Honoré de Balzac
Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft
Honoré de Balzac

Honoré de Balzac

Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft

Un épisode sous le terreur.

 

Am 22. Januar 1793 gegen acht Uhr abends stieg in Paris eine alte Dame von der steilen Straße herab, die vor der Kirche Saint-Laurent im Faubourg Saint-Martin endet. Es hatte den ganzen Tag so stark geschneit, daß die Schritte kaum hörbar waren. Die Straßen waren verödet. Die natürliche Furcht, die diese Stille erweckte, wurde noch gesteigert durch all den Schrecken, unter dem damals ganz Frankreich ächzte. Und so war denn die alte Dame bisher keinem Menschen begegnet. Übrigens war sie seit lange kurzsichtig, und so sah sie beim Laternenschein die vereinzelten Fußgänger nur wie Schatten durch die Endlosigkeit dieser Vorstadtstraße huschen. Sie ging tapfer allein durch diese Einsamkeit, als sei ihr Alter ein Talisman, der sie vor allem Übel behütete. Als sie die Rue des Morts hinter sich hatte, glaubte sie den schweren, festen Tritt eines Mannes hinter sich zu vernehmen. Es war ihr, als hörte sie diesen Schritt nicht zum ersten Male. Sie erschrak, daß jemand ihr folgte, und versuchte schneller zu gehen, um einen ziemlich hell erleuchteten Kaufladen zu erreichen, in der Hoffnung, in seinem Lichtschein zu ergründen, ob ihr Verdacht begründet war. Sobald sie sich in dem wagrechten Lichtschein des Ladens befand, wandte sie plötzlich den Kopf und erblickte im Nebel eine menschliche Gestalt. Diese undeutliche Erscheinung genügte ihr; sie wankte einen Augenblick unter der Last des Entsetzens, das sie überwältigte, denn nun zweifelte sie nicht mehr, daß der Fremde sie begleitet hatte, seit sie den ersten Schritt aus ihrer Wohnung getan. Der Wunsch, einem Spion zu entgehen, lieh ihr Kräfte. Unfähig, zu überlegen, verdoppelte sie die Schritte, als ob sie sich dadurch einem Manne entziehen könne, der naturgemäß viel beweglicher war als sie. Nachdem sie einige Minuten gelaufen, erreichte sie eine Konditorei, trat ein und fiel mehr, als daß sie sich setzte, auf einen Stuhl, der vor dem Ladentisch stand. In dem Augenblick, als die Türklinke knarrte, blickte eine junge Frau von ihrer Stickarbeit auf und erkannte durch die Fensterscheiben den altmodischen Umhang aus lila Seide, in den die alte Dame gehüllt war. Da zog sie eilig eine Schublade auf, um etwas herauszunehmen, das sie ihr zu geben hatte. Nicht nur diese Bewegung sowie der Gesichtsausdruck der jungen Frau verrieten deutlich den Wunsch, sich der Unbekannten flugs zu entledigen, als gehörte sie zu den Leuten, die man nicht gern sieht, sondern ihr entfuhr auch ein Ausruf der Ungeduld, als sie die Schieblade leer fand. Dann verließ sie schnellstens den Geschäftsraum, ohne die Dame anzusehen, ging in den hinteren Laden und rief ihren Mann, der sofort erschien. »Wohin tatest du nur . . .?« fragte sie ihn, ohne ihren Satz zu beenden, mit geheimnisvoller Miene, indem sie mit einem Blick auf die alte Dame wies.

Obwohl der Konditor nur die riesige schwarze Seidenhaube der Unbekannten sah, die mit violetten Bandschleifen besetzt war, verschwand er sogleich, nachdem er seiner Frau einen Blick zugeworfen hatte, der zu sagen schien: »Glaubst du, daß ich das in deinem Laden lasse?« Erstaunt über das Schweigen und die Unbeweglichkeit der alten Dame kam die Konditorsfrau wieder zu ihr, und bei ihrem Anblick fühlte sie sich von einer Regung des Mitleids ergriffen, vielleicht auch von Neugier. Obgleich die Hautfarbe der Frau von Natur bleich war, wie bei Menschen, die heimliche Entbehrungen erdulden, war es doch leicht ersichtlich, daß eine soeben erfahrene Erschütterung sie ungewöhnlich blaß machte. Sie hatte ihre Haube derart aufgesetzt, daß sie die Haare verbarg, die zweifellos vom Alter gebleicht waren, denn der saubere Kragen ihres Kleides wies keine Puderspuren auf. Das Fehlen jedes Schmuckes verlieh dem Gesicht den Ausdruck religiöser Strenge. Ihre Züge waren ernst und stolz. Damals waren Benehmen und Gewohnheiten der Leute von Stand so verschieden von denen andrer Gesellschaftsklassen, daß man die Adligen leicht erriet. Die junge Frau war also überzeugt, daß die Unbekannte eine frühere Aristokratin war und zum Hofe gehört hatte.

»Madame . . .?« sagte sie unwillkürlich respektvoll und vergaß, daß dieser Titel verboten war.

Die alte Dame gab keine Antwort. Ihr Blick haftete an der Scheibe des Ladenfensters, als zeichne sich darauf etwas Entsetzenerregendes ab.

»Was hast du, Bürgerin?« fragte der Ladenbesitzer, der in diesem Augenblick zurückkam.

Der Bürger Konditor riß die Dame aus ihrer Verträumtheit, indem er ihr eine kleine Pappschachtel reichte, die in blaues Papier eingewickelt war.

»Nichts, nichts, meine Lieben«, erwiderte sie mit sanfter Stimme.

Sie blickte zu dem Konditor auf, wie um ihm einen Blick des Dankes zuzuwerfen. Doch als sie eine rote Mütze auf seinem Kopf sah, stieß sie einen Schrei aus: »Ach, Sie haben mich verraten!«

Die junge Frau und ihr Mann antworteten mit einer Gebärde des Abscheus. Die Unbekannte errötete, entweder weil sie die beiden verdächtigt hatte, oder aus Freude.

