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Bertha von Suttner

Ermenegildens Flucht

»Großer Gott – wie hübsch sie ist! ...«

In diesen Ausruf brach Dr. Reding aus, als er eine Photographie erblickte, die dem eben erbrochenen Briefe beilag.

Edmund Reding war ein junger Arzt, der den Wunsch hegte, sich zu verheiraten, dem es aber – wie die gebräuchliche Phrase lautet – an Damenbekanntschaft mangelte und der als Ergebnis dieser beiden Umstände »einen ernstgemeinten Heiratsantrag« hatte inserieren lassen.

In dem kleinen mährischen Städtchen – mehr Dorf als Stadt – in welchem Dr. Reding als Bezirksarzt angestellt war, konnte er wahrhaftig keine passende Partie finden. Die Töchter des Landes waren hannakische Bauernmädchen oder bildungslose Krämerfräulein; die stolzen Baronessen im Schlosse waren natürlich nicht mitzurechnen, denn zu diesen durften sich die bürgerlichen Augen des Landarztes nicht erheben. Ins Schloß wurde er überhaupt nur für Dienerschaftskrankheiten berufen: brach eine freiherrliche Migräne, ein herrschaftlicher Schnupfen oder ein hochwohlgeborenes Nervenleiden aus, so ward ein Herr Medizinalrat aus Wien herbeitelegraphiert.

Auf das betreffende Inserat waren ziemlich viele Antworten eingelaufen. Da Vermögen als zwar erwünscht, aber nicht als unumgänglich erfordert erwähnt worden, so meldete sich eine Schar von Kirchenmäusen.

»Auf Bildung wird der größte Wert gelegt« hatte zur Folge, daß die meisten Kandidatinnen große Fertigkeit auf dem Klavier besaßen, Französisch verstanden und für Literatur schwärmten. Der »erwünschten Häuslichkeit« ward durch Kochenkönnen und Geübtsein im Kleidermachen allgemein genug getan; und was das gefällige Äußere anbelangt, so waren sie alle schlank, »wie die Leute behaupteten, hübsch« und überdies bereit, ihre Photographie einzusenden, wenn sich die »Diskretion« des Einsenders als »Ehrensache« bewiesen haben würde.

Unter all diesen Briefen stach einer hervor, dessen Schreiberin weder von ihrer Taille, noch von ihrem Klavier, noch von ihrer Kochkunst berichtete, sondern die überraschende Eröffnung machte, daß sie ein Vermögen von einer halben Million besitze und bereit sei, den ersten besten zu heiraten, um der Tyrannei einer verrückten Tante zu entrinnen. »In der einsamen Gegend, die wir bewohnen, sehe ich weit und breit keinen Mann, sonst hätte ich längst schon einen aufgefordert, mit mir durchzugehen. Heute fiel mein Blick auf Ihre Anzeige, und da war mein Entschluß gefaßt – ich schlage Ihnen hiermit vor, mich zu entführen. Einverstanden?«

Edmund Reding war einverstanden. Das Abenteuer gefiel ihm; – vielleicht war das Ganze nur ein Scherz ... aber es konnte ja auch Ernst sein – auf dieser Welt kommt alles vor –; die Aussicht auf die halbe Million lächelte ihm zu – –

Der Held dieser Geschichte ist nämlich durchaus keine Novellen-Idealfigur; er hatte weder die gebührende Geldverachtung, noch die genial veranlagte Natur, noch den idealistisch strebenden Geist, die männliche Unentwegtheit, den wallenden Blondbart, die athletische Muskelkraft und die edle Gemütstiefe – welche Merkmale am deutschen Familienromanhelden ebensowenig fehlen dürfen, wie der Höcker am Dromedar. Dr. Reding war ein ungewöhnlich gewöhnliches Menschenkind, von einer Allgemeinheit, wie man ihr selten begegnet – in Büchern nämlich; er war gutmütig, hatte gesunden Menschenverstand mit einem Anflug von Geist, eine gefällige Erscheinung mit viel praktischem Sinn. Habgierig war er nicht, aber er schätzte das Geld und wünschte sich eins.

Eine solche Heirat! Das wäre freilich eine Wonne ... Da er in seinen Phantasien nicht hochsegelnd war, hätte er ein ähnliches Glück nicht zu erträumen gewagt; sein Bestreben war einfach das, durch seine Praxis nach und nach zu einem behaglichen Auskommen zu gelangen und letzteres durch eine Heirat mit einem mitgiftbringenden Mädchen zu vergrößern. Er hatte zwar in seiner Anzeige Vermögen »Nebensache« genannt – aber das tat er nur, einmal um uneigennützig zu scheinen, welche unpraktische Eigenschaft für poetisch gilt – und dann in der Erwartung, daß sich unter den Bewerberinnen doch einige melden, die mit der Nebensache ausgestattet wären und eine Morgengabe von – sagen wir zwanzig- bis dreißigtausend Gulden, in Aussicht stellten. Diese würde er dann zur engeren Wahl aus der Masse ausscheiden.

