Otto Julius Bierbaum
Schwarz-Rot-Gold und Grün-Weiß-Rot
Otto Julius Bierbaum

Otto Julius Bierbaum

Schwarz-Rot-Gold und Grün-Weiß-Rot

Eine Studentengeschichte

 


 

Wiener Verlag
Wien und Leipzig
[1905]

 


 

Franz Zoller und Karl Jost waren Freunde von Kind an.

Selten sind solche Freundschaften. Denn es war bei ihnen viel mehr als Gewohnheit. Sie hatten sich wirklich von Wesensgrund aus gern. Schon die Zuckertüte des ersten Schulgangs teilten sie miteinander.

»Ich habe lauter Schokolade, Franz,« sagte Karl, »und ich lauter Zuckerzeug,« entgegnete der, und sogleich schütteten sie Zucker und Schokolade zusammen und zählten ab und teilten.

In der Bürgerschule sowohl wie im Gymnasium machten sie Klasse für Klasse miteinander durch, hielten sich auch durchweg auf derselben Bank, ja zumeist nachbarlich zusammen, gewissenhaft auch darin abwechselnd, daß bald der eine, bald der andere den höheren Platz einnahm, denn, wie sie einander in der Begabung die Wage hielten, so auch im Fleiße.

126 Im Charakter ähnelten sie sich gleichfalls.

Es waren beide gute, muntere, aufrichtige Jungen, harmonisch angelegte Naturen von einer glücklichen Mischung der Gemütsgaben: Nicht überbegehrlich nach irgendeiner Richtung hin, aber auch in keinem Betracht stumpf und den jeweiligen Genußmöglichkeiten des Lebens abgewandt. Nicht etwa geradezu Musterknaben, aber durchaus wohlgeratene Burschen. Niemals Spielverderber, auch dann nicht, wenn es sich um verbotene Spiele handelte, aber immer maßsicher dabei. Und dies nicht etwa aus Berechnung oder frühreifer Lebensklugheit, sondern ganz von Gnaden eines unbeirrbaren Instinkts für die gute Mitte, die überhaupt das wesentliche an ihnen war.

Kein Wunder, daß ihre Eltern rechte Freude an ihnen hatten.

Franz war der Sohn des ersten Arztes der Stadt, Karls Vater war ein pensionierter Offizier, der sich aus Liebhaberei mit kriegsgeschichtlichen Studien beschäftigte. Beide Familien waren wohlhabend, nicht reich, und jede hatte außer dem einen Sohn noch eine jüngere Tochter.

127 »Unser Quartett,« sagten die Alten, wenn sie die vier beieinander sahen – und die beiden Mütter dachten sich wohl noch etwas Extras dazu.

Eigentlich waren die Eltern erst durch die Kinder einander nahe gekommen, obwohl sie Haus an Haus draußen in der kleinen Villenvorstadt des Städtchens wohnten. Denn im Grunde stand mancherlei einer Freundschaft zwischen dem Doktor Zoller und dem Rittmeister a. D. Jost entgegen.

Vornehmlich der Unterschied in der politischen Meinung.

Der Doktor war ein alter Achtundvierziger, was er noch immer durch einen Heckerbart mit dazu gehörigem breiten Schlapphut auch äußerlich an den Tag legte; der ehemalige Rittmeister aber pflegte sich »konservativ bis in die Knochen« zu nennen.

Diesen politischen Standpunkten entsprachen die Universitätserinnerungen der beiden Herren.

Über dem Schreibtisch des Doktors hing ein schwarz-rot-goldenes Band, über dem des Rittmeisters, der erst nach einer ziemlich fröhlichen Studentenzeit ins Heer getreten war, ein 128 grün-weiß-rotes, das Zeichen seiner Angehörigkeit zu einem Korps der benachbarten Universitätsstadt. Und sonderbar: Die politische Meinungsverschiedenheit gab nicht so oft Anlaß zu Mißhelligkeiten, wie der Unterschied in ihren Sympathien für die verschiedenen Universitätsverbindungsrichtungen.