»Verzeiht mir«, sagte sie nun mit kindlicher Sanftmut.

Dann zog sie ein Goldstück aus der Tasche und reichte es dem Konditor.

»Hier ist der vereinbarte Preis«, fügte sie hinzu.

Es gibt eine Armut, welche die Armen erraten. Der Konditor und seine Frau blickten sich an und dann die alte Dame, als teilten sie sich den gleichen Gedanken mit. Dies Goldstück war wohl ihr letztes. Die Hände der Dame zitterten, als sie es hingab. Sie betrachtete es kummervoll, ohne Geiz, und schien die ganze Tragweite des Opfers zu kennen. Hunger und Elend waren in dies Gesicht mit ebenso lesbarer Schrift eingegraben wie die Furcht und die Gewohnheit der Entbehrung. Ihre Kleidung zeigte noch Spuren von Reichtum. Doch die Seide war abgenutzt, der Umhang sauber, aber vertragen, die Spitzen sorgfältig ausgebessert, kurzum, die Lumpen vom Überfluß! Die Bäckersleute schwankten zwischen Mitleid und Gewinnsucht und begannen ihr Gewissen durch Worte zu erleichtern.

»Aber, Bürgerin, du scheinst recht schwach . . .«

»Will Madame etwas zu sich nehmen?« fragte die Frau, ihrem Manne das Wort abschneidend.

»Wir haben recht gute Fleischbrühe«, setzte der Konditor hinzu.

»Es ist arg kalt. Madame hat sich vielleicht was geholt beim Ausgehen. Doch hier können Sie sich ausruhen und ein wenig wärmen.«

»Wir sind keine schwarzen Teufel«, rief der Konditor.

Gewonnen durch den Ausdruck des Wohlwollens, der die Worte der mitleidigen Ladenbesitzer belebte, gestand die alte Dame, daß sie von einem Fremden verfolgt worden sei und daß sie Angst hätte, allein nach Hause zurück zu gehen.

»Weiter nichts?« erwiderte der Mann mit der roten Mütze. »Warte auf mich, Bürgerin.«

Er gab seiner Frau das Goldstück, und von jener Art von Dankbarkeit ergriffen, die die Seele eines Kaufmanns erfüllt, wenn er einen übertriebenen Preis für eine minderwertige Sache erhält, warf er sich in die Uniform der Nationalgarde, nahm seinen Hut, hängte sein Seitengewehr um und erschien dann wieder in Waffen. Doch seine Frau hatte die Zeit zum Nachdenken benutzt. Wie in so vielen anderen Fällen schloß sich die offene Hand des Wohltuns durch Überlegung. Die Konditorsfrau suchte ihren Mann am Rockzipfel zu ziehen, um ihn zurückzuhalten. Sie war besorgt und fürchtete, er möchte in eine üble Sache verwickelt werden. Doch der brave Mann gehorchte dem Gefühl des Mitleids und erbot sich sofort, die alte Dame zu begleiten.

»Es scheint, daß der Mann, vor dem die Bürgerin Angst hat, noch immer den Laden umschleicht«, sagte die junge Frau lebhaft.

»Ich fürchte ja«, entgegnete die alte Dame naiv.

»Wenn es ein Spion wäre! . . . Wenn es eine Verschwörung wäre! . . . Geh nicht! Nimm ihr die Schachtel wieder fort«, flüsterte ihm die Konditorsfrau ins Ohr, und sein plötzlicher Mut erlahmte.

»Ha, ich werde ihm schon Bescheid geben und Sie flink von ihm befreien«, rief der Konditor, riß die Tür auf und stürzte hinaus.

Die alte Dame, willenlos wie ein Kind und wie verstört, setzte sich wieder auf den Stuhl. Der ehrliche Kaufmann kam nur zu schnell zurück. Sein Gesicht, dessen natürliche Röte durch das Feuer des Backofens noch mehr glühte, war plötzlich aschfahl geworden. Die Furcht schüttelte ihn derart, daß seine Beine zitterten. Seine Augen glichen denen eines Betrunkenen.

»Willst du, daß uns der Hals abgeschnitten wird, elende Aristokratin?« schrie er wütend. »Mach, daß du uns deine Hacken zeigst. Laß dich nie wieder hier blicken, und rechne nicht auf mich, dir die Mittel für deine Verschwörung zu liefern!«

