Deutsch von Alexander Eliasberg
Es durfte unmöglich so weitergehen. Alles andere, alles, nur nicht das. So tief gesunken war ich und so schwach. Der Tod wäre besser. Ich sehnte mich nach ihm. Von jedem Tag und von jeder Stunde erwartete ich Erlösung, doch sie kam nicht. Ich erwartete irgendeine Nachricht, irgendeinen Besuch. Ich dachte, gleich geht die Tür auf und meine Qual hat eine Ende. Nichts, niemand, nichts.
Woher sollte auch die Erlösung kommen, da doch der ganze Schmerz und der ganze Schrecken aus meinem Innersten kamen?
Melitta sagte:
»Hast du wieder Kopfweh?«
»Ja, wieder.«
»Was sollen wir denn machen? Es nimmt ja kein Ende.«
Sie sprach dies mit Schmerz, denn ich tat ihr leid. Ich übersetzte aber die Worte vor mich hin: wenn es keine Ende nimmt, so muß man eben ein Ende machen.
Gewiß. Das Leben drängte mich zur Entscheidung. Jeder Mensch, der über den Korridor unseres Hotels ging, jeder Mensch auf der Straße wußte doch, wohin und wozu er geht. Jeder tat seine Arbeit, ich konnte aber nichts tun. Seit vielen Monaten konnte ich nicht mehr arbeiten. Was sollte ich denn auch arbeiten? Ist das Bücherlesen eine Arbeit? Und wenn ich lesen könnte! Nach zwei Seiten, oft nach wenigen Zeilen bekam ich Kopfweh, ein Spinngewebe legte sich um mein Gehirn, ich las zum fünftenmal den gleichen langen Satz, erschrak in seiner Mitte, klammerte mich krampfhaft an irgendein Wort, las den Satz wieder von neuem und konnte ihn nie zu Ende lesen. Der Schmerz in der linken Schläfe wurde immer unerträglicher, und alle Gegenstände, die auf meinem Tisch waren, führten einen geheimen Krieg gegen mich. Ich konnte unmöglich das Tintenfaß ansehen, ohne dabei zu denken, daß es nachgefüllt werden müsse und ganz verstaubt sei. Es war mir aber unmöglich, die wenigen Schritte zu machen, um vom Fensterbrett das Fläschchen mit frischer Tinte zu holen. Der Bleistift war an einem Ende stumpf, am anderen – abgenagt. Warum ist er abgenagt? Und wer hat wieder alle Bücher verkehrt hingelegt? Ich kann weder lesen noch schreiben, wenn die Bücher so unordentlich herumliegen. Und dann sind wir auch so spät aufgestanden. In eineinhalb Stunden sollen wir zu Mittag essen. Was soll ich nun in diesen eineinhalb Stunden anfangen, wenn es mir so qualvoll ist, auch nur eine Seite zu lesen? Diese ewigen Tonleitern nebenan, und auch der Geiger will gar nicht aufhören! Der Arzt sagte mir: »Neurasthenie, mein Bester, nichts als Neurasthenie«, und darum sollte ich täglich in seine Wasserheilanstalt kommen. Ich ging auch zwei Monate lang täglich hin; doch es half mir nicht. Im Gegenteil: ich fühlte mich noch elender. Ich gab darum die Kur auf. Auch hatte ich kein Geld. Und ich war bereits davon überzeugt, daß mir nichts mehr helfen könne. Ich hatte das dunkle und doch eindringliche Gefühl eines von Jägern umzingelten Wildes. Die Jäger sind zwar noch weit, das Tier weiß aber, daß der Ring immer enger wird. Ich hatte bereits aufgehört, nach Ausdrücken für meine Empfindungen zu suchen. Jedes Ding sprach zu mir ohne Worte, und auch ich sprach so zu jedem Ding. Meine Seele unterhielt sich mit allen Dingen durch geheime Zeichen, doch alle Zeichen bedeuteten den Tod.
»Gehen wir also essen«, sagte Melitta.
Wir waren auf der Straße. – In jenem Jahr kam der Frühling zeitiger als sonst. Die Winterstürme hatten noch im Februar ihre Tränen restlos ausgeweint, und jetzt – es war Anfang März – war aller Schnee fort. Ein sonniger Tag.
Wir gingen Seite an Seite, und jeder gußeiserne Pfosten am Rande des Trottoirs zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich dachte: wenn ich Anlauf nehme und ihn anrenne, so zertrümmere ich mir den Brustkasten, und der Tod tritt augenblicklich ein. Der Verstand sträubte sich gegen solche Gedanken, da kam aber schon der nächste Pfosten, und mit ihm spürte ich wieder das unaufhaltsame Verlangen, ihn anzurennen und mir den Brustkasten zu zerschellen.
Melitta ging in einen Laden, um etwas zu kaufen. Ich blieb draußen. Und während ich wartete, kam mir der überzeugende Gedanke: kommt sie nicht wieder, so kann ich noch leben und warten, die Zeit wird mir die frühere Gedankenklarheit wiedergeben; ich werde wieder meine Lieblingsbücher lesen können und mich auf die Zukunft vorbereiten; denn ich fühlte: eine ganze Welt von Bildern wohnt in mir. Ich fühlte: entweder ich oder sie. Warum? Ich konnte es mir nicht erklären. Sie liebte mich, und ich liebte sie. Seitdem ich sie aber geheiratet hatte, lastete auf mir ein Fluch, alles Klare wurde verworren, alles Mögliche – unmöglich. Und diese Unfähigkeit zu arbeiten, die ich allein vielleicht noch hätte ertragen können, war mir jetzt, da ich mit ihr lebte, unerträglich.
Es vergingen einige Minuten. Wenige, doch unendlich lange, gespannte und gestreckte Minuten. Ich starrte mit dunklen Gefühlen auf die Tür des Ladens. Mein Schicksal sollte da entschieden werden. Ich mußte irgend etwas unternehmen. Sie oder ich. Die Tür ging auf, und Melitta kam heraus. Sie schwieg, ihre Augen waren gesenkt, ihr schönes Gesicht war blaß. Irgend etwas Trauriges und Trotziges machte ihren Gesichtsausdruck unbeweglich.