So bescheiden waren seine Hoffnungen und jetzt kam plötzlich eine halbe Million daher und bat inständigst, man möge sie entführen. Es würde noch dazu eine ritterliche Tat sein, die unglückliche Erbin aus den Krallen des Tantendrachen zu befreien. Er schrieb sofort zurück, daß er einverstanden sei, nannte seinen Namen und Wohnort und bat um nähere Auskunft, wie und wo die beantragte Entführung auszuführen wäre.

Umgehend erhielt er Antwort. Dieser war die Photographie beigeschlossen, welche ihm den Ausruf entlockt hatte: »Großer Gott, wie hübsch sie ist!« Es war aber auch ein Bild wie aus einem Keepsake oder Musenalmanach. Es mahnte ganz an jenen Schönheitstypus, den es einst Mode war, mit der Zutat eines Pfaues und einer Laute zu konterfeien – im Hintergründe eine orientalische oder italienische Landschaft, nämlich Säulen, Palmen, Gondeln, Marmorstufen, Springbrunnen und Draperien. Auf der Photographie war von alledem nichts, aber die faustgroßen, schwärmerischen Augen, der herzförmige Mund, das lockenwallende Haar, der lange, in einen duftigen Schleier gehüllte Hals, die schmale Hand, die mit spitzigen Fingern die Schleierfalten aufraffte, das alles machte den Eindruck eines altmodischen Gemäldes. Darunter stand der Name »Ermenegilde«. Das Begleitschreiben lautete:

»Welch merkwürdiger Zufall! Mein künftiger Befreier wohnt in meiner Nähe. Ich habe denselben schon oft gesehen, wenn er in seinem Wägelchen die Landstraße entlang rollte – und er gefällt mir. Ja, Doktor Reding, Sie sind mir eine längst gekannte und sympathische Erscheinung. Noch haben Sie mich nie gesehen, denn man versteckt – oder vielmehr ich verstecke mich selber, denn ein großes Geheimnis, ein Verhängnis von Schauer und Wahnsinn schwebt über meinem Haupte ... Ich muß befreit werden und will die Fesseln sprengen.

– Heute ist es mir aber noch nicht möglich, Ihnen die verlangte Auskunft zu geben – mein Plan ist noch nicht gereift – aber ich bin fest entschlossen. Beiliegend mein Bild. Daß ich schön bin, weiß ich – dennoch werden Sie kein glücklicher Gatte sein – ich habe schon viel Unheil gestiftet und wilde Leidenschaften toben in meinem Innern ... Es wird Ihnen übrigens freistehen, sich von mir scheiden zu lassen und der Anspruch auf die Hälfte meines Vermögens wird Ihnen Entschädigung bieten. Da ich eine halbe Million Rubel besitze, so werden wir beide nach der Teilung noch genügend reich sein.

Schreiben Sie mir nicht wieder, denn ich könnte – ohne daß es auffiele – kein zweites Mal zur Post schicken. Warten Sie ruhig zu, bis Sie wieder Nachricht von mir erhalten. Sie werden nicht lange warten müssen – ich bin selbst sehr ungeduldig, meine Ketten abzuschütteln.

Ermenegilde.«

Dieser Brief versetzte den Empfänger in höchste Aufregung. Ein leiser Zweifel freilich, daß das Ganze eine Irrführung sein könne, war nicht zu unterdrücken – wie aber, wenn es dennoch Wahrheit wäre? Dieses schöne Mädchen, wildleidenschaftlich, von düsteren Mysterien umgeben und im Besitze einer halben Million – Rubel noch dazu. Auf den letzten Brief hin hatte er sich schon gefaßt gemacht, daß es vielleicht nur Mark – nicht Gulden – wären – und jetzt waren es gar Rubel.

