miene, mit soviel Mitgefühl, daß es schien, als hätten ihr die Bücher Sinne und Herz geöffnet. Was mich anbetrifft, so war ich, angestachelt durch die süßen Liebkosungen eines reizenden, sich hingebenden Mädchens, der Natur vorausgeeilt ... Ich triumphierte! ... Aber wie teuer mußte ich diese plötzliche übertriebene Überspannung meiner Kräfte büßen! Ich wäre beinah daran gestorben. Julie, älter als ich und schon Weib, befand sich ganz wohl dabei. Trotz des Schmerzes der Defloration, die ihr einen Schrei entlockte, hatte sie, wie sie mir gestand, alle Freuden der Liebe gekostet.

Sie war unendlich zärtlich, aber ich sank fast sterbend in ihre Arme. Ach, wie sanft war doch ihre Fürsorge! Langsam belebten mich ihre Küsse; sie stärkte mich mit einem Schluck Sirup ... Glücklicherweise hatten wir Zeit, denn es kamen heute keine Schüler und sie hatte ihre Geschwister zu Hause gelassen. Welch ein Abend! Er bildet eines der wichtigsten Ereignisse in meinem Leben! ... So liebevoll Julie auch war (die ich, ohne es zu wissen, zur Mutter gemacht hatte), fühlte ich doch, daß meine Empfindung für sie nicht echte Liebe, sondern nichts als eine sehr zärtliche Freundschaft war. Meine starke Erschöpfung vergiftete mir auch diesen zweiten Genuß, wie es seinerzeit bei Nannette der Fall gewesen war ...

Merkwürdig ist es auch, daß ich am andern Morgen Julie gegenüber voll Scham und Verwirrung war, aber sie gab mir bald meine alte Sicherheit zurück ... Zwei Tage blieb ich fieberfrei, aber am dritten überfiel es mich wieder mit verstärkter Gewalt. Julie verdoppelte ihre Fürsorge. Ich unterlag zwar nicht mehr sinnlichen Begierden, blieb aber sehr empfänglich für die rührende Pflege meiner Freundin. Aber so sehr ich sie liebkoste, so sehr ich mich von ihrer freundschaftlichen Sorge ergriffen fühlte und Tränen der Freude vergoß, später habe ich sie nie mehr wiedergesehen ...

Am andern Morgen war ich so schwach, daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte; ich wollte zu meinen Eltern heimkehren, aber man erlaubte es nicht. Ich erzählte es Julie. Sie schüttelte nur ein wenig den Kopf, aber dann sagte sie: »Warte noch.« Am folgenden Tage fieberte ich nicht mehr. Julie schien zufrieden. Allein am dritten Tage kündigten neue Fieberschauer einen schweren Anfall an. Julie war eben bei mir. »Du wirst ja ganz grün!« rief sie. »Ja, ich fühle das Fieber wiederkommen!« – »Ach, ich wollte, daß deine Heimat sehr fern wäre oder daß du wenigstens keine Schwester hier hättest; dann würde ich dich zu uns bringen und dich pflegen wie meinen Vater, der immer sagt, niemand pflege ihn so gut, wie seine Julie... Aber du hast ja eine Schwester hier, und deine Heimat ist ganz nah. Tu, was ich dir rate: geh zu deinen Eltern; bei Fremden heilt deine Krankheit nicht, so gut sie auch zu dir sein mögen. Du kannst dir wohl denken, wie schwer es mir fällt, dir dies zu raten...«

Julies Güte rührte mich fast zu Tränen; ich bedeckte ihre Hand mit Küssen. »Leb wohl, Julie!« (Ich glaubte nicht, daß es ein Abschied für ewig sei.) »Ich gehe zu meinen Eltern!«

»Nicht heute, während des Anfalls!«

»Ich habe kaum eine Stunde zu gehen und werde noch vor der Krisis dort sein.«

Sie gab mir zwei Orangen, die einzigen vielleicht, die in der ganzen Gegend zu finden waren, und die ersten, die ich gesehen hatte; diese sollten mich erfrischen und den Geschmack des Wassers, das ich unterwegs trinken würde, verbessern.

»Leb wohl, liebe Julie!« Sie konnte mir nicht antworten, aber sie legte mir schluchzend ihre beiden Hände auf die Schultern.