Bei diesen Worten suchte der Konditor der alten Dame die kleine Schachtel zu entreißen, die sie in die Tasche gesteckt hatte. Doch kaum berührten seine dreisten Hände ihr Kleid, so fand die alte Dame die Beweglichkeit ihrer Jugend wieder. Lieber wollte sie sich den Gefahren der Straße aussetzen, ohne anderen Verteidiger als Gott, als das zu verlieren, was sie eben gekauft hatte. Sie stürzte zur Tür, riß sie auf und verschwand vor den Augen des bestürzten und zitternden Ehepaars. Sobald die Unbekannte draußen war, begann sie eilig zu gehen, doch ihre Kräfte ließen sie bald im Stich, denn sie hörte hinter sich den Spion, der sie erbarmungslos verfolgte; unter seinem schweren Schritt knirschte der Schnee. Sie mußte stehen bleiben; er hielt gleichfalls an. Sie wagte ihn weder anzusehen noch ihn anzureden, sei es aus Furcht, oder aus Mangel an Überlegung. Dann setzte sie langsam ihren Weg fort. Der Mann verlangsamte gleichfalls den Schritt. Er blieb stets so weit hinter ihr, daß er sie im Auge behalten konnte. Er war gleichsam der Schatten dieser alten Dame. Von der Kirche Saint-Laurent schlug es neun Uhr, als das schweigsame Paar an ihr vorüberschritt. Es liegt in der Natur der Seele, selbst der schwächsten, daß ein Gefühl der Ruhe eine heftige Erregung ablöst. Denn wenn auch die Gefühle unendlich sind, so haben unsre Organe doch ihre Grenzen. So auch bei der Unbekannten. Da ihr angeblicher Verfolger ihr nichts Übles zugefügt hatte, wollte sie in ihm einen heimlichen Freund sehen, der sie in seinen Schutz nahm. Sie legte sich alle Umstände zurecht, die das Erscheinen des Fremden begleitet hatten, um triftige Gründe für diese tröstliche Ansicht zu finden. Sie gefiel sich darin, ihm eher gute als böse Absichten zuzuschreiben. Sie vergaß den Schreck, den dieser Mann dem Konditor eingejagt hatte, und mit festen Schritten näherte sie sich den höher gelegenen Teilen des Faubourg Saint-Martin. Nach einer halben Stunde Wegs gelangte sie vor ein Haus an der Straßengabelung der Hauptstraße der Vorstadt und der Straße, die zur Barriere von Pantin führt. Dieser Ort ist auch heute noch einer der einsamsten in ganz Paris, Der Wind, der über die Erdhügel von Chaumont und Belleville fegt, pfiff zwischen den Häusern oder vielmehr Hütten, die verstreut in dem fast unbewohnten Tälchen lagen und deren Einfriedigungen aus Mauern von Lehm und Knochen bestehen. Diese verödete Gegend schien der natürliche Schlupfwinkel des Elends und der Verzweiflung. Der hartnäckige Verfolger des armen Wesens, das so tapfer bei Nacht durch die stillen Gassen schritt, schien erstaunt über den Anblick, der sich seinen Blicken bot. Er blieb nachdenklich stehen, in zaudernder Haltung, schwach beschienen von dem ungewissen Licht einer Laterne, das kaum den Nebel durchdrang. Die Furcht gab der alten Frau Augen. Sie glaubte etwas Unheilvolles in den Zügen des Fremden zu erkennen, fühlte ihre Angst wieder erwachen und machte sich das scheinbare Zögern des Mannes zunutze, um im Finstern nach der Tür des einsamen Hauses zu gleiten. Dann drückte sie auf eine Feder und verschwand mit geisterhafter Schnelle. Der Unbekannte stand unbeweglich und betrachtete das Haus, das ungefähr den Typus der elenden Wohnstätten der Vorstadt darstellte. Die wacklige Baracke aus Ziegelstein war mit einer Schicht von vergilbtem Kalk beworfen, die aber so brüchig war, daß man fürchten konnte, der geringste Windstoß müsse sie abreißen. Das mit braunen Ziegeln gedeckte und mit Moos überzogene Dach bog sich an einigen Stellen derart, als sollte es unter der Last des Schnees nachgeben. Jedes Stockwerk hatte drei Fenster, deren Rahmen durch Feuchtigkeit verfault waren und durch Sonnenbrand klafften, so daß die Kälte in die Zimmer eindringen mußte. Dies einsame Haus glich einem alten Turm, den die Zeit zu zerstören vergaß. Ein schwacher Lichtschein erhellte die unregelmäßig verteilten Fenster des Dachgeschosses, welches das armselige Gebäude abschloß. Das übrige Haus war völlig dunkel. Die alte Frau stieg nicht ohne Anstrengung die unbequeme, grobe Treppe hinauf, deren Geländer durch ein Seil ersetzt war. Dann klopfte sie geheimnisvoll an die Tür der Dachwohnung und setzte sich überstürzt auf einen Stuhl, den ihr ein alter Mann bot.

»Verbergen Sie sich, verbergen Sie sich«, rief sie ihm zu. »Obwohl wir nur selten ausgingen, sind unsre Wege bekannt; unsre Schritte werden ausspioniert.«

»Was gibt es denn Neues«, frug eine andre alte Frau, die am Feuer saß.

»Der Mann, der seit gestern das Haus umschleicht, ist mir heute abend gefolgt.«

Bei diesen Worten sahen die drei Bewohner der elenden Behausung einander an. Auf ihren Gesichtern malte sich tiefes Entsetzen. Der Greis war von den dreien am wenigsten erregt, vielleicht weil ihm die meiste Gefahr drohte. Unter der Last eines großen Unglücks oder unter dem Joch der Verfolgung bringt sich ein mutiger Mann selbst als erster zum Opfer; er betrachtet jeden seiner Tage nur noch als ebensoviel Siege über das Geschick. Die Blicke der beiden Frauen, die sich auf den Greis hefteten, ließen leicht erraten, daß er allein der Gegenstand ihrer lebhaften Sorge war.

»Warum an Gott verzweifeln, meine Schwestern?« sagte er mit dumpfer, doch salbungsvoller Stimme.

»Wir sangen sein Lob inmitten des Geschreis der Mörder und der Sterbenden im Karmeliter-Kloster. Wenn er wollte, daß ich diesem Würgen entkam, so geschah es ohne Zweifel, um mich für ein Schicksal aufzusparen, das ich ohne Murren auf mich nehmen muß. Nicht mit mir, sondern mit euch sollten wir uns beschäftigen.«

»Nein,« sagte die eine der alten Frauen; »was bedeutet unser Leben im Vergleich zu dem eines Priesters?«

»Sobald ich mich außerhalb der Klostermauern von Chelles erblickte, betrachtete ich mich als tot«, sagte die eine der beiden Nonnen, die nicht fort gewesen war.

»Hier,« sagte die Angekommene und reichte dem Priester die kleine Schachtel hin, »hier sind die Hostien . . . Doch,« rief sie, »ich höre jemanden die Stufen heraufkommen!«

Alle drei lauschten. Das Geräusch hörte auf.