Wie liebte ich dieses Gesicht! Es war wie von Botticelli gemalt; sie kleidete sich auch immer wie eine Gestalt von Botticelli. Es war aber vor vielen Jahren, zu einer Zeit, als Botticelli in Rußland noch unbekannt war und als noch niemand von ihm sprach. Auch ich kannte ihn damals noch nicht: ich war Student und erst seit kurzem aus der Provinz gekommen. Sie hatte große, graue Augen, eine weiße, stark gewölbte Stirne und rote Lippen von herrlichem Schnitt. Wie sie küssen konnten, und wie gierig sie meine Küsse tranken, diese herrlich geformten roten Lippen! Und nach diesen Küssen blieb stets etwas wie Trauer in der Seele zurück. Ich heiratete sie gegen den Willen meiner Eltern, was einen vollständigen Bruch mit der Familie herbeiführte. Auch mit den meisten meiner früheren Freunde verkehrte ich seit unserer Heirat nicht mehr. Sie spottete geistreich und treffend über unsere revolutionären Schwärmereien, und so entfremdete ich mich dem Kreise, dem ich früher angehört hatte. Meine Kollegen hielten mich beinahe für einen Verräter. Ich begann auch noch Verse zu machen und gab sogar einen Gedichtband heraus, der nichts, gar nichts mit Politik zu tun hatte. Meine Freunde freuten sich, als dies Buch keinen Erfolg hatte; sie sahen darin die Strafe für meine Abtrünnigkeit.
Nur zwei blieben mir treu: mein Landsmann Pjotr, der Medizin studierte und Sohn eines Schmieds war, und der Jurist Foma; dieser stammte aus Sibirien und hatte in seinem Leben viel gerissene Menschen gesehen; meine Unerfahrenheit und mein Leichtsinn rührten ihn daher doppelt. Ich war auch wirklich sehr scheu und schwärmerisch, und vieles schien mir damals unmöglich, was mir heute möglich ist. In jenen zwei Tagen, am zwölften und am dreizehnten März, sah ich sie beide, und beide spielten so seltsam in meine Lebensgeschichte hinein.
Als ich mit Melitta nach dem Essen heimkehrte, begannen wir beide im langen Korridor auf- und abzugehen. Das während des Winters verkittet gewesene Fenster stand nun weit offen, und sie freute sich darüber wie ein Kind. Das große Fenster am Ende unseres langen Korridors im dritten Stock ging auf den Hof hinaus, und gegenüber war ein Seitenbau des gleichen Hotels. Wir traten ans Fenster und schauten lange hinaus. Und da drang in mein Gehirn ein formloser Gedanke; viele Schichten eines grauen Nebels legten sich um mein Gehirn, und alles – ich und das Fenster und der Hof da unten und der Bau gegenüber –, alles verschmolz zu einem unbestimmten Ganzen. Solange wir am Fenster standen, sprach ich kein Wort und machte keine Bewegung. Die Seelen verstanden aber einander – oder war es nur Zufall? Melitta sagte: »So hoch ist es, wenn man aber herunterspringt, so schlägt man sich nicht tot, bricht sich nur Arme und Beine.« Ich antwortete nicht. Ich wunderte mich nur, und irgend etwas sprach in mir ganz automatisch: »Was geht mich das Fenster an?«
Wir gingen auf unser Zimmer. Später kam für einige Augenblicke Foma, um uns die soeben erschienene »Kreuzer-Sonate« zu bringen. Das Buch war damals nur in hektographierten Exemplaren verbreitet. »Ich geb's euch für einen Tag«, sagte er. »Morgen früh hole ich es wieder ab. Lest es. Aber zankt euch nur nicht.« Er lächelte uns etwas spöttisch zu, seine lange Gestalt beugte sich vor, und er ging.
Wir zankten uns. Nicht zum erstenmal. Denn Melitta war eifersüchtig, obwohl ich ihr keinen Anlaß dazu gab; sie war auf meine Vergangenheit eifersüchtig, und so kam es zwischen uns oft zu qualvollen Auseinandersetzungen. Naiv, wie ich war, hatte ich ihr vor einem Jahre in unserer ersten Nacht erzählt, daß ich einst ein junges polnisches Dienstmädchen geliebt hatte, das auch mich liebte, und daß dies meine erste Liebe war. Während ich dies erzählte, sprach sie kein Wort; ich war aber ganz von der Erinnerung hingerissen und erzählte immer weiter, denn ich glaubte, sie höre mir mit der gleichen Freude zu, mit der ich es erzählte, und sie erlebe mein fernes Jugendglück mit. Als ich fertig war, überschüttete sie mich aber mit solchen Worten, mit solchen verletzenden Worten, wie ich sie damals noch gar nicht kannte. Das war unser erster Streit, und da begriff ich schon, daß mein Schritt nie wieder gutgemacht werden könne, daß ich mein Leben mit einem Menschen verbunden habe, den ich nicht kannte, daß ich in eine Wirrnis, auf den Weg der Sklaverei geraten sei, auf einen Weg, der unbedingt in die Finsternis führt. Ein einziger Satz aus der »Kreuzer-Sonate«, ein roher Satz, so roh und gemein wie das ganze Buch, hatte in Melitta all das Dunkle geweckt, das in ihr schlummerte. Und sie, sonst so zart und rein, besudelte nun wieder meine Seele und auch die ihrige mit jenem unnützen, gräßlichen Schmutz, den man Eifersucht nennt.
In den letzten Wochen war um mich stets ein Hauch des Todes. Nachts, wenn wir so nahe beieinander waren, kamen ihr wohl oft gehässige Gedanken, denn sie konnte ja nicht sehen, was in mir ununterbrochen bebte; sie sah nur, daß ich kalt und leblos war und daß ich ihre Liebkosungen unerwidert ließ. Sie verstand nichts und brach oft in Tränen aus; zuweilen sagte sie mir mit entstelltem Gesicht viele schreckliche, unvergeßliche, ungerechte Worte. Und wenn ihre Erregung in einem solchen Auftritt verpufft war, wurde sie wieder zärtlich und bat mich kindlich um Verzeihung. Ich küßte sie und sprach liebevoll zu ihr. Und dann schlief sie ein. Ich schlief aber nicht. Ich fühlte durch die Stille der Nacht, daß ich morgen zu der gleichen Stunde noch kälter und trauriger sein würde, und eine dunkle Angst überfiel mich. Und unser kleines Zimmer, in dem eben erst wahnsinnige Vorwürfe und liebeswarme Worte gefallen waren, erschien mir als ein erdrückendes Grabgewölbe, in dessen Enge meine grenzenlosen Qualen zusammengedrängt waren.