»Sie sind und bleibe ein verbohrter Büxier, Doktor; mit Ihnen ist überhaupt nicht zu reden; Sie sind durch die Buxenschaft heillos verdorben!« pflegte der Rittmeister immer auszurufen, wenn sie über irgend etwas miteinander ins Gestreite gekommen waren. Und: »Korpserziehung, das ist's, was Ihnen fehlt; stramme Zucht und das Gefühl für die notwendigen Schranken. Aber natürlich: Eine Verbindung, die ein politischer Debattierklub ist – daraus wird immer bloß Jakobinertum.«

Der Doktor aber ließ sich solche Belehrungen nicht willig eingehen, sondern riß an seinem wilden Bart und replizierte kräftig genug. »Daß ich nicht lache! Korpserziehung! Ah bäh kann am Ende jeder Idiot auch sagen und Stege an den Hosen (er dachte an seine Zeit) sind schließlich auch nicht die Gipfel der Kultur. Erziehung zur Freiheit, Mannhaftigkeit, Überzeugungstreue, Vaterlandsliebe, das ist mehr wert, als den jungen Leuten beizubringen, daß ein glatter Scheitel und glatte Redensarten bei den Vorgesetzten beliebt machen. Der Korpsier ist die Karikatur des deutschen Studenten, von dem wir sangen: Frei ist der Bursch!« –

Nach solchen Diskursen schieden die beiden mit roten Köpfen voneinander und pflegten zu ihren Eheliebsten zu bemerken: »Schade um den guten Zoller (oder Jost); er ist im Grunde ein prächtiger Mensch, aber sein ewiges Buxentum (oder seine ewige Korpssimpelei) ist ganz und gar unausstehlich. Das eine aber weiß ich: Unser Junge wird Burschenschafter (oder Korpsstudent)!«

Die beiden Jungen aber, wenn ihre Alten ihnen auch, als sie sich der Prima des Gymnasiums näherten, oft genug ihre schwarz-rot-goldenen oder grün-weiß-roten Ideale predigten, hatten und zeigten wenig Sinn dafür.

»Ich springe mal nicht ein, Karl,« erklärte Franz, und Karl pflichtete bei:

130 »Sollte mir gerade einfallen, mich als Korpsfuchs schurigeln zu lassen.«

Diese Abneigung gegen das studentische Couleurwesen kam einesteils daher, daß beide einander viel zu gern hatten, als daß sie es hätten wünschen können, auf der Universität die feindlichen Brüder zu spielen, dann aber war sie auch eine Folge gewisser anderer Neigungen, denen sich die beiden Gymnasiasten schon von Obersekunda an mit gleicher Stärke hingaben.

Sie waren durch einen Kameraden, dem sie neidlos höhere Begabung zuerkannten und durch dessen Belesenheit in moderner Literatur sie sich gerne imponieren ließen, auf die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Dichtung hingeführt und so in einen Anschauungskreis gebracht worden, in dem kein Raum für die üblichen Burschenideale war. Nicht, als ob sie sich von gewissen, zwar verbotenen, aber darum erst recht ausgelassen lustigen Zusammenkünften der übrigen ferngehalten hätten, in denen verschiedene Prärogative des Studententums feucht-fröhlich vorweggenommen wurden, aber sie bildeten 131 dabei mit noch einigen eine Art stilleren Extrawinkels für sich, und schließlich tat sich dieser zu einem »literarischen Kränzchen« zusammen, in dem man die damals gerade einsetzende moderne literarische Bewegung aufmerksam verfolgte und nicht weniger laut über Naturalismus und Idealismus debattierte, als es in den damals florierenden Literaturkampfblättern geschah. Wenn sich Franz und Karl dabei, auch hierin einmütig wie sonst, für M. G. Conrad, Liliencron, Conradi erhitzten und in einem gewaltigen Abscheu vor Paul Heyse erglühten, so konnten sie unmöglich noch Elan genug für Korps oder Burschenschaft aufbringen.

Im übrigen lagen sie nach wie vor ihren von der Schule gebotenen Studien fleißig ob und begannen auch nach und nach der Frage ihres zukünftigen Universitätsstudiums näherzutreten.

Dabei stellten sich aber schon Schwierigkeiten mit den beiderseitigen Eltern ein. Der alte Rittmeister wünschte seinen Sohn einmal als Juristen in Amt und Würden zu sehen, der Doktor konnte sich den seinen nur wieder als Mediziner denken, aber die 132 beiden Literaturverehrer fanden, daß nur ein irgendwie literarisches Studium imstande sein werde, sie ganz auszufüllen.

Franz gedachte sich für romanistische, Karl sich für germanistische Philologie zu entscheiden..

»Dummes Zeug,« erklärten die beiden Väter, die sich hier einmal in vollster Harmonie der Meinungen trafen und auch oft gemeinschaftlich miteinander zu Rate gingen, was wohl am besten zu tun sei, um die beiden Jungen, die sich jetzt zum erstenmal schwierig zeigten, auf den rechten Weg zu leiten.

Das war zur Zeit, als die beiden in Unterprima saßen und der Wohltat der ersten Tanzstunde teilhaft wurden.