»Fürchtet euch nicht,« sagte der Priester, »wenn jemand versucht, zu euch zu gelangen. Ein Mann, auf dessen Treue wir rechnen können, hat alle Maßregeln getroffen, um über die Grenze zu kommen. Er holt die Briefe ab, die ich an den Herzog von Langeais und an den Marquis von Beauséant geschrieben habe, damit sie Mittel und Wege finden, euch aus diesem schrecklichen Lande zu befreien, wo Tod oder Elend euch erwartet.«

»Werden Sie denn nicht mit uns kommen?« stießen die beiden Nonnen in einer Art von Verzweiflung leise hervor.

»Mein Platz ist bei den Opfern«, sagte der Priester schlicht.

Sie schwiegen und blickten ihren Gast mit frommer Bewunderung an.

»Schwester Martha,« sagte er zu der Nonne, welche die Hostien gebracht hatte, »dieser Sendbote soll auf das Wort Hosianna mit Fiat voluntas antworten.«

»Da ist jemand auf der Treppe«, rief die andre Nonne und öffnete ein Versteck unter dem Dach. Diesmal war es in der tiefen Stille nicht schwer, den Schall der Schritte eines Mannes zu hören, die auf den mit getrockneten Schmutzklumpen bedeckten Stufen erdröhnten. Der Priester verkroch sich mühsam in eine Art Wandschrank und die Nonne warf noch einige Kleidungsstücke über ihn.

»Sie können zumachen, Schwester Agathe«, sagte er mit erstickter Stimme.

Kaum war der Priester versteckt, als drei Schläge an der Tür die beiden frommen Frauen hochfahren ließen. Sie warfen, einander fragende Blicke zu, wagten aber kein Wort zu sprechen. Beide schienen etwa sechzigjährig. Von der Welt seit vierzig Jahren getrennt, waren sie wie Pflanzen, die an die Luft eines Treibhauses gewöhnt sind und sterben, wenn man sie herausnimmt. An das Klosterleben gewöhnt, konnten sie sich kein andres mehr vorstellen. Als man eines Morgens ihre Gitter zerbrach, hatten sie gezittert, frei zu sein. Man kann sich unschwer einen Begriff von der Art künstlicher Verblödung machen, welche die Ereignisse der Revolution in ihren unschuldigen Seelen hervorgerufen hatten. Unfähig, die Schwierigkeiten des Lebens mit ihren klösterlichen Gewohnheiten in Einklang zu bringen, ja ohne Verständnis für ihre Lage, waren sie wie Kinder, für die bisher gesorgt worden war und die nun, verlassen von ihrer mütterlichen Vorsehung, beten, anstatt zu schreien. Und so blieben sie stumm und tatlos angesichts der Gefahr, die sie in diesem Augenblick voraussahen: kannten sie doch keine andre Verteidigung als die christliche Ergebung. Der Mann, der Einlaß begehrte, legte sich das Schweigen auf seine Weise aus. Er öffnete die Tür und stand plötzlich vor ihnen. Die beiden Nonnen zitterten, als sie den Mann erkannten, der seit einiger Zeit ihr Haus umschlich und Erkundigungen über sie einholte. Sie blieben unbeweglich und blickten ihn nur mit unruhiger Neugier an, wie scheue Kinder, die schweigend einen Fremden mustern. Der Mann war groß und dick, doch nichts in seinem Gang, seiner Miene und seinen Gesichtszügen ließ darauf schließen, daß er ein schlechter Mensch sei. Er ahmte die Unbeweglichkeit der Nonnen nach und ließ seine Blicke langsam durch das Zimmer gleiten, in dem er stand.

Zwei Strohmatten, die auf Brettern lagen, dienten den Nonnen als Bett. Mitten im Zimmer stand ein einziger Tisch mit einem kupfernen Armleuchter, ein paar Tellern, drei Messern und einem runden Brote. Das Feuer im Kamin war spärlich. Ein paar Stück Holz, die in einer Ecke aufgestapelt waren, gaben Zeugnis von der Armut der beiden Klausnerinnen. Die Wände mit ihrem sehr alten Kalkverputz bewiesen den schlechten Zustand des Daches, denn ein braunes Geäder von Flecken zeigte, daß das Regenwasser eindrang. Eine Reliquie, ohne Zweifel aus der Plünderung von Chelles gerettet, schmückte den Kaminsims. Drei Stühle, zwei Truhen und eine schlechte Kommode vervollständigten die Einrichtung des Zimmers. Eine Tür neben dem Kamin ließ darauf schließen, daß noch eine zweite Stube vorhanden war.

Der Mann, der unter so drohenden Anzeichen in diese Wohnung eingedrungen war, hatte die Bestandsaufnahme bald beendet. Ein Gefühl des Mitleids malte sich auf seinem Gesicht. Er warf einen wohlwollenden Blick auf die beiden alten Jungfern und schien wenigstens ebenso verlegen wie sie. Das sonderbare Schweigen, in dem alle drei verharrten, dauerte nicht lange, denn der Fremde erriet schließlich die Geistesschwäche und Unerfahrenheit der beiden armen Geschöpfe. Da sagte er, indem er seine Stimme zu mildern suchte: »Ich komme nicht als Feind zu euch, Bürgerinnen . . .«

Er hielt inne und fuhr dann fort:

»Schwestern, wenn euch ein Unglück zustoßen sollte, so glaubt mir, ich habe nicht dazu beigetragen. Ich habe euch um eine Gnade zu bitten . . .«

Sie schwiegen noch immer.

»Wenn ich euch belästige, wenn ich . . . euch in Verlegenheit bringe, sprecht frei heraus . . . so ziehe ich mich zurück. Aber wißt, daß ich euch ganz ergeben bin, daß ihr mich ohne Furcht angehen könnt, wenn ich euch einen Dienst leisten könnte, und daß ich vielleicht allein über dem Gesetz stehe, da es ja keinen König mehr gibt . . .« Der Ton seiner Worte war so ehrlich, daß Schwester Agathe sich beeilte, auf einen Stuhl zu weisen, wie um ihren Gast zu bitten, Platz zu nehmen. Sie war diejenige der Nonnen, die dem Hause Langeais angehörte und deren Benehmen anzudeuten schien, daß sie einst den Glanz der Feste gekannt und Hofluft geatmet hatte. Der Unbekannte zeigte ein Gemisch von Freude und Traurigkeit, als er diese Handbewegung verstand. Bevor er Platz nahm, wartete er, bis die beiden ehrwürdigen alten Jungfern sich setzten.