Als wir nach der Lektüre des grausamen Buches und nach dem darauffolgenden Streit beide bedrückt und erniedrigt am Teetisch saßen, kam der freudestrahlende Pjotr, und sein Besuch wirkte auf uns heilsam; wir zogen gleichsam unsere Stacheln ein. Ich war aber noch immer so bedrückt, daß er es merkte und mir halb im Scherz sagte: »Hör mal, du bist ja ganz unmöglich. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als daß du dich auf einen Operationstisch legst: entweder schlachtet man dich ab, oder du wirst als neuer Mensch aufstehen.«
Dies wurde um die elfte Stunde des Abends gesagt; nach zwölf Stunden aber, so gegen Mittag, sah ich ganz nahe vor mir das blasse Gesicht Pjotrs und noch viele andere blasse Gesichter, und jemand lag in seinem Blute, und der Tod und das Leben rangen um ihn.
Pjotr verließ das Zimmer ebenso plötzlich wie morgens Foma. Als er fort war, krampfte mein Herz sich zusammen, als ob ich mein Todesurteil hörte, und es fiel mir auf, daß auch er beim Weggehen so sonderbar seinen Oberkörper vorbeugte.
An diesem Abend gingen wir schweigend zu Bett. Worüber konnten wir auch sprechen? Wir waren beide zu sehr abgespannt. Ein jeder von uns lag wie auf der Lauer vor einem Feinde und stellte sich schlafend. Wir schliefen aber beide nicht, und Melitta hielt es schließlich nicht aus und fragte: »Schläfst du?« Ich antwortete aber nicht, denn ich befürchtete einen neuen Streit. Und ich hörte im Finstern, daß sie bitter auflachte; sie sprach aber kein Wort. Einige Minuten später hörte ich sie gleichmäßig atmen. Sie schlief.
Ich richtete mich in meinem Bette auf und starrte lange in die Finsternis. Die Nacht schien mir grenzenlos und wie das Meer in der Flut anzuschwellen. Schwarze Schatten – es waren keine Schatten, sondern unendliche Reihen nebeliger Gebilde – zitterten in der Finsternis, sie umklammerten meinen Kopf, drangen durch ihn hindurch, als ob er ihnen kein Hindernis böte, kehrten wieder um und stiegen lautlos höher und höher. Es gab keine Rettung mehr. Ich ertrank.
Niemand und nichts tat mir leid. Ich war unendlich ferne von jedem Mitleid. In dieser kalten Verzweiflung war aber eine allumfassende Kraft. Sie bemächtigte sich meiner mehr und mehr und riß mich fort ins Ungewisse, wie der Strom ein Boot ohne Insassen fortreißt. In der Wand schlug ein unsichtbares Insekt den Takt eines Trauermarsches. Eine Finsternis ohne Grenzen und ohne Hoffnung trat an mich von allen Seiten heran. Und ich sah kein Licht. Ich ertrank.
Wir erwachten am nächsten Tag früher als gewöhnlich. Um elf Uhr war Melitta noch immer am Teetisch, ich saß an einem anderen Tisch und versuchte das Buch Johannes Scherrs vom jungen Goethe zu lesen; es ging aber nicht. Ich sehe noch so deutlich jenen dreizehnten März vor mir, und keine Macht der Welt könnte in mir diese Erinnerung austilgen. Ich hatte einen Entschluß gefaßt, der mir selbst noch unbekannt war. Ich befand mich in einer sonderbar feierlichen Stimmung.
Als ich erwachte, richtete ich meinen Blick auf einen Punkt, ich betrachtete ihn lange und aufmerksam und so liebevoll, wie man ein lebendes und geliebtes Wesen betrachtet; es war wohl schon der dreizehnte Tag, daß ich beim Aufwachen auf diesen Punkt starrte. Von dem Deckel der Luftheizung hing eine feste dicke Schnur herunter, und sie war es, was meine Blicke so anzog. Es schien mir so einfach: ich will Melitta bitten, daß sie Teegebäck holt, und sobald sie fort ist, mache ich die Schlinge und lege sie mir um den Hals. Für einen Augenblick ergriff mich ein warmes Wohlgefühl, dann hörte ich aber irgendein Geräusch im Korridor, mein Herz stand still, alles in mir war wieder bleiern und kalt, und ich begriff, daß nichts daraus würde.
Jetzt aber, um elf Uhr, saß ich ruhig da mit dem Buch, in dem ich nicht las, den Rücken zur Tür gekehrt, die oben ein rechteckiges Glas hatte, worauf die Zimmernummer gemalt war. Ich horchte und schaute gleichsam mit dem Rücken und erwartete etwas, was aus jener Richtung kommen sollte. Ich schrak zusammen und wurde gleich darauf ganz ruhig, als ich das bekannte Klopfen hörte und auf der rechteckigen Glasscheibe einen langen Schatten sah. »Also das ist es«, sagte ich zu mir, als ich die Tür öffnete und Foma einließ.
Mein Entschluß war plötzlich und augenblicklich gereift.
»Wollen Sie Tee?« fragte Melitta.
»Nein, danke«, sagte Foma. »Ich habe soeben meinen Handschuh zerrissen. Wollen Sie ihn mir nicht stopfen?«
Und er beugte sich über sie.
Melitta nahm den Handschuh in Arbeit. Er setzte sich an ihre Seite und begann sie halb scherzend, doch freundlich nach dem gestrigen Tag auszufragen; ich ließ die beiden allein, ging durch den Korridor bis ans Fenster, öffnete es, blickte hinunter, um die Tiefe abzuschätzen, sah dann auf zum Himmel, der mir heute so sonderbar trüb und blaß, doch lebendig vorkam, als ob er etwas Großes und Feindliches verhieße. Dann kehrte ich in das Zimmer zurück, setzte mich auf den früheren Platz, schnitt einen Briefbogen sorgfältig in drei Teile und begann zu schreiben. Auf den einen Zettel schrieb ich: »An die Polizei. An meinem Tod ist niemand schuld. Bitte mich hier in Moskau zu beerdigen.« Auf den zweiten: »Foma, bringe bitte Melitta in ihre Heimat zu ihren Eltern.« Auf den dritten: »Melitta, vergib mir den Schmerz, den ich Dir zufüge. Ich kann nicht anders. Lebe wohl!«
So einfach. So gewöhnlich. Jetzt gibt es kein Zurück.
»Sie sehen, mein Lieber, so ungewöhnlich feierlich aus. Sind es nicht Abschiedsbriefe, was Sie da schreiben?« fragte lächelnd Foma.
