Otto Julius Bierbaum
Dostojewski
Otto Julius Bierbaum

Otto Julius Bierbaum

Dostojewski

Die Größe Dostojewskis berührte mich zum erstenmale in sehr jungen, unreifen Jahren; ich hatte noch drei Klassen des Gymnasiums vor mir, bis zu der sonderbaren Reifeprüfung, die in Deutschland die Pforten der Universität öffnet. Ich las damals so viel, daß ich mich jetzt mit einigem Rechte vom Lesen dispensieren darf. Und ich las, wenn auch nicht mit vollem Verständnis, so doch mit gutem Instinkte: fast nur Bücher, die mir eine Welt auftaten, in der Ziele für mich leuchteten, und nur Bücher von persönlich künstlerischem Ausdruck. Trotzdem ist vieles davon für mich versunken und kaum noch in Erinnerung. Aber Dostojewski ist mir geblieben, und je mehr ich davon abkam, modernen Künstlern Größe zuzuerkennen (was ich nach Jugendart schnellfertig gerne tat, wenn mich ihre Kunst sympathisch berührte und mein Lebensgefühl steigerte), um so mehr fühlte ich: dieser ist wirklich groß, obwohl er mir nicht eigentlich sympathisch ist und mich öfter bedrückt, als erhebt. Ich weiß jetzt: er ist mehr als ein Gipfel, er ist ein Gebirge. Und alle modernen Gipfel, einen einzigen ausgenommen, ragen kaum zur halben Höhe seines Mittelzugs: der Eine aber, der seine Spitze überragt, Nietzsche, wirkt neben seinem ungeheuren Massiv aus gewachsenem Fels fast beängstigend als Kunstwerk: wie etwas Konstruiertes neben etwas Elementarem.

Dieses Bild (es ist nur ein Bild und will nicht als mehr genommen sein) spricht keine Wertvergleichung aus, sondern den Eindruck, den ich vom Nebeneinander der beiden einzigen wirklichen Größen habe, die in der modernen Literatur seit Goethe und Byron erschienen sind. Vielleicht ist Nietzsche ein sublimes Ende und Dostojewski ein riesiger Anfang; jener das Ende der westlichen: europäischen, auf der Antike beruhenden Kultur, dieser der Anfang der östlichen: russischen, die von Byzanz stammt. Das Künstliche in der Erscheinung Nietzsches läßt dieses bange, ja tragische Gefühl aufkommen, und die beklemmende Wucht, mit der uns der slawische Byzantiner Dostojewski entgegentritt als Fürsprech einer ungeheueren, uns trüb chaotisch erscheinenden Masse von urchristlichen Barbaren, verdichtet diese Empfindung zu einer nebligen Beängstigung. Aber das ist eine Frage der Kultur- und Volkskräfte, deren Ausdruck die beiden sind. Nietzsche-Zarathustra kann auch wirklich das sein, als was er sich empfand: Morgenröte. Und dann hätte Dostojewskis Lux ex oriente für uns nur die Bedeutung eines fernen Schauspiels: der letzten Abendhelle von Byzanz über slawischen Nebeln. Jeder gute Europäer (im Sinne Nietzsches) wird dies aufs innigste wünschen und hoffen. Unsere Liebe kann unmöglich bei Dostojewski sein, dessen Ideale mit den unseren nichts zu tun haben. Aber wir können die selbstsichere Kraft unserer aus Hellas und Rom stammenden Kulturtriebe nicht besser beweisen, als indem wir sie ruhig dem Oststurm aussetzen und zeigen, daß sie ihm gewachsen sind; so sehr, daß wir die prachtvoll entfesselten Elementarkräfte des russischen Genies als Schauspiel mit unverhohlener Bewunderung genießen können.