»Sie haben«, fuhr er fort, »einem hochwürdigen, nicht vereidigten Priester Obdach gegeben. Er ist wie durch ein Wunder den Morden bei den Karmelitern entgangen.«

»Hosiannah«, unterbrach Schwester Agathe den Fremden und blickte ihn mit unruhiger Neugier an.

»So heißt er nicht, glaube ich«, entgegnete der Mann.

»Aber, Monsieur,« sagte Schwester Martha lebhaft, »wir haben hier keinen Priester und . . .«

»Dann muß man mehr Vorsicht und mehr Klugheit üben«, entgegnete der Fremde sanft, streckte den Arm nach dem Tisch aus und nahm ein Brevier zur Hand.

»Ich glaube kaum, daß Sie Lateinisch verstehen und . . .«

Er sprach nicht weiter, denn die außerordentliche Erregung in den Gesichtern der beiden Nonnen ließ ihn fürchten, zu weit gegangen zu sein. Sie zitterten und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Beruhigen Sie sich«, sagte er mit ehrlicher Stimme. »Seit drei Tagen weiß ich, wie Ihr Gast und Sie selber heißen. Ich weiß um Ihre Not und Ihre Ergebenheit für den ehrwürdigen Abbé de . . .«

»Still«, sagte Schwester Agathe naiv und legte einen Finger auf ihre Lippen.

»Sie sehen, Schwestern, wenn ich die scheußliche Absicht hätte, Sie zu verraten, so konnte ich sie schon mehr als einmal ausführen.«

Als der Priester diese Worte hörte, befreite er sich aus seinem Gefängnis und erschien mitten im Zimmer.

»Ich würde niemals glauben, Monsieur,« sagte er zu dem Unbekannten, »daß Sie zu unsern Verfolgern gehören. Ich vertraue mich Ihnen an. Was wollen Sie von mir?«

Das fromme Vertrauen des Priesters, die Vornehmheit, die in all seinen Zügen lag, hätten selbst Mörder entwaffnet. Der geheimnisvolle Fremde, der diese Szene des Elends und der Entsagung belebte, betrachtete einen Augenblick die Gruppe, die diese drei Personen bildeten. Dann schlug er einen vertraulichen Ton an und sprach folgendermaßen zu dem Priester:

»Ehrwürdiger Vater, ich komme, um Sie zu bitten, eine Totenmesse für die Ruhe einer Seele zu lesen . . . für eine . . . für eine geheiligte Persönlichkeit, deren Leib nie in geweihter Erde ruhen wird . . .«

Der Priester erbebte unwillkürlich. Die beiden Nonnen, die noch nicht verstanden, von wem der Unbekannte sprechen wollte, blieben mit aufgerecktem Hals, das Gesicht den beiden Sprechenden zugewandt, in neugieriger Haltung sitzen. Der Geistliche sah den Fremden forschend an. Auf seinem Gesicht malte sich unzweideutige Angst, und aus seinen Blicken sprach glühendes Flehen.

»Wohlan,« erwiderte der Priester, »heute abend um Mitternacht kommen Sie wieder. Ich werde dann bereit sein, das einzige Totenamt zu feiern, das wir als Sühne des Verbrechens darbieten können, von dem Sie sprechen.«