»Es stimmt, Foma«, sagte ich, seinen Tonfall nachahmend, »natürlich schreibe ich Abschiedsbriefe.«
Als ich fertig war und aufstand, bekam ich Angst, daß jemand die Zettel bemerke und sie lese. Ich bedeckte sie mit einem Buch und ging zum Teetisch. Ich sah wohl sehr sonderbar aus. Melitta und Foma blickten mich fragend an und erwarteten, daß ich etwas sage. Ich fand aber keine Worte. Ich wollte möglichst schnell das Zimmer verlassen, doch fiel es mir unsagbar schwer, wegzugehen. Ich machte einige zwecklose Bewegungen. Auf dem Teetisch stand eine Schachtel Konfekt. Ich steckte mir eines in den Mund. Und sofort bekam ich Angst vor Zahnweh. Ich schenkte mir ein halbes Glas Tee ein und stürzte es herunter. In der rechten Hosentasche hatte ich ein silbernes Portemonnaie, ein Geschenk meiner Mutter. Und ich dachte mir: »Wenn ich auf das rechte Bein falle, wird es sich in das Fleisch einschneiden, und das wird weh tun.« Ich nahm das Portemonnaie heraus und legte es auf den Schreibtisch. »Die Uhr wird zertrümmert werden«, dachte ich wieder, »ich lasse sie lieber hier.« Und da lachte ich in mich herein: »Ich brauche sie ja nicht mehr.« Ich beugte mich über Melitta und küßte sie auf die Stirne. Ich hatte sie vorher nie auf die Stirne geküßt. »Was hast du?« fragte sie. Ich erwiderte nichts und verließ schweigend das Zimmer, aber ich fühlte, daß die Füße mich kaum trugen. »Wo gehst du hin?« fragte Melitta, und in ihrer Stimme klang etwas wie Angst. »Ich komme gleich«, sagte ich, und meine Stimme kam mir wie die Stimme eines Fremden, eines Betrunkenen vor.
Ich schloß hinter mir die Tür, ging zwei Schritte vor und rannte dann den Korridor entlang. Als ich schon am Fenster war, gab es einen kurzen Augenblick, einen kleinen Bruchteil einer Sekunde, der das schwerste von allem war, was ich je im Leben erfahren. Solange ich den Korridor entlanglief, trug mich ein Sturm, eine äußere Gewalt, ich rannte nicht aus eigener Kraft. Aber in jenem kurzen Augenblick, als ich mich noch aufs Fensterbrett schwingen mußte, fühlte ich die grenzenloseste Marter, die schwerste Last des größten Entschlusses, den ein Mensch je fassen kann. Alles war aber wie ein rasender Windstoß, und auch dieser Augenblick verging, verflog. Ich war bereits in der Luft. Und mein letzter Gedanke war der qualvollste: vielleicht töte ich jemand im Fallen, denn ich konnte nicht sehen, was unten vorging. Meine letzte Wahrnehmung war die grellrote Bluse eines Hausknechts, der gegenüber ein Fenster wischte. Dann überschlug ich mich einigemal und verlor das Bewußtsein. Ich spürte nichts von dem schrecklichen Sturz auf das Pflaster. Ich spürte auch keinen Schmerz, denn ich war die ersten Augenblicke bewußtlos. Und als ich unten halb zerschmettert erwachte, hatte ich das Gefühl, daß ich mich in meiner Berechnung geirrt habe, daß ich einem schrecklichen Betrug zum Opfer gefallen sei. Ich war wie berauscht, als ob ich eine Flasche Branntwein getrunken hätte. Eines wunderte mich: ich war gleichsam an die Erde gefesselt. Ich konnte mich nicht rühren, mein linkes Bein kam mir fremd und schwer vor. Ich erfuhr es erst später, daß ich mich sehr schlimm zugerichtet hatte. Mein linkes Bein war in der Hüfte gebrochen, mein rechter Arm im Gelenk, die linke Hand war ganz zerschlagen, die linke Schläfe zerschunden und das untere Lid am linken Auge zerrissen. Ich war über und über mit Blut und Schmutz bedeckt. Ein Freund hatte mir einmal gesagt, man könne sich töten, wenn man die Halsschlagader stark mit der Hand zusammendrücke. Als ich sah, daß ich noch lebe, wollte ich meine rechte Hand an den Hals führen. Der rechte Arm lag aber bleiern da und gehorchte mir nicht. Da hob ich den linken Arm, der entsetzlich schmerzte und ganz blutig war, und drückte ihn mir an den Hals. Inzwischen hatten sich Menschen angesammelt, die mich mit Entsetzen und Neugier betrachteten. »Er will sich ja erwürgen«, sagte jemand. Dann beugte sich jemand zu mir, faßte meine verwundete Hand und riß sie roh vom Halse weg. Der kleine und der Mittelfinger waren zerbrochen. Am kleinen Finger war der Knochen entblößt, und das blutige Fleisch hing in Fetzen herunter.
Oben schrie jemand herzzerreißend und verzweifelt auf. Ein Diener war zu Melitta geeilt und hatte ihr erzählt, daß ich aus dem Fenster gesprungen sei. Eine Minute später rasselte im Hof eine Droschke. Man legte mich quer über den Sitz. Ich wackelte mit dem Kopf wie ein Betrunkener. Rückwärts hielt mich der Hausknecht, auch ein Schutzmann stieg noch in die Droschke. Man brachte mich zur nächsten Polizeistation.
Als man mich aus der Droschke hob, spürte ich unsagbare Schmerzen und stöhnte laut auf. Beim Haustor stand jemand in Zivil: ein Polizeischreiber oder ein Spitzel. »Na, na«, sagte dieser roh, »bist du einmal heruntergesprungen, so mußt du auch was vertragen können.« Ich erstaunte über die Logik dieser Worte und schrie verzweifelt auf: »Ja, ich bin ein Schuft, ein Schuft, ich hätte es nicht tun sollen!« Der Mann in Zivil trat entsetzt und überrascht zurück. Hat ihn der Ton meiner Stimme entsetzt, oder meine verzweifelte Aufrichtigkeit, oder imponierte ich ihm damit, daß ich in meiner Hilflosigkeit noch solche Worte fand? Er sprang zur Seite, als ob ich ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt hätte.