Ich halte daher die Herausgabe der sämtlichen (nicht nur dichterischen) Werke Dostojewskis in guten Verdeutschungen, die die Verlagsanstalt von R. Piper & Co. mustergültig zu besorgen am Werke ist, für eines der verdienstvollsten Unternehmen überhaupt, das wir dem deutschen Verlagsbuchhandel in der letzten Zeit verdanken. Wer europäisches Kulturgewissen hat, muß trachten, Dostojewski kennen zu lernen, und zwar den ganzen Dostojewski, denn dieser ist, obwohl auch seinem Werke Widersprüche nicht fehlen, eine gewaltige Einheit, deren wirkliches Wesen nur Dem voll aufgeht, der es sich in seiner Gesamtheit zu eigen macht. Das Wort Weltliteratur, zum ersten Male von Goethe ausgesprochen und zwar im Sinne eines deutschen Kultur-Postulats, darf keiner als beherzigt im Munde führen, der neben den Großen klassischer Prägung aus den reinen Kunstzeiten der Völker nicht auch diesen wahrhaft großen Modernen kennt, der, gleich jenen, wirklich eine Welt bedeutet. Diese Welt ist nicht die unsere, ja sie ist ihr im Grunde feindlich und bedrohlich, aber eben darum müssen wir sie kennen und verstehen lernen. Je intensiver wir fühlen, daß es nicht die unsere ist und daß wir uns in der unseren bestärken müssen gegen sie, um so nützlicher wird uns die Bekanntschaft mit ihr werden ohne doch dadurch an Reiz einzubüßen. Denn das ist das Wunderbare an Dostojewski: er verletzt nicht. Er ist zu groß dazu. Er kann bedrücken, wie Gewitterluft bedrückt, aber er entschädigt dafür durch herrliche Entladungen des souveränen Genies. Doch dieses ist nicht der Hauptgrund, weshalb bei ihm das, was uns unsympathisch, fremd pathologisch berühren könnte, schließlich als Reiz wirkt. Der Hauptgrund liegt im Elementaren der Anlage und Darstellung. Es wäre verkehrt, zu sagen, daß Dostojewski das habe, was man reine Objektivität nennt. Er ist vielmehr tendenziös, aber er ist es in so kolossaler Art, wie es nur ein Genie sein kann, dessen verstandesmäßige Absichten nicht als Absichtlichkeiten, sondern als Selbstverständlichkeiten seines jeweiligen Stoffes zutage treten. Man weiß bei ihm schon nach den ersten Seiten gleich das »Wie und Wann«, genau wie bei Shakespeare. Mit anderen Worten: Er hat die geniale Naivität der Tendenz. Es ist das gleiche, wie mit der naiven, selbstverständlichen Absicht einer natürlichen schönen Frau, zu gefallen. Sie liegt in ihr, ist wie ein Reflex ihres Wesens, wirkt ohne Zuhilfenahme des bewußten Willens und daher ohne jeden fatalen Beigeschmack, während die Gefallsüchtige durch ihre Absichtlichkeit den feineren Sinn genau so abstößt, wie der ästhetisch empfindliche Leser durch bewußte aufdringliche Tendenz von einem Kunstwerke abgestoßen wird. Es besteht bei der Lektüre Dostojewskis vielmehr die Gefahr, daß wir, ob auch im Anfang von richtigem Instinkte zu abweisender Stimmung aufgebracht, nach und nach so in den Bann seiner großen Persönlichkeit und Kunst kommen, daß wir schließlich das gefährliche Fremde, für uns Giftige seiner Art gar nicht mehr spüren. Deledando juvat. Wer auch nur ein Buch Dostojewskis kennt, weiß, wie fesselnd, hinreißend dieser Koloß auch zu unterhalten weiß. Es ist darum in der Tat lange Zeit so gut wie ganz übersehen worden, daß dieser mächtige Zauberer, der zu spannen und zu überraschen versteht wie Balzac, nicht bloß ein höchst interessanter Schilderer russischer Zustände, auch nicht bloß ein gewaltiger dichterischer Verklärer russischen Wesens, sondern ein bewußter Apostel der innerlichsten Kräfte des russischen Volkes ist, von dem er die tiefste Überzeugung hat, daß sie nicht allein Rußland zu einer ungeheuren Geschlossenheit und Macht steigern, sondern auch die westliche Kultur in ihrer jetzigen Richtung brechen und mit ihrem Geiste zu etwas Neuem umbilden werden. Sein Glaube ist, daß am russischen Wesen die Welt einmal genesen soll, denn für ihn ist der Westen krank, die russische Oberschicht davon angesteckt und nur das russische Volk gesund. Es wurde das nicht bemerkt, weil sein Apostolat viel weniger das eines Predigers, als das eines Gestalters ist und weil seine Kunst der Gestaltung die ganz seltene Kraft hat, die nur den gewaltigsten Bildnern eignet: daß sie oberhalb aller Meinungen gleichsam göttlich erhaben ohne Anteilnahme aus ungeheurem Überflusse schafft: Gerechte und Ungerechte, Weise und Toren, Gesunde und Kranke, Ehrfurchtgebietende und Alberne, – alle mit der gleichen Gelassenheit ihren Weg verfolgen lassend und nur in der Auswage des Ganzen zu einer Weltharmonie einen höheren Sinn fühlend und wollend. Hätte er nicht doch zuweilen dem Menschlichen seinen Zoll zahlen müssen, indem er seinen Zorn (der aber doch wie ein rechter Jehovazorn wirkt) verriet, wie in den »Dämonen«, so würden seine europäischen Leser es noch später gemerkt haben, welch unerbittliches Richtungsgebot aus ihm wirkt. Seine russischen Leser haben es um so schneller gefühlt. Uns mußte erst Tolstoj die Augen über Dostojewski öffnen, Tolstoj, als er aus dem gestaltenden Künstler der predigende Apostel wurde. Die Unterschiede in den Tendenzen der beiden gehen uns hier nicht an. Tolstoj, der bei weitem Kleinere, konnte Sektierer werden, weil er in einem gewissen Sinne Renegat des Westens ist; Dostojewski wuchs stetig, ungebrochen, niemals wirklich aus russischem Gleise geratend, zum großen nationalen Propheten empor, der, indem er das Ganze russischen Volkstums mit ungeheuerer Liebe umfaßte, nur den großen Weg des Ganzen sah und alle einzelnen Fehler, Schwächen, Auswüchse zwar künstlerisch analytisch registrierte (und das mit einer sonden-grausamen Richtigkeit ohnegleichen) aber nie zum Gegenstand des Angriffes machte. Denn auch sie gehören für ihn zum Wesen des russischen Volkes und sind ihm nur die notwendigen Schatten in seinem Bilde. Ja, oft geschieht es, daß wir, dem russischen Wesen fremd, bei seinen Menschen anfangs glauben, sie sollten, in aller Blöße ihrer Gebrechen dargestellt, abschreckend wirken, und schließlich merken wir, daß die Sympathie ihres Erzeugers bei ihnen ist, und ehe wir es uns versehen, empfinden auch wir ihnen gegenüber alles andere eher als Widerwillen. Es tritt eine Art Perversion unseres natürlichen Empfindens ein, – freilich eine Perversion in der Linie christlicher, auch uns eingeimpfter Ideale, aber doch in schwer zu erklärender Weise slawisch, genauer russisch-byzantinisch nuanciert.