Der Unbekannte fuhr zusammen, doch in seinen geheimen Schmerz schien sich sieghaft eine sanfte und zugleich feierliche Genugtuung zu mischen. Er verneigte sich ehrfurchtsvoll vor dem Priester und den beiden frommen Jungfrauen und verschwand in einer Art von stummer Dankbarkeit, welche die drei hochherzigen Seelen verstanden. Etwa zwei Stunden nach diesem Vorgang kam der Unbekannte wieder und klopfte bescheiden an die Tür der Bodenkammer. Fräulein von Beauséant ließ ihn ein und führte ihn in das zweite Zimmer der ärmlichen Behausung, wo alles für die Feier vorbereitet war. Zwischen zwei Schornsteinrohre hatten die beiden Nonnen die alte Kommode gestellt, deren altmodische Form unter einer herrlichen Altarverkleidung aus grünem Moiré verschwand. Ein großes Kruzifix aus Ebenholz und Elfenbein, das an der gelben Wand hing, hob deren Nacktheit noch mehr hervor und zog unwillkürlich die Blicke auf sich. Die Schwestern hatten auf diesem improvisierten Altar vier kleine schmächtige Kerzen mit Siegellack befestigt. Ihr bleicher Schein, der von der Wand kaum zurückstrahlte, erhellte den übrigen Raum nur spärlich. Da er aber seinen Glanz nur den heiligen Dingen gab, erschien er wie ein Strahl des Himmels, der auf diesen schmucklosen Altar herabfiel. Die Steinfliesen waren feucht; das Dach, wie bei Bodenräumen stark geneigt, hatte Risse, durch die ein eisiger Wind strich. Nichts war weniger prächtig, und doch konnte wohl nichts feierlicher sein als diese Trauerfeier. Die tiefe Stille, in der man den leisesten Ruf gehört hätte, der über die Landstraße nach Deutschland klang, breitete eine Art düsterer Erhabenheit über diese nächtliche Szene. Kurz, die Feierlichkeit der Handlung stand in so starkem Gegensatz zu der Ärmlichkeit der Dinge, daß sie ein Gefühl religiösen Schauers hervorrief. Zu beiden Seiten des Altars knieten die zwei alten Klausnerinnen auf den Ziegelsteinen des Bodens, unbekümmert um ihre todbringende Feuchtigkeit, und beteten gemeinsam mit dem Priester in seinem Ornat, der einen edelsteingeschmückten Kelch aufstellte, ein heiliges Gefäß, das zweifellos aus der Plünderung des Klosters Chelles gerettet war. Neben diesem Ziborium, einem Wahrzeichen königlicher Pracht, standen das Wasser und der Wein, die zu der heiligen Handlung bestimmt waren, in zwei Gläsern, die der letzten Schenke unwürdig gewesen wären. Mangels eines Meßbuches hatte der Priester sein Brevier auf eine Ecke des Altars gelegt. Ein gewöhnlicher Teller war zum Waschen der unschuldigen, nie vom Blut befleckten Hände bestimmt. Alles war gewaltig und doch klein, arm aber edel, weltlich und heilig zugleich. Der Unbekannte kniete fromm zwischen den beiden Nonnen nieder. Doch plötzlich, als er einen Trauerflor an Kelch und Kruzifix bemerkte – denn der Priester hatte Gott selbst in Trauer gehüllt, da er nichts hatte, um die Bedeutung dieser Totenmesse hervorzuheben – ergriff ihn eine so übermächtige Erinnerung, daß Schweißtropfen auf seiner breiten Stirn perlten. Die vier stummen Darsteller dieser Szene blickten sich nun geheimnisvoll an, und ihre Seelen, die um die Wette aufeinander einwirkten, teilten sich so ihre Gefühle mit und schmolzen in religiösem Mitgefühl zusammen. Es war, als riefen ihre Gedanken den Märtyrer herbei, dessen sterbliche Überreste von ungelöschtem Kalk verzehrt waren, und sein Schatten stand vor ihnen in all seiner königlichen Majestät. Sie feierten eine Totenmesse ohne den Leib des Verstorbenen. Unter diesen Dachziegeln und geborstenen Latten legten vier Christen Fürsprache bei Gott für einen König von Frankreich ein und hielten sein Leichenbegängnis ohne Sarg. Das war die vollkommenste Hingebung, ein erstaunlicher Akt der Treue ohne jeden Hintergedanken. Zweifellos war es in Gottes Augen der Wassertropfen, der die größten Tugenden aufwiegt. In diesen Gebeten eines Priesters und zweier armer Mädchen lag die ganze Monarchie; aber vielleicht war auch die Revolution vertreten durch diesen Mann, dessen Gesicht solche Gewissensbisse verriet, daß man glauben mußte, er erfüllte ein Gelübde tiefster Reue.

Statt die lateinischen Worte: Introibo ad altare Dei zu sprechen, blickte der Priester in göttlicher Eingebung die drei Teilnehmer an, die das christliche Frankreich vertraten, und sagte zu ihnen, um das Elend dieser Baracke auszulöschen:

»Wir treten in das Heiligtum Gottes ein!«

Diese Worte, die er mit salbungsvoller Eindringlichkeit sprach, ergriffen den Mann und die beiden Nonnen. Unter den Wölbungen der Peterskirche in Rom konnte Gott sich nicht erhabener zeigen als in diesem Schlupfwinkel der Armut vor den Augen dieser drei Christen. So sehr trifft es zu, daß zwischen ihm und den Menschen jeder Vermittler überflüssig ist und daß seine Größe nur aus ihm selbst fließt. Die Andacht des Unbekannten war echt. Und so war es eine einmütige Empfindung, die die Gebete dieser vier Diener Gottes und des Königs vereinte. Die heiligen Worte klangen in der Stille wie himmlische Musik. In dem Augenblick, als er das Vaterunser sprach, ward der Unbekannte von Tränen überwältigt. Der Priester schloß mit einem lateinischen Gebet, das der Fremde zweifellos verstand:

Et remitte scelus regicidis sicut Ludovicus eis remisit semet ipse! (Und verzeih den Königsmördern ihre Missetat, wie Ludwig XVI. selbst ihnen verziehen hat!)

Die beiden Nonnen sahen, wie zwei große Tränen über die männlichen Wangen rollten und zu Boden fielen. Das Totenamt ward gelesen. Das »Domine salvum fac regem«, mit leiser Stimme gesungen, rührte diese Königstreuen, die in diesem Augenblick an den Königssohn dachten, den sie in den Händen seiner Feinde glaubten und für den sie zum Höchsten beteten. Der Unbekannte bebte bei dem Gedanken, es könne noch ein neues Verbrechen begangen werden, und er könne gezwungen werden, daran teilzuhaben. Als die Totenmesse beendet war, winkte der Priester den beiden Nonnen, und sie zogen sich zurück. Sobald er mit dem Unbekannten allein war, trat er mit sanfter, trauriger Miene auf ihn zu und sagte in väterlichem Tone:

»Mein Sohn, wenn Sie Ihre Hände in das Blut des königlichen Märtyrers getaucht haben, so gestehen Sie es nur. Es gibt keine Sünde, die in Gottes Augen nicht ausgelöscht würde durch eine Reue, so ergreifend und aufrichtig, wie die Ihre zu sein scheint.«

Bei den ersten Worten des Geistlichen machte der Fremde unwillkürlich eine Bewegung des Schreckens. Doch er faßte sich wieder und blickte den erstaunten Priester mit fester Miene an.

»Mein Vater,« erwiderte er mit sichtlich veränderter Stimme, »niemand ist unschuldiger als ich an dem vergossenen Blut« . . .

