Ludwig Rosenberger
Adalbert-Stifter-Anekdoten
Ludwig Rosenberger

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Anekdoten über Adalbert Stifter

Die gespensternde Katze

Einst fing der Bertl – wie der junge Adalbert Stifter zu Hause genannt wurde – eine Katze, die auf Zeisenfang ausgezogen war. Da er gerade Lust verspürte, Schabernack zu treiben, machte er nicht viel Federlesens und sperrte sie in den Backofen, der sich hinter dem elterlichen Hause befand. Gegen Abend geschah es , daß die Mutter ahnungslos den Backofen zu schüren begann. In der Nacht fing es hinter dem Hause fürchterlich zu rumoren an. »Da geht war um«, sagte der alte Großvater Augustin. »Wird a arme Seel sein«, meinte Mutter Stifter, und der Vater nickte dazu. Auch Bertl wurde von dem Spektakel wach. »Jessas, wird doch net die Katz...« sprach's noch nicht aus, schlich sich aus der Kammer, öffnete leise die hintere Tür und befreite das Tier aus seinem höllischen Käfig, es jemand bemerkt hatte.

Die unheimliche Glocke

Es war an einem Spätherbstabend, als Bertl mit dem großen Türschlüssel der Oberplaner Kirche zuschritt. Wie es überall Brauch ist, so hatten auch dort verläßliche Knaben das Abendläuten zu besorgen. Heute war zum ersten Male der Bertl an der Reihe. Es ging schon gegen Allerheiligen. Arge Dämmerung herrschte, so daß es ihm nicht ganz geheuer war. Er sperrte die Kirchentüre auf, stieg im Halbdunkel die alten steinernen Stufen zur Emporkirche hinan und kam endlich über eine höölzerne Treppe in den Turm, wo er zu läuten begann. Als aber das Brummen der großen Glocke immer stärker wurde, glaubte er aus ihrem Munde die Worte zu vernehmen: »Bum, bum bum..., heut Nacht geht's um ...«, und als sich noch gar die geschwätzigere kleine hinzumischte und ihm mit ihrer Fistelstimme: »Heut komm i, heute komm i ...« zurief, überkam ihn das Gruseln. Noch bevor er den letzten Zug am Glockenstrange hätte tun sollen, stürzte er atemlos die Treppe hinunter und in die graue Stille hinaus.

Der schlafende Knecht

Einmal hatte sich der Knecht Hansjirgl – wie es eben der Brauch ist – auf der Ofenbank ausgestreckt und war eingeschlafen. Als Bertl ihn sah, stach ihn wieder einmal der Haber. Er band dem Manne mit einer Schnur die Füße zusammen, wartete noch eine Weile und rief ihm endlich, hinter einer Ecke versteckt, behutsam zu: »Hansjirgl, Hansjirgl, zur Abendsuppen sollst kommen!« Der Schlaftrunkene erwachte jäh aus seinem Schlummer ujnd kollerte beim ersten Ruck auf den Fußboden. Dort machte er verzweifelte Anstrengung, auf die Beine zu kommen, und rief, da ihm dies nicht gelang, verzagt aus »Jessas, Jessas, is denn der Teifi in meine Füß gefahrn.«

Unrichtige Kost

Schon als kleiner Knabe schweifte Bertl in Wald und Flur seiner Heimat umher, um allerlei Steine, Pflanzen und Getier zu sammeln. Unter diesen waren auch Schmetterlinge, die er aber nicht tötete, sondern in hohen Gläsern aufbewahrte. Einmal kam er nun nach dem Mittagessen zur Mutter in die Küche und fragte: »Mutter, könnt i a gut's Stückerl Rindfleisch hab'n?« –

Frau Magdalena, Tochter des Oberplaner Fleischhauers Friepeß, sann eine Weile und fragte dann: »ist heut no net satt, Bertl?« – »Dös net, Mutter.« – »Na, was nachacht?« – »Ich bräucht's halt für d' Schmetterling zum Fressen.«