Ich spreche immer vom Standpunkt eines Menschen aus, dem Nietzsches Wort von der Umwertung aller Werte nicht zu den leeren Wortschällen gehört, und ich nehme an, daß dieses Wort die Richtung kennzeichnet, in der sich die stärksten Kräfte unserer heutigen westlichen Kultur bewegen. Wer dieses Wort ablehnt (und das kann von Menschen sehr hoher geistiger Potenz geschehen), der müßte, sollte man meinen, Dostojewski ohne weiteres als Wahlverwandten begrüßen. Denn aus Dostojewski spricht Christus, und man muß sehr weit zurückgehen in der Entwicklung des Christusgedankens, um bis zu einem zu gelangen, aus dem er so mächtig gesprochen hat, wie aus ihm. Ich für meinen Teil gelange bis zu Franz von Assisi. Und doch wird ein Deutscher, wie christlich er auch empfinden möge, sei es als Katholik oder als Protestant, kaum mit gutem Gewissen sagen können, daß dieser Christus der seine ist; ja er wird diesen Christus als ein Zerrbild des seinen empfinden, und wahrscheinlich wird er erklären, es sei ein mit inbrünstiger Gewalt entstellter Christus: unheimlich und gespenstisch. Und Dostojewski, sein Verkünder, wird ihm als Mystagoge erscheinen.

Dennoch ist dieser Christus von einer furchtbaren Echtheit, ist Christus in ganzer gigantischer Wahrheit. Und auch der unsere, selbst den nicht ausgenommen, den die starke Seele des ehemaligen Mönchs Martin Luther gesehen hat, wirkt klein daneben: als eine Kompromißgestalt, zugeschnitten auf die religiösen Bedürfnisse von Völkern, zu denen die Lehre des Nazareners als etwas Fremdes gekommen ist. Der Russe Dostojewski aber, der geniale Inbegriff des russischen Volkes in demselben Umfang und derselben Tiefe, in der Nietzsche der geniale Inbegriff westlichen Kulturgewissens ist, (eigentlich seine Wiedergeburt): Dostojewski hat ihn, mit russisch-mystischer Inbrunst in tausend Gestalten (lauter Ausstrahlungen seines russischen Herzens) zerlegt, wiedergeboren und zum künstlerischen Ereignis gemacht, das nicht bloß für Rußland, ja für dieses urchristliche Land weniger als für uns ein Ereignis ist. Dies muß man sich, will man das Phänomen Dostojewski in seiner ganzen, alle ästhetischen Gesichtspunkte hoch überragenden Bedeutung verstehen, immer wieder vergegenwärtigen. Hie Nietzsche, dessen Zarathustra die alten Tafeln (die vom Sinai) zerbricht, hie Dostojewski, der aus seinem russischen Herzen den Ur-Christus aufrichtet. In diesen beiden großen Fühlern, Denkern, Künstlern verkörpert stehen sich zwei wirkliche Weltmächte gegenüber: ein ungeheures Schauspiel, dessen Perspektive wir heute nur ahnen, nicht übersehen können. Kein Wunder, daß daneben alle übrige moderne Literatur spielkastenhaft klein erscheint.

Welche Gegensätze! Und nichts als Gegensätze! Es genügt aber, den einen zu erkennen, in dem alle anderen eingeschlossen liegen: hier der Wille zur Macht, dort der Wille zur Demut.