So endete mein Aufenthalt bei Lehrer Berthier; dieser Lebensabschnitt wird mir immer unvergeßlich bleiben. Ich vollendete damals mein zwölftes Lebensjahr, denn wir waren im November.

Den ganzen Winter 1746–1747 litt ich am dreitägigen Wechselfieber. In den fieberfreien Tagen las, schrieb und rechnete ich, pflegte die Bienen, die Schafe, die Lämmer und versorgte den ganzen Geflügelhof. Um meine Krankheit kümmerte ich mich nur wenig; ich hatte sie schon bei mehreren meiner Freunde beobachtet und keiner war daran gestorben. Im Frühjahr erkrankte ich an den Blattern. Ich fieberte ununterbrochen, und die Pocken kamen heraus; drei Tage lag ich im schrecklichsten Delirium. Meine Wahnvorstellungen waren Hunde und Schlangen. Da ich mich von ihnen verfolgt glaubte, sprang ich aus dem Bette und schüttelte mein Hemd, um sie loszuwerden. So stark mein Vater auch war, vermochte er mich kaum im Bett zu halten. Alle hielten mich für verloren.

Meine Blattern heilten, aber mein Gesicht war ebenso häßlich geworden, wie es früher schön gewesen war. Meine Züge waren gedunsen und ganz verändert. Meine goldbraunen Locken hatten sich verloren, und das Haar wuchs in schwarzen Strähnen nach. Als ich mich zum erstenmal wieder im Spiegel betrachtete, entsetzte ich mich vor mir selbst. Ich wurde von nun an noch scheuer und schüchterner, denn ich besaß nichts mehr, was mich sicher machte.

Ich hatte einst Comtois ähnlich zu sein gewünscht, aber nun fand ich, daß die Natur denn doch zu weit gegangen war, und es war vielleicht meine Häßlichkeit, die mich davon abhielt, Julie Barbier wiederzusehen. Übrigens hätte ich es auch nicht gewagt, mich wieder bei meinem Lehrer zu zeigen, der meinem Vater einen Brief geschrieben hatte, welcher ihr beiderseitiges Freundschaftsverhältnis ziemlich abkühlte.

Als in Nitry das Saint-Christoph-Fest gefeiert wurde, ging mein Vater dorthin und nahm mich mit zu meiner Tante Madelon. Ich war närrisch vor Freude, denn ich war sehr begierig, ein paar schöne Mädchen zu sehen, von denen man mir erzählt hatte. Besonders hatte man mir Ursule Lamas gerühmt, die als schöne Ursule in der ganzen Gegend bekannt war, ferner Edmée Boissard, die Enkelin des Lehrers Berthier, Catin Doré, Georgette Lemoine und einige andere.

Schon früh am Morgen brachen wir auf. In der Nähe besehen war ich nicht mehr schön, aus einer gewissen Entfernung betrachtet aber konnte ich noch für leidlich gelten, denn meine Mutter hatte meine wieder gewachsenen Haare künstlich etwas gelockt. Ich trug einen neuen Hut und ein Hemd mit Spitzenmanschetten, einen roten Rock, eine blaue Weste und Hose, feine Zwirnstrümpfe und Halbschuhe mit edelsteinbesetzten Schnallen, die zwar schon ziemlich alt waren, aber um so glänzender erschienen.

Meine Tante konnte mich nicht genug bewundern und herzen. Als sie zur Messe ging, nahm sie mich bei der Hand und zeigte mich ihren alten Freundinnen, die noch meinen Großvater Pierre gekannt hatten. »Das ist ein echter Restif! Seht nur sein Gesicht, diese Adlernase!«

Wir näherten uns der Kirche, die gegenüber der Pferdeschwemme lag, als ich aus einem Hause ein junges Mädchen, oder vielmehr eine Nymphe treten sah. Ihre Schönheit traf mich wie ein Blitz ... »Edmée!« rief meine Tante sie an, »hier ist dein Vetter Nicolas aus Sacy. Willst du ihn nicht begrüßen?« Sie kam näher und errötete, denn sie schämte sich. Auf Veranlassung meiner Tante küßten wir uns. Dann gingen wir zusammen in die Kirche. Ich starrte meine Kusine in einer Art von Ekstase an und senkte dann die Augen, als wäre ich geblendet worden. War ich schon von Natur aus schüchtern, so wäre ich es hier in noch höherem Maße gewesen, wenn mein Vater nicht so angesehen in Nitry, wenn ich nicht so gut angezogen und inmitten meiner Verwandten gewesen wäre, die eine unverdient hohe Meinung von mir hatten.