Um diese Zeit begab es sich, daß Franz die Bemerkung machte, er sei in Karls Schwester Anna verliebt, und Karl gegenüber Klara, der Schwester Franzens, derselben Gefühle inne wurde.

Zuerst gestanden sie es einander und erteilten einander sogleich auch den brüderlichen Segen.

133 Sodann ging ein jeder zu seiner Schwester, des Freundes Brautwerber zu machen.

Und es ergab sich alles (woran auch keiner gezweifelt hatte) nach Wunsch. Das Quartett der heimlichen Liebe war fertig und stimmte aufs beste.

Die Alten taten, als merkten sie nichts, freuten sich aber im stillen herzhaft über die heimliche Hausmusik, von der sie ja ganz sicher sein konnten, daß sie nichts Unziemliches üben und produzieren würde.

Die beiden Mütter, bisher in den Meinungsverschiedenheiten zwischen Vater und Sohn zuwartend neutral geblieben, aber im Innern durchaus der Überzeugung sicher, daß das klügere Alter ganz gewiß nicht bloß das Rechte wollte, sondern auch erkannte, fanden es nun an der Zeit, ihrerseits sanft leitend einzugreifen, und zwar eben im Hinblick auf das gute Zusammenspiel des Quartetts. Denn sie sagten sich mit mütterlicher Psychologie: Jetzt, wo die Jungen ein Geheimnis mit sich herumzutragen glauben, von dem sie nicht wissen, welchen Eindruck es hervorbringen wird, wenn sie es einmal enthüllen müssen, jetzt werden sie fügsamer sein als je.

134 Und sie irrten sich nicht.

Wie die Jungen merkten, daß von ihrem Nachgeben bei der Wahl des zukünftigen Studiums es abhinge, ob die gestrengen Alten in der Wahl der zukünftigen Braut Nachgiebigkeit an den Tag legen würden, waren sie bald entschlossen, die romanistische und germanistische Philologie zu opfern und in die sauren Äpfel der Juristerei und Medizin zu beißen, wenn ihnen dafür die süßen Äpfel aus dem Liebesgarten in greifbare Nähe gerückt würden.

Das war freilich nicht sehr überzeugungstreu gehandelt und eigentlich Felonie gegen das literarische Kränzchen, aber wenn man neunzehn Jahre alt ist und im Feuer der ersten Liebe steht, darf man für solche Abtrünnigkeit wohl mildernde Umstände zugebilligt erhalten.

»Weißt du, Franz,« erklärte Karl, als er, etwas zaghaft, seinen Treubruch bekannt hatte, »ich mußte doch auch an deine Schwester denken, und daß ich als Jurist viel bessere materielle Aussichten habe. Jedenfalls können wir viel früher heiraten.«

Karl fand diese Überlegung durchaus weise und 135 wurde durch sie der Notwendigkeit überhoben, auch seinerseits Entschuldigungen vorzubringen. Dafür bemerkte er, daß man ja auch als Arzt und Jurist der schönen Literatur alle möglichen Opfer an Hingabe und Förderung bringen könne.

Nur vor ihrem literarischen Mentor, jenem Kameraden, der ihnen den Geschmack an Literatur beigebracht hatte, hatten sie ein bißchen Angst. Der aber zeigte sich, wie immer, auf der Höhe der Situation, indem er äußerte: »Ihr konntet keinen vernünftigeren Entschluß fassen: Wenn jeder, der sich für Literatur interessiert, Literat werden wollte, würde die Literatur schließlich bloß noch Interessenten und kein Publikum haben. Mir persönlich habt ihr überdies einen Stein vom Herzen genommen durch eure Entschließung, denn ich habe mir schon manchmal Gedanken darüber gemacht, ob ihr auch begabt genug dazu wäret, euch aktiv in Literatur zu betätigen.«

Die guten Jungen fühlten sich durch dieses Verdikt sehr beruhigt und begannen nun, wie es ihrer gesunden, resolut aufs Reelle gerichteten Art entsprach, 136 sich rechtschaffen mit ihrem ganzen Wesen auf ihren zukünftigen Beruf einzustellen, indem sich ein jeder dessen schöne Seiten und Möglichkeiten bewußt werden ließ.

Die Mütter triumphierten und die Väter waren zufrieden.

Nun, so dachte ein jeder von ihnen für sich, werd' ich den Bengel schon auch noch für meine alten Studentenideale einfangen.