Ich wurde in ein halbfinsteres Zimmer gebracht und auf den Fußboden gelegt. Ein Heilgehilfe schaute mich erst flüchtig an und eilte dann fort, um Verbandmaterial zu holen. Aus dem Nebenzimmer klang die Stimme des Polizeikommissars, der nach den Einzelheiten des Falles fragte. Eine ruhige, liebe und bekannte Stimme, die Stimme Melittas, die aus dem Hotel herbeigeeilt war, antwortete ihm. Als ich so auf dem Boden lag, begriff ich erst, daß ich mich nicht getötet hatte und daß ich als Krüppel weiterleben müsse. Die Zimmerdecke wollte mich erdrücken, ich spürte eine unsagbare Last auf mir und schrie laut auf. Der Schrei, den Melitta vorhin ausgestoßen hatte, als ich noch im Hofe unter dem in unerreichbare Höhe weggerückten Himmel lag, war mir verzweifelt und durchdringend vorgekommen; der Schrei, den ich jetzt ausstieß, war aber so gellend, daß ich selbst erschrak und sofort still wurde. Im Nebenzimmer sprachen wieder zwei Stimmen, eine fremde und fragende der Kommissar – und eine liebe und vertraute – Melitta.
Nach einigen Minuten fuhr eine geschlossene Kutsche vor. Man trug mich wieder hinaus und hob mich in den Wagen.
»Man soll ihn doch zudecken«, sagte jemand aus der Menge. Der blasse Foma trat vor und hüllte mich in seinen Studentenmantel. Der Tag war sonnig, doch kühl; Foma hatte aber die Schwindsucht, und diese schnelle Bewegung, mit der er seinen Mantel auszog und sorgfältig um mich legte, erfüllte mich mit warmer Liebe zu ihm. Melitta, die totenblaß war, nahm neben mir Platz; uns gegenüber setzte sich der Heilgehilfe, und so fuhren wir in das Katharinenspital. Mir fiel ein, daß ich erst zum zweitenmal in meinem Leben in einer geschlossenen Kutsche fahre. Ich kannte nur ländliche Fuhrwerke, Leiterwagen und Droschken. Zum erstenmal hatte ich eine solche Kutsche bei meiner Trauung mit Melitta benützt, und dies war jetzt meine zweite.
Ich war wahnsinnig erregt und sprach ununterbrochen. Ich fragte den Heilgehilfen, ob das Bein amputiert werden müsse. »Ohne Bein«, sagte ich, »will ich nicht leben.« Er sagte: »Wer wird denn gleich ans Amputieren denken? – es wird schon zusammenwachsen. Aber den Finger an der linken Hand werden wir wegnehmen müssen.« – »Melitta, Melitta, wirst du mich auch ohne diesen Finger lieben?« Sie sagte »ja«, und ich bat sie wieder um Verzeihung und sprach vom Sonnenschein und von den Ereignissen des vergangenen Jahres. – Der Finger wurde jedoch nicht amputiert. Er ist aber noch heute steif, und ich kann ihn nicht biegen. – Wir kamen ins Spital. Viele Menschen liefen die Treppen auf und ab. Melitta saß an meiner Seite; ich hielt die Augen geschlossen, und sie dachte wohl, daß ich sie nicht sehe: sie lehnte sich an die Wand zurück und schluchzte lautlos. In ihrem Gesicht las ich tiefe Trauer und Verzweiflung.
Es war kurz vor Mittag. Die zwölf Stunden waren um, und ich lag nun wirklich auf dem Operationstisch. Pjotr, der zufällig auf einer Vorlesung im Spital war, kam auf einen Augenblick zu mir herüber. Der Raum war von Sonnenlicht durchflutet. Fremde Menschen in weißen Mänteln, so weiß wie Totentücher, untersuchten und betasteten meinen Körper; sie sprachen miteinander in medizinischen Fachausdrücken, die im Patienten die Vorstellung erwecken, daß er schon tot sei. Denn man spricht nicht mit ihm, sondern von ihm. Und es ist ganz gleichgültig, ob er zuhört oder nicht.
Da fühlte ich plötzlich etwas Heißes an meinem gebrochenen Bein rinnen; man packte mich am Arm, dann am anderen, hantierte an meinem Auge und an der Stirne. Anfangs wehrte ich mich, denn ich glaubte, daß mir das Bein doch noch amputiert werden sollte. Pjotr sprach mir zu. Ich beruhigte mich und verlor das Bewußtsein. Ich weiß nur, daß ich durch endlose Gänge und Korridore getragen wurde. Treppauf, treppab. Es war wie hoher Wellengang. Schließlich wurde ich in ein halbdunkles Zimmer gebracht und auf ein Bett gelegt. Für einige Minuten wurde Melitta hereingelassen. Sie bat, bei mir bleiben zu dürfen. Sie sagte, daß sie da täglich den Boden aufwaschen wolle, wenn man es ihr nur erlaubte. Man führte sie fort. Ich bekam Schlafpulver. Ich war, und ich war nicht.
Wozu hat denn der Mensch Augen, wenn er sein Schicksal nicht sehen kann? Wozu hat er Füße, wenn sie ihn nicht dorthin führen, wo sein Glück ist? Wozu hat er das Denken, wenn er nur an Leid, an unentrinnbare Qualen und an Marter, für die es keine Worte gibt, denken kann?
Meine Gedanken führten einen wahnsinnigen Tanz auf. Sie kreisten im wilden Reigen, wiegten sich im Sturmwind und durchrasten so viele Länder, wie sie für das längste Leben genügen würden. Sie sahen Gesichter von gestorbenen und von lebenden Menschen, und von solchen, die es nie gegeben hat, die vielleicht einmal später hier oder in anderen Welten leben werden. Die Decke hob sich und senkte sich, lastete auf meiner Brust und prallte dann wieder zurück in schwindelnde Höhen. Rechts und links von mir tauchten unbewegliche Gestalten auf. Nach einiger Zeit verschwanden sie. Sie gingen weder nach oben noch nach unten, nach rechts oder links. Sie verschwanden plötzlich ohne Richtung.
Dann kamen wieder Ärzte. Sie untersuchten mich, behorchten mich. »Mir tut aber gar nichts, wirklich gar nichts weh«, sagte ich; »warum habe ich denn gar keine Schmerzen?« – »Warten Sie nur«, sagte mir einer lächelnd, »die kommen schon.« Die Schmerzen kamen auch wirklich, aber erst nach acht Tagen. Solange sich meine Gedanken im Fieber wiegten, spürte ich keinen Schmerz.
Ich hielt meine Augen geschlossen und antwortete nicht mehr auf ihre Fragen. Wozu fragen sie mich so viel, und warum wiederholt ein jeder die gleichen Fragen?