Edmée verließ uns, um auf ihren Platz zu gehen, und ich war fast froh darüber, denn sie rief in mir eine zu lebhafte Erregung hervor. Außerdem war sie auch schon zu erwachsen für mich und ich wußte, daß sie trotz meines größten Bedauerns einmal die Beute eines andern werden würde. Ich fühlte den brennenden Wunsch, mit ihr dasselbe zu erleben wie mit Nannette oder gar Julie.

Als wir in die Kirche traten, wurden wir von allen Seiten angestarrt, aber gleich darauf richteten alle ihre Blicke nach dem weit offenen Portal. Ein großes, schönes und starkes Mädchen kam mit seinen beiden Brüdern, die sechs Fuß hoch und ebenso schön waren wie es. Sie war in Weiß gekleidet, mit roten, blauen und grünen Schleifen, und ihre Wangen übertrafen die Farbe der Rosen, von denen sie einen Strauß trug. Sie erschien mir schöner als alle Damen, die ich später in Paris gesehen habe und deren Reize durch Diamanten, Schminke und andere Kunstmittel gehoben wurden.

Sie löschte in mir die Erinnerung an Nannette, die elf Monate vorher das Ziel meiner ersten Begierden gewesen war, denn sie schien eine herrliche Blume in der schönsten Blüte. Aller Augen waren auf sie gerichtet. Als meine Tante bemerkte, daß auch ich sie ansah, erklärte sie mir: »Das ist Ursule Lamas; ihr Vater war in seiner Jugend der beste Freund des deinigen ... Ursule«, wandte sie sich dann an das junge Mädchen, »errätst du, wer dieser junge Mann ist?«

Ursule musterte mich und sagte dann: »Man sieht, daß er ein Restif ist, wenn ihn auch die Blattern ein wenig entstellt haben.«

Sie küßte mich zweimal. Sie hatte ebenso weiche Wangen wie meine Kusine Nannon aus Aigremont, und der Hauch ihres Mundes verwirrte mich. Allein sie erregte in mir nur kühle Bewunderung, denn Edmée Boissard hatte mein ganzes Herz erobert; ihr schlanker Wuchs, ihr schüchternes, jungfräuliches Aussehen entsprachen mehr meinem Geschmack als die voll entwickelten Reize Ursules ... Ich reichte meiner Tante und der Schönen Weihwasser; dann nahm mich mein Oheim, der uns nachgekommen war, bei der Hand und führte mich zu seinem Sitz im Chor, wo er singen sollte.

An allen hohen Festen schreiten die Mädchen über fünfzehn Jahre während der heiligen Handlung zum Altar (wo ihnen der Kelchdeckel zum Kuß gereicht wird), um eine Scheidemünze zu opfern; es ist dies eine Art Parade, die, wenn auch in anderer Form, den Gebrauch der Spartaner nachahmt, bei denen die reifen jungen Mädchen auf dem Marktplatz der Stadt nackt vor den heiratsfähigen Jünglingen tanzen mußten. Bei dieser Gelegenheit fand ich bestätigt, was man mir von der Schönheit der jungen Mädchen aus Nitry erzählt hatte. Allein Edmée Boissard übertraf alle andern.

Es gibt einen gewissen Reiz, der Mann und Weib überwältigt, und wenn man ihn bei einer Person des anderen Geschlechts verspürt, entsteht die wahre Liebe. Ich bin noch heute überzeugt, daß ich nur ein Mädchen wirklich geliebt habe, meine wahre Venus, während ich verschiedene begehrte; als meine Augen aber Edmée gesehen hatten, sahen sie nur mehr sie.

Nach dem Essen kamen alle unsere Verwandten, meinen Vater, den einzigen männlichen Sproß, der den verehrten Namen trug, zu besuchen. Jeder wollte ihn zur Vesper oder zum Abendessen bei sich sehen, aber meine Tante suchte uns bei sich zurückzuhalten. Dann kamen auch Edmée Boissard, Ursule Simon, Catin Dore, Georgette Lemoine, Catiche Tous les jours, Dodiche Gautherin, Ursule Lamas und andere junge Mädchen meiner Familie, die hübschesten der ganzen Gegend.