Er schaute im Kurszettel nach, um zu berechnen, wieviel die im Scheidungsfalle auf ihn entfallende Summe in heimischem Gelde betragen würde, fand aber zu seiner großen Enttäuschung, daß das russische Papier furchtbar im Kurs gefallen sei. Er fühlte sich durch diese mißliche Finanzlage des nordischen Reiches stark gekürzt, um nicht zu sagen betrogen, und ein aufrichtiger Wunsch erfüllte ihn, daß der nächste Feldzug Rußlands ein glücklicher werde, oder daß unter den Moskowiten irgend ein genialer Finanzminister erstehe, der die Staatsnoten wieder auf pari brächte. Lange betrachtete er die Photographie. Welch träumerischer Blick und welch süß lächelndes Mündchen. »Wilde Leidenschaften?« Danach sehen die frommen Züge nicht aus – aber, stille Wasser sind tief. Wenn der Kurs auch nicht mehr steigen sollte, so macht die Hälfte der halben Rubel-Million doch bei 300 000 Gulden aus – Gott verhüte nur eine Revolution im Zarenreiche – ein Bankerott wäre fürchterlich – Fluch den Nihilisten! Ob sie die Tante in einen Turm einsperrt? Und verrückt ist diese Tante? – Vielleicht ist der Wahnsinn in Ermenegildens Familie erblich und daher das düstere Verhängnis, welches über diesem jungen Haupte schwebte ... Um 300 000 Gulden konnte man das Schloß und die ganze Herrschaft kaufen, wo die stolzen Baronessen walten ... Die würden staunen, und ihre Mama, die unangenehme Frau Baronin, gleichfalls, wenn der Doktor daherkäme, diesmal nicht, um dem Koch den Puls zu greifen, oder sich von der Haushälterin die Zunge zeigen zu lassen, sondern einfach, um die Besitzerin zu fragen: »Ist Ihnen Kronstein feil, meine Gnädige? Das Anwesen gefällt mir – ich würde es gern akquirieren – selbst wenn ich es ein wenig überzahlen sollte.«

Was Ermenegilde doch für lange Nägel hatte – und diese Finger wären ja durch ein Nadelöhr zu ziehen ... ob sie wohl in einer bösen Stunde einmal jemanden erdrosselt haben? ...

Edmund wurde aus seinen Träumen herausgerissen. Ein Bote aus Kronstein erschien an der Tür:

»Herr Doktor möchten ins Schloß kommen.«

Reding nahm Hut und Stock.

»Wer ist denn krank?« fragte er nicht ohne Bitterkeit. »Der Gehilfe des Stalljungen oder jemand in der Waschküche?«

»Die Gouvernante, Herr Doktor.«

»Nun, das ist doch schon eine Beförderung,« murmelte Edmund und machte sich auf den Weg.

Schloß Kronstein war von dem Städtchen nur durch einen Teil des Parkes getrennt – von der Wohnung des Doktors kaum fünfzehn Minuten entfernt. Es wäre daher nicht der Mühe wert gewesen, sein Wägelchen anspannen zu lassen. Er ging zu Fuß, elastischen Schrittes, gehobener Stimmung. Als er durch das Parktor schritt, kam ihm das Bewußtsein zurück, daß es vielleicht nächstens nur von ihm abhängen würde – falls er sich zur Überzahlung verstünde – hier als Eigentümer einzutreten. Aber wozu das Geld zum Fenster hinauswerfen? ... Es gibt ja preiswürdige »Realitäten« genug ... Am besten, man kauft ein Gut, das unter den Hammer gefallen, da kommt man billig dazu – wie z.B. das Haus, das er gegenwärtig bewohnte und das wegen Konkurserklärung seines Wirtes in einigen Tagen versteigert werden sollte. Auch das wäre ein vorteilhafter Kauf und ein hübscher Besitz – seinen bisherigen Ansprüchen im Grunde ganz genügend. Jetzt hatte er freilich glänzendere Aussichten ...

In seiner Nähe weilte sie – doch nicht im Schloß Kronstein? Sonst wußte er keinen Ort ringsum, wo etwa Millionärinnen verborgen sein könnten – es sei denn die zwei Stunden weit entfernte Burg Reben, wo eine alte Dame wohnte – war dies vielleicht die verrückte Tante? Oder war sie vielleicht gar im Städtchen selbst verborgen? – –

Diesmal wurde Edmund Reding nicht über irgend eine Hinterstiege zu seinem Patienten geführt, sondern über die große Ehrentreppe zu den Privatgemächern der Baronessen.

Die jungen Damen waren in einem kleinen Salon versammelt, der an ihre Schlafzimmer stieß und wo sie unter der Leitung ihrer Gouvernante ihre musikalischen und literarischen Studien zu machen pflegten.

Clelia, Irmengard und Helene waren zwanzig, siebzehn und fünfzehn Jahre alt; alle drei bildhübsch. Die Erzieherin, Fräulein Erna Rittwitz, war ein schönes Mädchen von ungefähr neunundzwanzig Jahren – ihr Aussehen war jedoch viel jugendlicher. Auch in ihrem ganzen Wesen, in ihrer kindischen Heiterkeit eignete sie sich mehr zur Gespielin als zur Lehrerin ihrer Schutzbefohlenen; doch andererseits war sie durch ihre bedeutenden Musik- und sonstigen Kenntnisse vollständig zu der Stellung geeignet, die sie im Hause einnahm.

Die drei jungen Mädchen kamen dem Doktor bei seinem Eintritt entgegen und führten ihn in ein anstoßendes Zimmer, – das Gouvernantenzimmer – wo die Patientin angekleidet auf einem Sofa lag.