Die Ärzte dachten wohl, ich sei wieder bewußtlos. Und sie sprachen weiter miteinander. Ihre Stimmen klangen besorgt. Von den inneren Organen sei keines beschädigt. Die Verletzungen seien schwer, aber nicht direkt lebensgefährlich. Ob das Herz aushält? Dies sei die ganze Frage. Ich verstand sie; mein Herz schlug rasend, es tanzte, und man konnte nicht wissen, ob es nicht bei einem seiner Sprünge ausrutschen und stürzen würde. Dann gingen sie alle, einer nach dem anderen. Mein Herz tanzte. Seine Wandungen zogen sich zusammen und gingen auseinander. Ohne die Augen zu öffnen, fühlte ich, daß ich nun allein war. Etwas später empfand ich, immer noch mit geschlossenen Augen, daß sich jemand über mich beugte. Ich öffnete das rechte Auge, das linke war verbunden. Meine Kehle war trocken. »Trink, mein Lieber, trink«, sagte die schlanke schwarze Wärterin, die wie eine einfache gutherzige Bäuerin aussah. Dann ging ich wieder in einer Flut von Gesichtern unter. Von meinem linken Auge zogen sich zum Gehirn violette und goldene Streifen, sie wanden sich wie Schlangen, wie Bänder, hüllten meinen Kopf ein, zogen sich zur Decke und zu den Wänden empor, beleckten sie wie Feuerzungen, wurden dann zu stiebenden Funken, drehten sich zu einem trichterförmigen Gebilde und kehrten in mein Gehirn zurück. Dann wurde mein Kopf schwer, auf dem Gesicht spürte ich etwas wie Spinngewebe, und ich verlor das Bewußtsein.
Dann kamen neue Gesichter. Viele Gestalten. Und alle starrten, aber nicht alle auf mich. Einzelne schwammen ganz dicht an meinem Kopfe vorbei, gingen sogar durch den Kopf und sahen mich dabei gar nicht an. Ich fühlte ihren nahen glänzenden Blick. Sie schwebten wie ferne Vögel. Andere starrten mir unverwandt in die Augen und rührten sich nicht vom Fleck. Hätte ich damals überhaupt an etwas denken können, so hätte ich wohl die Wahrnehmung gemacht, daß sie sich im Zimmer nach ganz anderen Gesetzen aufhielten als ich und daß ich ihrem Sein und ihrer Bewegung keinen greifbaren Widerstand bot.
So ging es eine Woche lang. Die Gefahr war vorüber. Das Leben siegte. Man brachte mich aus dem Separatzimmer in den allgemeinen Saal. Es war Nummer zwölf. Ein großer, nüchterner Raum, der an ein Gefängnis erinnerte. Hier waren viele Kranke. Neben mir lag ein junger Gutsbesitzer; er kam einmal halb erfroren von der Jagd heim, wollte sich mit einem Glas Schnaps erwärmen und trank aus Versehen von irgendeiner Säure. Zwanzig Werst weit raste er in seiner Troika bis zur nächsten Stadt, die ganze Zeit Blut erbrechend. Dann war noch ein Greis da, der in seinem eigenen Zimmer ausgerutscht war und dabei ein Bein gebrochen hatte. Ein Maurer, ein lustiger Bursche, war zwei Klafter tief vom Bau gefallen und nur mit einigen Quetschungen an den Schultern davongekommen; er wurde bald als geheilt entlassen. Dann war noch ein Briefträger, den ein schwerer Wagen überfahren hatte. Er war so schwer verletzt worden, daß er bald nach seiner Einlieferung starb. Schließlich noch ein Lakai mit irgendeinem leichten Leiden. Er belustigte den ganzen Saal mit seinen Späßen. Es waren noch einige andere Kranke da. – Ich lag auf einem alten eisernen Bett unter einer rauhen grauen Decke. Über dem Bett war ein Metallschild angebracht, auf dem mein Name, Stand und die lateinische Bezeichnung meiner Krankheit geschrieben waren: Fractura femoris – Schenkelbruch. Alles andere zählte offenbar nicht mit. Die entsetzlichsten Martern begannen erst jetzt.
Die Ärzte sagten meiner Mutter, die mich für kurze Zeit besuchte, und Melitta, alles gehe glänzend, das Bein sei in spätestens sechs Wochen geheilt, der Arm noch früher; den Arm werde ich allerdings nicht mehr gebrauchen können, denn er sei gerade am Ellenbogen gebrochen. Mein Auge wurde zugenäht, und bald war an ihm nichts mehr zu sehen. Auch der Riß an der Stirne wurde zusammengezogen und sehr geschickt zugenäht, so daß von ihm nur eine Schramme zurückblieb. In der Hauptsache hatten sich aber die Ärzte geirrt. Kam es daher, daß ich mich unruhig im Bett herumwälzte, oder daher, daß ich bis zum Äußersten geschwächt war, das Bein wollte absolut nicht zusammenwachsen. Der Arm verheilte, und ich kann ihn sogar den Ärzten zum Trotz gebrauchen. Das Bein verheilte aber nicht, es war wie verhext. Der sechzigjährige Greis mit dem gebrochenen Bein ging bereits auf Krücken und sollte entlassen werden. Doch ich, mit meinen zweiundzwanzig Jahren, hatte offenbar nicht genügend selbstheilende Lebenskraft in mir. Die Ärzte kamen, schüttelten den Kopf und gingen wieder. Ein mir unbekannter Gerichtsbeschluß verurteilte mich zur Marter der Tage und Nächte, der Wochen und Monate.
Das Spital war schlecht. Die Wärterinnen waren roh. Die Kranken zudringlich und roh. Das war aber noch nicht das ärgste. Unerträglich war es, jeden Tag dasselbe liebe blasse Gesicht mit demselben stummen Vorwurf über mich gebeugt zu sehen. Jeden Tag aufs neue die Unmöglichkeit aufzustehen und meine Ausschließung aus der Welt der sich frei bewegenden Menschen zu empfinden. Jeden Tag gedankenlos Minuten und Stunden zu zählen ohne jede andere Empfindung als das Bewußtsein meiner Abgeschiedenheit von allen. Und auch von der, die mir lieb war. Denn sie war mir jetzt fremd. Sie kam aus der Welt der Lebenden, ich aber gehörte in die Welt der vom Leben Ausgeschiedenen. Ich beneidete jeden, der auf zwei gesunden Beinen durchs Zimmer ging. Doch zu gleicher Zeit spürte ich einen gewissen Abscheu und Angst vor allem, was mit jenem Leben zusammenhing. Wenn man mir sagte, daß ich nun bald aufstehen werde und daß wir dann für den ganzen Sommer zu Verwandten aufs Land zögen, wurde ich von geheimem Grauen erfaßt. Als ob man einem Toten sagen würde, daß er aufstehen und zu einem Festmahl gehen solle. Es war etwas Unnatürliches. Das Ganze war so widernatürlich und häßlich.