Indessen, da wollte sich der gewünschte Erfolg durchaus nicht einstellen. Allen noch so begeisterten Schilderungen, noch so nachdrücklichen Zureden setzten die Jungen halsstarrig das eine entgegen: Es gehe und gehe nicht, – schon wegen ihrer Freundschaft. Sie seien nun einmal ein Herz und eine Seele und wollten in allen Lagen des Lebens immer und ausnahmslos bleiben, was sie von jeher waren: Eng verbundene Kameraden.

Vergeblich deklamierte der Doktor: Ehre! Freiheit! Vaterland! Vergeblich wies der Rittmeister darauf hin, daß nur der zur Elite der Studentenschaft gehöre, der Mitglied eines Korps sei. 137 Vergeblich betonten beide, daß es zu ihren innigsten Herzenswünschen gehöre, den Sohn mit demselben Band geschmückt zu sehen, das sie einst selber getragen hatten.

Es nützte alles nicht; die beiden Oberprimaner, deren Abgang von der Schule schon in ein paar Monaten eintreten mußten blieben standhaft bei ihrem non possumus.

Die Lage schien verzweifelt.

Da erschien wiederum der mütterliche Sukkurs auf dem Plan. Aber diesmal mußte er sich einer komplizierteren Taktik bedienen, und die beiden Hilfstruppen mußten gemeinsam vorgehen.

Sie pflogen Kriegsrat mit einander und einigten sich über die folgende Gefechtsidee: Diesmal müssen wir die Mädels bange machen. Wenn ihr, müssen wir sagen, euren Bruder dahin bringt oder wenigstens den Anschein erweckt, als ob ihr ihn dahin gebracht hättet, nach Vaters Willen zu handeln, so wird der, seid sicher, zum Dank dafür euren Herzenswünschen so gewiß geneigt sein, wie er jetzt darin ungewiß ist. – Nun werden die Mädels freilich 138 sagen: Der Bruder denkt ja gar nicht daran, auf uns zu hören.

Dann müßte man eben das junge Volk ein bißchen auf eine andere Möglichkeit stoßen.

Wofür sind wir die Alten, Erfahrenen? Es geht ja um einen guten Zweck, und so dürfen wir wohl andeuten, daß, wenn auch der Bruder am Ende nicht hören würde, der Freund des Bruders um so gewisser alle beide Ohren aufmachen wird. Geschieht das nun aber auf beiden Seiten, so ist genau dasselbe erreicht, wie wenn ihr den Bruder überredet hättet, d. _h. der Vater ist zufriedengestellt.

Die mütterliche Doppelintrige, von den Töchtern sofort aufs gelehrigste erfaßt und so geschickt ins Werk gesetzt, wie man es von jungen verliebten Mädchen nur voraussetzen kann, führte noch kurz vor Torschluß, nämlich in der Muluswoche der beiden Freunde, zum gewünschten Ziele.

Natürlich handelten Franz und Karl im Einverständnis miteinander.

»Nun müssen wir also auch noch Komödie spielen wegen der Mädel,« so faßte Franz die Sachlage 139 in Worte. »Du mußt dich als Korpsier, ich mich als Burschenschafter verkleiden und wir müssen drei Semester lang so tun, als verachteten wir einander grimmig. Es ist zum Totlachen! Wir werden uns wie ein heimliches Liebespaar nur verstohlen treffen können und auf der Straße aneinander vorüberschreiten, als kennten wir einander gar nicht. Bloß in den Ferien wird Gottesfriede herrschen. Was wollen wir aber dann auch miteinander vergnügt sein, Karl! Wie wollen wir dann lachen über die Mummerei!« –

»Ja, das wollen wir,« war Karls Antwort, »aber, weißt du, die Sache hat doch auch eine ernste und gerade darum erfreuliche Seite: Es ist die erste Prüfung, die unsere Freundschaft zu bestehen hat. Ich zweifle natürlich so wenig wie du daran, daß sie sie bestehen wird; das versteht sich ganz von selber; aber immerhin, eine Probe aufs Exempel bleibt's, und das ist gut.«

In dieser Stimmung traten sie ein jeder in die Verbindung ein, der sein Vater früher angehört hatte. –

140 Sie hätten keine jungen deutschen Studenten sein müssen, wenn nicht das mancherlei Schöne, frische, Lustige auf sie gewirkt hätte, das dem einen das Korps, dem andern die Burschenschaft bot. Franz war ein ebenso forscher Arminenfuchs wie Karl, in S. C.-Redeweise gesprochen, eine brauchbare Korpsrenonce. Und wie jeder seine drei Mensuren hinter sich hatte, wurde der eine wie der andere ein tadelloser Bursch, der es nach dem besonderen Sinne seiner Verbindung an nichts fehlen ließ. Denn die beiden zeigten sich auch hierin von dem guten Schlage, der allewege ordentlich treibt, was er einmal übernommen hat.