Sie führten mich in die Gärten, um mir Blumen zu schenken, während ihre Eltern mit meinem Vater, meiner Tante und meinem Oheim schwatzten. Offensichtlich gab ich Edmée Boissard den Vorzug. Da sagte Ursule Simon lächelnd zu mir: »Kleiner Vetter, ich stehe dir doch näher als Edmée und trage einen Namen, der nach dem deinigen in Nitry der angesehenste ist, den Namen deiner Großmutter...«

»O liebe Ursule«, antwortete ich, »glaube mir, ich schätze dich ebenso sehr wie Edmée, aber dies hindert mich nicht, daß ich lieber in ihrer Nähe bin.«

Ursule Lamas umarmte Edmée und sagte: »Siehst du wohl, du bist die Schönste hier!« Und zu mir gewandt, fuhr sie fort: »Du bist wie dein Vater in deinem Alter, von dem mir meine Mutter oft erzählt hat: klug, treuherzig und gut. Du hast recht, Edmée ist das schönste Mädchen weit und breit und wenn ich ein junger Mann wäre, würde ich sie auch der schönen Ursule vorziehen.« Diese hörte es und rief: »Schweig doch, Plappermaul! Siehst du denn nicht, daß ich deinem kleinen Vetter einen schönen Kranz aus Rosen binde?«

»Gib auch deine Rosen dazu«, rief ich, »und nimm dir neue!« »Ach, der kleine Schelm, er ist auch gefallsüchtig!« sagte sie, »so war sein Vater nicht!«

Ursule Simon lächelte und sagte: »Edmée, Ursule und ich, wir müßten zu lange auf dich warten ... meine Schwester aber ... Anne-Marguerite, die sich nicht getraut hat, mitzukommen ... gehen wir doch in unsern Garten! – Sie möchte dich auch gern sehen.« Und sie führte uns alle dahin.

Ich stolzierte mit meinem Kranz aus Rosen inmitten dieser Schar von Mädchen und glich dem Gotte der Liebe. Da dachte ich an Julie: »Ach, wenn sie mich sehen könnte!« Wir fanden Mutter Simon damit beschäftigt, einen Imbiß herzurichten, denn sie erwartete meinen Vater. Sie empfing mich so freundlich, als wäre ich ihr eigener Sohn. Dann rief sie ihre jüngste Tochter: »Anne! Komm herein, dein Vetter aus Sacy ist da, den du so gerne sehen wolltest!«

Ich sah ein schlankes großes Mädchen meines Alters eintreten, das in einigen Jahren ebenso schön sein mußte wie Edmée Boissard; sie war ein wenig dunkelfarbig wie alle Simons, aber sie zeigte ein himmlisches Lächeln. Ich war entzückt! Die Mutter bemerkte es und legte die Hände Annes in die meinen; ich verspürte ein leichtes Beben... »Küßt euch doch!« sagte sie dann zu uns, »denn eure Eltern sind doch nahe Verwandte!«

Ich betrachtete mir die kleine Anne mit um so lebhafterem Interesse, weil sie vielleicht die Gattin war, die mein Vater einst für mich erwählen würde...

Am 28. August 1747, am Vortage des Festes des Schutzheiligen von Sacy, kam Monsieur Jean Restif, ein Verwandter meines Vaters, zu uns, wie er es versprochen hatte. Mein Vater war ihm bis Nitry entgegengegangen. Jean Restif besaß eine eigene Reisekutsche, denn er war sehr reich. Ich war begierig darauf, diesen bedeutenden, sittenstrengen Mann zu sehen, dem mein Vater, wie er unaufhörlich versicherte, großen Dank schuldete. Er war in seinem Äußeren mehr als einfach, trug einen alten grauen Tuchrock und Stiefel, die wegen seiner Hühneraugen sehr breit waren; trotzdem ging er mühsam. Ich führte ihn, wie er es von meinem Vater erbeten hatte, zur Kirche. Als wir allein waren, fragte mich Jean Restif aus: »Was liest du, Kleiner?« »Die Bibel, Herr Advokat; auch mein Vater liest sie uns alle Abende vor.«