Melitta war abgemagert und noch viel blasser und zarter geworden. Sooft sie sich aber zu mir neigte und mein Gesicht küßte, überfiel mich eine panische Angst. Mit den Bekannten, die mich ab und zu besuchten, unterhielt ich mich über allerlei Dinge; wenn sie mich nach etwas fragten, gab ich Antwort, doch empfand ich dabei unendliche Qualen: ich fühlte, daß alles, was man eben besprach, nie eintreten werde, daß ich log, daß sie alle logen und daß diese Lüge nicht weiter aufrechterhalten werden konnte.
Jeder neue Tag entfremdete mich mehr und mehr dem Leben. Auch Melitta und die anderen, die mich besuchten, wurden mir fremd, und ich entfernte mich allmählich und kaum wahrnehmbar von ihnen. Ich wanderte in weiten Fernen, durch Luftwüsten, der weite Weg ermüdete meine Seele. Ich maß und wog Menschenschicksale. Doch nicht in Worten, sondern in Bildern und Gedanken, die so ungreifbar waren, daß jedes Wort für sie zu grob und roh und daher falsch wäre.
In einer apokryphen Legende spricht die heilige Jungfrau: »Willst du mir, Herr, erlauben, daß ich die Höllen besuche und die Paradiese schaue?« Der Herr antwortet darauf: »Alles geschehe nach deinem Willen.« Etwas Ähnliches geschah auch mir. Ich sehnte mich nach toter Ruhe, wie nach einem Paradiese, sie blieb mir aber unerreichbar, und so begann ich meine Wanderschaft durch alle Höllen. Diese Höllen waren nah und ferne, in mir und um mich. Alle Menschen, die ich tagsüber sah, waren mir fremd und abstoßend. Sie waren mir alle wie Boten der Hölle, die mich gegen meinen Willen besuchten, denn ich wollte sie nicht sehen, ich wollte sie nicht so sehen. Nachts begab sich meine Seele auf ihre Wüstenwanderung, der Körper aber schmerzte und glühte. In den ersten Wochen stöhnte ich die ganze Nacht, ich biß mir die Lippen, sie gaben aber gegen meinen Willen klägliche Laute von sich. Der Lakai am anderen Ende des Saales bemerkte jedesmal laut: »Da schlägt unsere Nachtigall schon wieder.« Das dankbare Publikum, das aus Kranken und Wärterinnen bestand, brach dann in Gelächter aus.
Die Wochen gingen, und ich lernte allmählich zu schweigen. Ich schwieg nicht nur nachts, da alle schlafen müssen, sondern auch am Tage, wenn man mich ansprach. Ich war unbeliebt. Man nahm mir übel, daß ich allen Vorschriften zum Trotz absolut nicht gesund werden wollte. Man hielt mich für einen Abtrünnigen.
Die Kranken wurden in die Sommerbaracken gebracht. Die Tage kamen und gingen. Melitta kam und ging. Ist der Mensch ans Bett gefesselt, so ist seine Fähigkeit zu leiden – unbegrenzt. Wenn er sich aber frei bewegen kann, so hat diese Fähigkeit eine bestimmte Grenze. Ich glaube, daß es stimmt. Melitta näherte sich eben dieser Grenze. In ihr blieb nichts mehr zurück als Gereiztheit und Mitleid mit sich selbst.
Die Ärzte kamen wieder einmal zur Überzeugung, daß ich noch weitere Wochen im Bett bleiben solle. Melitta saß an meinem Bett und sprach kein Wort. Unsere Pläne für die Sommerreise und für den Landaufenthalt mußten aufgegeben werden. Sie sah zum Fenster hinaus, das nach dem Garten ging. Da waren rote und gelbe Blumen. »Die Nelken sind verblüht, der Sommer ist bald zu Ende«, sagte sie. Sie ließ ihren Kopf sinken, er fiel wie eine abgemähte Blüte. Und dann begann sie lautlos zu schluchzen. – Doch alle Martern haben ein Ende. Oder war es nur ein böser Scherz? Ich sitze auf dem Bett. Man wirft mir einen Mantel um. Man gibt mir Krücken in die Hand, und jetzt soll ich gehen. Die ganze Welt war mit einem Schlag verändert. Es kam mir vor, ich sei gewachsen.
Es war Ende August. Wir wollten aber noch etwas vom Sommer haben. Wir wohnten wieder zusammen im gleichen Hotel. Melitta war in der Stadt, um verschiedenes einzukaufen, denn wir wollten nach einigen Tagen doch noch aufs Land. Melitta war in bester Stimmung. Sie war froh und merkte gar nichts.
Wie konnte sie auch etwas merken? Ich ging auf meinen Krücken im Zimmer herum, setzte mich dann an den Tisch und dachte nach. Es war immer der gleiche Gedanke. Was einmal war, kehrt nie wieder. Es war nur diese einfache Einsicht, die mich so erschütterte. Der Gedanke nahm die Gestalt eines lebenden Wesens an, ich sah ihn, konnte ihn berühren. Was einmal gebrochen ist, wird nie wieder ganz. Ich kann nichts neu schaffen. Ich kann nichts ändern. Hat man einem Ding sein Antlitz genommen, so kann es ihm keine Macht wiedergeben. Ich nahm ein Zündholz, brach es entzwei und sah dann mit Schrecken und Bestürzung auf die zwei Teile. Ich sah, daß es nun zerbrochen war, und machte vergebliche Versuche, die beiden Teile wieder zusammenzufügen. Keine Macht der Welt kann aus ihnen das frühere Ganze wiedererstehen lassen. Was einmal war, kommt nie wieder.
Es blieben nur noch drei Tage bis zur Abreise. Melitta war ausgegangen. Ich ging im Zimmer auf und ab. Ich wollte mich wieder an den Tisch setzen, um auszuruhen, rutschte aus, fiel in den Sessel und stieß dabei mein wundes Bein mit aller Kraft gegen den Tisch. Ich spürte einen heftigen Schmerz; diese Empfindung eisiger Kälte, die mein Herz erfüllte, kann eigentlich nicht Schmerz genannt werden. Es war wie ein teuflisches Todesurteil, wie höllischer Hohn.