Trotzdem gehörten sie mit ihrem innersten eigentlichen Wesen ihren Verbindungen doch nicht an. Wie hätte Karl so ganz Korpsstudent sein können, um z. B. auf jeden Burschenschafter wie auf einen minderwertigen akademischen Bürger herabzublicken?

Und wie hätte Franz es vermocht, so ganz Burschenschafter zu sein, daß er im Korpsstudenten schlechthin nichts gesehen hätte, als eine Art studentischen 141 Gecken von beschränktem Geiste aber unbeschränktem Hochmut?

Nein, es blieb im Grunde doch eine Verkleidung, wenn sie sie beide auch nach außen hin glänzend durchführten, und wenn auch schließlich gewisse Eigenheiten des Korps- oder Burschenschaftsangehörigen an ihnen haften blieben.

Ganz von selbst verstand es sich, daß sie alle Zeit, die ihnen das Korps oder die Burschenschaft zur freien Verfügung ließ, miteinander verbrachten – in der Tat verstohlen wie ein heimliches Liebespaar.

Mütze, Band und Bierzipfel wurden abgelegt, ein Hut aufgesetzt, der Rockkragen aufgeschlagen und, womöglich im Schutze der Dunkelheit, zum Freunde geeilt.

Anfangs teilten sie einander noch ihre speziellen Verbindungserfahrungen mit, erheiterten sie sich gegenseitig durch die Wiedergabe jener Charakterisierungen, wie sie der Korpsstudent dem Burschenschafter, der Burschenschafter dem Korpsstudenten angedeihen läßt, aber schließlich, als sie nun doch ihren Verbindungen endgültig angehörten, ließen sie das als unschicklich 142 und eine Art Hinterlist sein und begnügten sich damit, von Dingen zu reden und zu schwärmen, die ihnen beiden ganz gemeinsam waren, vor allem von ihren Mädchen.

Denn aus der Primanerpoussasche war bei einem jeden eine rechte, feste Studentenliebe geworden, von der der eine wie der andere herzlich gewiß war, daß sie eine Liebe fürs Leben bleiben werde.

Auch unterlag es gar keinem Zweifel mehr, daß die beiderseitigen Eltern einer späteren Verbindung der Liebespaare ihre Einwilligung geben würden.

Eine Verlobung hatte, als zu früh einerseits, anderseits aber auch als fürs erste überflüssig, nicht stattgefunden. Es bestand aber ein stillschweigendes Einverständnis aller Beteiligten, wovon sich auch die Väter nicht ausschlossen.

Der Rittmeister fand, daß der Burschenschafter Franz sich ganz wie ein richtiger Korpsstudent ausnähme, und der Doktor erklärte, daß der Korpsbursch Karl in seinem ganzen Gehaben einen so frischen, ungekünstelten, heiteren Eindruck machte, daß man ihn ebensogut für einen forschen 143 Burschenschafter hätte nehmen können. Und so war, wie innerlich bei den Söhnen, so äußerlich bei den Vätern das schwarz-rot-gold dem grün-weiß-rot so nahe wie nur möglich gekommen, und die Alten trafen sich recht oft in dem Gedanken, wie närrisch es doch eigentlich von ihnen gewesen sei, jenen Unterschieden eine wesentliche Bedeutung beizulegen: »Zwei Strömungen im deutschen Studentenleben, jede in ihrer Art gleich bewußt und sicher, wenn auch unterschiedlich in belanglosen Einzelheiten, demselben Ziele zustrebend, aus den jungen Leuten in einer heiteren, formvollen Freiheit tüchtige Männer fürs Leben zu bilden. Wirkliche Gegensätze bestehen eigentlich gar nicht zwischen ihnen. Und so kreuzen sie sich ja auch schon längst nicht mehr.

*

Just an demselben Abend und genau zur selben Stunde, als die beiden Alten, die am nächsten Tag ihre Söhne zum Ferienbesuch erwarteten, in diesem Sinne beim Wein miteinander redeten und die Gläser aneinander klingen ließen mit einem: Prost das Korps! Prost die Burschenschaft! begab sich in 144 einer Bierwirtschaft der benachbarten Universitätsstadt, die von Couleurstudenten nur nach Schluß des Couleursemesters besucht werden durfte, folgendes.

In dem überfüllten, vollgequalmten Raum, in dem eine Biermusik einen greulichen Lärm verübte, saß nahe der Tür eine Schar angetrunkener Studenten, die das instrumentale Getöse der Kapelle mit nicht minder turbulenter Vokalmusik begleiteten. Da öffnete sich die Tür, und ein Schwarm anderer Studenten trat herein, nicht weniger betrunken als die, an deren Tische sie vorbei mußten.