»Ich muß es Ihnen glauben«, sagte der Priester und machte eine Pause, in der er sein Beichtkind von neuem musterte. Dann, als sich bei ihm die Überzeugung bestärkte, eines jener ängstlichen Konventsmitglieder vor sich zu sehen, die ein geheiligtes, unverletzliches Haupt geopfert hatten, um den eignen Kopf zu retten, fuhr er mit ernster Stimme fort:

»Bedenken Sie, mein Sohn, daß es zur Absolution von diesem großen Verbrechen noch nicht genügt, nicht daran teilgenommen zu haben. Die, welche den König verteidigen konnten und ihren Degen in der Scheide ließen, haben eine schwere Verantwortung vor dem König des Himmels auf sich geladen. O ja,« fügte der alte Priester hinzu und nickte mit ausdrucksvoller Gebärde, »ja, eine recht schwere! . . . Denn indem sie untätig blieben, sind sie ungewollt zu Mitschuldigen dieses entsetzlichen Frevels geworden« . . .

»So glauben Sie,« fragte der Unbekannte bestürzt, »daß eine mittelbare Teilnahme bestraft wird? . . . Ist der Soldat, der den Befehl erhält, in Reih und Glied zu stehen, denn schuldig?«

Der Priester zögerte. Erfreut über diese Verlegenheit, in die er diesen Puritaner des Königstums brachte, indem er ihn zwischen zwei Dogmen stellte – das Dogma des passiven Gehorsams, das nach Ansicht der Anhänger der Monarchie die militärischen Gesetze beherrschen soll, und das ebenso wichtige Dogma, das die Ehrfurcht vor der Person des Königs gebietet –, nahm der Fremde das Zögern des Geistlichen rasch für eine günstige Lösung der ihn quälenden Zweifel. Dann, um den ehrwürdigen Jansenisten nicht länger zum Nachdenken zu veranlassen, versetzte er:

»Ich müßte schamrot werden, wollte ich Ihnen irgendeine Entlohnung für das Totenamt anbieten, das Sie soeben für die Seelenruhe des Königs und für die Beruhigung meines Gewissens lasen. Man kann etwas Unschätzbares nur mit einer Gabe bezahlen, die gleichfalls unbezahlbar ist. Nehmen Sie deshalb, Monsieur, gütigst das Geschenk an, das ich Ihnen mit dieser heiligen Reliquie mache. Es wird vielleicht ein Tag kommen, da Sie ihren Wert begreifen.«

Als der Fremde diese Worte beendete, überreichte er dem Geistlichen eine kleine, sehr leichte Schachtel. Unwillkürlich griff der Priester danach, denn die feierlichen Worte des Mannes, der Ausdruck, den er in sie legte, die Ehrfurcht, mit der er die Schachtel hielt, hatten ihn in tiefes Staunen versetzt. Dann kehrten sie in das Zimmer zurück, wo die beiden Nonnen sie erwarteten.

»Sie sind«, sagte der Unbekannte zu ihnen, »in einem Hause, dessen Besitzer, Mucius Scaevola, ein Gipshändler, der im ersten Stock wohnt, im Stadtbezirk für seinen Patriotismus berühmt ist. Doch im geheimen ist er den Bourbonen ergeben. Früher war er Vorreiter Seiner Gnaden, des Prinzen von Conti, dem er sein Vermögen verdankt. Wenn Sie sein Haus nicht verlassen, sind Sie hier sicherer als irgendwo in Frankreich. Bleiben Sie hier. Fromme Seelen werden für Ihre Bedürfnisse sorgen, und Sie können ungefährdet bessere Zeiten erwarten. In Jahresfrist, am 21. Januar (bei diesen letzten Worten konnte er eine unwillkürliche Bewegung nicht verbergen), wenn Sie dies Loch als Zufluchtsort beibehalten, werde ich wiederkommen, um mit Ihnen die Sühnemesse zu feiern . . .« Er vollendete seine Worte nicht, grüßte die stummen Bewohner der Dachstube, warf einen letzten Blick auf die Zeichen ihrer Armut und verschwand.

Für die beiden harmlosen Nonnen war ein derartiges Abenteuer spannend wie ein Roman. Und so stellten sie, als der ehrwürdige Abbé ihnen von dem geheimnisvollen Geschenk erzählte, das der Mann ihm gemacht hatte, die Schachtel auf den Tisch, und im schwachen Schein der Kerze verrieten die drei unruhvollen Gesichter eine unbeschreibliche Neugier. Fräulein de Langeais öffnete die Schachtel und fand darin ein Taschentuch aus sehr feinem Batist, das von Schweiß besudelt war; und als sie es auseinanderfalteten, erkannten sie Flecken darin.

»Es ist Blut«, sagte der Priester.

»Es ist mit der königlichen Krone gezeichnet!« stieß die andere Schwester hervor.

Die beiden Nonnen ließen die kostbare Reliquie entsetzt fallen. Für diese harmlosen Seelen wurde das Geheimnis, das den Fremden umgab, unerklärlich. Und seit diesem Tage wagte auch der Priester es sich nicht zu deuten.