Wie der junge Stifter auf Gymnasium kam

Im Sommer 1818 kam Franz Friepeß, Bertls Grooßvater mütterlicherseits, nach Oberplan. Kurz vor seiner Abreise trat er zur Mutter Stifter ins Zimmer und fragte: »Na, was ist's mit dem Studieren beim Bertl?« – »Damit ist's aus,« antwortete diese, »der hiesige Kaplan, der ihn ein wenig aufs Latein hätte vorbereiten wollen, hat gesagt, er hat kein Talent.« – »Was,« entgegnete darauf der Großvater, »der Bub ist findig wie a Vogl und soll das bissel Latein net lerna können! Dös glaub i net. Gib mir den Bertl nur mal mit.« – Also ging der junge Stifter mit dem Großvater nach Viechtwang, wo sein Neffe Kaplan war; dieser gab den beiden ein Schreiben an den Professor Placidus Hall in Kremsmünster mit. Der prüfte Bertl zwar nicht in Latein, er fragte ihn aber nach den Bäumen, Sträuchern, Gewässern und den Bergen seiner Heimat. Als der Knabe alle Fragen auf genaueste beantworten konnte, erhob sich der Herr Professor und sagte gütig zum Großvater Friepeß: »Es ist schon gut so. Bringt mir nur den Buben auf Allerheiligen wieder« – und so kam der junge Adalbert Stifter aufs Gymnasium nach Kremsmünster.

Kunst des Rhythmus

Wie anderswo, so hatte man damals auch auf dem Gymnasium in Kremsmünster die Schüler Reime anfertigen lassen, wobei die Verse des jungen Stifter als die besten der Klasse vorgelesen wurden. Einmal aber ereignete es sich, daß die Musterverse den Namen eines anderen trugen und trotzdem von Stifter stammten. Und das geschah so: ein Mitschüler, der Träger hieß, brachte die vierfüßigen Jamben, die sie als Aufgabe gestellt bekamen, nicht zusammen und wandte sich darum im letzten Augenblick an Stifter. – »Ja, aber das läßt sich doch nicht nur so hinschreiben,« meinte dieser, »ich bin gestern schier den ganzen Tag darüber gesessen, aber ich probier's, muß halt recht einfach werden.« – Mit diesen Worten setzte er sich auf die Türstufen und warf die Verse in fliegender Hast aufs Papier. – Am nächsten Tag erschien der Professor mit den korrigierten Heften, lächelte Stifter an und sagte: »Schaut, diesmal ist der Träger der beste, der Stifter hat mir ein bissel zu viel gekünstelt.«

Der heilige Nepomuk

Das alte Haus, in dem der junge Stifter und seine Freunde wohnten, wurde von einem brummigen Zerberus bewacht. In jenem Hause befand sich in einer Treppennische eine der bekannten Figuren des Heiligen Nepomuk, der von den Inwohnern verehrt wurde. – Da geschah es, daß diese eines Nachts verschwand. Sofort richtete sich der Verdacht des aalten Hauswächters auf die drei Studenten. Indessen aber kam der Heilige nach einigen Tagen, von frommer Hand abgewaschen, wieder zum Vorschein.

Stifter und seine Freunde aber suchten sich bei dem Alten zu rächen. In einer kalten Winternacht wurde der alte Grantler, der beim Öffnen der Haustüre späten Heimkehrern stets einen Sperrsechser abverlangte, herausgeläutet. Als er aber diesmal fluchend öffnete, stand nicht ein frierender Student vor dem Tore, sondern der steinerne Nepomuk mit demütiger Gebärde im Schnee, in einer Hand den Sperrsechser haltend.

Wie Stifter Amalie Mohaupt kennen lernte

Stifter war zu einer häuslichen Tanzunterhaltung eingeladen. Als die Gesellschaft aufbrechen wollte, goß es draußen in Strömen. Da um die schon sehr vorgerückte Stunde nirgends ein Fiaker aufzutreiben war, wurden die Damen von der Frau des Hauses mit festen Schuhen versehen und der Obhut der Herren übergeben. Stifter war so glücklich, das Fräulein Amalie Mohaupt heimbegleiten zu dürfen. Amalie, deren Reize Stifters Aufmerksamkeit schon während des Balles in hohem Maße erregten, war in Gesellschaft einer älteren Begleiterin, bei der sie in Wien wohnte, zu der Unterhaltung erschienen.