Der erste von den Eintretenden, dessen Augenglas von der Hitze des geschlossenen Raumes angelaufen war, stieß im Vorbeiwanken an den zunächst stehenden Stuhl und schob sich ohne Entschuldigung weiter.

Da wandte sich der, der mit dem Stuhle auch einen Stoß erhalten hatte, halb um und rief, nach Art eines stark Angetrunkenen etwas lallend: »Kann der Prolet nicht Pardon sagen?«

Kaum, daß diese Worte gefallen waren, fühlte er auch schon die Hand des also Apostrophierten, der 145 sich mit einem Ruck umgewandt hatte, auf seiner Wange.

Seine Kameraden sprangen auf, er stürzte sich auf den, der ihn geschlagen hatte, aber dessen Begleiter warfen ihn zurück.

Eine Weile Tumult, erhobene Arme, Geschrei, Kreischen der Kellnerinnen, – dann wurden die eben Angekommenen auf die Straße geschoben, gefolgt von einem vom Tische des Geohrfeigten, der dessen Karte dem, der den Schlag geführt hatte, übergab und dafür dessen Karte erhielt.

»Na, Karlemann, da hättest du dir ja noch vor Torschluß die obligate Pistolenkiste bestellt,« rief einer von dessen Begleitern, während dieser die empfangene Karte vor die noch immer undurchsichtigen Klemmergläser hielt.

»Spar dir die Lektüre zum Frühstück, Jostchen! Wie der Mann heißt, dem ein Loch in die Hose geschossen werden soll oder muß, ist ohnehin gänzlich irrelevant,« bemerkte ein anderer.

Karl Jost steckte die Karte in die Westentasche. Die Gesellschaft entfernte sich unter Gelächter und 146 dem Gesange: ›Kauf dir, mein Freund, ein Pistolet!‹

*

Als Karl am nächsten Morgen erwachte, gab sein wirrer Kopf zunächst keine weitere Erinnerung her, als ein wüstes Durcheinander von unzusammenhängenden Einzelheiten und ein Gefühl, daß irgend etwas Dummes, ihm im höchsten Grade Fatales passiert sei.

Karl Jost hatte sich bisher, so gut es eben möglich gewesen war, auch vor dem Zuviel im Trinken gehütet, und so genierte ihn schon der Gedanke, besinnungslos betrunken gewesen zu sein. ›Franz wird mir eine nette Pauke halten,‹ dachte er sich, ›wenn ich's ihm berichte. Aber schließlich: Der erste Tag der Inaktivität!‹

Denn es war der Abschied von den Korpsbrüdern gewesen, den man, allerdings nicht ganz auf solenne Manier, gefeiert hatte, da Karl, mit Schluß des Semesters inaktiv geworden, im nächsten Semester eine andere Universität besuchen wollte.

Franz, der im gleichen Falle war, würde wohl 147 auch entsprechend gesündigt haben, tröstete er sich. Es war ja bisher fast immer so gewesen, wenn einer dem anderen was zu beichten gehabt hatte, daß der Beichtabnehmer an die Absolution selber auch eine Beichte fügen mußte.

Karl stand auf und begrüßte, wie immer, zuerst das Bild seiner Braut, das drüben auf dem Schreibtische stand. Da fiel ihm ein weißes Kärtchen in die Augen, das vor der Photographie lag, und sofort trat das Geschehene in lebhafter Erinnerung vor ihn hin.

Das war ja die Karte des Menschen, den er geohrfeigt hatte!

Was für dumme Geschichten! Wie unwürdig und widerwärtig!

Und dazu die Konsequenzen, wenn der Geschlagene »honorig« dachte, was ja durch die Auswechselung der Karten wahrscheinlich erschien . . . .

Karl wurde ernst bei diesem Gedanken.

Er hatte durchaus nichts vom Raufbold in seiner Natur und hatte nie anders als auf Bestimmung mit Angehörigen der anderen Korps gefochten. Der 148 Gedanke an einen ernsthaften schweren Ehrenhandel war ihm, der jede Herausforderung sowohl wie jeden Anlaß, herausgefordert zu werden, immer vermieden hatte, schon an sich zuwider, aber nun war die sichere Aussicht auf eine Pistolenmensur mit einem ihm ganz gleichgültigen Menschen, von dem er nicht einmal wußte, wie er aussah, und gegen den er sich tätlich vergangen hatte, ohne zu wissen, was er tat . . . .