Fräulein Erna sah weder blaß noch fieberhaft aus; ihr Puls war normal, ihr Blick klar – aber sie beklagte sich über heftigen Kopfschmerz, Appetitmangel, Schlaflosigkeit und Melancholie. Bei Nennung des letzteren Symptoms konnten die drei anwesenden Freundinnen ein leises Kichern nicht unterdrücken.

Nachdem er sich alle Krankheitserscheinungen hatte hersagen lassen, verlangte Reding ein Blatt Papier und schrieb ein langes Rezept. Er war keiner von den Ärzten neuerer Schule, die einem Übel gegenüber zugestehen, daß sie nicht wissen, was es sei. Auf die meisten Patienten wirkt solche Freimütigkeit auch nicht vertrauenerregend. Sie lieben es, wenn der Arzt bei jedem Symptome verständnisvoll mit dem Kopfe nickt, als hätte er eben noch diese letzte Einzelheit erwartet, um ganz im klaren zu sein, und dann womöglich die verschiedensten Arzneien verschreibt, wovon die eine in Pulver, die andere in Pillen, die dritte »alle zwei Stunden ein Eßlöffel voll« eingenommen werden soll. Dazu diätische Verhaltungsregel: eine Liste von Dingen, die man nicht essen darf – während Kompott, Mandelmilch, Limonade erlaubt – Kamillentee, warme Umschläge und Senfteig auf den Füßen geboten erscheinen. Wenn nach solchen Verordnungen der Kranke nicht von der Überzeugung erfüllt ist, daß der Arzt in seinen Organismus wie in einen Glaskasten hineingeguckt und mit den bewährten Mitteln alle stattgefundenen Verrückungen wieder zurechtrücken wird, so ist dieser Kranke ein dem Vertrauen überhaupt unzugängliches Geschöpf. Wer hätte nicht erfahren, daß dem N. warme Umschläge, dem X. der Senfteig und dem Y. der Kamillentee geholfen hat? Und jetzt soll man die erprobten Mittel alle anwenden und noch dazu die lateinisch benannten Bestandteile, welche für den speziellen Fall eigens abgewogen und gemischt werden – das sind doch große Aussichten auf schnelle Heilung.

Für den gegenwärtigen Fall jedoch waren so viele Krankheitsbekämpfer nicht erforderlich, da im Grunde keine Krankheit, nicht einmal ein wahrnehmbarer Schnupfen vorlag. Gegen das vage Übel mußten auch vage Mittel empfohlen werden: »Bewegung, Zerstreuung oder am besten, Fräulein (das ist schon gar ein gewöhnliches Steckenpferd der Ärzte, unvermählten, reiferen Damen gegenüber), am besten eine Heirat.« Dieses hatte er leise gesagt und lauter fügte er noch hinzu: »Jedenfalls würde ich Erheiterung anraten.«

»Ich glaube, Sie haben recht, Herr Doktor,« sagte die schalkhafte Clelia. »Erheiterung muß gegen Melancholie ein gutes Mittel sein – etwa so wie ein Beefsteak gegen Hunger – aber woher immer das Beefsteak nehmen?«

»Das Fräulein leidet auch an Gedächtnisschwäche, Herr Doktor,« sagte Irmengard, »an Fieberphantasten bei Nacht und an unüberwindlicher Mattigkeit.«

»Hm, hm,« machte der Arzt bedenklich.

»Und an unerträglichen Launen,« sagte Helene.

»An Bosheitanfällen,« bestärkte Clelia.

»Das muß ein unangenehmes Fräulein sein,« dachte Edmund im stillen.

Er stand auf:

»Ich würde auch noch Eisumschläge auf den Kopf empfehlen – und einstweilen werde ich die Ehre haben, mich dies auch selber zu tun, meine Damen.«

»Sie wollen sich gleichfalls Eisumschläge auflegen und noch dazu im Akkusativ?« fragte Erna.

»Ich meinte, daß ich mich selber auch empfehlen will. Verzeihen Sie das schlechte Wortspiel. Aber auf dem Lande ...« Er verneigte sich und schritt der Türe zu.

»Nein, ich bitte Sie, Herr Doktor,« rief Erna, »bleiben Sie noch ein Viertelstündchen. Sie haben mir Zerstreuung verordnet: zerstreuen Sie mich selbst ein wenig.«

»Ja, setzen Sie sich wieder, Doktor, und leisten Sie uns Gesellschaft,« bat Elelia.