Nach einigen Tagen erhielt nun Stifter von der Frau, die jenen Hausball gegeben hatte, einen Brief, worin sie mitteilte, Fräulein Amalie vermisse ihre Ballschuhe und glaube sich zu erinnern, sie Herrn Stifter bei jenem Heimwege anvertraut zu haben. – Die Sache verhielt sich wirklich so. Die Schuhe befanden sich in der Seitentasche seines Mantels. In seiner Begeisterung hatte er dieselben zu übergeben vergessen. Er antwortete sogleich, es werde ihm Vergnügen bereiten, sie der Eigentümerin persönlich zu überbringen. So brachte er als dem schönen Fräulein Amalie die Schuhe, plauderte eine Weile mit ihr und empfahl sich wieder. Beim Weggehen aber schien es ihm, als wäre er zum Wiederkommen eingeladen worden, was zur Folge hatte, daß er zuerst in drei Wochen und dann in immer kürzeren Zwischenräumen seinen Besuch wiederholte, bis er endlich jeden Tag als verloren betrachtete, an dem er Amalie nicht gesehen hatte.

»Der Kondor«

An einem heiteren Frühlingsmorgen 1840 wandelte Stifter in den stillen Gängen des Schwarzenberggartens auf und ab, in eifriges Sinnen und Schreiben vertieft. Es mochten wohl einige Stunden vergangen sein, da beendete er seine Tätigkeit und steckte das Manuskript in seine Rocktasche, aber die Rolle war zu lang und lugte daraus hervor. Anschließend machte er Besuch bei der Baronin Josephine von Münck, einer mit befreundeten schriftstellernden Dame. Da war nur auch deren Tochter, die junge Baronesse Die von Münck, anwesend. Diese entdeckte die Papierrolle und zog sie, jugendlich schelmischer Neugier folgend, unvermerkt heraus. Nachdem sie nun heimlich darin gelesen hatte, hielt sie das entdeckte Manuskript ihrer Mutter hin und rief erstaunt aus: »Mama, der Stifter ist ein heimlicher Dichter, hier fliegt ein Mädchen durch die Luft!« – Stifter protestierte, aber trotz seines Sträubens wurde er gezwungen, das Fragment vorzulesen. Die Baronin, die großen Gefallen daran fand, forderte energisch, zu der Geschichte müsse ein Anfang und ein Schluß gemacht werden und Witthauer, der Herausgeber der »Wiener Zeitschrift«, müsse es drucken. – Und so geschah es denn wirklich. Damit begann Stifter – schon fünfunddreißigjährig – seine literarische Laufbahn.

Wie der Titel »Feldblumen« entstand

Mit dem Erscheinen des »Kondor« zog unser bis dahin unbekannter Dichter die Aufmerksamkeit literarischer Kreise auf sich. Eines Tages besuchte ihn Graf Mailath, der zusammen mit Dr. Saphir das Taschenbuch »Iris« periodisch herausgab. – »Ich hätte gerne von Ihnen, Herr Stifter ,einen Beitrag für unser nächstjähriges Taschenbuch gehabt«, sagte Mailath. – »Sehr gerne, Herr Graf, aber ich habe ja nichts Fertiges. Nur ein loses Fragment, das ich während meiner letzten Krankheit im Winter mit Bleistift hingeworfen, habe ich da«, erwiderte er, beschriebene Bogen der Schublade seines Schreibtisches entnehmend, »aber das Ding besteht nur aus lose aneinander gereihten Tagebuchblättern; ich hab noch nicht einmal einen Titel für sie, nur jedes Kapitel trägt den Namen einer Feldblume als Überschrift.« – »Nun, so sind es ›Feldblumen‹«, sagte Mailath, nahm das Manuskript, verabschiedete sich dankend und rückte es unter diesem Namen in die »Iris«, Taschenbuch für das Jahr 1841, ein, das bei Heckenast in Pest erschien.