Das ganze westliche Christentum hat eigentlich immer (unbewußt oder bewußt) den Versuch gemacht, diese Gegensätze zu vereinen. Dostojewski und Nietzsche sind sich darin einig, daß das nicht möglich ist. In dieser Erkenntnis ist ihre gewaltige Bedeutung begründet. Scheinbar gehört nicht viel dazu, dies zu erkennen, aber alle genialen Erkenntnisse sind einfach und wirken, erfaßt, als Selbstverständlichkeiten. Die Masse der Menschheit neigt (sie kann nicht anders, es ist ein Gesetz: Bedingung des Lebens) zu Kompromissen; das Amt der großen Genies scheint es zu sein, in gewissen kritischen Momenten, wo das Kompromiß-Prinzip gleichsam ausgeleiert, auf einem toten Punkt angekommen ist, wieder die natürlichen Gegensätze zu erkennen und aufzurichten. Das Genie fängt, kann man sagen, immer von vorn an: es ist Genie, weil es die Quellen kennt, und sich aus den Quellen speist, während wir andern unser Genüge an Mischungen oder Ableitungen finden. Aber die Erkenntnis allein tut es nicht. Erstens muß es, wenn das Wort erlaubt ist, auch Erfühlnis sein, und dann muß eine vollkommene Hingabe an die Idee dazukommen, das erfühlt Erkannte ins Werk zu setzen: wirksam zu machen. Dazu gehört eine produktive Leidenschaft, der alle Lebenskräfte ohne Besinnen aufgeopfert werden. Obwohl Nietzsche gesagt hat: »Ich will kein Heiliger sein«, macht diese Leidenschaft das große Genie gleichzeitig zum Helden und zum Heiligen. Weil, wieder mit Nietzsche zu reden: »höchste Selbstbesinnung der Menschheit« in solchen Menschen »Fleisch und Genie geworden ist«, sind sie bestimmt, sich schaffend zu verzehren: die Menschheit, ihre Menschheit, aus sich heraus gleichsam neu zu produzieren. Nietzsche tat dies, indem er eine Gestalt schuf, den Zarathustra, der der schließliche Inbegriff seiner ganzen Gedankenwelt wurde. Er sah und schuf, kann man sagen, das Vorgesicht des Übermenschen. Mit einem ästhetischen Bild gesprochen: er hat eine Kolossalstatue hinterlassen. Dostojewski hingegen erzeugte dichterisch ein Gewimmel von Menschen und wenn sie auch alle, trotz ihrer naturalistischen Anlage, überlebensgroß gestaltet sind, es sind keine Kolosse. Sie recken sich nicht, sie ducken sich. Nimmt man aber den rechten künstlerischen Abstand vom Gesamtwerk des russischen Riesen, so erblickt man eine ungeheure Figur nach Art der hundertköpfigen, tausendarmigen, alle Geschlechter in sich vereinigenden indischen Götterbilder: das russische Riesenvolk.

Wer Kunst intensiv zu fühlen vermag, erschauert in Bewunderung vor dieser Leistung und erkennt, daß Dostojewski an zeugendem Reichtum schöpferischer Kraft nur mit einem verglichen werden darf, Shakespeare. Er ist der Shakespeare des Romans, ist Rußlands Shakespeare.

Wie bei dem großen Briten, so kann man auch bei ihm Haupt- und Nebenwerke unterscheiden, aber wie bei Shakespeare, so gibt es auch bei Dostojewski kein Werk, das schlechthin als belanglos zu bezeichnen wäre. Wie Shakespeare läßt auch er sich zu Späßen herab, aber man sehe sich nur auch diese Späße genauer an. Sie sind oft mehr komisch, als humoristisch, ja sie mögen auf manchen düsteren Deutschen burlesk, übertrieben wirken. Und die Wehleidigkeit, die sich gern ästhetisch drapiert, wo sie nichts weiter ist, als Sentimentalität im seichtesten Sinne, wird sich über die Grausamkeit beklagen, mit der Dostojewski manchmal zu scherzen liebt, indem er Trauriges, ja Tragisches zum Untergrund seiner Späße macht, – aber eben darin liegt das genial Eigentümliche des scherzenden Dostojewski, daß sein Spaß etwas Konvulsivisches hat, daß sein Humor das Maß landläufig munterer Gefühle überschreitet, daß seine Komik zur Groteske und Karikatur wird, wie die der Alten. Unsere wohltemperierten Humoristen mit ihrem behaglichen Lächeln der Philister-Toleranz (die im Grunde Überhebung ist) haben sich leider von den dunklen Quellen allen Humors so weit entfernt, daß sie glauben, Humor sei identisch mit dem, was sie Optimismus nennen. Sie übertreiben zwar nichts und so auch nicht den »Humor«, aber sie fälschen das Leben, indem sie es als etwas »Lustiges« hinstellen. Wenn sie sich schon nicht an Dostojewski ein Muster nehmen wollen (oder an Shakespeare, Cervantes, Rabelais), so sollten sie wenigstens Wilhelm Busch nacheifern, der freilich in der Grausamkeit und pessimistischen Resignation etwas zu weit geht.

Die humoristischen Erzählungen Dostojewskis gehören unausscheidbar zum Werke des großen Russen auch deshalb, weil sie nicht weniger als seine anderen Dichtungen das Gepräge einer höchst seltsamen Art von Liebe zur Schwachheit im Menschen haben. Diese Liebe ist auch darin seltsam, wie sie sich äußert. Es geschieht dies mit der unerbittlichen Grausamkeit, die keine Erniedrigung erläßt und doch alles verzeiht. Nur das Herrische, auch wenn er es triumphieren läßt, wird eigentlich verächtlich gemacht und mit künstlerischem Haß behandelt.