»Sie sind sehr gütig, meine Damen,« sagte Edmund, indem er sich wieder setzte, »wahrscheinlich ist Ihre Langeweile groß.«

»Oh – unbeschreiblich! – Und diese zuwidere Jahreszeit dazu – der charakterlose März: weder Winter noch Frühjahr.«

»Es nimmt mich wunder, daß die Herrschaften heuer nicht, wie alljährlich, den Winter in Wien zugebracht haben.«

»Im vorigen November starb der Großvater; wir waren daher alle in tiefer Trauer und hätten in der Stadt ohnehin nirgends hingehen können, also sind wir lieber ganz hier geblieben. Künftigen Fasching wird das Versäumte nachgeholt werden.«

»Meine Damen,« sagte der Doktor nach einer zögernden Pause, »können Sie mir nicht sagen, ob in einem der nachbarlichen Schlösser eine Tante mit einer Nichte wohnt? ...«

Ein Zucken blitzte über die Gesichter der Mädchen.

»Um diese Jahreszeit,« antwortete Clelia, »gibt es nicht einmal Onkel und Neffen auf dem Lande – alle Schlösser der Umgebung sind leer.«

»Sind Sie schon lange in unserem Ort?« fragte jetzt Erna.

»Seit zwei Jahren, gnädiges Fräulein.«

»Mit Familie?«

»Ich bin nicht verheiratet – es fehlt mir ganz an Damenbekanntschaft.«

»Dann sind Sie ja wie jener junge Arzt, dessen Anzeige wir neulich in der Zeitung gelesen« – die Zeitung lag auf dem Tisch – »sehen Sie, hier.« Und dem Doktor ward die eigene Annonce unter die Augen gehalten.

Er errötete.

»Ja,« sagte er, »ich befinde mich in ähnlicher Lage.«

»Eigentlich,« dachte er im stillen, »bin ich nicht mehr ohne Damenbekanntschaft, denn ich kenne jetzt die Baronessen und ihre interessante Erzieherin. Diese hätte vielleicht eine Partie für mich werden können ... Hübsch ist sie, freilich nicht halb so schön wie Ermenegilda und natürlich ohne Vermögen, sonst wäre sie nicht Erzieherin ...«

»Sagen Sie mir, meine gnädigen Baronessen, ist Ihnen in der ganzen Umgebung niemand bekannt, der in Rußland Verwandte besitzt?«

Wieder schmunzelten die Mädchen.

»Wir selbst haben mehrere Verwandte in Rußland,« sagte Clelia. »Aber ich wollte Sie auch etwas fragen, Herr Doktor. Ist es gefährlich, wahnsinnige Leute außerhalb einer Irrenanstalt zu lassen?«

»Wenn es tobsüchtige Irre sind, allerdings. Sie haben also russische Cousinen? Und weilt keine davon in Österreich?« »Doch – mehrere. Kann nicht jeder noch so stille Wahnsinn in Tobsucht ausarten?«

»Freilich wohl. Ist nicht eine von Ihren russischen Verwandten eine große Schönheit?«

»Ja – berühmt dafür. Und was geschieht mit dem Vermögen eines Menschen, der im Irrenhause ist?«

»Das verwaltet ein Familienrat. Führt Ihre Cousine nicht einen ganz absonderlichen Taufnamen?«

»Ich bemerke,« unterbrach Erna dieses Gespräch, »daß Sie da ein eigentümlich Frag- und Antwortspiel treiben, Herr Doktor und Clelia. Der eine hat eine russische und die andere eine wahnsinnige Geschichte im Kopf. Was bedeutet dieser Mischmasch?«

»Ich denke an unsere arme Ermenegilda,« sagte Clelia.

»Und ich auch,« rief der Doktor rasch.

»Sie kennen sie?« fragten die Mädchen gleichzeitig.

Edmund bereute seinen Ausruf. Damit hatte er das Geheimnis und vielleicht auch den Plan seiner Korrespondentin bloßgelegt. Aber die Eröffnung war eine zu großartige: Ermenegilda – eine Cousine der Baronessen! Aber, wie es scheint, wahnsinnig ...

»Nein, ich kenne die junge Dame nicht,« sagte er laut. »Ich habe nur von ihr gehört.«

»Gehört? Sollte also ihr hiesiger Aufenthalt in der Umgebung bekannt sein – das wäre schrecklich ...«

»Sie wohnt bei Ihnen?«

»Ja, im Gartenpavillon.«

»Aber, Helene, wie kannst du solch ein Geheimnis ausplaudern?«

»O, der Doktor wird uns gewiß nicht verraten.«

»Gewiß nicht, meine Damen, ich schwöre Ihnen die unverbrüchlichste Diskretion zu. Wenn es irgend einen traurigen Fall gibt – Sie sprachen vorhin von Irrsinn – wo Ihnen meine ärztliche Erfahrung beistehen könnte, so erkläre ich mich bereit –«

»Nun, jetzt, da Sie schon so viel wissen,« sagte Erna, »sollen Sie auch alles erfahren –«