Besuch bei Simony

Stifter, der Friedrich Simony 1844 im Hause Metternichs kennen lernte, besuchte den bekannten Naturforscher vier Jahre später in Hallstatt. Simony bewohnte dort im Stadlerschen Gasthof einen saalähnlichen vielfenstrigen Raum, in dem das bunteste Durcheinander herrschte. Zur Rechten der Türe stand ein riesiger Kasten, zur Linken ein Bett, das aber stets mit den verschiedensten Gegenständen belegt war, vorne ein Flügel, der ebenfalls zur Ablage von Kleidern, Bögen, Rollen und Büchern diente, an einem Fenster ein viereckiger Tisch, auf den ein Schreibpult gesetzt war, an dem der Forscher zu arbeiten pflegte. Zwei Tische waren ebenfalls mit Ppieren, gesammelten Mineralien und Versteinerungen, einem geologischen Hammer, getrockneten Pflanzen, Landschaftsskizzen, Zeichenrequisiten und Büchern bedeckt. Was aber auf den Tischen nicht mehr Platz fand, lag und stand auf dem riesigen Fußboden umher.

Simony lud den befreundeten Dichter ein, sich niederzulassen. »Das nenn ich mir eine Arbeitsstube, wo es unsereinen naturwüchsig anheimelt,« rief Stifter, sich vergnügt die Hände reibend, als er das Durcheinander erblickte, »da herrscht noch nicht die Tyrannei der ewig aufräumenden Hausfrau.« An wen wird der Dichter anders gedacht haben als an seine Frau Amalie.

»Bergkristall«

Während Stifters Besuch in Hallstatt stieg Simony mit seinem Freunde das hochromantische Echerntal zum Waldbachstrub hinauf. Der Naturforscher sprach vom Waldbach, der das Wasser vom Hallstätter Gletscher zu Tal bringt, und erzählte, wie er vor etlichen Jahren zum Karlseisfeld vorstoßend und im Eise weiter vordringend eine märchenhafte Gletscherhöhle entdeckte. Er erzählte dem begeistert zuhörenden Dichter von der Pracht des blaugrünen Gletschereises und von einer Mondnacht, die er dort oben erlebt hatte.

»Nichts fehlt zu dem herrlichen Bilde als eine passende Staffage«, fügte Stifter hinzu. – Und im selben Augenblick kamen, hinter Felsblöcken hervortretend, zwei Kinder des Weges. Es war ein Knabe und ein Mädchen, sie hatten große Filzhüte auf und »Grastücher« zum Schutze gegen den Regen umgehängt. Beide gingen ohne Scheu auf sie zu und boten ihnen in einem Körbchen Erdbeeren zum Kaufe an. – »Ich werde sie euch gerne abkaufen, ihr müßt sie aber auch gleich mit verspeisen«, sagte er freundlich zu ihnen und forderte sie auf, sich mit ihnen auf einen überdachten Bretterst0ß zu setzen. Die Kinder taten es gerne. – »Wo kommt ihr denn her?« fragte der Dichter weiter. – »Unser Ahnl ist auf der Wiesalm oben, wir haben ihm was zum Essen gebracht«, erwiderte der Knabe, der älter war als das Mädchen. – »Und wo habt ihr denn die schönen Erdbeeren gefunden?« – »Bei einem Schlag beim Ursprungkogel«, sagte der Knabe, »als es dann zu regnen anfing, haben wir unter einem Steine Schutz gesucht, bis das Ärgste vorbei war. Und jetzt gehen wir wieder heim.« – Und im Geist des Dichters erwuchs aus Simonys Bericht von der Gletscherhöhle und der Begegnung mit den beiden Kindern die Handlung für eine seiner schönsten Erzählungen: »Bergkristall«.