»Was hast du dir denn davon gemerkt?«

»Oh, die Erschaffung der Welt, und wie Adam, von der Eva verführt, gesündigt hat, nachdem diese selbst von der bösen Schlange, welche sprechen konnte, versucht worden war; wie sie dann aus dem Paradies verjagt wurden. Dann die Geschichte von Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat; von der Sintflut, wobei mir am besten die Taube gefällt, die Noah zweimal ausgeschickt hat und die beim zweitenmal mit einem grünen Ölzweig im Schnabel zurückkommt. Und dann die Geschichte von Cham, von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern wollte, und von einem Engel daran gehindert wurde.«

»Welche Lehre hast du denn aus dem Benehmen der Söhne gegen ihre Väter, von denen die Bibel erzählt, gezogen?«

»Daß alle guten Söhne, wie Isaak, Jakob und Joseph, ihre Väter geachtet haben, wie mein Vater seinen Vater Pierre, und daß alle schlechten Söhne, wie Cham, Esau und die übrigen Söhne Jakobs, ihre Väter mißachteten und ihnen Kummer bereiteten.«

Er bestätigte mich darin und fragte noch mancherlei, worauf ich ihm antwortete. »Du hast ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, sagte er, »und es wäre unverzeihlich, wenn du nicht Gewinn daraus zögest. Was möchtest du werden? Welchen Beruf willst du wählen, soweit er die Mittel deiner Eltern nicht übersteigt?«

Diese Frage ging über mein kindliches Begriffsvermögen; ich kannte nur sehr wenige Berufe, den des Feldarbeiters, des Weinbauers, des Pfarrers, des Schullehrers oder des Arztes; das war so ziemlich alles. Denn die andern Berufe, wie Notar, Richter und Prokurator gab es nicht in Sacy. Ich antwortete, daß ich es nicht wisse, aber ich würde gern Hirt sein. Restif lächelte; er sprach mir von Berufen, die es nur in den Städten gab, und ich verstand ihn nicht. Dann ließ er mich Fragen beantworten, um die Weite meines Geistes, die Richtigkeit meines Urteils und meinen natürlichen Menschenverstand kennenzulernen.

»Wie denkst du über deine Pflichten gegenüber deinen Nächsten? Hast du darüber schon nachgedacht?«

»Nein, Herr Advokat!«

»Nun, so sag' mir, was du jetzt darüber denkst.«

»Ich weiß nicht...«

»Was möchtest du denn, daß man dir tut?«

»Ich möchte, daß man mir alles Angenehme tut, was ich mir wünsche, daß man mich freundlich behandelt und mir alle meine Wünsche erfüllt.«

»Das glaube ich dir! Aber die andern wollen dasselbe. Wenn du willst, daß sie dich lieben und dir Angenehmes erweisen, so mußt du ihnen das gleiche tun. Der Klügste fängt an.«

»Sie haben recht, Herr Advokat! So mache ich es schon lange mit meinen Freunden. Als ich noch klein war und mich schlimm aufführte, hat man mir alles das heimgezahlt, was ich den andern tat. Wenn ich zwickte, zwickte man mich wieder, spuckte ich einem ins Gesicht, so bespuckte man mich wieder. Da verteilte ich mein Zuckerwerk und nun bekam ich auch von den andern welches. Seitdem habe ich immer allen Angenehmes erwiesen, damit man es mir um so herzlicher vergelten sollte.«

»Warum hast du dann auf meine erste Frage geantwortet, daß du es nicht wissest?«

»Ich verstand Ihre Frage nicht!«

»Gut. Nun aber, mein Kind denke dein ganzes Leben daran, den andern Gutes zu erweisen, damit sie es dir vergelten.«

Auf dem Rückweg begleitete uns mein Vater. Ich ging hinter den beiden und hörte manches von ihrer Unterhaltung; was ich behalten habe, will ich hier wiedergeben.

»Nun, mein verehrter Freund?« sagte mein Vater.

»Ich will Euch sagen, was ich denke...« Jean Restif drehte sich um und bemerkte mich, daher sprach er leiser.

»Was ist Eure Meinung?« fragte mein Vater nach einigen Minuten. «Soll ich einen Landwirt aus ihm machen?«

»Nein!« – Das war das folgenschwere Wort, das meine Zukunft entschied; dieses »Nein« hallt noch in meinem Herzen wieder, und wenn es auch Güte war, die es eingab, so schien es mir doch Unglück zu bringen.