Alles Tiefe hat Dostojewskis Sympathie. Wo er liebt, tritt er darnieder. Er will aber nicht das gewöhnliche Mitleiden erwecken, wie es die Art westlicher Sentimentalität ist, die sich um die gewaltigste Forderung des Christentums auf eine erbärmlich wohlfeile Manier herumschwindelt, sondern seine Absicht ist gerade das Gegenteil davon. Er will die triumphierende Demut zeigen. Die innere Ekstase der Demut als höchstes Glück, ja als einziges menschenwürdiges Glück, und alles andere als Laster und Scheinglück zu demonstrieren, wird er nicht müde. Man hat das Gefühl: er peinigt sich wolllüstig selber, wenn er seine Menschen von Qual zu Qual in die Tiefen ihrer selbst führt. Wenn unser Ideal Menschen sind, die ihre Persönlichkeit möglichst groß und frei entfalten zu äußerer herrschender Wirkung, wenn wir z. B. einen Napoleon bewundern, der aus der Tiefe zur Höhe emporsteigt, so zwingt er uns Bewunderung für solche ab, die ihre Persönlichkeit gleichsam einfalten: auf einen inneren Punkt reduzieren, – äußerlich Verachtete, Zertretene, innerlich Glorreiche, Erhabene. Viel eher als von Mitleid, kann von Mitfreude die Rede sein, die der Dichter damit hervorrufen will.

Aber hier ist der Punkt, wo der Instinkt des Menschen westlicher Kultur sich sträubt, diesem Hexenmeister zu folgen. Wir werden ergriffen, wehren uns aber, ganz in den Bann dieser moralischen Fallsucht gezogen zu werden. Aufrichtig bereit, diese Virtuosen der Demut als außerordentliche Menschen zu bewundern und ihnen Kräfte zuzuerkennen, die denen von Heiligen verwandt sind, lehnen wir es doch ab, sie als Beispiele und Muster für die gesamte Menschheit hinzunehmen; ja wir zweifeln daran, daß sie auch nur für die russische Menschheit Muster sein können. Und wir freuen uns der Zuversicht, daß, wenn der russische Geist wirklich von dieser nach unseren Begriffen zwar sublimen, aber krankhaften Art von Perversion ins Passive ist, keine Gefahr für uns besteht, von ihm überwunden zu werden. Flagellantenzüge erobern nicht die Welt.

Und doch haben sich die Bücher Dostojewskis die Welt erobert. Wie ist das zu erklären?

Ich deutete es bereits an, indem ich auf seine künstlerische Größe hinwies, die der Tendenz das Absichtliche nimmt, und auf den ungeheuren Reichtum seiner fesselnden Motive und Gestalten, der Shakepsearisch wirkt, das heißt bereichernd und überwältigend. Es kommt aber noch anderes hinzu.

Ein Hauptgrund ist (auch schon angedeutet) der, daß Dostojewski, gemessen selbst am Größten unserer deutschen Dichtkunst, Goethe, als eine tiefere, reinere Offenbarung von Natur- oder Volkskräften (wie man will) wirkt; daß neben ihm alle Literatur des Westens (ganz Weniges ausgenommen, wie z. B. einige Verse Verlaines, einige Worte Hilles) den Eindruck von auf Flaschen Gefülltem, Destilliertem macht neben einer sprudelnden Quelle. Mit anderen Worten: Dostojewski, obwohl er doch in einem höchst unantiken Maße, ja recht eigentlich als der größte anti-antike Analytiker, Zerfaserer, Bohrer, Wühler ist, besitzt dennoch die große, den älteren lebenden Literaturen fast ganz abhanden gekommene Eigenschaft echter Urwüchsigkeit. Was alles ihn auch künstlerisch beeinflußt haben mag, denn es fällt auch in diesem Sinne kein Meister vom Himmel: der Eindruck ist, als ackere er, ein Urbauer der Dichtkunst, jungfräuliche Erde. Dies ist ein Reiz, dem sich niemand entziehen kann, der Sinn für Kunst hat. Aber auch der ganz naive Leser (der beste Leser) fühlt sich auf der Stelle ergriffen und belebt. Man kann auch ein Bild aus den Anfängen der Architektur heranziehen, indem man Dostojewski einen Cyklopen nennt, der mit ungeheuren unbehauenen Quadern hantiert, die er ohne den Mörtel der uns überkommenen technischen Hilfsmittel des Romans verbindet: Rißkante in Rißkante gefügt. Aber auch hier meldet sich sogleich der differenzierende Zusatz, daß es dabei nicht an einer fast unübersehbaren Fülle von Einzelheiten fehlt. Indessen spricht sich gerade in dem Nichtdeckenden der gewählten Bilder ein weiterer Grund für den bannenden Reiz Dostojewskischer Bücher aus. Ihre hohe und edle künstlerische Einfalt, ihre reine und urtümliche Epik würde moderne Leser vielleicht nur zu kalter Bewunderung zwingen, wenn nicht auch für moderne Nerven- und Gehirn-Wünsche in einzigartigem Maße gesorgt wäre, – eben durch das feine psychologische Detail und durch die Durchäderung mit Problemen, Beobachtungen, Phantasien rein moderner, erst uns zugänglicher, von uns aber eben darum ersehnter Art. Vielleicht darf eine Formel gewagt werden: Einfalt plus Nervosität. Oder, das Lamprechtsche Wort zu verwenden: »Ein Seher im antiken Sinne mit moderner Reizsamkeit.«