Die Märzrevolution

Nach den Märzvorgängen 1848 besuchte Heckenast unseren Dichter in Wien. Als er Stifters Stube betrat, fiel ihm dieser in die Arme und vermochte vor Bewegtheit kaum zu sprechen. Freudentränen glänzten in seinen Augen. Bald darauf gingen beide auf den Graben. Die Menge jubelte, bunte Fahnen hingen aus den Fenstern, in den Straßen schwärmten Knaben und Mädchen umher und boten Kokarden, frische Blumen und zensurfreie Zeitungen an. Stifter sah eregt und trunkenen Blickes auf das Treiben. Kaum waren jedoch die Freunde in ein abgelegenes Haus gekommen, als sich ein tiefer Ernst des Dichters bemächtigte. Von unheilvoller Ahnung beseelt, sprach er zu seinem Begleiter: »Der Bau ist niedergerissen, wer wird nun den Schutt forträumen, und wo sind die Männer, welche den Neuaufbau aufzuführen Kraft und Beruf haben?«

»Mein Mann ist nicht zu Hause«

Eines Abends, als Stifter eben mit seiner Frau und der Dichterin Marie von Hrussoczy in seinem Arbeitszimmer saß und gerade seine Ansichten über Kunst und Künstler darlegte, wurde an der Eingangstür geklingelt. – »Mein Mann ist nicht zu Hause«, sagte Frau Stifter rasch zu ihrer Ziehtochter, die dem Mädchen diesen Bescheid überliefern sollte. – »Wieso nicht zu Hause, liebe Frau?« fragte er, sich unterbrechend, »ich bin ja zu Hause.« – »Nun, ich meinte, du wolltest nicht gestört werden.« – »Das ist das Richtige, liebe Frau, und das soll auch gesagt werden.« – »Ja, ja, das verdrießt aber die Leute.« – »Die uns kennen, verdrießt es nicht, und die es verdrießt, um die bekümmern wir uns nicht.«

Pilgerfahrt nach Linz

Eines Tages erhielt Stifter in Linz eine Zuschrift folgenden Inhalts:

»Mein Herr!

Am 16. April d. J., nachmittags 3 Uhr, wird im Restaurant des Hotels zum Erzherzog Karl in Linz ein Mann sitzen, der mit Ihnen ein Glas Wein trinken will. Er reist zu diesem Zweck dahin und bittet Sie, sich zu genannter Stunde im genannten Lokale einfinden zu wollen.

Amsterdam, 3. April 186.... John Benotts.«

Stifter war von diesem Schreiben nicht wenig überrascht. Er hatte keinen Bekannten namens Benotts und konnte sich auch nicht denken, wem es in Amsterdam einfallen sollte, nach Linz an der Donau zu reisen, um dort mit einem ihm fremden Manne ein Glas Wein zu trinken.

Der Dichter, der in nächster Nähe des Hotels wohnte, ging zur bestellten Zeit in das Restaurant. Das Lokal war fast leer. An einem Tisch saßen zwei alte Linzer Bürger. Am Ofen hockte ein alter Mann, der sich seinen Mantel trocknete. Stifter setzte sich an einen kleinen Tisch und fragte den Kellner, ob nicht ein Fremder aus Amsterdam im Hotel abgestiegen sei. Man wußte von nichts.

Es war 3 Uhr geworden. Stifter fiel es auf, daß der alte Mann am Ofen unruhig wurde und aufgeregt zur Türe blickte, so oft sich diese öffnete. Endlich erhob sich der Alte. Er war ein gebückter, kränklich aussehender Mann mit langen grauen Haaren und zwei Strängen Backenbart, die seinem Aussehen etwas von einem Engländer verliehen. Hinkend, als wäre ihm am Ofen ein Fuß steif geworden, trat er zum Kellner, wechselte mit ihm einige Worte, worauf dieser nach dem Tische deutete, wo Stifter saß. Der Alte nahte sich diesem zögernd, blieb dann unbeweglich davor stehen und starrte den Dichter an.

»Sind Sie es?« fragte er dann mit fremdartiger Betonung. »Sie sind der Dichter der 'Studien'?«

»Ich heiße Adalbert Stifter«, antwortete der Dichter.

»Ich danke Ihnen«, sagte der Fremde. »Ich bin John Benotts aus Amsterdam«. Damit setzte er sich Stifter gegenüber an den Tisch.