Irmengard, die beim Fenster stand, rief:

»Mama – Mama kommt zurück ... wahrscheinlich wird sie zu uns heraufsehen; ich bitte Sie, Herr Doktor, gehen Sie schnell. Wenn Sie unser Vertrauter werden wollen, so ist es besser, Mama findet Sie nicht bei uns ...«

»Ja, gehen Sie,« sagten die beiden andern Mädchen. »Hier – durch diese Türe – Sie kommen da zur kleinen Stiege. Adieu, Adieu!«

Ganz verwundert ließ sich Edmund durch die Türe schieben und eilte die Treppe hinab, den Hof quer durch, zum Schloßtor hinaus. Am nächsten Morgen erhielt Edmund folgenden Brief von Ermenegilda:

»Kronstein, 31. März 1882.

Alles ist zur Flucht bereit. Kommen Sie morgen bei einbrechender Nacht in den Schloßpark zum Pavillon, der am Rande des Flusses steht. Sie finden die Türe offen. E.«

Gleich nach Erhalt dieses aufregenden Schreibens eilte Reding ins Schloß. Er wollte – unter dem Vorwande, bei seiner Patientin nachzusehen – die gestern unterbrochenen Mitteilungen der Baronessen hören und sehen, ob sie etwas von der beabsichtigten Flucht wüßten. Auch wollte er im Parke die Pavillongegend rekognoszieren.

Als er durch den Flur schritt, begegnete er der Baronin. Er blieb stehen und grüßte ehrerbietig.

Die Dame erkannte ihn und sagte freundlich:

»Wohin, Herr Doktor?«

»Ich komme nachzusehen, wie es meiner Patientin geht –«

»Hier im Schlosse? Wer ist denn krank? Mir wurde gar nichts berichtet!«

»Fräulein Erna –«

»Die Erzieherin meiner Töchter? Die befindet sich wie der Pont-Neuf – oder zu deutsch: pumperlgesund. Vor einer Stunde ist sie mit meiner ältesten Tochter ausgeritten.«

»Nicht möglich!«

Die Baronin stand vor ihrer Zimmertür. Und indem sie sie öffnete:

»Bemühen Sie sich herein, Doktor Reding,« sagte sie. »Ich wollte Sie um etwas befragen.«

Der Doktor folgte der Baronin in das Zimmer,

»Setzen Sie sich,« sagte sie, indem sie selbst Platz nahm.

Das erste, was dem Doktor in die Augen sprang, war ein über dem Schreibtisch hängendes Ölbild – ein Porträt: Ermenegilda!

Sie war's. Dieselben Züge, derselbe mit den Fingerspitzen geraffte Schleier. Der Doktor war so betroffen, daß er kein Wort zu sagen fand.

Die Baronin begann zu sprechen.

»Was ich Sie fragen wollte, Herr Doktor, ist dieses: ich höre, daß das Haus, in welchem Sie wohnen – eigentlich ist es das hübscheste Hans am Orte – verkauft werden soll?«

Reding riß sich vom Anblick des Bildes los.

»In der Tat, ja. Der Eigentümer ist verschuldet und nächstens soll das Haus versteigert werden, was mir eigentlich recht unangenehm ist, da ich vermutlich meine Wohnung verliere.«

»Meinen Sie nicht, daß die Erwerbung dieses Besitzes eine gute Anlage für ein kleines Kapital wäre?«

»Vortrefflich, gnädige Frau!« sagte der Doktor, wieder zu Ermenegilden aufschauend.

»Sie bewundern dieses Porträt? ... Es ist allerdings wunderschön.«

»Es ist das Bildnis Ihrer Nichte?«

»Welcher Nichte? Nein – das Bild stellt meine Großmutter vor – sie war eine berühmte Schönheit. Alle Leute sind von dem Bilde entzückt. Neulich, als ein durchreisender Photograph hier war, haben wir es auch photographieren lassen ... Aber um zu meiner Kapitalanlage zurückzukommen. Es handelt sich um ein kleines Vermögen von 25 000 fl., welches Fräulein Erna Rittwitz unlängst geerbt hat. Das Legat wird erst in sechs Monaten ausgezahlt werden – aber ich könnte die Summe vorstrecken, um die Gelegenheit mit diesem Hauskauf zu erfassen. Wie ich höre, trägt die Besitzung über 2000 fl. Zins und ausgeboten wird sie um 15 000 – das wäre ja eine herrliche Anlage für Ernas Geld. Mich interessiert das Mädchen; ich habe sie sehr lieb gewonnen. Sie hat vortreffliche Eigenschaften – nur ist sie zu ausgelassen lustig für eine Gouvernante – immer zu Streichen aufgelegt. – Ich möchte sie gern verheiraten – an irgend einen Notar oder Arzt ... Jetzt fällt mir ein: Sind Sie verheiratet?«