Dann fuhr Jean Restif fort: »Das Kind gleicht seinem ältesten Bruder; aber wie sie nicht von einer Mutter stammen, haben sie auch verschiedenen Charakter. Sie ähneln sich in allem, was sie von den Restifs ererbt haben; alles jedoch, was sie von den Müttern haben, unterscheidet sie außerordentlich«; er wiederholte mit Nachdruck: »außerordentlich! Der andere hat sich durchgesetzt, alle achten ihn, ich weiß es. Was diesen anbetrifft, so wage ich es nicht, ihm das gleiche vorauszusagen...«

»Wie?« sagte mein Vater, »hast du bei ihm irgendwelche gefährliche Anlagen bemerkt?«

»Nein, aber er ist ungeeignet für den Beruf seines Bruders. Er liebt die Frauen; das ist nichts Schlimmes, aber es ist eine Neigung, die leicht zum Laster führen kann, wie die Armut auch kein Verbrechen ist und doch die Armen leicht zu Schurken macht. Der verständige Mann kann, wenn er sich Mühe gibt, der Armut entgehen; um jedoch der Neigung zu den Frauen zu steuern, bedarf es der Erfahrung, die aber leider immer zu spät kommt.«

»Ich werde ihn belehren«, erwiderte mein Vater, »dann werden wir ja sehen, was aus ihm zu machen ist. Haltet Ihr ihn für einen geistigen Beruf geeignet?«

»Ja, unbedingt!«

Unterdessen hatte der Abbé Thomas auf die wiederholten Anfragen meines Vaters geantwortet und im Einverständnis mit meinem ältesten Bruder, dem Pfarrer von Courgis, hatte er zugestimmt, mich bei sich aufzunehmen. Mein Vater hätte mich gern noch vor der Weinlese nach Paris gebracht, wenn nicht unser neuer Hirt Larrivière die Herde plötzlich im Stich gelassen hätte.

So wurde ich denn noch einmal Hirt. Ich war jetzt gereifter und meine Sorgfalt für die Herde größer und überlegter. Auch mein Tälchen besuchte ich wieder, aber ich empfand nicht mehr die gleiche Begeisterung wie damals. Mein Herz war nicht mehr so unschuldig. Statt mich wie im vergangenen Jahre der Gegenwart zu erfreuen, fühlte ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt; meine Phantasie ließ alles wieder vor mir aufleben, was mir in den letzten dreizehn Monaten widerfahren war. Von meinen Hügeln aus erblickte ich in der Ferne Joux, und die Erinnerung an Julie Barbier, an ihre Reize, an ihre Vorzüge, an ihre Liebe zu mir erfüllte mich mit tiefer Wehmut. So nahe diesem lieben Mädchen und sie nicht sehen können! Aber wie Sokrates hatte ich immer einen geheimen Warner, der mich vor unbekannten Gefahren schützte: denn Julie war eben Mutter geworden und kein Mensch, außer ihrem Vater und ihrer Stiefmutter, wußte etwas davon ...

Auch etwas anderes beunruhigte mich: täglich hörte ich meine Eltern davon sprechen, mich nach Paris zu meinem Stiefbruder, dem Abbé Thomas, zu geben. Dadurch wurde meine Ruhe gestört, meine Freude vergiftet. Ich war nicht mehr allein, denn auf Schritt und Tritt folgten mir diese unruhigen Gedanken und raubten meinem lieben Tälchen und allen Dingen, die mich im Vorjahre so sehr begeistert hatten, ihre Reize.

Um elf Uhr desselben Tages, an dem ich im verflossenen Jahre (1746) nach Joux gekommen war, kam auf ihrem Reitesel die gute Marguerite Pâris, die Wirtschafterin meines Bruders, des Pfarrers von Courgis, mit einem Brief von Abbé Thomas, der den Tag meiner Abreise festsetzte ... Sie war mir ein Unglücksbote ... Heute sehe ich, daß ich mich damals nicht irrte ...

Die glücklichste Zeit meines Lebens war vorüber! Schwindet die Unschuld, so nimmt sie auch das reine Glück mit sich davon. Ein neuer Ikarus, sollte ich, unerfahren wie er, großen Gefahren entgegengehen!


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