Dieser wußte nicht recht, was er sagen sollte und schwieg.

Der Fremde sagte auch nichts weiter als: »Welchen Wein trinken Sie gern?«

»Rheinwein«, antwortete der Dichter.

Der Fremde bestellte. Dann saß er Stifter schweigend gegenüber und betrachtete dessen Gesichtszüge. Als der Wein kam, schenkte der Holländer die Römer voll, stieß mit dem Dichter schweigend an und sie tranken. So verging eine habe Stunde, ohne daß sie bisher mehr als zwanzig Worte mitsammen gesprochen hatten. Als die Flasche leer war, erhob sich der Fremde und sagte mit leiser Stimme: »Ich hätte eine Bitte.« »Sprecht sie aus!« sagte Stifter.

Der Fremde stand eine Weile schweigend da, dann sagte er: »Adalbert Stifter! Gebt Ihr es zu, daß ich Euch auf die Stirne küsse?«

Nun erhob sich auch Stifter und sprach: »Die Stirne des Menschen ist von Gott geweiht. Küsset sie!«

Jetzt legte der Fremde seinen Arm langsam und leicht über die Schulter des Dichters, neigte sich hin und küßte dessen Stirne. Als das geschehen war, sagte er noch: »Ich danke Euch, Adalbert Stifter, für alles Glück, das Ihr mir gegeben habt. Lebet wohl!«

Nach diesen Worten ging er, bestieg seinen vor dem Hotel bereitstehenden Wagen und fuhr zum Bahnhof. Stifter war von der Begegnung tief beeindruckt und schritt still seiner Wohnung zu.

Einige Wochen später erhielt er folgende Schreiben:

»Mein teuerer Dichter!

Der Mann v. 16. April wird Ihnen sonderbar erschienen sein. Derselbe hat Ihre 'Studien' gelesen und ist von diesen Dichtungen so oft und so tief ergriffen worden, daß allmählich in ihm der unbezähmbare Wunsch entstand, einmal die begnadete Stirn des Dichters zu küssen. Darum reisete er nach dem fernen Österreich auf geradem Wege hin und auf geradem Wege zurück, ohne Aufenthalt, ohne anderen Zweck als den, Ihnen seinen großen Dank anzuzeigen. So ist es geschehen und ich bin nun wieder in meinem Hause. Die Pilgerfahrt zu meinem Dichter der 'Studien' zählt zu dem wenig Schönen, was ich in diesem Leben getan habe. Adalbert Stifter! Segne Sie der Himmel für alle Wohltat, die Sie durch Ihre Dichtungen den Menschen erwiesen haben und erweisen werden.

Amsterdam, 4. Mai 186.... John Benotts.«

Seit dieser zeit hatte Stifter nichts mehr von dem Verehrer aus Holland gehört. Wenige Tage vor seinem Tode soll der Dichter noch die Äußerung getan haben, daß von allen Huldigungen, die ihm je zuteil geworden, ihn keine so eigentümlich und tief bewegt habe, wie die des Holländers John Benotts.

»Nachsommer«

Schwere Sorgen lasteten auf dem kranken Dichter. Seine Pensionierung stand bevor, damit aber auch eine Verringerung seiner Bezüge um Zweidrittel. Am 27 November 1865 – er weilte gerade zur Wiederherstellung seiner Gesundheit im hochgelegenen Kirchschlag – erhielt er die Mitteilung über die Versetzung in den Ruhestand. Mit zitternden Händen öffnete er das Schreiben und las, daß ihm sein volles Gehalt von 1890 fl. Belassen und außerdem vom Kaiser der Titel eines Hofrates verliehen wurde. Stifter war vor Freude außer sich und ließ seiner Frau in Linz durch einen eigenen Boten die glückliche Nachricht übermitteln. – »Nun ist Ruhe in meinem Herzen und die Gesundheit ist die sichere Folge«, schreibt er darin. Durch einen weiteren Boten bestellte er einen geschlossenen Waagen und fuhr noch am selben Abend nach Linz zurück. Dann geht er wieder nach Kirchschlag und schreibt von dort an Heckenast: »Jetzt kann ich ohne Sorge und in der Erhabenheit der Natur meinen höheren Bestrebungen und meinen teuren Arbeiten leben. Mein Nachsommer hat begonnen.«