Die drei Gefangenen merkten alsbald, daß trotz der Schreckensherrschaft eine mächtige Hand über ihnen waltete. Zunächst erhielten sie Holz und Lebensmittel. Dann errieten die beiden Nonnen, daß eine Frau mit ihrem Beschützer in Verbindung stand, als man ihnen Wäsche und Kleidungsstücke schickte, die ihnen das Ausgehen ermöglichten, ohne durch den aristokratischen Schnitt der Kleider aufzufallen, in die sie sich bisher notgedrungen gekleidet hatten. Schließlich gab Mucius Scaevola ihnen zwei Bürgerscheine. Oft erhielten sie auf Umwegen Mitteilungen, die für die Sicherheit des Priesters notwendig waren. Es lag eine solche Zweckmäßigkeit in diesen Ratschlägen, daß sie nur von einer Persönlichkeit kommen konnten, die in die Staatsgeheimnisse eingeweiht war. Trotzdem die Hungersnot auf Paris lastete, fanden die Proskribierten an der Tür ihrer Baracke Rationen von Weißbrot, die unsichtbare Hände regelmäßig brachten. Trotzdem glaubten sie in Mucius Scaevola den geheimen Vermittler dieser ebenso klugen wie nützlichen Wohltaten zu erkennen. Die adligen Bewohner der Dachstube konnten nicht zweifeln, daß ihr Beschützer der Mann sei, der in der Nacht zum 22. Januar 1793 gekommen war, um die Sühnemesse zu feiern. Und so ward er denn zum Gegenstand besonderer Verehrung für diese drei Menschen, die nur auf ihn hofften und nur durch ihn lebten. Sie fügten ihren Gebeten besondere Fürbitten für ihn hinzu. Morgens und abends beteten diese frommen Seelen für sein Glück, sein Wohlergehen, sein Seelenheil und flehten zu Gott, ihn vor allen Fallstricken zu behüten, ihn von seinen Feinden zu befreien und ihm ein langes, friedliches Leben zu schenken. Ihre Dankbarkeit, die sich gleichsam an jedem Tage erneute, verband sich notwendig mit einem Gefühl der Neugier, das täglich lebendiger wurde. Die Umstände, die das Erscheinen des Fremden begleitet hatten, bildeten den Gegenstand ihrer Gespräche. Sie stellten tausend Vermutungen über ihn auf, und diese Zerstreuung, die er ihnen bereitete, ward für sie zu einer neuen Wohltat eigener Art. Sie gelobten einander, wenn der Fremde nach seinem Versprechen zu ihnen zurückkehrte, um den traurigen Gedächtnistag des Todes Ludwigs XVI. zu feiern, ihm ihre Freundschaftsbeweise nicht vorzuenthalten. Endlich kam diese so ungeduldig erwartete Nacht. Um Mitternacht dröhnten die schweren Schritte des Unbekannten auf der alten Holztreppe. Das Zimmer war geschmückt, um ihn zu empfangen, der Altar aufgerichtet. Diesmal öffneten die Schwestern die Tür im voraus und beeilten sich beide, die Treppe zu erleuchten. Fräulein de Langeais stieg sogar ein paar Stufen hinab, um ihren Wohltäter eher zu sehen.

»Kommen Sie,« sagte sie mit bewegter, liebevoller Stimme, »kommen Sie, man erwartet Sie.«

Der Mann blickte empor, warf einen finsteren Blick auf die Nonne und antwortete nicht. Ihr war, als fiele ein eiskaltes Tuch über sie, und sie schwieg. Bei seinem Anblick erstarben Dankbarkeit und Neugier in aller Herzen. Vielleicht war er weniger kalt, schweigsam und schrecklich, als er diesen Seelen erschien, die in ihrem Gefühlsüberschwang zu freundschaftlichen Herzensergüssen bereit waren. Die drei armen Gefangenen verstanden, daß dieser Mann ein Fremder für sie bleiben wollte, und verzichteten. Der Priester glaubte auf den Lippen des Unbekannten ein schnell unterdrücktes Lächeln zu bemerken, als dieser die Vorbereitungen sah, die zu seinem Empfang getroffen waren. Er hörte die Messe und betete. Dann aber verschwand er mit ein paar ablehnenden höflichen Worten auf Fräulein de Langeais' Einladung, an der bereitgehaltenen kleinen Mahlzeit teilzunehmen.

Nach dem 9. Thermidor konnten die Nonnen und der Abbé de Marolles durch Paris gehen, ohne sich der geringsten Gefahr auszusetzen. Der erste Ausgang des alten Priesters war nach einem Parfümeriegeschäft, mit dem Schild: »Zur Blumenkönigin«. Die Besitzer waren der Bürger und die Bürgerin Ragon, frühere Hof-Parfümeure, die der königlichen Familie treu geblieben waren, und die von den Vendéern benutzt wurden, um mit den Prinzen und dem royalistischen Ausschuß in Paris in Verbindung zu bleiben. Nach den Erfordernissen der Zeit gekleidet, stand der Abbé gerade auf der Türschwelle des Ladens, der zwischen Saint-Roch und der Rue des Frondeurs lag, als eine Menschenmenge, die die Rue Saint-Honoré erfüllte, ihn am Heraustreten hinderte. »Was gibt es?« fragte er Frau Ragon.

»Nichts,« erwiderte sie, »nur der Karren und der Henker, die zur Place Louis XV. fahren. Na, wir haben sie im letzten Jahr oft genug gesehen. Doch heute, vier Tage nach dem Jahrestag des 21. Januar, kann man diesen gräßlichen Zug ohne Kummer betrachten.«

»Weshalb?« fragte der Priester. »Was Sie da sagen, ist nicht christlich.«

»Nun, es ist die Hinrichtung von Robespierres Helfershelfern. Sie haben sich gewehrt, so gut sie konnten, aber nun ist die Reihe an ihnen, dahin zu gehen, wo sie soviel Unschuldige hinschickten.«

Die Menge strömte vorüber. Über den Köpfen des Volkes stehend, gab der Abbé de Marolles einer Regung der Neugier nach und erblickte, auf dem Wagen stehend, den Mann, der drei Tage zuvor die Messe bei ihm gehört hatte.

»Wer ist das?« fragte er, »der da . . .«

»Das ist der Henker«, erwiderte Herr Ragon. Er gab dem Scharfrichter seinen monarchischen Titel.

»Mein Lieber, mein Lieber!« schrie Madame Ragon, »der Herr Abbé stirbt!«

Und die alte Dame ergriff ein Riechfläschchen, um den ohnmächtigen alten Priester wieder zu sich zu bringen.

»Ich kann nicht daran zweifeln,« sprach er zu sich selbst; »er hat mir das Taschentuch gegeben, mit dem der König sich die Stirn getrocknet hat, als er zu seinem Martyrium ging . . . Armer Mann! Als ganz Frankreich herzlos war, hat das Fallbeil Herz gehabt.«

Die Besitzer der Parfümerie glaubten, der unglückliche Priester rede irre.