»Nein, Frau Baronin,« antwortete Reding, die bewährte Phrase vorbringend: »Es fehlt mir ganz an Damenbekanntschaften.«

»Nun denn – wer weiß ... Aber was sagten Sie vorhin – Fräulein Rittwitz wäre krank gewesen?«

»O, nichts Bedeutendes – ein Fieberanfall – ich habe eine Kleinigkeit verschrieben und heute ist das Fräulein wiederhergestellt – desto besser. Frau Baronin haben weiter keine Befehle? – So werde ich mir erlauben, mich zu empfehlen.«

»Adieu, lieber Doktor, auf Wiedersehen.«

Edmund verließ das Schloß, in tiefes, tiefes Nachdenken versenkt. Unterwegs zog er nochmals Ermenegildens letzten Brief hervor.

»Für das Gespenst einer längst verstorbenen alten Schönheit hast du frische Schriftzüge,« apostrophierte er die Verfasserin des Briefes, »aber du hast unrecht getan, deine Zeilen mit dem Datum 31. März zu versehen, du wildleidenschaftliche, wahnsinnige Millionärin! ...«

Am folgenden Nachmittag waren die drei Baronessen und ihre Freundin-Gouvernante im Gartenpavillon versammelt.

»Wißt ihr, Kinder,« sagte Erna, »daß ich unsern Scherz beinahe bereue – er gefällt mir ganz gut, der unglückliche Doktor, und es wird mir weniger Spaß machen, als ich voraussetzte, ihn auszulachen.«

»O doch,« rief Helene, »es wird eine königliche Unterhaltung sein, wenn er als Entführer daherkommt und seiner Ermenegilda die Hand zur Flucht reicht.«

»Der Arme ist in das Porträt unserer Ur-Großmutter sicher rasend verliebt?«

»Und in die halbe Million Rubel ...«

»Es war doch eine köstliche Idee von uns, diese Anzeige zu beantworten.«

»Ja – und die Überraschung, als sich herausstellte, daß der Einsender unser hübscher Stadtdoktor war.«

»Ist er das nicht schon – diese Gestalt dort auf der Straße?«

»Nein – o, er wird sich vor der Dunkelheit nicht hierher wagen ...«

»Welches Glück, daß Mama heute wieder in die Stadt gefahren ist und wir so unsere kleine Komödie in Szene setzen können, ohne Furcht, gestört zu werden.«

»Also, wie ist das Programm?«

»Nehmen wir noch einmal unsere Rollen durch, damit wir die Sache gut machen.«

»Meine und Helenens Rolle ist nicht schwer. Wir sind hinter jenem Schirm versteckt und schauen der ganzen lustigen Szene zu,« sagte Irmengard.

»Mein Part ist freilich der schwierigste,« sagte Clelia, »ich muß die ganze große Rede halten. Erna, die Braut, hat sich nur schweigend und verschleiert zu zeigen.«

»Also machen wir eine Generalprobe,« schlug Erna vor. »Ich gehe in das Nebenzimmer und trete im geeigneten Moment heraus.«

»Ich stelle die Person des Doktors vor,« sagte Irmengard. Sie ging zum Pavillon hinaus und trat dann wieder ein, indem sie die Türe vorsichtig und langsam öffnete, wie jemand, der ängstlich einen geheimnisvollen Raum betritt.

»Sie hier, Baronesse?« sagte sie mit überraschter Gebärde zu Clelia.

»Ja, ich bin's, Doktor. Sie sehen in mir der unglücklichen Ermenegilda Vertraute. Ein Wagen steht draußen, der Sie zur Eisenbahn bringt. Seien Sie mutig und seien Sie standhaft, Freund. Diejenige, die Sie vor dem Schicksal retten sollen, in ein Irrenhaus gesperrt zu werden, harrt Ihrer ... Hier dieses Kästchen enthält die nötigen Dokumente und das Vermögen – nehmen Sie.«

Irmengard nahm das Kästchen zu sich.

»Und wo ist die Holde?« fragte sie in schwärmerischem Tone.

»Hier kommt sie.«

Aus dem Nebenraum trat Erna hervor, in dichte Schleier gehüllt. Irmengard stürzte ihr zu Füßen.