Letzte Zeilen

Johannes Aprent, der mit dem Dichter innig befreundete Linzer Realschulprofessor, welcher in den Leidenstagen Stifters der beste und aufopferndste Freund war, weilte oft an seinem Krankenlager. Mit den folgenden Zeilen, die der Dichter an den Weihnachtstagen 1867 an seinen stillen Tröster richtete, hat Stifter die Feder für immer aus der Hand gelegt: »Meine Leute sagen mir, daß Du in diesen Tagen schon zweimal bei mir warst, und daß sie Dich nicht zu mir hereingelassen haben, weil der Arzt es verboten hat. Ich weiß nicht, haben sie es vergessen, daß ich gesagt habe, daß man Dich immer hereinlasse, oder habe ich vergessen es zu sagen, aber es ist mir sehr peinlich, daß es geschehen ist. Ich bitte Dich also, laß Dir den Gang nicht zuviel werden und komme sehr bald. Ich bin zwar so heiser, daß ich fast nichts reden kann; aber ein Weilchen kannst Du doch bei meinem Bette sitzen, wir reden ein Weniges, und dann gehst Du wieder. Der Arzt sagt, es geht zu Ende, und dann ist alles auf einmal gut...«

Am Grabe des vergessenen Dichters

Peter Rosegger kam im Jahre 1870 nach Linz und wollte Stifters letzte Ruhestätte aufsuchen.

»Können Sie mir sagen, wo das Grab des Dichters Adalbert Stifter ist?« fragte er bei Friedhofseingang mehrere des Weges kommende Leute. Aber diese schüttelten den Kopf. Da sah Rosegger einen Totengräber, der gerade beschäftigt war, ein frisches Grab zu schaufeln. Er ging auf ihn zu und wiederholte seine Frage. – »Stifter, ein Dichter soll der g'wesen sein? Meinen S' vielleicht den Schulrat Stifter?« – Rosegger bejahte. – »Ja, da gehen S' zum Eingang zurück und etwas rechts vom Hauptweg ist es dann.« Endlich fand Rosegger die letzt Ruhestätte des von ihm so hochverehrten Mannes. Wie aber war er erschüttert, als nur den kahlen Hügel sag, den ein dürftiges kleines hölzernes Kreuz überragte, auf dem zu lesen stand, daß Stifter Schulrat gewesen sei und daß Gott seiner Seele gnädig sein möge. – Auf's tiefste bewegt, verließ Rosegger die traurige Stätte des vergessenen Dichters.

Sonderbare Grabinschrift

Im Jahre 1872, vier Jahre nach dem Hinscheiden Adalbert Stifters, gelang es Freunden, an deren Spitze sein alter Studiengenosse Sigmund Freiherr von Handel stand, ein Grabmal zu errichten. Es trägt seinen Namen, das Datum seiner Geburt und seines Todes. Nach dem Ableben der Witwe des Dichters im Jahre 1883 geschah es, daß nach deren letztwilliger Verfügung eine Grabplatte mit einem Lorbeerkranze vor dem Denkmal angebracht wurde. Der Inschrift unter diesem metallenen Kranze, die den Ruhm ihres Mannes hätte bezeugen sollen, hatte Frau Amalie folgenden Wortlaut gegeben:

»Hier ruht die wohlgeborne Frau Amalie
Stifter, geb. Mohaupt, mit ihrem Gatten,
dem k. k. Hofrathe, Ritter des Franz Joseph-
Ordens, Besitzer der großen goldenen Me-
daille für Kunst und Wissenschaft, Ritter
des großherzoglich Sachsen-Weimar'schen
Falken-Ordens, geboren 10. Juli 1811, gestor-
Ben 3. Februar 1883.«

Nur eines vergaß Frau Amalie – daß ihr Mann ein Dichter war.