Ferner ist zu sagen, daß die russisch byzantinischen Tendenzen, die sich beim Überblicken des Gesamtwerkes gleichsam als Lokalfarbe seines Schaffens aufdrängen, innerhalb der einzelnen Werke keineswegs in dieser Wucht hervortreten (bei einigen schwingen sie kaum hörbar und als Unterton mit), weil sie, ohne an Bedeutung zu verlieren, künstlerisch durch Kontrastfaktoren ausbalanziert werden. Es ist als ob Dostojewski Nietzsche vorgeahnt hatte. Er taucht als verzerrtes Vorgesicht immer wieder bei seinem großen Widerpart auf. Kein Wunder! Denn wie in Nietzsche der Christ verborgen war, so in Dostojewski der Anti-Christ. Dieser gigantische Prophet des russischen Christus hat auch den russischen Teufel im Leibe gehabt. Und was für einen! In wieviel Gestalten! Eine Legion von Teufeln! Darum ist sein Werk ein wahres Pandämonium. Und dieser Überchrist läßt, darin seinem deutschen Gegenpropheten überlegen, auch den Teufeln ihr Recht. Sie toben sich in einem kolossalen Stile aus.

Und damit ist auch dies gesagt: Dostojewskis Demut ist nicht Tolstojs Askese. Wie klein nimmt sich neben seiner Erotik, die Blut und Klauen hat, die doktrinäre Erotik der jungen Russen aus! Aber nicht bloß die sinnliche Leidenschaft: jede braust durch die wirbelnde Welt Dostojewskis, die, wie ungeheuer reich an Geist sie auch ist, nicht aus einem blutleeren Gehirne konstruiert, sondern wie im Hirn so auch im Herzen erlebt worden ist. Dieses Herz, dieses Hirn, dieser Mensch war selber ein Pandämonium.

Stellen wir ihn uns vor, so gelangen wir zu einem Bild von Mathias Grünewaldscher Inbrunst und Furchtbarkeit, zu dem Bilde eines Menschen, der Ungeheueres erlitten und sich selbst zerkämpft hat, bis er jene Demut in sich selber gewann, die er in Bildern von einer ihm ähnlichen Inbrunst und Furchtbarkeit verkündete. Wir gelangen zu dem Bilde eines Heiligen nach Art des Franz von Assisi, der aus ungebärdigem Herzen heilig wurde und der, um heilig zu werden, Teufel aus sich treiben mußte. Ich weiß nicht, ob die russische Kirche einen so ungeheueren Heiligen besitzt, wie diesen Italiener, der erst eigentlich Ernst mit dem Christentum gemacht hat. Dostojewski, fühlt man, hätte dieser Heilige in der Tat werden können, wenn unsere Zeit nicht auch in Rußland unvermögend wäre, einen handelnden Heiligen zu ertragen und wenn ihn sein vielspaltig modernes Wesen nicht gezwungen hatte, zu imaginieren, statt leiblich als Beispiel zu wirken. Vielleicht auch, daß er mit dem Teufelaustreiben doch nicht ganz fertig geworden, daß er eigentlich ein Besessener geblieben ist (in seinem Sinne). Seine Werke sind zum Teil Selbstkreuzigungen; alle Konfessionen der Literatur erblassen vor den Stationen dieser Leidenswege und es gibt kein Wort, das vermögend wäre, die Bewunderung auszudrücken, die ein Fühlender empfinden muß, wenn er sieht, wie dieser Schmerzensmann sich ohne Klage immer wieder zu einem neuen Wege zum Kreuze erhebt, wie er den Schmerz und mit dem Schmerze die Menschheit liebt, und wie er in Augenblicken der Verklärung strahlt wie ein Gral des tiefsten seligsten Begreifens und Spendens von Geheimnissen des Innersten. Doch ohne Pathos, ohne Pose. Man kann an byzantinische Christusbilder denken. Doch nur für Augenblicke. Denn die Macht und Pracht und Schönheit von Byzanz fehlt. Dostojewski ist das Gegenteil einer schönen Seele. Auch dazu ist er zu groß.

»Alle Kunst ist Trost,« sagt Nietzsche. Es fällt scheinbar schwer, dieses Wort auf die Kunst Dostojewskis anzuwenden, und doch trifft es auch auf sie zu. Nur muß es so tief genommen werden wie Dostojewskis Werk. Ihr Trost liegt in der Erkenntnis, daß das Menschliche-Allzumenschliche nicht bloß auf die heroische Nietzsche-Art überwunden werden kann, sondern auch auf die für unsere Begriffe sklavische Art Dostojewskis. Doch da tun sich wieder die Abgründe auf, von denen dieser Versuch eines Überblicks über die Welt Dostojewskis ausgegangen ist. Gleichzeitig aber fühlen wir, was die beiden Gegenpropheten miteinander verband: der Wille zur Überwindung des Gemeinen.