Karl hätte nicht der gesund empfindende und verständig denkende Mensch sein müssen, der er war, wenn ihm das ruchlos Widersinnige einer solchen Notwendigkeit nicht schwer auf die Seele gefallen und als eine absurde Scheußlichkeit erschienen wäre. Trotzdem suchte er auch nicht eine Sekunde der Überzeugung auszuweichen, daß, wie nun einmal der Ehrenkodex in allen Fällen tätlicher Beleidigung bestimmte, nur ein Austrag mit der Pistole erfolgen konnte. Er wußte, daß der S. C., für den Fall, daß jener andere einer solchen Austragung würde ausweichen wollen, ihn sogar moralisch dazu zu zwingen versuchen würde. An eine Möglichkeit für ihn, Karl, 149 die Sache auf vernünftige Weise durch eine Erklärung des Bedauerns aus der Welt zu schaffen, war gar nicht zu denken, nach dem unumstößlichen Satze aus der Logik der Ehre: Ein Realavantage kann (und muß) man zwar immer bedauern, aber niemals zurücknehmen. Und auch der Umstand der beiderseitigen Betrunkenheit konnte nicht »ziehen«, weil durch die Auswechselung der Karten ja dokumentiert worden war, daß beide die Tragweite des Geschehenen erkannt hatten.

Auch jetzt, wie Karl alles dies mit ernstem Bedauern bedachte, galt sein nächster Gedanke dem Freund: ›Was wird Franz zu dieser heillosen Geschichte sagen! Und wenn es tausendmal gegen den Komment verstößt: Das kann ich nicht vor ihm geheimhalten!‹

Er trat an den Schreibtisch und ergriff die Visitenkarte. Aber im selben Augenblicke ließ er sie auch schon wieder fallen und griff sich mit beiden Händen nach der Stirn. Auf der Karte stand: Franz Zoller, stud. med. . . .

»Aber um Gottes willen!« rief er laut aus, 150 »das ist ja doch . . .« und tastete nochmals nach der Karte.

Dann fiel er auf einen Stuhl hin und starrte ins Leere.

Es war ihm unmöglich, einen Gedanken zu fassen. Er fühlte nur immer wieder das eine: Wahnsinn! Wahnsinn! Wahnsinn!

Da klopfte es an die Türe. Er öffnete: Im dunklen Flur stand Franz. Aber im nächsten Augenblicke war er auch schon im Zimmer und lag dem Freunde an der Brust.

Zum ersten Male geschah, was nie geschehen war bisher, sie küßten sich. Dabei rollten Karl die großen Tränen über die Backen.

Franz aber lachte munter und sprach: »Aber Karl! Tränen? Von wegen ein paar Pistolen?«

Karl riß die Augen auf und rief: »Ja denkst du denn, wir sollen uns wirklich . . . .?«

»Aber natürlich, Karl! Wir werden uns doch nicht exkludieren lassen und am letzten Tage unserer großen Komödie aus der Rolle fallen?«

151 »Ich begreife dich nicht. Die Sache ist, weiß Gott, zu ernst, um Witze zu machen.«

»Die Witze macht das Schicksal, nicht ich. Das Schicksal will, daß wir unsere Komödie mit einem Knalleffekt schließen. Also: Knallen wir!«

»Franz, ich bitte dich!«

»Du scheinst mir einen netten Kater zu haben, mein Lieber, daß du absolut nicht kapierst. Bitte, wozu ist die Natur da, wenn man nicht ein paar Löcher hineinschießen kann? – Na, siehst du wohl? – Wirklich, es ist das Einfachste und Schmerzloseste. Fordere ich dich nicht, werde ich exkludiert. Nimmst du nicht an, wirst du exkludiert. Sentimentalitäten – gilt nicht. Aber Komödie spielen, das gilt. Wer A sagt, muß B sagen. Sollen wir diese drei Semester so brav bei der Stange geblieben sein, um genau im letzten Augenblicke durchzugehen? Unsinn! Wir sind nicht die ersten, die mit ernsten Mienen die Atmosphäre durchlöchert haben. Die Pistole ist das harmloseste Instrument von der Welt, wenn man einen vernünftigen Gebrauch von ihr macht. Ich werde drei Meter hoch über deine werte Schädeldecke weg 152 ins himmlische Blau zielen, und du wirst die Blümlein auf der Au mit dem todbringenden Blei lädieren. Vorher aber bitte ich dich um eine Liebe.«

»Was denn?«

»Bitte, sage zu mir: Du alter, ekliger Prolet du!«

»Jetzt bist aber wirklich verrückt, mein Junge.«

»Ach so, du weißt wahrscheinlich gar nicht, daß ich dich einen Proleten genannt habe?«