»Glaubst du,« lachte Helene, »daß der Doktor so romantisch handeln wird?«

»Nun, irgend etwas wird der Held unseres Stückes doch tun oder sagen. Dieses warten wir ab, dann läßt Erna ihre Schleier sinken und auf dieses Zeichen stürzt ihr aus eurem Verstecke hervor und wir rufen gleichzeitig: Erster April!«

»Dieses Gesicht, das er machen wird!«

»Es wird sehr lustig werden!« »Findet ihr?« fragte Erna. »Mir kommt die Geschichte ziemlich matt vor ... Aber da wir den Scherz einmal begonnen, müssen wir ihn ausführen. Und einen hübschen Begriff von unserer Würde, namentlich von meiner Gouvernantenwürde wird sich der Doktor machen.«

»Aber Erna – wir posieren Gott sei Dank nicht für Ernst und Majestät – wir sind heitere Mädchen, und wenn der junge Herr nur einen Funken Verstand hat, so wird er mit uns lachen.«

»Doch, was würde Mama zu diesem Spaß sagen?«

»Sie braucht davon nichts zu erfahren. Und wenn – so ist sie von uns gewohnt, daß wir Streichemacherinnen sind. Warum vergräbt man uns in dieser Einöde? – Übrigens ist der Doktor ein angenehmer und gebildeter Mensch, und da wir keinen anderen Umgang haben –«

»Ja,« fiel Clelia ein, »ich werde Mama bewegen, daß sie Herrn Reding zum Essen einlade ...«

»Aber es wird schon dunkel, lassen wir die Vorhänge herab, zünden wir die Kerzen an und jede an ihren Posten!«

Nach einer Weile rief die am Fenster wachende Clelia:

»Dort naht sich eine Gestalt – schnell, Kinder, versteckt euch.«

Irmengard und Helene verschwanden hinter dem Schirm.

Man hörte nahende Schritte. Jetzt öffnete sich die Tür – langsam und vorsichtig – gerade so, wie es Irmengard vorhin dargestellt hatte – und herein trat eine männliche Gestalt, in einen Mantel gehüllt und mit einer Maske auf dem Gesicht.

Mit Mühe konnten sich die Mädchen enthalten, bei diesem Anblick schon jetzt in Lachen auszubrechen. Der Doktor hatte in der Idee, ein Romankapitel zu erleben, sich maskiert – das war zu komisch.

Die Gestalt trat vor. Das erwartete Stichwort: »Sie hier, Baronesse,« blieb jedoch aus. Die Gestalt war stumm.

»Ich bin Ermenegildas Vertraute ...« begann Clelia.

Unverbrüchliches Schweigen.

Clelia setzte die vorbereitete Rede fort und reichte zum Schluß das Kästchen hin.

Der Maskierte schüttelte verneinend den Kopf.

Wie, die Rubel-Million schlug er aus? Wieder eine Störung des Programms; auch rief er nichts in der Art von »Wo ist die Holde«, und so mußte Clelia aus dem Stegreif sprechen:

»Die Braut ist bereit – sie wird gleich erscheinen – Sie stürzen ihr zu Füßen – reichen ihr den Arm zur Flucht – und mein Segen folgt auf Ihren Wegen ... Ermenegilda!«

Die verschleierte Erna trat herein und die beiden Vermummten standen einander stumm gegenüber. Das passive Verhalten des Helden brachte die Komödie ins Stocken. Erna ließ nicht den Schleier sinken, die versteckten Mädchen stürzten nicht hervor – der krönende Ausruf mit dem folgenden Auslachen fand nicht statt: kurz, der Spaß war am Mißlingen.

Da hob der Geheimnisvolle seine Maske und ließ den Mantel sinken ... Jetzt war der Spaß gelungen – aber umgekehrt.

Der Entmummte zeigte das Antlitz des Apothekerjungen und ein um die Brust geschlungenes breites weißes Band, auf welchem in schwarzen Lettern zu lesen war: » Erster April«.

»Eine Empfehlung von Dr. Reding,« sagte der Junge, einen Brief übergebend – hüllte sich wieder in seinen Mantel und lief davon.

Jetzt erst brach das Gelächter der Mädchen aus. »Das ist uns recht geschehen! – Ein gescheiter Mensch, dieser Doktor. – Wie er uns durchblickt hat. – Und wie tüchtig gestraft! – Es lebe Dr. Reding! – Aber was hat er uns geschrieben?«

Es war Clelia, die den Brief in Händen hielt und ihn erbrach. Sie las laut:

»Meine Damen! Ich verzichte auf die Hand der schönen Ermenegilda. Dagegen habe ich die Ehre, um diejenige des liebenswürdigen Fräuleins Erna Rittwitz anzuhalten.

Edmund Reding.«

Erna seufzte. – »Das ist auch nur ein Aprilscherz,« sagte sie.

»Nein,« rief Clelia. »Seht her, das Billett ist von gestern datiert: 31. März.«

Die Türe öffnete sich abermals und diesmal stand Edmund auf der Schwelle.

Die drei Baronessen klatschten in die Hände:

»Vorwärts, Doktor!«

»Bravo, Doktor!«

»Vivat Doktor!«

Edmund ging gerade auf Erna zu:

»Und was sagt meine Patientin!«

»Daß sie sich allen Ihren Verordnungen fügen wird, Doktor!«