Melitta wollte nicht glauben, daß ich mir wieder den Fuß verletzt habe. Sie kannte meine übertriebene Empfindlichkeit und ließ mich den ganzen Tag und auch den folgenden ununterbrochen Gehübungen machen. Und ich hinkte herum, obwohl mein Bein ganz bleiern war. Dann mußte ich wieder ins Bett. Der Arzt legte einen neuen Verband an, und so lag ich wieder drei Monate.
Der Arzt tröstete mich. Er sagte, mein Bein sei anfangs nicht richtig zusammengewachsen, so daß ich mein Leben lang hätte hinken müssen. Jetzt könnte es richtig zusammenwachsen, wenn ich nur ruhig liegenbleibe. Das stimmte auch, und so wendete sich der zweite Unglücksfall zum besten. Damals konnte ich es natürlich nicht einsehen. Ich war ganz abgestumpft und lebte nur noch in meinen Träumen. Die Hoffnung, jemals wieder aufzustehen, hatte ich aufgegeben. Ich bat Pjotr, mir Zyankali zu besorgen. Er lachte mich aus und erzählte es Melitta. Sie war bereits dem Wahnsinn nahe. Anfälle ganz grundloser Eifersucht wechselten bei ihr mit religiösen Phantasien ab. Sie rief die heilige Jungfrau zur Zeugin ihrer Qualen an und jammerte in schönen gewählten Worten. Dann war sie wieder einige Tage ganz teilnahmslos. Einmal warf sie mir bei einem solchen Anfall eine Schachtel Nadeln ins Gesicht und sammelte dann die Näh- und Stecknadeln in meinem Bett auf. Ich blieb dabei ganz ruhig. Schlimmer war es schon, als sie einmal mit der Lampe auf mich losging, um mich zu verbrennen. Sie hätte die Lampe beinahe auf mich geschleudert, ich wehrte mich nur mit der Macht meines Blickes. Da stellte sie die Lampe auf den Tisch, warf sich auf ihr Bett und weinte den ganzen Abend durch.
In jener Nacht hatte ich einen Traum. Ich saß an einem Fenster und starrte in die Nacht hinein. Mir gegenüber am anderen Ende des weiten Hofes war ein anderes Gebäude, eine hohe Mauer mit einer Menge Fenster. Die Fenster standen in regelmäßigen Reihen neben- und übereinander; in jedem Fenster brannte eine Kerze, und aus jedem schaute ein bleiches, angsterfülltes Gesicht heraus. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Ich weiß nicht, warum es mich so entsetzte. Und ich fühlte, daß ich gerichtet war.
Ich hatte noch mehr Träume. Ein entsetzlicher Traum verfolgte mich durch mehrere Nächte. Ich lag im Bett und konnte mich nicht rühren, doch ich fühlte, daß unten im Hofe, gerade unter meinem Fenster, etwas gegen mich begonnen wurde. Mein Blick konnte durch die Mauer dringen, und ich sah unten im Hofe eine kleine, schmutzig-rote Blutlache. Und in das Blut kam Bewegung, und ein kleines, menschenähnliches Wesen tauchte auf. Es war eine Kaulquappe mit dem Kopf und Gesicht eines Säuglings. Der Kopf wiegte sich auf dem langen schlangenähnlichen Rumpf, hob sich immer höher, stieg von Stock zu Stock die Mauer zu meinem Fenster herauf. Und es waren nicht drei Stockwerke, sondern viel mehr. Das gräßliche Gesicht stieg höher und höher, der Rumpf wurde dünner und dünner. Bei meinem Fenster angelangt, wiegte er sich unschlüssig hin und her und überlegte sich, ob er weitersteigen solle. Und dann stieß er ein heiseres Lachen aus und fiel wie ein nasser Lappen in den Hof zurück.
Ich wanderte wieder in Luftwüsten, kam auf vergessene Pfade zurück, tastete, stellte Messungen an, zählte, rechnete, suchte, zog mich zurück, wurde betrogen, schlich einem mir entschlüpfenden Ziele nach und schwor, daß ich nur mich selbst lieben werde, wenn ich dies Ziel erreiche und packe. Einem anderen wäre das unverständlich, ich wußte aber, daß es so sein mußte, daß ich einen Punkt erreichen, mich an ihm festklammern und dann nur mich selber lieben müsse. Und niemand anderen. Denn der Mensch lebt und stirbt sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod und darf nicht sein Leben verderben.
Einmal sah ich im Traume den sieghaften Mond. Er war voll, doch grünlich wie Neumond und stand sehr hoch. Ich saß an einem Fenster; ein Fenster kam übrigens in jedem meiner Träume vor. Ich war weiß gekleidet und wußte, daß ich schön war. Das Mondlicht war wie Smaragde und Opale, und ich konnte jeden einzelnen Strahl sehen. Alle Strahlen zusammen gaben den Dingen Licht; doch jeder Strahl war für sich, und ich begriff, daß es so sein müsse; denn jeder Strahl lebt sein eigenes Leben, und wenn er sein Dasein eines anderen Strahles wegen aufgibt, so löscht er damit auch jenen anderen Strahl; an ihrer Stelle würde dann etwas Neues entstehen, etwas Leuchtenderes, oder etwas Finsteres, doch etwas anderes. Die beiden Strahlen gehen aber zugrunde, sobald einer von ihnen seine gesonderte Existenz aufgibt. Und alle Strahlen leuchteten zusammen, und ihr Licht war ein Lied vom Leben und vom Tode und von vielen anderen Dingen, die beim Tageslicht nicht genannt werden dürfen.
Diesen Traum habe ich nicht vergessen, und als die Zeit erfüllt war, brach ich mit meiner Vergangenheit, und nun freue ich mich meiner Einsamkeit. Ich gehe stark und leuchtend durch die Welt, und wo ich bin, ist es immer hell. Niemand könnte mich dazu bringen, daß ich mich am Heiligtume des Lebens vergreife.
Melitta, Melitta, du Biene, du hast mich böse gestochen, doch du gabst mir auch süßen Honig. Wir haben einander unwiederbringlich verloren und sind längst in der Unendlichkeit von Gestalten und Dingen zu anderen geworden. Wenn du mich aber noch hören kannst, so höre: ich habe dich immer geliebt.