»Mein Gott, das hast du? Gottvoll!«

»Allerdings, das habe ich, und dafür muß ich gezüchtigt werden. Also, los!«

»Na, ja! Du alter, ekliger Prolet du!«

»So, und jetzt gestatte, daß ich meinerseits, damit wir quitt werden, dir eine kleine niedliche Ohrfeige verabreiche. Weißt du, nur, um mir nicht sagen lassen zu müssen, daß mich ein Korpsstudent ungestraft gemaulschellt hat.«

»Aber natürlich, bitte, bediene dich!«

Und Franz gab dem Freund einen leisen Patsch auf die Wange. Dann lachten beide recht herzlich und verabschiedete sich, weil jeden Augenblick Franzens Korpsbrüder in der wichtigen Mission bei ihm 153 erscheinen mußten, die ihnen nun der Komment auferlegte.

*

Schon am nächsten Morgen trafen sich die beiden Parteien in einem Gehölze nahe der Stadt.

Die Forderung war auf einmaligen Kugelwechsel bei ziemlich weiter Entfernung gestellt und angenommen worden, und die Sekundanten suchten die Entfernung durch phantastisch große Schritte beim Abmessen noch zu vergrößern.

(»Diese ganze Knallaktion geht ja nur vor sich, damit das Kind einen Namen hat,« meinte Franzens Sekundant, um zu kennzeichnen, daß die Sache nicht gerade um Tod und Leben ging.)

Immerhin merkte man allen Beteiligten eine gewisse Aufregung an.

(»Kurios,« meinte Karls Sekundant, »was so ein paar glatte Pistolenläufe für eine Suggestion ausüben. So eine Pistolenchose macht sich doch immer recht dekorativ.«)

Als die Gegner einander gegenübertraten und sich nach der Sitte mit einer Neigung des Kopfes 154 begrüßten, hätte ein genauer Beobachter bemerken können, was für ein seltsames Leuchten in ihren Augen war.

Dieses Leuchten sprach einen ganzen Satz aus: »Du alter lieber Kerl drüben, gell, du fühlst wie ich, daß wir diese Komödie nicht um ihrer selbst und aus einer frivolen Lust spielen, sondern, weil es uns nun einmal von einem wunderlichen Schicksal bestimmt ist, einen Mummenschanz zu treiben, damit ein paar gute alte Leute ihr Vergnügen haben. Dies aber, gottlob! ist die letzte Szene der Komödie.«


Das Kommando fiel. Wie aus einer Pistole geschossen krachten gleichzeitig zwei Schüsse.

Da, . . . heiliger Himmel, . . . was ist das? . . .

Karl sinkt in die Kniee, greift sich mit beiden Händen an den Leib und: »Karl! Karl!« schreit Franz und stürzt hinüber, dicht neben ihn hin, verzweifelten Antlitzes totenbleich dem Freunde in die Augen sehend, die mit einem fürchterlichen Ausdrucke von Schmerz hin und her irren und sich plötzlich verschleiern.

155 »Karl! Karl! Ich . . . um Gottes willen was ist denn? . . . . Doktor, Doktor!«

Karl, hinten vom Doktor gestützt, läßt den Kopf sinken.

»Tot? Tot?« Franz schreit, brüllt, ächzt es. Sein Sekundant, in einem blöden Nichtbegreifen, will ihm zureden, ihn wegziehen.

Er stößt mit beiden Fäusten nach ihm und starrt nur immer in das entseelte Auge des Freundes.

Wie aus einer unendlichen Ferne hört er, in einem seltsam höhnischen Tonfall, so scheint es ihm, die Worte des Arztes. »Scheußlich! Die Kugel muß von einem Stein abgeprallt sein; sie ist von unten, offenbar ganz deformiert, in den Leib gedrungen; eine greuliche Fetzwunde. Hier ist alles vorbei.«

Franz sinkt bewußtlos neben dem Freunde hin.

*

Die Burschenschaften und die Korps geleiteten zwei Tage später in einem Zug vereint die Leichen der beiden Freunde zu Grabe.

Franz hatte sich noch am Abend des Duelltags erschossen.

*

156 Die beiden Alten nahmen ihre Verbindungsbänder von der Wand weg. Auch in ihren Herzen waren fortan nicht mehr die Farben schwarz-rot-gold und grün-weiß-rot. Aber sie schlossen sich noch enger aneinander, denn einem jeden von ihnen war zumute, als könne er keinen Weg mehr ohne Stütze gehen.

Und die armen Frauen . . . .

Die Geschichte ist zu Ende.