Sonderbar: Ich gedachte vom Menschen Dostojewski zu reden und kam wieder auf sein Werk. Es kann das nicht anders sein, denn die beiden decken sich vollkommen. Das Pandämonium Dostojewskis und das Pandämonium in seinem Werke ist ein und dasselbe.

Dostojewski, der so oft schreiben mußte, um zu leben, lebte doch nur, um schreiben zu können. Das Schreiben war die Hauptfunktion seines Lebens. Man darf sagen, er atmete seine Dichtung aus. Und wie alles Leben Selbstverzehren ist, so war es auch seines, das Dichten war. Er ist unsterblich, weil er nicht allein seine genialen Kräfte restlos an dieses dichtende Leben gab, sondern auch gefühlte Erfahrungen und angeborene Leidenszüge von einer Intensität, wie sie kaum jemals einem Genius beschieden worden sind.

Darum muß von seinem Schicksale auch die Rede sein.

Wer eine Biographie Dostojewskis gelesen hat (ich kenne nur die von N. Hoffmann), der wird sofort dreierlei erkennen, was die Entwicklung seines Genies beeinflußt hat.

Einmal: Dieser Mann ist wegen eines Nichts zum Tode verurteilt worden, er stand bereits am Pfahle, des tödlichen Schusses gewärtig und wurde nach den Ewigkeitsminuten der Todeserwartung zur Zwangsarbeit in Sibirien begnadigt, die er vier Jahre lang erduldet hat. Was heißt das? Lest seine Bücher, und ihr wißt es. Ihr wißt dann auch, daß seine Demut nichts Konstruiertes, sondern etwas Erlebtes, nichts Niederes, sondern der unerhörte Triumph einer Seele ist, die man nicht anders als überchristlich nennen kann. Uns ballen sich die Fäuste schon, wenn wir das nichtswürdig Scheußliche dieser perfiden, grausamen »Begnadigung« lesen und die Marterungen eines solchen Geistes unter der drohenden Knute. Er aber war es imstande, all das hinzunehmen und zu betrachten wie etwas Verdientes und Gerechtes. Und konnte später von dem Zaren, der es ihm angetan, mit der souveränen Milde eines Heiligen sprechen. Welch ein Mensch! Und er hat es nie als etwas Besonderes empfunden, sondern als etwas Selbstverständliches, daß er so fühlen und denken konnte. Diese Art amor fati ist kaum die Nietzsches. Sie ist wohl russisch, aber genial sublimiert.

Man würde sich aber irren, wenn man glaubte, es sei durch dieses Erlebnis an Dostojewski geschehen, was an Oskar Wilde durch seine Zuchthausstrafe geschah. Er wurde nicht zertreten, sondern erhoben, er wurde nicht verdunkelt, sondern verklärt. Er wurde nicht ein anderer, sondern ganz Er, Er in einer höheren Potenz. Und, was das Wichtigste ist, es geschah das nicht etwa aus der Sensation des Schmerzes, wie aus einem Leidensrausch, der gleichsam Begnadung, Inspiration war, sondern offenbar Kraft des kämpfenden Gedankens. Die Demut kam nicht über ihn mit der Gewalt des unerhörten Erlebnisses, sondern er kämpfte sich zur Demut durch, von dem Erlebnisse nicht geschwächt, sondern gleichsam erfüllt, belebt, erstärkt. Mit anderen Worten: nicht das Erlebnis überwand ihn, sondern kraft des Erlebnisses überwand er sich selbst, um dennoch gerade dadurch zu seinem Innersten zu gelangen.

Ferner: Er war Epileptiker. Was heißt das? Nur, daß er die Fallsucht hatte, wie mancher andere? Daß man ihn also »pathologisch« erklären kann? Nein: Genie kann so wenig durch Epilepsie wie durch rachitische Schädelbildung erklärt werden.

Aber es scheint, daß Epilepsie, bei genialen Menschen auftretend, die Genialität gleichsam dämonisch tingiert. Es scheint, daß ihre Zustände die Sphäre des Unterbewußtseins gleichsam mystisch erleuchten, daß sie Momente der Ekstase hervorrufen, die im genialen Gehirn später produktiv werden, und zwar in jener vehementen Richtung zum Entfesselten innerer Gesichte und zum seelischen Hellsehen, das für Dostojewski kennzeichnend ist. – Was heißt es also? – Daß er eine geheimnisvolle, für einen kurzen Moment jach und herrlich erhebende, für Tage darauf grausam niederwerfende Macht in sich fühlte, den Dämon.

Und dann: Dieser Herr über ungeheuere Reichtümer des Geistes und Herzens mußte fast unausgesetzt als Zwangsarbeiter der Not schaffen. Er, ein geistiger Souverän, mußte das Dasein eines geistigen Proletariers führen. Lest seine Briefe und ihr blickt in eine Hölle. Sie ist vielen bekannt gewesen und noch bekannt, die das Wagnis bestehen wollen, von ihrer Feder zu leben, ohne ihre Feder zu verkaufen, und für den Ausweg, sich nebenbei als Virtuosen des Goldborgens zu bewähren, zu stolz sind, und es ist wahr, daß im Kronschatze des Höchsten, was uns die Dichtkunst gegeben hat, das meiste aus dieser Hölle stammt. Aber die Hölle Dostojewskis war außerdem die eines Landflüchtigen, den die Not aus der Heimat verbannt hatte, eines Heimlosen, der auch noch für arme Verwandte sorgen mußte (aus frei übernommener Pflicht), eines Unzeitgemäßen und dabei Ehrgeizigen, der erst spät zur Anerkennung gelangte, ja eines Verkannten und Verleumdeten. Wahrscheinlich auch die Hölle eines Leidenschaftlichen, der seine Leidenschaften knechten mußte, nicht aus innerem Zwang (der ihn erhoben hätte), sondern aus äußerem (der ihn fesselte). – Was heißt dies? Lest ihn, und das Wunder der Demut Dostojewskis wird euch zu einem Mysterium, das hell und dunkel zugleich ist. Dieser Mensch hat das Kreuz erlebt und er liebte das Kreuz. Ja er hat am Kreuze gedichtet und das Kreuz verherrlicht, durchbohrt von Nägeln der Not und Schmach. Sein Leiden war nicht geringer als das des Nazareners, der auf Golgatha zwischen den Schachern starb, aber er hat sich dennoch nicht für einen Heiland, sondern für einen Schacher gehalten, und es war nicht sein eigenes Kreuz, das er verherrlichte, sondern das auf der Schädelstätte vor Jerusalem. Seine eigene Not und Schmach (unter der er oft zornig aufstöhnte und knirschte, denn seine wunde Seele war oft wohl am Verzweifeln) war gerade, wenn er schrieb, die seines Volkes, ja die aller Elenden und Zertretenen; er war zu groß, um als Dichter sich selbst zu beklagen, ein lautes Wesen von seiner Not zu machen; er hat in der Glühhitze des Schaffens wahrscheinlich wirklich kein eigenes Leiden mehr empfunden, sondern das der anderen; aber die selbstgefühlte Not ist es dennoch gewesen, die ihn fähig gemacht, ja dazu begeistert hat, jene Seelengemälde zu schaffen, in denen auf dem Untergrund des Elends eine: seine Welt sich ausbreitet voller Höhen und Tiefen, Engen und Weiten, Abgründen und Ausblicken, Hoffnungen und Verzweiflungen, – voller Teufel und voll Gott. Gewiß ist auch er oft genug kleinmütig gewesen im Leben; in seiner Dichtung aber fühlt man nichts davon, obwohl er die Tiefe preist, und nicht die Höhe.

Das Elend hat seine Dichtung erhaben gemacht. Und so kann dieses Leben, betrachtet in diesem Werk, darein es sich zugleich verhohlen und offenbart hat, wohl zu dem Glauben bewegen, daß die niederdrückenden Gewalten des Lebens und die ihnen entgegenkommenden Neigungen demütiger Seelen doch am Ende ebenso mächtig sind, große Menschen zu bilden, wie die gegensätzlichen Werte, die auf den Tafeln Nietzsches leuchten. Dostojewski hat an sich das christliche Nein als positive Kraft bewiesen. Aber wir wollen ja nicht vergessen, daß Heilige, Helden und Genies zwar zielbedeutend für ihr Volk sein können, aber nicht maßgebend für alle Menschen sind. Was Dostojewski so groß gemacht hat, ist vielleicht dasselbe, was das russische Volk daran verhindern wird, uns gegenüber groß zu werden. Aber gesetzt auch, daß dem russischen Herzen dieser Geist völlig gemäß und also heilsam ist: uns kann er kaum fördern. Denn es scheint, daß wir nicht geschaffen sind, ihn so zu vertiefen, wie es das uns im Grunde sehr fremde Phänomen Dostojewski zeigt. Diesem Geiste nachzugehen, hieße Goethe verleugnen und Nietzsche für eine Krankheit halten.

Unserer Art sind andere Wege vorgeschrieben; die Katakombenwanderung haben wir hinter uns. Aber wir erinnern uns ihrer noch wohl, und wir bewundern den großen Russen, der in den Katakomben eine Welt entdeckt hat, die in dieser ungeheueren Fülle und Lebendigkeit kein westlicher Mensch je sah.

Wenn es wahr ist, daß der Deutsche den Trieb hat, Weltverständnis zu gewinnen, und daß darin seine tiefste Kraft und die Bürgschaft geistiger Weltbeherrschung liegt; eines imperium germanorum ingenii, – dann dürfen wir hoffen, daß die Werke Dostojewskis in Deutschland einmal heimisch werden, wie die der anderen Großen fremder Zunge.

Es heißt in einem gewissen Sinne zu den mystischen »Müttern« hinabsteigen, von denen es im »Faust« tönt, wenn wir Dostojewskis Welt besuchen. Schwachen Seelen kann es gefährlich werden, starken ist es ein gewaltiges Erlebnis.